![](https://assets.isu.pub/document-structure/210926105044-fc811109ae8ba0d1915f10add47c3947/v1/13ed566071ec637d7977b043daffc711.jpeg?width=720&quality=85%2C50)
3 minute read
Écrits d'Art Brut – Wilde Worte & Denkweisen
Museum Tinguely
20.10.2021 – 23.01.2022
Advertisement
Liebeserklärungen, Wutbriefe, Gedichte, Gebete, erotische Botschaften, Plädoyers, tagebuchartige Aufzeichnungen und utopische Erzählungen: Die oft kaum bekannten Schriftstücke von Art Brut-Künstler*innen erstaunen und faszinieren. Entstanden meist hinter verschlossenen Türen, in Stille und im Geheimen, tragen sie häufig keine Anschrift oder richten sich an einen traumbildlichen oder spirituellen Adressaten.
Die in sonderbarer Schönschrift verfassten, hingekritzelten oder hastig notierten, mitunter gestickten oder mit Inbrunst in Stein geritzten Texte sind oftmals mit Bildern oder Zeichnungen ergänzt. Sie offenbaren eine verblüffende Kreativität, entspringen einem dringlichen Bedürfnis, sich auszudrücken, und stellen eine Art des tonlosen Widerstands dar.
Das Schreiben fördert die Selbstbeobachtung und wird zu einer wichtigen kreativen Ressource, die manchmal den Weg zu einer Identitätssuche oder der Erfindung eines anderen Lebens und andere Male den Aufbau einer neuen Welt oder die Umgestaltung des Kosmos ermöglicht. Zettel und Blätter, Hefte und Bücher, Körperschmuck und Banner werden Träger extravaganter persönlicher Inschriften, poetisch und plastisch zugleich. Sie unterstützen die hartnäckige Suche ihrer Autor*innen: die Suche nach dem Wesen der Dinge und Wörter.
Die 13 Urheber*innen – exzentrische Tagebuchverfasser, Briefschreiber oder utopische Autoren, noch von Jean Dubuffet oder in jüngerer Zeit entdeckt – sind frei von jedem Wunsch nach Öffentlichkeit. Sie gehen einfallsreich und ungeniert ans Werk und pflegen einen spielerischen Umgang mit Syntax, Grammatik und Orthografie. Statt auf Konventionen und Normen zu achten, beschäftigen sich Adolf Wölfli, Arthur Bispo do Rosário oder Giovanni Battista Podestà – den Jean Tinguely besonders schätzte – lieber mit sprachlichen Neuschöpfungen, semantischen Spielereien oder grafischen Labyrinthen aus Wörtern, Sätzen und Zeichen. Zeile für Zeile rütteln sie an Regeln und setzen sich über sie hinweg, besteht doch ihre Absicht nicht darin, zu kommunizieren oder Informationen auszutauschen. Stattdessen nehmen Gedanken ihren Lauf, oftmals verwirrende Ideen bilden sich heraus, und ihre Vorstellungskraft scheint die Autor*innen selbst zu überraschen. Das Schreiben nimmt einen performativen Wert an.
Die Wörter tanzen über das Papier, den Karton, den Stoff, die Wand oder den Boden und eröffnen überra-
schende visuelle und bildliche Dimensionen. Indem sie die Buchstaben zum Leben erwecken und Wort und Bild verschmelzen lassen, entfalten die Exponate eine ergreifende und inspirierende Poesie.
Die erstmals gezeigte Ausstellung vereinigt Werke aus einem Dutzend Museen sowie öffentlichen und privaten Sammlungen in verschiedenen europäischen Ländern und aus Brasilien. Dokumentarfilme und Fotografien laden das Publikum dazu ein, in die Universen der Künstler*innen einzutauchen und sie an ihren Wohn- und Arbeitsorten zu erleben. Begleitet wird die Ausstellung zudem durch einen Katalog von Lucienne Peiry mit zahlreichen Texten und fast 150 Illustrationen (Französisch: Paris, Le Seuil, ISBN 978-2-02-144768-2).
Arthur Bispo do Rosário, Giovanni Bosco, Marie Lieb, Heinrich Anton Müller, Fernando Nannetti, Laure Pigeon, Giovanni Battista Podestà, Armand Schulthess, Constance Schwartzlin-Berberat, Charles Steffen, Pascal Vonlanthen, Adolf Wölfli und Carlo Zinelli. ◀
Kuratorin: Lucienne Peiry Szenografie: Sarah Nedir
Was ist Art Brut?
Die Art Brut vereinigt Werke autodidaktischer Kunstschaffender, die eigene Ausdrucksmittel entwickeln und häufig gänzlich abgeschottet oder zumindest stark zurückgezogen tätig sind – ausschliesslich für sich selbst und ausserhalb aller künstlerischen Kreise. Oft kümmern sie sich nicht um gesellschaftliche Konventionen, sind unempfänglich für kulturelle Regeln und setzen sich über etablierte Normen hinweg. Stattdessen kreieren sie symbolische Universen und pflegen dabei einen spielerischen Umgang mit Darstellungsformen, Betrachtungsweisen und technischen Mitteln. Ebenso einfallsreich wie ungeniert erstellen sie ihre Arbeiten, ohne sich bewusst zu sein, dass sie sich im Feld der Kunst bewegen.
Eigenbrötlerisch, exzentrisch, unangepasst: Art Brut-Künstler*innen leben meist am Rande der Gesellschaft und finden nur im Ausdruck ihrer persönlichen Sicht auf die Welt Erfüllung und Befriedigung. Sie schwimmen gegen den Strom und verspüren keinerlei Bedürfnis nach sozialer oder kultureller Anerkennung oder Würdigung. Ihre Erzeugnisse haben weder eine Intention noch einen Adressaten im konventionellen Sinne, richten die Zeichen sich doch nur an sie selbst oder zuweilen an ein imaginäres oder spirituelles Wesen. Sie leben in Isolation oder werden ausgegrenzt und finden keinen Platz in der Gemeinschaft, in die sie sich nicht oder kaum einfügen können oder wollen. Diese Künstler*innen finden im symbolischen Ausdruck eine Stimme, die ihnen im realen Leben verwehrt geblieben ist.
![](https://assets.isu.pub/document-structure/210926105044-fc811109ae8ba0d1915f10add47c3947/v1/38a2f2c9e21dd57a972e15647cdf7816.jpeg?width=720&quality=85%2C50)
![](https://assets.isu.pub/document-structure/210926105044-fc811109ae8ba0d1915f10add47c3947/v1/8becc9f0d4f1e8b375a0d81df83aff20.jpeg?width=720&quality=85%2C50)