2 minute read
Jean-Jacques Lebel «La Chose» de Tinguely, quelques philosophes et «Les Avatars de Vénus»
Installationsansicht mit Jean-Jacques Lebel, Le Retour de Bakounine 1, 1988, und Spinoza, 1985, und Le Retour de Bakounine 2, 1988
Museum Tinguely
Advertisement
Bis 18.09.2022
Das Enterrement de la Chose de Tinguely ist Anlass für die Ausstellung im Museum Tinguely. Dieses gemäss Allan Kaprow erste Happening in Europa, das am 14. Juli 1960 an die Vergewaltigung und Ermordung einer jungen Frau aus Venedig erinnerte, war eine zugleich inszenierte und spontane, theatralische, fast barock anmutende Zeremonie, mit Lesungen von Texten des Marquis de Sade und Joris Huysmans, mit laut weinenden Klagefrauen und einer Erdolchung einer Skulptur Jean Tinguelys bis hin zur Versenkung ebendieser im Canale della Giudecca in Venedig. Das Happening ist dokumentiert mit Fotografien und zwei Werken Lebels, in denen er die Geschichte erzählt.
Einige Philosophen…
Die im selben Raum gezeigten Philosophen bilden die Verbindung zwischen Tinguely und Lebel vor dem Hintergrund eines Gesprächs, das sich im Winter 1961/62 in New York anlässlich eines Besuchs bei
Teeny und Marcel Duchamp entwickelte. Der Dada-Künstler Richard Huelsenbeck habe, angeregt durch Lebels Fund von Max Stirners Buch «Der Einzige und sein Eigentum» in Duchamps Schlafzimmer, einen langen Monolog über Anarchismus gehalten, was darin gipfelte, dass die Tischrunde, zu der auch Niki de Saint Phalle und Jean Tinguely gehörten, Duchamps Satz «Die Anarchisten sind die einzigen, die ich sympathisch finde» und Huelsenbecks «Anarchie ist grundsätzlich ein Zeichen von Intelligenz» zustimmte.
Dies traf (und trifft) die Haltung Lebels – nicht zufällig befinden sich zwei Werke mit dem Titel Le Retour de Bakounine (1988) in der Ausstellung.
Michael Bakunins berühmter und meist missdeuteter Satz «Die Lust der Zerstörung ist zugleich eine schaffende Lust!», mit dem er 1842 seinen Text zur Reaktion in Deutschland abschloss, und den er unter dem Pseudonym Jules Elysard im fünften Band der Deutschen Jahrbücher für Wissenschaft und Kunst publiziert hatte, bildet für Lebel die gedankliche Verbindung zwischen seinem Werk und demjenigen Jean Tinguelys, der im März 1960 mit seiner sich selbst zerstörenden Maschinenskulptur Homage to New York als Erster die theoretische Überlegung, dass Zerstörung ein kreativer Akt sein könnte, in die Tat umgesetzt hatte. Dabei ist die Zerstörung, die Tinguely und Lebel meinen, nicht ikonoklastisch oder gar vandalistisch, sondern ist darauf aus, den Akt des Kaputtmachens selbst als kreativen Prozess zu deuten – was sie mit Bakunin verbindet, der wie sie das Schaffende, das Schöpferische der Zerstörung betont.
Spinoza (1985) – die Skulptur, die in der Ausstellung vor den beiden Bildern zu Bakunin steht, ist für Lebel mit seiner Ethik und vor allem mit seiner Unterscheidung zwischen künstlichen und natürlichen Gesetzen, wie es Bakunin interpretierte, eine wichtige Inspiration. Die Skulptur ist aus Lederriemen und einem Ruderlager einer venezianischen Gondel komponiert und mit einem Hundehalsband zur Erinnerung an die immerwährende Knechtung des menschlichen Geistes versehen. Sie bildet in ihrer Einheitlichkeit das Gegenstück zum Portrait de Nietzsche (1961), einer Assemblage anekdotischer, spielerischer, geheimnisvoller und banaler Elemente, die Lebel in einem Holzkasten versammelt hat. Er nennt das Werk «eine elektrifizierte musizierende Maschine, die Nietzsches Visionen abbildet» oder umschreibt, in Form einer Installation, die der Interaktion bedarf, die gespielt und bedient werden sollte – was im Museum nicht machbar ist. So bleibt Nietzsches Porträt eine Möglichkeit, die sich der Interpretation entzieht – in ihrer Vielfältigkeit wie auch in ihrer Eventualität … ◀
Andres Pardey ist Kurator der Ausstellung