10 minute read

Tacita Dean

Tacita Dean, Antigone, 2018

Kunstmuseum Basel

Advertisement

Tacita Dean. Antigone

Bis 09.01.2022

Das Kunstmuseum Basel | Gegenwart zeigt die Schweizer Erstaufführung von Antigone (2018), der bisher komplexesten Arbeit von Tacita Dean (geb. 1965). Darin geht es um den Namen Antigone und alles, was in ihm anklingt, nicht nur in der griechischen Literatur der Antike, sondern auch im Leben der Künstlerin. Antigone ist der Name von Deans älterer Schwester. Denselben Namen trägt auch die Heldin in der thebanischen Trilogie des griechischen Tragödiendichters Sophokles, was Dean darauf brachte, ihre eigene Geschichte mit dem mythologischen Kosmos der klassischen Antike zu verflechten. Ihre ersten noch unausgegorenen Ideen für Antigone reichen ins Jahr 1997 zurück, als sie versuchte, ein Drehbuch zu diesem Stoff zu verfassen; die Vollendung des Werks nahm jedoch noch mehr als zwei Jahrzehnte in Anspruch.

Das Leitmotiv in Antigone ist die Blindheit, entsprechend entwickelte sich der Film im Verlauf der Arbeit zu einer Doppelprojektion: rechtes Auge, linkes Auge. Da ist die Blindheit von Ödipus, der sich zur Strafe für seine unwissentlich begangenen Verbrechen selbst blendet und aus Theben verbannt. Da ist weiter die Blindheit der Natur durch die Verdunkelung der Sonne während einer Sonnenfinsternis, die Dean in Wyoming gefilmt hatte. Dazu kommt die von Deans Blendenmaskierungstechnik verursachte, technische Blindheit: einzig die Kamera sieht etwas. Dean selbst konnte sich erst Klarheit darüber verschaffen, was auf dem Film war, als das Negativmaterial volle neun Monate nach Belichtung der ersten Filmrolle entwickelt und kopiert wurde. Und schliesslich war da noch Deans kreative Blindheit. Sie hatte keine Ahnung, wie sie diese lange Zeit unbewältigte Arbeit schaffen sollte, und sich am Ende vom Zufall, den Umständen und der Alchemie dessen leiten liess, was vor Ort und in ihrer Kamera geschah. Deans Medium ist der analoge Film, so wie es die Leinwand für den Maler ist. Fotochemischer Film ist ein physisches und lineares Material. Als Negativ ist es ein lichtempfindlicher Streifen, auf dem die Zeit selbst ihren Abdruck hinterlässt – Einzelbild für Einzelbild aneinandergereiht, ergeben 24 Bilder eine Sekunde Bewegtbild. Dean schätzt ihr Arbeitsmaterial aufgrund der vielfältigen Bearbeitungsmöglichkeiten und seiner körnigen Brillanz.

Die Künstlerin hat sich im letzten Jahrzehnt der erneuten Verwendung einiger früher, visionärer Techniken des Filmemachens gewidmet, die das Kino, wie wir es kennen, hervorgebracht haben, und liefert mit ihrer Überarbeitung ein starkes Argument für dieses Medium im 21. Jahrhundert. Für ihre Virtuosität im Umgang mit diesen filmischen Verfahren wird sie mitunter als «Heldin des Zelluloids» gefeiert. Gleichzeitig hat Dean eine Bewegung initiiert, die das Bewusstsein für die Besonderheit des analogen Films schärfen soll und sich für dessen Erhalt und weitere Verfügbarkeit einsetzt. Leider ist die Zukunft von 16mm- und 35mm-Filmmaterial nach wie vor gefährdet.

Filmprojekte

Antigone wird im Kunstmuseum Basel | Gegenwart durch eine kleine Auswahl von Werken Deans ergänzt, die in engem Zusammenhang mit dem Film stehen. Hinzu kommen die grossformatige Kreidezeichnung Chalk Fall (2018) und einige Schieferarbeiten, darunter auch die neuste Zeichnung, Cynthia Teeming (2021).

Weiter ist in der Ausstellung eine Gruppe von kurzen 16mm-Filmen zu sehen, die zum ersten Mal gemeinsam gezeigt werden. Ear on a Worm (2017) etwa entstand in Anlehnung an Leonard Cohens Song Bird on a Wire. Auf der Fahrt durch Los Angeles stimmte die Künstlerin angesichts der Vögel auf den zahllosen, kreuz und quer durch die Stadt gespannten Telegrafendrähten gern die Anfangszeilen dieses Liedes an. Die Herausforderung für Dean bestand darin, einen Vogel während der gesamten Lieddauer von 3 Minuten und 28 Sekunden auf Film festzuhalten. Der Titel stammt von dem deutschen Ausdruck «Ohrwurm», wenn man eine Melodie nicht mehr aus dem Kopf kriegt. Ear on a Worm3 (2017) ist eine Variation mit anderer Besetzung, in der ein Trio von Trauertauben wie Noten einer Partitur auf einer Stromleitung sitzt. Wie auf ein Stichwort verlässt ein Vogel nach dem anderen den Rahmen, bis sie alle nach drei Minuten und 28 Sekunden verschwunden sind. In Squirrel on a Wire (2018) turnt ein Eichhörnchen während derselben Dauer im von Telefondrähten durchkreuzten Filmbild auf einem Draht herum. Mit seinem buschigen Schwanz, der einem musikalischen Motiv ähnelt und an einen Violinschlüssel erinnert, verharrt das Tierchen unbeweglich, bevor es seine Pose bricht und davonhuscht. ◀

Kuratorinnen: Heidi Naef, Isabel Friedli (Laurenz-Stiftung, Schaulager)

Antigone ist, wie viele andere Werke der Künstlerin, Teil der Sammlung der Emanuel Hoffmann-Stiftung. Mit seiner Laufzeit von genau einer Stunde wird das Werk als fortlaufende Projektion präsentiert, die so synchronisiert ist, dass der Film zu jeder vollen Stunde neu beginnt. Um den emotionalen Verlauf des Films wirklich zu verstehen, empfiehlt es sich, den Film von Anfang bis Ende zu schauen.

Vorführzeiten: Täglich um 11, 12, 13, 14, 15, 16 und 17 Uhr

Begleitprogramm

Artist Talk

Tacita Dean im Gespräch mit Ute Holl, Prof. für Medienästhetik an der Universität Basel Montag, 20. September 2021, 18 Uhr (Türöffnung 17.30 Uhr) Kunstmuseum Basel | Neubau Tickets CHF 25/15 unter shop.kunstmuseumbasel.ch

Artist’s Book

Der einstündige 35mm-Film Antigone (2018) ist das bislang komplexeste Werk der britisch-europäischen Künstlerin Tacita Dean. Die Laurenz-Stiftung liess sich «blind» auf das Unterfangen ein und begleitete den Film von Anfang an. Die Erzählung von Entstehen und Wirken dieses Werks wird in einer Publikation anhand von zahlreichen Bildern (Produktionsaufnahmen, Standfotografien, Zeichnungen der Künstlerin, usw.) und Texten abgebildet. In einem Essay erzählt Dean von ihrer Faszination für den Namen und die Figur Antigone. Das Transkript der im Film gesprochenen Worte ergänzt das Künstlerbuch.

Herausgegeben von der Laurenz-Stiftung, Schaulager Basel Texte von Tacita Dean und Anne Carson et al., mit einem Nachwort von Maja Oeri 128 Seiten, 310 x 215 mm; über 100 farbige Abbildungen

Lose Beilage mit Faksimile Reprint einer Seite aus The Guardian Die Publikation ist auf Deutsch und Englisch erhältlich Erste Auflage 2021 | CHF 28.–ISBN Deutsch: 978-3-906315-13-3

Podcast

Der Podcast Blindspots vermittelt in fünf Folgen unterschiedliche Zugänge zu Tacita Deans facettenreichem Hauptwerk Antigone. Vertreter:innen aus Kunst, Wissenschaft und Kultur reflektieren im Gespräch mit der Journalistin Ellinor Landmann (SRF) die Hintergründe des Werks und stossen dabei auf blinde Flecken, überraschende Einsichten und Antworten auf noch nicht gestellte Fragen. So erzählt z.B. die Künstlerin Tacita Dean vom Entstehungsprozess ihres Werks und den Leerstellen, aus denen es entstand. Der Schriftsteller Michael Köhlmeier geht dem Reiz des Mythos nach, die Genderforscherin Andrea Zimmermann feministischen Perspektiven auf Antigone und die Medienwissenschaftlerin Ute Holl der Kraft des Zelluloids, wenn es darum geht, Wahrnehmung zu steuern und Wissen zu vermitteln.

Veröffentlichung im November/Dezember 2021

Kunstmuseum Basel | Gegenwart

24 Stunden Die Ursache liegt in der Zukunft

23.10.2021, 17.00 h – 24.10.2021, 17.00 h

Das Kunstmuseum Basel geht experimentelle Wege, zu Ehren von Joseph Beuys, der dieses Jahr 100 Jahre alt geworden wäre. Um dessen Geburtstag zu feiern, bieten illustre Gäste ein abwechslungsreiches Programm. 24 Stunden lang werden nonstop fluide Aktionen, Klangexperimente, Zukunftsspekulation und Walks durch die Stadt angeboten sowie fettiges Essen serviert. All dies spielt sich in einer modularen Szenografie ab, die es den Besuchenden ermöglicht, sogar im Museum zu übernachten und überhaupt dort Dinge zu tun, die normalerweise nicht möglich sind. Zumindest nicht, wenn man nicht Joseph Beuys heisst.

Joseph Beuys spielte für die Kunst in Basel eine wichtige Rolle. Ohne zu übertreiben darf festgehalten werden, dass er es war, der als einer der ersten die in den 1960er-Jahren jüngste Kunstpraxis in die Rhein-Stadt brachte. Und es war tatsächlich alles neu: Mit Beuys kamen die Fluxus-Bewegung, Aktionen, Happenings, eine nie dagewesene Auffassung von Bildhauerei und der Paarlauf von Politik und Kunst. Das Kunstmuseum Basel und dessen damaliger Direktor Franz Meyer und sein Kurator Dieter Koepplin waren derart angetan, dass sie dem Deutschen im Jahr 1969 gleich zwei Ausstellungen widmeten. Beide wurden jedoch heftig diskutiert und waren entsprechend umstritten. 1978 dann bekam es auch die Basler Fasnacht mit Beuys’ Kunstbegriff zu tun. Die damals von der Clique «Alti Richtig» in den Strassen Basels getragenen Filzanzüge und die dabei verwendeten Kupferstäbe bildeten für Beuys die Grundlage der Installation Feuerstätte II (1978–1979), die seit kurzem im Kunstmuseum Basel | Neubau zu sehen ist.

Es waren vier Künstler; nebst Beuys, Enzo Cucchi, Anselm Kiefer und Jannis Kounellis, die 1985 der Einladung des Leiters der Kunsthalle Basel, Jean-Christophe Ammann, folgten und sich dorthin für mehrere Tage zurückzogen, um einen Gesprächs-Marathon über die Zukunft Europas zu führen. Eben dieses Zusammentreffen bildet nun die Grundlage für eine kritische Aktualisierung dessen, für welche der Regisseur und Dramaturg Stephan Müller nun im Rahmen von 24 Stunden ein szenisches Konzept entwickelt hat. Beuys und seine Kollegen werden dabei von zeitgenössischen Künstler:innen und anderen Persönlichkeiten gespielt. So zum Beispiel von der ehemaligen Herausgeberin der Zeitschrift Parkett, Jacqueline Burckhardt, die gemeinsam mit Bice Curiger eben dieses Gespräch transkribiert hatte. Mit ihrer Partizipation am Projekt unternimmt sie eine intime Zeitreise. Ob dabei die Ursache auch in der Zukunft liegen wird, wie es einst Joseph Beuys beschwörte?

Apropos Zukunft. Was ist sie? Was kommt? In Das desorganisierte Klassentreffen referieren Meinungsmacher:innen – ähnlich wie Beuys – vor einer Wandtafel und skizzieren uns ihre Sichtweisen auf die Welt und die Zukunft. Vermittels eines kommentierten Beuys-Kinos taucht auch die Hauptperson persönlich hin und wieder auf. Diese Programmpunkte des 24-Stunden-Ereignisses finden in einer mit Matratzen ausgestatteten, modularen Szenografie in den Räumen des Kunstmuseums Basel | Gegenwart statt, die einlädt, dort zu verweilen oder gar zu übernachten. Vor allem in den nächtlichen Stunden verwandelt sie sich zur Klanglandschaft. Beuys‘ Zusammenarbeit mit dem Fluxus-Komponisten Henning Christiansen und dem Pionier der Medienkunst Nam June Paik sind Ausgangspunkt, um auch auf Soundebene in eine mögliche Zukunft einzutauchen.

Auf der St.-Alban-Fähre «Wilde Maa» gibt eine Wahrsagerin währenddessen Einblicke in Zukünftiges. Drinks und fettiges Essen werden durchgehend serviert und gehen in ein «Beuys Breakfast» über. Es bietet sich die Möglichkeit, die Werke von Beuys im Kunstmuseum Basel | Neubau vor den Öffnungszeiten zu besuchen und im Anschluss daran mit dem Architekten Jacques Herzog (der 1978 massgeblich an der FasnachtsAktion beteiligt war) sowie dem Kunsthistoriker Philipp Ursprung zu verschiedenen Beuys-Orten in die Stadt aufzubrechen. ◀

Beuys-Happening im Innenhof des Kunstmuseum Basel, 1978

´ Kurator:innen: Daniel Kurjakovic, Maja Wismer

Teilnehmer:innen: Polina Akhmetzyanova, Jacqueline Burckhardt, Jules Pelta Feldmann, Svenja Gräfen, Jacques Herzog, Laurin Hoppeler, Gerald Hüther, Sophie Jung, San Keller, Mareice Kaiser, Luana, Stephan Müller, Emilia Roig, Senam Okuzedto, Bernie Palm, Marco Papiro, Alex Silber, Axelle Stiefel, Tastelab, Philipp Ursprung, u.a.

23.10., 17 h bis 24.10., 17 h Ein detailliertes Programm mit sämtlichen Aktionen und Happenings sowie den Zeit- und Ortsangaben ist ab Mitte September auf der Website zu finden: kunstmuseumbasel.ch/24stunden

Cuno Amiet, Greti in rotem Kleid, 1907

Kunstmuseum Basel | Hauptbau

Cuno Amiet. Frühe Kinderporträts

23.10.2021 – 27.03.2022

Cuno Amiet zählte um 1900 zu den einflussreichsten Schweizer Künstlern und ist entsprechend in zahlreichen Schweizer Kunstsammlungen vertreten. Die Sammlung Im Obersteg, die im Kunstmuseum Basel beheimatet ist, bildet darin keine Ausnahme. Im Jahr 2020 konnte die bestehende Gruppe von Werken Amiets in der Sammlung durch die Studie zu Zwei Mädchenakte (1910) ergänzt werden. Der Ankauf bietet den Anlass, die Kinderbilder Amiets erstmals einer eng gefassten Ausstellung zu thematisieren.

Einige von Amiets Kinderbildern sind in der Zeit seiner Mitgliedschaft in der expressionistischen Künstlergruppe Die Brücke entstanden. Sie zeigen die Annäherung an die deutschen Kollegen ebenso wie die Eigenständigkeit des Schweizer Künstlers. Die Fokussierung der Expressionisten auf Provokation und zwischenmenschliches Drama interessierte ihn nicht, und auch die Lokalität des Ateliers ist nur auf den ersten Blick vergleichbar mit den von den Brücke-Kollegen bevorzugten Atelierszenen. Amiet bevorzugte als Sujet sein stattliches Anwesen mit Haus, Blumengarten und Obstbäumen und die Landschaft in der Umgebung der Oschwand im Berner Oberaargau zu allen Jahreszeiten. Auch seine nächsten Angehörigen, insbesondere seine Frau, stellte er in diesem privaten Umfeld dar. Kinder wurden zunächst oftmals in Verbindung mit Blumen oder mit der Natur schlechthin gezeigt, als Sinnbild für die Einheit von Mensch und Natur. Erst nach 1907 verlegte Amiet die Szenen in den Innenraum seines Ateliers und überführte den Inhalt vom Allegorischen ins Alltägliche. Das erworbene Gemälde der Stiftung Im Obersteg ist ein Beispiel für diese Entwicklung. Es wird in der Ausstellung im Kontext anderer Kinderbilder Amiets sowie ausgewählten Werken von Brücke-Künstlern gezeigt. ◀

This article is from: