Ausgabe 16 Juli/August 2012
Genossenschaften und öffentliches Eigentum: Alte Ideen, neue Debatten!
Impressum Deutscher Gewerkschaftsbund Redaktion GEGENBLENDE, Dr. Kai Lindemann Henriette-Herz-Platz 2, 10178 Berlin Telefon +49 (0) 30 24 060 757, E-Mail kai.lindemann@dgb.de Hinweis:
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GEGENBLENDE – Ausgabe 16
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Inhaltsverzeichnis Seite Editorial ......................................................................................................................... 5 Gewerkschaften und Genossenschaften – Neue Wege im 21. Jahrhundert?............... 8 von Michael Sommer, DGB-Vorsitzender Die Genossenschaft – Der Mensch im Mittelpunkt..................................................... 11 von Jürgen Schwettmann, ILO Der EM-Rückblick: Küchenpsychologen im Abseits (Kolumne).................................15 von Dieter Pienkny, DGB Berlin-Brandenburg Der seltsame Triumph gescheiterter Ideen (Buchrezension)......................................17 von Prof. Dr. Frank Deppe Ungleichheit und Staatsverschuldung ........................................................................ 23 von Dr. Michael Dauderstädt, FES Ein Mindestlohn ist nicht genug ................................................................................. 29 von Wolfgang Dincher & Dr. Ingmar Kumpmann Öffentliche Räume und Güter im Netz........................................................................ 33 von Dr. Leonhard Dobusch Volksentscheid gegen privates Wasser........................................................................ 38 von Jörn Boewe Frankreich zwischen Reform und Krise...................................................................... 42 von Dr. Bernard Schmid
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Stabilität für den Euro ................................................................................................. 46 von Dr. Hans-Ulrich Bieler & Dietmar Muscheid Produktivgenossenschaften als Forschungs- und Praxisfeld ..................................... 53 von Stefan Kerber-Clasen Orientierungsloses Europa.......................................................................................... 60 von Dr. Wolfgang Kowalsky, EGB Die Rolle der Gemeingüter in den Städten ................................................................. 65 von Prof. Dr. Thomas Sauer Die Deutsche Arbeitsfront, ihr Konzern und der Untergang der gewerkschaftsnahen Genossenschaftsbewegung........................................................ 73 von Prof. Dr. Rüdiger Hachtmann Commons als Alternative zum Neoliberalismus..........................................................77 von Silke Helfrich Bildung als öffentliches Gut ........................................................................................88 von Ulrich Thöne, GEW-Vorsitzender Schulden, Krieg und Wohlstand (Buchrezension)...................................................... 96 von Dr. Till van Treeck Wohnungsnot und Verdrängung............................................................................... 102 von Norbert Ewald Genossenschaftsleben ............................................................................................... 106 von Claudia Falk Wachstum – ein leidiges Thema? ..............................................................................110 von Prof. Dr. Hans Diefenbacher, Stellv. Leiter FEST Heidelberg
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Musikalische Neuerscheinungen im Sommer (Musikkritik)..................................... 115 von Rhett Skai Investmentbanking – „eine sozial unnütze Aktivität“? ............................................. 118 von Robert Misik Gesetzliche Voraussetzungen für eine demokratische Genossenschaftskultur ........123 von Stefan Rebmann Neue Formen der Teilhabe – am Beispiel der Zukunftskammern............................126 von Prof. Dr. Claus Leggewie
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Editorial Die Geschichte der Genossenschaften ist eng mit der Geschichte der Gewerkschaften verbunden. Gegenwärtig erfährt der Genossenschaftsgedanke eine große Renaissance, schließlich gilt diese Unternehmensform als krisensicher und sehr unabhängig vom allgegenwärtigen Marktglauben. Aber auch das Prinzip des Gemeineigentums steht wieder zur Diskussion, denn es bietet sich als soziale und demokratische Alternative zum Privatisierungswahn an. Die GEGENBLENDE Nr. 16 hat den Schwerpunkt in diesem thematischen Spektrum. Zudem wird die Eurokrise in der Ausgabe weiter diskutiert. Michael Sommer liefert den Themen-Einstieg und beleuchtet das Verhältnis von Genossenschaften und Gewerkschaften. Jürgen Schwettmann schreibt über die Krisenfestigkeit des Genossenschaftskonzeptes. Der Fussball blattert...und Dieter Pienkny wagt in seiner Kolumne einen EM-Rückblick. Frank Deppe rezensiert ein interessantes Buch über die Auswirkungen der EuroKrise. Michael Dauderstädt macht in seinem neuen Beitrag deutlich, dass nicht nur Ungleichheit ein Phänomen verschuldeter Länder ist, sondern auch diese Verschuldung bedingt. Immer mehr Bundesländer setzen sich für die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns ein - zuletzt Thüringen. Ingmar Kumpmann und Wolfgang Dincher plädieren in ihrem Beitrag dafür, die HartzIV-Sätze zeitgleich anzuheben, denn nur so könne der Arbeitsmarkt wieder in Ordnung gebracht werden. Was ist im Internet "öffentliches Eigentum"? Diese Frage bewegt seit geraumer Zeit die Gemüter. Leonhard Dobusch beschreibt die Hintergründe und Anforderungen. Viele Jahrtausende war Wasser öffentliches Eigentum, wie der Dorfbrunnen. Dann kam die Privatisierungswelle und inzwischen haben selbst in Europa bis zu 2 Mio. Menschen keinen Zugang mehr zu sauberem Trinkwasser. Joern Boewe beschreibt in seinem Beitrag anhand des Berliner Beispiels, wie solch kuriose Entwicklungen rückgängig gemacht werden können.
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Die neue Regierung in Frankreich weckt viele Hoffnungen für eine sozialere Politik. Was bisher geschah, darüber berichtet Bernard Schmid aus Paris. Neoliberale Rezepte bestimmen die gegenwärtigen Rettungsmaßnahmen für den Euro. Dietmar Muscheid und Hans-Ulrich Bieler plädieren für eine Rückbesinnung auf keynesianische Instrumente, die auch soziale Belange berücksichtigen. Genossenschaftsmodelle sind ebenso unterschiedlich und vielfältig, wie die Debatte, die um diese Wirtschaftsform geführt wird. Stefan Kerber-Clasen beschreibt in seinem Beitrag nicht nur die verschiedenen Ansätze, sondern hebt auch die Bedeutung von Produktivgenossenschaften hervor. Der europäischen Krisenpolitik gerät zunehmend das europäische Projekt aus dem Blick. Wolfgang Kowalsky zeigt in seinem Beitrag die "Fallstricke" des gegenwärtigen Kurses auf und fordert ein demokratisches, europäisches Sozialmodell. Es gibt gute Gründe, warum Wälder und Seen nicht an die Börse, sondern in Gemeineigentum gehören. Thomas Sauer begründet das anhand einer schwedischen Gemeinde und legt dar, welche Potentiale diese Wirtschaftsform für eine Postwachstumsgesellschaft haben könnte. Die Nazis haben ab 1933 in Deutschland und später fast ganz Europa die Genossenschaftsbewegung zerstört. Wie es nach 1945 weiter ging bzw. neu anfing, das beschreibt Rüdiger Hachtmann in seinem Beitrag für GEGENBLENDE. Die allgegenwärtige Vermarktlichung aller Lebensbereiche verdrängte die traditionelle Form der Gemeingüter. Inzwischen kehren sie nicht nur in der Debatte auch in der Praxis - als krisenfeste Alternative wieder. Silke Helfrich beschreibt die Hintergründe der Commons. Immer mehr private Schulen und Hochschulen existieren in Deutschland. Sie sind bewusst kein Gemeingut und sind nicht allen Menschen zugänglich, leben aber weiter von öffentlichen Geldern. Der GEW-Vorsitzende Ulrich Thöne legt die Widersprüche dieser unsozialen Politik dar. Das "Schuldenbuch" von David Graeber entwickelt sich zum Bestseller der Krisenanalyse. Till van Treeck bespricht es auf GEGENBLENDE.
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Sozialer Wohnungsbau existiert kaum noch und scheitert an Kompetenzgerangel die Folgen sind Debatten um Gentrifizierung und die soziale Spaltung in Metropolen. Norbert Ewald legt die Hintergründe dar und zeigt politischen Notwendigkeiten auf. Claudia Falk berichtet aus ihrem Familienleben in einer Genossenschaftswohnung. Daran wird deutlich, wie eng ursprünglich die freie Gewerkschaftsbewegung mit dem Genossenschaftsgedanken verwoben war. Hans Diefenbacher diskutiert vor dem Hintergrund des Transformationskongresses die Dimensionen der Wachstumsdiskussion und zeigt zugleich die notwendige "Transformation" auf. Rhett Skai hat sich wieder mal musikalische Neuerscheinungen vorgenommen und nimmt ihre politische Aussagekraft unter die Lupe. Warum werden die Finanzmärkte nicht reguliert, wie alle Märkte der Welt? Robert Misik fragt auf GEGENBLENDE noch weiter: Wozu brauchen wir überhaupt die krisenverspielten Finanzmärkte? Wie steht es um die gesetzliche Gleichstellung von Genossenschaften zu anderen Unternehmensformen? Stefan Rebmann beschreibt in seinem Beitrag für GEGENBLENDE die Benachteiligung des Genossenschaftswesens und die notwendigen politischen Reformschritte. Das Prinzip der Bürgerbeteiligung wird neuerdings bei vielen Projekten, ob Energiewende oder Großflughafen, mitdiskutiert. Claus Leggewie schlägt hier das Prinzip der Zukunftskammern vor, mit denen die demokratische Teilhabe institutionell gesichert ist.
Eine gute Lektüre der pdf-Ausgabe wünscht Kai Lindemann
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Gewerkschaften und Genossenschaften – Neue Wege im 21. Jahrhundert? von Michael Sommer, DGB-Vorsitzender Das Internationale Jahr der Genossenschaften 2012 gibt der Idee alternativen Wirtschaftens und wirtschaftsdemokratischer Unternehmensmodelle wieder einen öffentlichkeitswirksamen Schub. Die genossenschaftliche Bewegung, Bewegungen der „Solidarischen Ökonomie“ und der „Grünen Ökonomie“ diskutieren genauso wie die Gewerkschaften Fragen nach Alternativen zu den strukturellen Krisen der Arbeit, Wirtschaft und Gesellschaft. Die Debatten sind nicht ohne Wirkung auf Politik, Wirtschaft und Öffentlichkeit. Aktuell werden Gesetzesvorschläge in der Politik diskutiert, die das Ziel haben, genossenschaftliche Unternehmen als Wirtschaftsform wieder stärker zu unterstützen. Demokratie, Teilhabe und Solidarität als gemeinsame Handlungsfelder Der historische Ursprung einer Verbindung zwischen Gewerkschaften und Genossenschaften liegt in der „Wirtschaftsdemokratie“. Initiativen mit dem Ziel der Demokratisierung von Wirtschaft und Arbeit werden auch heute wieder stärker in den Fokus der politischen und wirtschaftlichen Debatten gerückt. Dies könnte eine Brücke sein für einen gemeinsamen zukunftsfähigen Weg von Gewerkschaften und Genossenschaften zu einer neuen Ordnung der Arbeit. Demokratisierung setzt voraus, dass sich Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gemeinsam für ihre eigenen Interessen stark machen, sich organisieren sowie Arbeits- und Lebensbedingungen aktiv mitgestalten. Bewusstsein, Kompetenz, Eigeninitiative und Solidarität sind grundlegende Voraussetzungen für einen Wandel und für Systemveränderungen. Es sind Potentiale, die ständig aktiviert werden müssen, um überhaupt eine Chance zu haben, die finanzgetriebene strukturelle Unordnung von Wirtschaft und Arbeitswelt in eine Ordnung zu bringen. Die neoliberale sozialfeindliche Politik unserer Zeit schwächt die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die Betriebsräte und die Gewerkschaften: die Billiglohnpolitik hat den Arbeitgebern zu Lasten der Gesellschaft und Generationen der Zukunft eine Arbeitspolitik der Willkür ermöglicht und die Abhängigkeiten in den Arbeitsbeziehungen verschärft, eine weitgehende Deregulierung hat der Durchsetzungsmacht der Gewerkschaften geschadet. Die staatliche Förderung von „working poor“ ist Ausdruck der gesellschaftsfeindlichen Politik. Die Gesellschaft subventioniert dauerhaft nicht bedarfsdeckende Arbeitsentgelte und die Kapitaleigner verdienen sich daran die Taschen voll.
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Arbeit ist und bleibt eine wesentliche Voraussetzung für die Selbstverwirklichung der Menschen und für ihre Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Die Menschen brauchen hierzu sichere Arbeitsplätze mit gut bezahlten Löhnen und die Möglichkeit, ihre Arbeitsbedingungen mit zu gestalten. Neue Strategien zur Stärkung der Handlungsfähigkeit von Betriebsräten und Gewerkschaften Handlungsfähigkeit erwächst aus Alternativen. Diese lassen sich finden in alternativen Wirtschaftsmodellen, die in einen Wettbewerb zu den unsäglichen kapitalorientierten Renditemodellen treten. Hierzu gehören öffentliche Unternehmen zur Sicherstellung von Infrastruktur und Daseinsvorsorge und auch genossenschaftlich geführte Unternehmen wie Produktivgenossenschaften, Verbrauchergenossenschaften, genossenschaftliche Pflegeeinrichtungen oder Krankenhäuser. Wir stehen heute vor der Herausforderung, die Kräfteverhältnisse so zu verändern, dass wir eine neue Organisations- und Gestaltungskraft gewinnen und diese in Wirtschaft und Gesellschaft einbringen. Hierfür brauchen wir Netzwerke - Betriebe, Gemeinschaften, Vereine, Genossenschaften und Gewerkschaften -, die Menschen zusammenbringen, um Raum für Ideen von alternativen Wirtschaftsformen, Solidarität, Nachhaltigkeit und Beteiligung zu schaffen. Seit im Jahr 2006 die Gründungsvoraussetzungen für Genossenschaften gesetzlich erleichtert wurden, verzeichnet Deutschland einen Zuwachs in der genossenschaftlichen Form des Wirtschaftens. Die Kreativwirtschaft, die IT-Branche, der Sektor der erneuerbaren Energien sind hierfür Beispiele. Insbesondere auf regionaler Ebene entstehen zunehmend genossenschaftliche Unternehmensformen und Netzwerke bei der Eigenversorgung mit Energie bzw. werden verstärkt nachgefragt bei der Versorgung mit Konsumgütern und auch mit bezahlbaren Wohnungen sowie im Gesundheitswesen, Ernährung und Kommunikation. Arbeitergenossenschaften bzw. klassische Produktivgenossenschaften sind hingegen in Deutschland kaum bis gar nicht verbreitet. In einigen westlichen Industriegesellschaften ist das anders. Ein Beispiel, das über die Landesgrenzen hinaus von sich Reden macht, ist die baskische Mondragon-Gruppe, die zusammen mit Gewerkschaftern auch international genossenschaftlich geführte Produktivgenossenschaften in Arbeitnehmerhand aufbaut. Beispielsweise hat die amerikanische Industriegewerkschaft der Stahlarbeiter (USW) 2009 mit Unterstützung von Mondragon begonnen, Produktivgenossenschaften in den Vereinigten Staaten zu entwickeln. Die USW hat im Bereich der Windturbinenproduktion in Pennsylvania verlassene Stahlhütten erneuert und mit Werkzeugen für die Produktion von Turbinen ausgestattet, Genossenschaften
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gegründet und Arbeitsplätze geschaffen. Im Unterschied zu Mondragon sind alle Mitglieder dieser Genossenschaften auch Gewerkschafter. Die Idee der Gemeinwirtschaft In Deutschland gab es bis weit in die 80er Jahre hinein Debatten über sogenannte „Gewerkschaftsunternehmen“. Die Ablehnung dieser Unternehmensform stieg angesichts der Krise um die „Neue Heimat“. Lange Zeit fand das Thema Genossenschaften daher kaum noch Platz in den gewerkschaftlichen Diskussionen um ein zukunftsfähiges Wirtschafts- und Lebensmodell. Einzelne führende Gewerkschafter wie Ernst Breit, Heinz Kluncker, Hans Matthöfer mahnten stets, das gemeinwirtschaftliche Modell mit seinen Leitbildern weiterhin zu unterstützen. Das gemeinwirtschaftliche Modell von damals wieder aufleben zu lassen, ist damit aber nicht gemeint. Anknüpfungspunkte für die Gewerkschaften liegen vielmehr in der Idee der Selbsthilfe der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, in der Idee von Mitsprache und Mitgestaltung, in der Idee, demokratische Prinzipien in hohem Maße in Unternehmen zu verankern, Beschäftigung zu fördern und Wirtschaftsstandorte zu stabilisieren. Ein gemeinsames Handlungsfeld von Genossenschaften und Gewerkschaften berührt das Interesse der Menschen an einem bezahlbaren guten Leben. Hierzu gehören unter anderem bezahlbare Mieten, Nahrungsmittel und Energie. Gegen die ausufernden unsozialen Mietpreise auf den Wohnungsmärkten mancher Städte haben sich bereits Betroffene zusammengeschlossen und öffentlichkeitswirksam demonstriert. Die Wohnungsbaugenossenschaften führen wieder Wartelisten. Männer, Frauen, Familien mit ganz normalen Tarifeinkommen suchen Mietsicherheit und Preisstabilität in genossenschaftlichem Wohnen. Sicherheit, Nachhaltigkeit und Preisstabilität werden von den Menschen zunehmend auch bei der Versorgung mit Energie gefordert. Binnen weniger Jahre hat sich die Anzahl genossenschaftlicher Unternehmen bei der Energieeigenversorgung bundesweit vervierfacht. Direkte Beteiligung und Mitsprache der engagierten Bürgerinnen und Bürger sind auch hier Kennzeichen für einen demokratischen Weg in einem wichtigen wirtschaftlichen Bereich. Das gemeinsame Ziel der Demokratisierung von Wirtschaft, Arbeit und Gesellschaft bietet Gewerkschaften und Genossenschaften auch heute wieder die Chance, als Bündnispartner für gute Arbeit, gutes Leben, Solidarität und ein Mehr an demokratischer Teilhabe, Mitbestimmung und Beteiligung der Menschen gemeinsam einzutreten.
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Autor: Michael Sommer, geboren am 17. Januar 1952 in Büderich, seit 2002 Vorsitzender des Deutschen Gewerkschaftsbundes
Die Genossenschaft – Der Mensch im Mittelpunkt von Jürgen Schwettmann, ILO Was haben EDEKA, REWE und Bäko gemeinsam? Was hat die DATEV mit der DENIC zu tun? Was verbindet die Volksbank mit der Apothekerbank und die „taz“ mit dem Kaiserstühler Winzerverein? Alle diese Unternehmen sind eingetragene Genossenschaften. Vielen Mitbürgern ist nicht bewusst wie aktuell diese Unternehmensform auch heute noch ist - und dass sie in den letzten Jahren, auch als Folge der globalen Finanzkrise, wieder enorm an Attraktivität gewonnen hat. Gerade weil Genossenschaften in Deutschland so weit verbreitet sind hat unser Land die Krise besser überstanden als viele andere Industrieländer. Die Genossenschaft bündelt Kräfte, schafft Solidarität, bindet Risiken, erhöht Effizienz und verbessert Produktivität - all dies ohne die Eigenständigkeit und Eigenverantwortlichkeit ihrer Mitglieder anzutasten. Was ist eine Genossenschaft? Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO), die im Jahre 2002 eine Richtlinie über die Förderung des Genossenschaftswesens verabschiedete, definiert die Kooperative als “eine eigenständige Vereinigung von Personen, die sich freiwillig zusammengeschlossen haben, um durch ein in Gemeinschaftseigentum befindliches und demokratisch geleitetes Unternehmen ihre gemeinsamen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Bedürfnisse und Bestrebungen zu erfüllen.” Der Internationale Genossenschaftsbund hat zusätzlich sieben Grundsätze definiert, die von Genossenschaften auf der ganzen Welt beachtet und umgesetzt werden: 1. Die Mitgliedschaft ist frei und offen für jedermann; 2. Entscheidungen werden demokratisch getroffen (“ein Mitglied - eine Stimme”); 3. Die Mitglieder wirken am Wirtschaftsleben der Genossenschaft mit;
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4. Die Genossenschaft ist selbstständig und unabhängig; 5. Genossenschaften fördern die Ausbildung, Fortbildung und Information ihrer Mitglieder; 6. Genossenschaften kooperieren mit anderen Genossenschaften und 7. Genossenschaften engagieren sich für die Gemeinschaft, in der sie wirken. Schließlich kommen noch einige allgemeingültige Werte hinzu, auf denen das weltweite Genossenschaftswesen beruht: Selbsthilfe, Eigenverantwortlichkeit, Demokratie, Gleichheit, Gerechtigkeit und Solidarität sowie Ehrlichkeit, Offenheit, soziale Verantwortung und Sorge für andere. Diese drei Elemente - eine globale Definition, universelle Prinzipien und allgemeingültige Werte - werden unter dem Begriff „Grundsätze der genossenschaftlichen Identität“ zusammengefasst; sie bilden die Rahmenbedingungen für jedwede Art von Genossenschaften, und gelten überall auf der Welt gleichermassen. Genossenschaften sind nicht nur eine Unternehmensform, sie bilden eine globale Bewegung, die für eine sozialverträgliche, demokratische und verantwortungsvolle Art des „doing business“ steht. Der Grundsatz „ein Mitglied eine Stimme“ verhindert, dass Einzelne durch Anteilsanhäufung eine Machtposition in der Genossenschaft erringen können; die Grundsätze 3, 5 und 7 verankern die Genossenschaft in der lokalen Gemeinschaft; und gemäss dem Prinzip „Genossenschaften kooperieren mit anderen Genossenschaften“ ist in vielen Ländern ein dichtes Geflecht aus Genossenschaftszentralen, -verbänden und –netzwerken entstanden, deren Teilnehmer sich gegenseitig stützen und fördern. Bescheidene Anfänge Die erste eigenständige Arbeiter-Genossenschaft heutiger Art wurde im Jahre 1844 in Nordengland von 28 Arbeitern der dortigen Baumwollspinnereien gegründet. Die „Rochdale Equitable Pioneers Society“ war eine Einkaufsgenossenschaft die durch ihre größere Marktmacht für niedrigere Preise sorgen sollte. Drei Jahre später rief Friedrich Wilhelm Raiffeisen einen Hilfsverein zur Unterstützung der notleidenden ländlichen Bevölkerung ins Leben. Fast zeitgleich gründete Hermann SchulzeDelitzsch nach den Grundsätzen der Selbsthilfe, Selbstverwaltung und Selbstverantwortung die „Rohstoffassoziation für Tischler und Schuhmacher“, und einige Jahre später einen „Vorschussverein“ – aus dem die heutigen Volksbanken hervorgingen. Aus diesen bescheidenen Anfängen entwickelte sich Deutschlands heutige Genossenschaftsstruktur, welche etwa 5.600 Genossenschaften verschiedenster Art umfasst, in denen sich 18.4 Millionen Mitglieder engagieren. Hinzu kommen die 3.2 Millionen Mitglieder der 420 Wohnungsbaugenossenschaften, die in einem eigenen Verband organisiert sind. Praktisch jeder Landwirt ist Mitglied einer Genossenschaft. 60 % aller Handwerker, 75 % aller Einzelhandelskaufleute, 90 % aller Bäcker und Metzger sowie über 65 %
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aller selbständigen Steuerberater sind Genossenschaftsmitglieder. Die Genossenschaftsorganisation bietet bundesweit rund 600.000 Menschen einen Arbeitsplatz und stellt ca. 35.000 Ausbildungsplätze zur Verfügung. In Europa gibt es 160.000 Genossenschaften mit 123 Millionen Mitgliedern und 5.4 Millionen Arbeitnehmern. Weltweit vertritt der International Genossenschaftsbund fast eine Milliarde Mitglieder und 100 Millionen Arbeitnehmer; die 300 grössten Genossenschaften dieser Erde erzielen einen Umsatz von 1.600 Milliarden USDollars - ein Betrag, der immerhin dem BIP des G-20 Landes Mexiko entspricht. Neue Genossenschaften In den vergangenen drei Jahren wurden in Deutschland über 600 Genossenschaften gegründet. Neue Genossenschaften gibt es insbesondere im Bereich der Erneuerbaren Energien. Engagierte Bürger schließen sich zusammen, um gemeinsam Solar- oder Windenergieanlagen zu betreiben oder Nahwärmenetze zu errichten. Gründungsschwerpunkte sind zudem das Gesundheitswesen, die Kooperation von Selbständigen und mittelständischen Unternehmen, die Übernahme kommunaler Aufgaben und die Nahversorgung auf dem Land. In den Vereinigten Staaten gibt es knapp 900 ländliche Elektrizitätsgenossenschaften die 12% der amerikanischen Bevölkerung mit Strom versorgen. Die 9.000 „sozialen Genossenschaften“ Italiens bieten 300.000 Menschen Arbeit und versorgen 3.3 Millionen Italiener mit sozialen Dienstleistungen. Softwareproduzenten, Musikverlage, Kindergartenbetreiber, Restaurantbesitzer und viele andere Berufsgruppen entdecken täglich aufs Neue die Modernität und Flexibilität des Genossenschaftsmodells. Die Europäische Gemeinschaft hat im Jahre 2006 das Statut der „europäischen Genossenschaft“ verabschiedet, das es ermöglicht, grenzüberschreitende Genossenschaften zu bilden. Die Politisierung der Genossenschaften In den siebziger Jahren wurde der Genossenschaftsgedanke als ein Allheilmittel für die gerade unabhängig gewordenen Entwicklungsländer der Dritten Welt gehandelt. Viele Staatenlenker Asiens, Afrikas und Lateinamerikas initiierten in diesen Jahren, mit tatkräftiger Hilfe der westlichen Entwicklungshilfe, massive Genossenschaftsförderungsprogramme; Genossenschaften erhielten Staatsgelder und Vermarktungsmonopole, wurden Regierungsbeamten unterstellt und zu „Massenorganisationen“ der Einheitspartei geformt. Dies führte zu ausgedehnter Korruption, Verschwendung und Ineffizienz und, zwanzig Jahre später im Zuge der „Strukturanpassungsmassnahmen“ der Weltbank, zum Verschwinden dieser Pseudokooperativen. Kurz darauf entstanden jedoch in fast allen diesen Ländern neue, von den Menschen selbst ins Leben gerufene und in der lokalen Gemeinschaft verwurzelte Selbsthilfeorganisationen, die ohne öffentliche Gelder auskommen und von der „Entwicklungshilfe“ weitgehend ignoriert werden. Ihnen ist es zu danken dass die Menschen im Chaos der informellen Wirtschaft überleben und dank
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Solidarität und Nachbarschaftshilfe auf ein Mindestmaß an sozialer Sicherheit zurückgreifen können. Genossenschaften und Gewerkschaften Gewerkschaften und Genossenschaften sind zwei verschiedene Organisationsformen, die sich in ihren sozialen und wirtschaftlichen Funktionen unterscheiden, deren Strukturen und Ziele aber sehr verwandt sind. Beide sind demokratisch, in beiden ist die Mitgliedschaft freiwillig, und hier wie dort gilt das gleiche Prinzip: ein Mitglied, eine Stimme. Gewerkschaften und Genossenschaften verfolgen jedoch unterschiedliche Ziele. Die Gewerkschaften vertreten die Interessen der Lohnempfänger auf Firmen-, Branchenund nationaler Ebene und spielen eine entscheidende Rolle in der Politik. Genossenschaften verfolgen wirtschaftliche Ziele, sie haben gegenüber ihren Mitgliedern einen „Förderungsauftrag“, und haben sich zu einem bedeutsamen Wirtschaftsfaktor entwickelt. In vielen Ländern der Erde gibt es enge Verbindungen zwischen den beiden Bewegungen, und nicht selten sind Gewerkschaften in der Genossenschaftsförderung aktiv. Insbesondere Einkaufs-, Wohnungsbau- sowie Spar- und Darlehensgenossenschaften wurden und werden von Gewerkschaften gefördert, da deren Leistungen den Bedürfnissen der Arbeitnehmer am ehesten entsprechen. In Deutschland hingegen verlief die Allianz zwischen Gewerkschaften und Genossenschaften (und genossenschaftsähnlichen Unternehmen) weniger glücklich, denn die Flaggschiffe „COOP AG“ und „Neue Heimat“ fielen in den achtziger Jahren einer Reihe von Skandalen und ausgeprägter Misswirtschaft zum Opfer. In beiden Fällen versagten die Unternehmen gerade deshalb, weil sie von den genossenschaftlichen Grundsätzen und Werten abgewichen waren. Das Internationale Jahr der Genossenschaften Die Vereinten Nationen haben 2012 zum Internationalen Jahr der Genossenschaften (IYC) ausgerufen, um auf die weltweite Bedeutung von Genossenschaften aufmerksam zu machen und ihre Rolle für die wirtschaftliche und soziale Entwicklung fast aller Länder zu betonen. In Deutschland wird die Kampagne unter dem Thema „Genossenschaften - ein Gewinn für alle“ vom Deutschen Genossenschafts- und Raiffeisenverband (DGRV) koordiniert. Das IYC ist ein Zeichen für das wiedererwachte Interesse am Genossenschaftsmodell - was nicht verwunderlich ist in einer Zeit, in der die Exzesse des Finanzkapitalismus die Weltwirtschaft an den Abgrund treiben, und wo die Gier Einzelner tausende
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Mitbürger ins Elend stürzt. Die Menschen suchen nach einer menschlicheren Art Geschäfte zu machen; dies kann die Genossenschaft leisten. Weitere Informationen: www.ilo.org/coop ; www.ica.coop ; www.dgrv.de ; www.genossenschaften.de
Autor: Jürgen Schwettmann, geboren am 2. August 1954 in Bonn, Director of the Department of Partnerships and Developement Cooperation (PARDEV) bei der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) in Genf
Der EM-Rückblick: Küchenpsychologen im Abseits (Kolumne) von Dieter Pienkny, DGB Berlin-Brandenburg Die eindrucksvollste „Viererkette“ bildete sich während der Fußball-EM in meiner Lieblings-Trattoria, als vor dem Halbfinale die italienische Nationalhymne gespielt wurde: Die Kellner sangen voller Inbrunst und waren siegesgewiss. Damit standen die Zeichen an der Wand. Die Fußball-EM in Polen und der Ukraine war von Anfang an aufgeladen mit einer Vielzahl von Erwartungen. Und die konnten natürlich nicht alle erfüllt werden. Da waren die Boykott-Androhungen gegenüber der autoritären Ukraine, weil die Demokratiedefizite vielen erst spät bewusst wurden; da keimte die Hoffnung des DFB/UEFA/FIFA, Fußball bleibe die schönste Nebensache der Welt und damit natürlich unpolitisch; und schließlich kultivierte die deutsche Boulevardpresse die Prophezeiung, diesmal würde die junge und technisch brillante deutsche Elf den Titel holen. Denkste! Kein Geringerer als der Universalgelehrte Walter Jens schrieb dem DFB in den 70er Jahren auf einer Jubiläumsfeier ins Stammbuch, er solle seine zentrale „These widerrufen, Sport sei ein Element, das fern von der Politik im Wolkenkuckucksheim angesiedelt“ sei. Fußball habe einen Gesellschaftsbezug, werde der Staatsmacht oder Einzelinteressen zugeschlagen, kurzum: sei „ein Politicum“. Und die Rahmenbedingungen sorgten von Anfang an dafür, dass es politisch blieb. Darf die
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Kanzlerin beim Stadionbesuch neben dem umstrittenen Wiktor Janukowitsch sitzen, dem zwielichtigen ukrainischen Herrscher? Oder muss sie ihren Stuhl demonstrativ frei halten? Ihre Bilder im Mannschaftsquartier des DFB waren natürlich nicht nur für die Yellow-Press gedacht, sondern hartes politisches Kalkül ihrer PR-Berater: Sich sonnen im Glanz rechtschaffener Sportler, die den guten Ruf Deutschlands mehren und Abbild unseres Sozialcharakters sein sollten: effektiv, intelligent, individualistisch. Wenn sich da mal nicht Wunschdenken Bahn brach. Die Stippvisite einer DFB-Delegation zur Gedenkstätte in Auschwitz konzipierte der Fußballbund als klares Signal „gegen Antisemitismus, Rassismus und Intoleranz“. So ein demonstratives politisches Statement gab es selten von einer deutschen Mannschaft. Hier ist man beim DFB sensibler geworden. Denkt man nur an die peinlichen Äußerungen des DFB-Trainers bei der WM zu Zeiten der argentinischen Diktatur („Auf den Straßen wurde nicht gefoltert.“). Das Viertelfinalspiel Deutschland gegen Griechenland wurde sogar politisch überfrachtet, da man hier in einigen Medien eine Abrechnung der Griechen mit Angela Merkel und dem harten europäischen Austeritätskurs zur Bewältigung der Finanzkrise erwartete. Im Gegenteil: Es wurde vor allem ein torreiches Spiel. Rührend auch die Kaffeesatzleserei, ob sich am kreativen Fußballstil des Europameisters Spanien ablesen ließe, wann und ob dieses Volk seine Kredite zurückzahle? Selten war mehr Küchenpsychologie… Nur wenig drang allerdings an die interessierte Öffentlichkeit, warum ein neu erbautes Fußballstadion in Lemberg eigentlich dreimal so teuer sein musste wie in Deutschland? Wer prächtig an dem Bauboom verdiente mithilfe größerer Handgelder oder warum die Zahl der tödlichen Arbeitsunfälle in beiden EM-Ländern so hoch war? Eine Studie der FES verdiente Meriten, indem sie die Anstrengungen der Baugewerkschaften beider Länder in Sachen Arbeitsschutz auflistete (Sportkampagne „Fair work“ zur EM). Geschickt wussten die Gewerkschaften den Öffentlichkeitsbonus der Spiele zu nutzen, um bessere Arbeitsbedingungen und Bezahlung durchzudrücken. Davon profitierten übrigens vor allem die ukrainischen Gewerkschaften und ihre Mitglieder. Es kann keine Bilanz dieser EM geben, ohne Fortschritte in der politischen Kultur zu würdigen. Polen und die Ukraine nutzten die Gelegenheit, ihr angespanntes Nachbarschaftsverhältnis zu lockern. Unsere öffentlich-rechtlichen Medien versorgten uns mit zahlreichen Reportagen und Stimmungsbildern von den östlichen Nachbarn und verschoben damit unsere gewohnte europäische Sichtachse von Brüssel Richtung Danzig und Kiew: Eine Bereicherung gegenüber dem gewohnten Eurozentrismus. Schließlich surfte der SZ-Redakteur Thomas Kistner auf der großen Welle der EM, um für seine Aufdeckungen über Korruption
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bei der FIFA die Trommel zu rühren. Beklemmende Lektüre, die gegenwärtig trotz weiterziehender Sportkarawane zum Nachdenken anregt… Die supranationalen Verbände wie FIFA und UEFA gehen einmal mehr als die eigentlichen Gewinner vom Feld. Denn auch diesmal werden Sponsorengelder und Übertragungsrechte Milliarden in die Kasse spülen, wie zuletzt in Südafrika, wo die FIFA mehr als drei Milliarden Dollar absahnte. Auf der Schattenseite bleibt die Ukraine: Die Spiele hatten sie, aber das Brot, sprich: ihre Sozialprogramme, wurde ihnen bereits vorab gekürzt.
Autor: Dieter Pienkny, geboren 1954 in Berlin-Schöneberg, in der B-Jugend linker Verteidiger, Pressesprecher beim DGB Bezirk Berlin-Brandenburg
Der seltsame Triumph gescheiterter Ideen (Buchrezension) von Prof. Dr. Frank Deppe Steffen Lehndorff, Forscher am Institut Arbeit und Qualifikation (IAQ) der Universität Duisburg / Essen, arbeitet seit einigen Jahren mit einer Gruppe von Wissenschaftlern aus zehn Mitgliedsstaaten der Europäischen Union zusammen, die sich – in einer vergleichenden Perspektive – mit den „Umbrüchen in den Wirtschafts- und Sozialordnungen, den nationalen ‚Modellen’ der Organisation von Wirtschaft und Arbeitsmarkt beschäftigt haben. Während sich die Ökonomen der „EuroMemo Gruppe“ schwerpunktmäßig mit dem Verlauf der Konjunktur und den ökonomischen Krisenprozessen, sowie mit der Politik der EU auseinandersetzen[1], konzentrierte sich die Forschergruppe um Lehndorff in ihren bisherigen Arbeiten auf die Umbrüche in den nationalen Kapitalismusmodellen, zu denen auch jeweils spezifische Systeme der Arbeitsmarktregulierung und des Sozialstaats gehören[2]. Sie waren – beständig umkämpftes - Ergebnis sowohl nationaler politischer Kulturen und Traditionen als auch der politischen und sozialen Kräfteverhältnisse zwischen Kapital und Arbeit[3]. Diese Systeme standen in den vergangenen 20 Jahren unter einem starken Veränderungsdruck, der nicht nur durch die Prozesse des technologischen, ökonomischen und demographischen Wandels, sondern auch durch die herrschende Politik und Ideologie des Neoliberalismus erzeugt und verstärkt wurden. Dabei
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spielte wiederum die „Europäisierung“, d.h. die Entwicklung der EU – seit dem Binnenmarktprojekt, der Wirtschafts- und Währungsunion sowie der Osterweiterung – eine zentrale Rolle für die Destabilisierung der bestehenden Modelle. Angesichts vieler Vorarbeiten zu diesen Kontexten lag es nahe, dass die Forscher in dem hier besprochenen Buch von Steffen Lehndorff die Große Krise von 2008 als eine Zäsur markieren, in der sich zunächst einmal das Scheitern jener Ideologie und Politik manifestierte, die die Freisetzung der globalen Märkte unter der Vorherrschaft der Finanzmärkte (als oberster Regulierungsinstanz) mit fortschreitendem Wachstum, Wohlstand und Freiheit verknüpft hatten. Gleichzeitig signalisierte die Krise selbst „Grenzen des Kapitals“ (David Harvey), deren Aufhebung von Seiten der Regierungen und der gesellschaftlichen und politischen Akteure zunächst Rettungsmaßnahmen erforderte, um den „Sturz in den Abgrund“ zu verhindern. Gleichzeitig musste – zumindest kurzfristig und im Gegensatz zu den herrschenden neoliberalen Glaubenssätzen - die politisch-gesellschaftliche Kontrolle über Märkte und Eigentum verstärkt werden. Neue Formen der Regulation der Beziehungen zwischen Markt und Staat müssen nun etabliert werden, die – auf der europäischen wie der nationalen Ebene – einen Bruch mit a) dem finanzmarktgetriebenen und b) dem energieintensiven Wachstums- und Akkumulationsregime vollziehen. Die Chance für eine „neues Wachstums- und Akkumulationsregime jenseits einer einseitigen Exportorientierung, das sich durch Inklusion, Nachhaltigkeit und Verteilungsgerechtigkeit sowie einen domestizierten Finanzsektor definiert“[4], schien sich anzudeuten. Normativ befürworten die Autoren „die Notwendigkeit eines neuen Anlaufs zum Aufbau von Institutionen auf mehreren Ebenen, um auf stärkeren sozialen Ausgleich gerichtete nationale Wirtschafts- und Sozialmodelle in Europa zu entwickeln“ (S.10). Diese Auffassung wurde seit 2008 auch von amerikanischen Ökonomen – wie Paul Krugman und Joseph Stiglitz – vertreten, die sich nunmehr in ihrer Kritik an Marktradikalismus und Neoliberalismus bestätigt sahen. Schon 2010 mussten sie jedoch zur Kenntnis nehmen, dass sich jenseits der finanzmarktkritischen Bekenntnisse in der Praxis des Krisenmanagements – über die Rettung des Finanzsektors und den anschließenden Übergang zur Politik der „Schuldenbremse“ die neoliberale Politik als ein „seltsamer Triumph gescheiterter Ideen“ behauptete. Diese Formulierung von Paul Krugman haben Lehndorff und seine Gruppe als Titel ihres Buches übernommen. Sie erinnern dabei auch an die Formulierung des britischen Soziologen Colin Crouch, der schon vor einigen Jahren die gesellschaftlichen Debatten mit seiner Kritik der „Post-Demokratie“ belebt hatte und zuletzt über den „seltsamen Nicht-Tod des Neoliberalismus“ schrieb[5]. Damit hat er den in diesem Band versammelten Aufsätzen ihr Thema vorgegeben: sie „beschäftigen sich mit dem Verlauf und den
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Wirkungen dieses Nicht-Todes und Triumphes für die Wirtschaft und die Arbeitsmärkte in zehn europäischen Ländern“ (S. 8). Sie fragen, wie sich in diesen Ländern die verschiedenen „Spielarten“ („varieties“) des Wohlfahrtsstaates und des Kapitalismustyps zuzuordnen sind, die Wechselwirkung zwischen ökonomischer Krise, institutionellen Veränderungen und den politischen Kräfteverhältnissen entwickelt hat. Aus diesem Vergleich (S. 14 – 16) ergibt sich: „Mit sehr wenigen Ausnahmen können die ‚Spielarten des Kapitalismus’ in Europa heute als ‚Spielarten der Krise’ bezeichnet werden. Der Charakter und die Tiefe der Krise unterscheiden sich erheblich von Land zu Land“ (S. 13). Der Band wird durch einen ausgezeichneten Beitrag eröffnet, in dem Lehndorff den Ansatz, die Fragestellungen und die wichtigsten Ergebnisse der vergleichenden Länderanalysen vorstellt und kommentiert. Danach folgen 10 Länderstudien (durchaus von unterschiedlicher Qualität), wobei schon auffällt, dass – mit Ausnahme von Ungarn, wo sich der Zusammenhang von Krise und Politik als radikale Rechtsverschiebung manifestiert (S. 149 ff.) – die Länder Ost- und Mitteleuropas ausgespart werden. Diese werden von der Krise betroffen, ohne dass sie schon die krisenhafte Transformation vom Staatssozialismus zum „EuroKapitalismus“ – verbunden mit einer massenhaften Zunahme von Armut und sozialer Unsicherheit, aber auch mit dem Vertrauensverlust in die neuen herrschenden Eliten, die die Vorherrschaft des Auslandskapitals managen – bewältigt hätten. Im letzen Kapitel von Janine Leschke u. a. (S. 284 ff.) über die Wirkungen der Krise und der EU-Politik im Bereich des Arbeitsmarktes und der Armut wird zumindest deutlich, dass gerade diese Länder nach 2008 in besonderer Weise betroffen waren: der Output brach ein, die Arbeitslosigkeit (und die Armut) stieg stark an, das Staatsdefizit nahm ebenfalls stark zu, wobei die EUAusteritätspolitik dieses Tendenzen noch verstärkte. Vor diesem letzten Beitrag findet sich ein Text von Hans-Jürgen Urban über „Krisenkorporatismus und gewerkschaftliche Revitalisierung in Europa“ (S. 226 ff.). Urban argumentiert, „dass die korporatistischen Arrangement, die sich in der Krise des Finanz-MarktKapitalismus herausgebildet haben (...) als Elemente eines nationalen KrisenKorporatismus gefasst werden können“. Sie sind aber – auch angesichts der Machtverluste der Gewerkschaften in den Jahrzehnten vor der Krise - mit hohen Kosten und Risiken verbunden. Urban plädiert für eine „Strategie der autonomen Revitalisierung“ (S. 243) – in der Auseinandersetzung mit der Austeritätspolitik und einer „Mehrebenen-Politik“, die der „Europäisierung gewerkschaftlicher Politik“ Rechnung tragen muss und zugleich die Interessenvertretung „bündnispolitisch“ erweitert („Mosaik-Linke“). Die Länderstudien vermitteln zunächst einmal ein Bild von der Vielfalt der nationalen Entwicklungsmodelle, die sich nicht nur institutionell, sondern auch nach ihrer ökonomischen Stärke und Entwicklung, nach spezifischen nationalen Strukturproblemen, aber auch nach ihrer Einbeziehung in das System des
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Weltmarkts und des Finanzmarktkapitalismus, unterscheiden. Dennoch, so die zusammenfassende Auswertung, alle Modelle sind deutlich instabiler geworden (S. 13). Die Wirkung der Krise bestand fast überall darin, dass die „Umwandlung privater in staatliche Schulden“ zu Anlass genommen wurde, öffentliche Ausgaben radikal zu kürzen und - dann auch unter dem Druck der EU und speziell Deutschlands – ein neues Austeritätsregime, eine „Art Fiskaldiktatur“ zu etablieren (S. 16). Dabei haben die „sozialen und regionalen Ungleichheiten einen erneuten Schub bekommen“ (S. 17), der in einigen Ländern seit Ende 2011 durch den Übergang in eine erneute vom EU-Schuldenregime beförderte Rezession, verstärkt wird. Schweden (S. 36 ff.) bildet eine Ausnahme: das Kapitalismusmodell schließt immer noch „den sozialen Ausgleich in vergleichsweise starkem Maße ein..., (es hat) die Rezession im Großen und Ganzen unbeschädigt überstanden und erfreut sich unverminderter Unterstützung aus weiten Teilen der Gesellschaft“ (S. 18). Um so stärker sind Regime betroffen, die vor 2008 (vor allem nach dem Beitritt zur EU) hohe Wachstumsraten erzielten, von ausländischen Direktinvestitionen profitierten und von den transnationalen Finanzmarktakteuren besonders geschätzt wurden. Akkumulierte Handelsbilanzdefizite, die Dominanz des Immobiliensektors und das Wachstum privater und öffentlicher Schulden in der Boomperiode haben neben Irland vor allem die Südländer besonders krisenanfällig werden lassen. Sie geraten mehr und mehr in eine Situation, in der sie sich scheinbar ohne Alternative in die – extern verstärkte - Spirale von Schuldenabbau-Politik und Rezession manövriert haben und – im Rahmen des EU-Rettungschirmes sowie des anstehenden Fiskalpakts“ – die Ausschaltung von nationaler Souveränität und den Abbau der Demokratie akzeptieren müssen. Davon hebt sich eine Gruppe von Ländern in Mittel- und Nordeuropa ab, die (ebenfalls unterschiedlich) in geringerem Maße von den Wirkungen der Krise und der Staatsschulden betroffen sind und die sich – vor allem aufgrund ihrer Exportwirtschaft – schneller wieder in den konjunkturellen (vor allem von den BRICStaaten angeschobenen) Aufschwung seit Ende 2009 eingefügt haben – mit der Folge einer Entlastung sowohl des Arbeitsmarktes als auch der Staatsschulden. Deutschland nimmt innerhalb dieser Gruppe – nicht nur aufgrund seiner ökonomischen Stärke, sondern auch durch das politische Gewicht der MerkelRegierung in der EU (die bis 2012 von der Zusammenarbeit mit dem französischen Präsidenten Sarkozy profitierte) – eine Spitzenposition ein. Lehndorff (S. 89 ff.) analysiert den Wandel des „deutschen Modells“ seit Anfang des Jahrhunderts. Die deutsche Exportwirtschaft profitierte insbesondere von der EuroEinführung (1999) und den niedrigen Einkommenszuwächsen. Diese Konstellation, die von der Exportorientierung bestimmt wird, wurde durch die Politik der SchröderFischer-Regierung (Flexibilisierung Arbeitsmarktes, Schaffung eines Niedriglohnsektors, Umbau der Sozialsysteme, Schwächung der Gewerkschaften in
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der Verteilungsauseinandersetzung usw.) noch weiter ausgebaut. Sehr genau und differenziert zeigt Lehndorff den Zusammenhang zwischen diesen „Erfolgen“ und der Zunahme der ungleichen Entwicklung und der steigenden Verschuldung der Defizitländer in der EU. Mit dem Krisenmanagement im Zeichen der „Schuldenbremse“ setzt sich – in Deutschland etwas schwächer als z. B. in Großbritannien, in Spanien und Italien – eine neue Phase neoliberaler Politik durch, die auf weitere Entstaatlichung bzw. auf die „Verstümmlung des Öffentlichen“ (S. 112) zielt. Mit führenden Positionen beim EU-Krisenmanagement übernimmt Deutschland die Aufgabe der Durchsetzung dieser Politik im EU-Raum. „Die Fokussierung auf die Staatschulden“ wird als „Hebel“ eingesetzt, „um das volle Programm des Neoliberalismus ein weiteres Mal aufzulegen, nachdem das Befolgen der neoliberalen Glaubenssätze bereits in die bislang tiefste Krise des Finanzmarktkapitalismus hineingeführt hat“ (S. 24). In dieser zweiten Phase der sich radikalisierenden Austeritätspolitik muss allerdings – auch angesichts des wachsenden Widerstandes von Gewerkschaften und von sozialen Bewegungen – zunehmend zur Anwendung „außerökonomischer Gewalt“, d.h. zur Etablierung eines autoritären Kapitalismus übergegangen werden. Die in diesem Band versammelten Analysen zeigen sehr deutlich, wie die Gewerkschaften (in den verschiedenen Ländern) in diese Krisenprozesse, aber auch in die Politik des Krisenmanagements einbezogen sind. Gerade in Deutschland fällt es schwer, den Zusammenhang zwischen der Beschränkung auf ein erfolgreiches „Kerngeschäft“ gewerkschaftlicher Interessenvertretung (in den exportstarken Sektoren der Industrie) und der Rolle der deutschen Politik als „Zuchtmeister“ in der EU, damit auch der Verantwortung dieser Politik für die Verschärfung der Krisenprozesse und der sozialen Desintegration in anderen Ländern kritisch aufzuarbeiten und im Hinblick auf die Politik der Gewerkschaften strategisch zu reflektieren. Lehndorff macht uns darauf aufmerksam, dass - angesichts des heutigen Internationalisierungs- und Verflechtungsgrades – nationale und europäische Politik in einer „Mehrebenenperspektive“ zusammengebracht werden müssen. Um die deutsche „Beggar-my-Neighbour-Politik“ zu stoppen, müssen die Gewerkschaften vorerst ihre Hausaufgaben, d.h. die Stärkung der Binnennachfrage (und den Abbau der Leistungsbilanzüberschüsse), erledigen. Auf der EU-Ebene hingegen käme es darauf an, ein alternatives Konzept der Demokratisierung, der Regulierung des Finanzsektors, der Schaffung einer Ausgleichsunion und der Einrichtung einer europäischen Wirtschaftsregierung zu vertreten, die von der einseitigen Orientierung auf Staatschulden wegkommt (S. 31/32). In dieser Richtung sollte sich der (durchaus langfristige) Kampf um eine Neubegründung Europas – jenseits des Diktats der Finanzmärkte und des deutschen Hegemoniestrebens – bewegen. Schon gibt es Anzeichen dafür, dass auch bei den nationalen Wahlen (z. B. in Frankreich) die Ablehnung dieser Politik mehrheitsfähig wird. Für die dringend notwendige
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Erneuerung der Europadebatte in Deutschland und in den ‚DGB-Gewerkschaften[6] bietet dieses Buches eine unverzichtbare Materialgrundlage und Argumentationshilfe. Steffen Lehndorff (Hrsg.), Ein Triumph gescheiterter Ideen. Warum Europa tief in der Krise steckt. Zehn Länder-Fallstudien, 285 Seiten, VSA-Verlag Hamburg 2012. Literatur/Quellen: [1] Vgl. zuletzt: EuroMemo Gruppe, EuroMemo 2012. Europäische Integration am Scheideweg: Mehr Demokratie für Stabilität, Solidarität und soziale Gerechtigkeit, Supplement der Zeitschrift „Sozialismus“, Hamburg (VSA-Verlag, 3/2012. [2] Bosch, G. u.a., European employment models in flux: a comparison of institutional change in nine European countries, Basingstoke 2009; Anxo, D. u.a. (Eds.), The welfare state and life transitions: a European perspective, Cheltenham 2010; Lehndorff, S. (Hrsg.), Abriss, Umbau, Renovierung? Studien zum Wandel des deutschen Kapitalismusmodells, Hamburg: VSA Verlag 2009. [3] Auch die Lehndorff-Gruppe bezieht sich auf die klassische Arbeit von Gösta Esping-Anderson (The Three Worlds of Welfare Capitalism, Princeton 1990), der in Europa drei Modelle – den sozialdemokratischen, den residualen und den konservativen Wohlfahrtsstaat – unterschied; in den Forschungen über die „Spielarten“ des Kapitalismus wurde insbesondere zwischen dem Typus der „liberalen Marktwirtschaft“ und der „koordinierten Marktwirtschaft“ unterschieden. Das Esping-Anderson-Modell wurde durch das Modell des „postautoritären Wohlfahrtsstaates“ (Spanien, Portugal, Griechenland) ergänzt. Seit der Durchsetzung des Binnenmarktprojektes – später infolge der Osterweiterung - sind die nationalen Sozialsysteme in der EU allerdings schon lange vor der Krise nach 2008 unter Druck geraten; vgl. u.a. Bieling, H. J. / Deppe, F. (Hrsg.), Arbeitslosigkeit und Wohlfahrtsstaat in Westeuropa. Neun Länder im Vergleich, Opladen 1997. [4] Hübner, K., Regimewechsel – Nach dem Finanzmarktkapitalismus, in: WSIMitteilungen, 12, 2011, S. 640. [5] Crouch, C.; Post-Demokratie, Frankfurt / Main 2008; ders., Das befremdliche Überleben des Neoliberalismus. Postdemokratie II., Berlin 2011.
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[6] Vgl. den Aufruf „Europa neu begründen“, der im April 2012 von Frank Bsirske, Annelie Buntenbach, Rudolf Hickel, Steffen Lehndorff und Hans-Jürgen Urban initiiert wurde.
Autor: Prof. Dr. Frank Deppe, geboren 1941, Emeritierter Professor der Politikwissenschaft
Ungleichheit und Staatsverschuldung von Dr. Michael Dauderstädt, FES Die Staatsverschuldung vieler Demokratien hat im Zuge der Finanz- und Wirtschaftskrise neue, für viele beunruhigende, Höhen erreicht. Dahinter verbirgt sich ein langfristiger Trend, der in den meisten westlichen Demokratien schon seit Jahrzehnten die Staatschulden wachsen ließ. Sie stiegen mit jedem Haushaltsdefizit sowohl absolut als auch meist relativ zum Bruttoinlandsprodukt (siehe Grafik 1). Haushaltsüberschüsse, die die Staatsschulden senken würden, sind in den meisten reichen Demokratien eine große Seltenheit.
Quelle: IWF
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Mehr Staatsverschuldung durch Ungleichheit Hinter dieser Entwicklung stehen einige systemische Trends, die in der Krise seit 2008 nochmals verstärkt wurden. Dazu zählen: •
Steigende Staatsausgaben durch Ungleichheit;
•
Steigende Staatsausgaben durch Produktivitätsunterschiede im privaten und öffentlichen Sektor bei komplementärer Entwicklung des Bedarfs an öffentlichen und privaten Gütern und Dienstleistungen;
•
Steuervermeidung seitens der Vermögensbesitzer und „Besserverdienenden“, die durch die Globalisierung erleichtert wird;
•
Hohe Sparneigung und wirtschaftliche Instabilität durch Ungleichheit und Vermögenswachstum
1. Die Mischung von politischer Gleichheit und wirtschaftlicher Ungleichheit In einem demokratischen und sozialen Rechtsstaat haben alle Menschen (zumindest die mit der Staatsbürgerschaft) gleiche Rechte auf ein bestimmtes Lebenshaltungsniveau. Dies äußert sich etwa in den Sätzen für Sozialhilfe (Arbeitslosengeld II), in der gesetzlichen Kranken- und Rentenversicherung und im (weitgehend) freien Zugang zu Bildung und Sicherheit. Je ungleicher die Einkommen in einer Gesellschaft verteilt sind und je größer die Zahl der Armen ist, desto weniger Menschen können sich den gesellschaftlich akzeptablen Mindestlebensstandard aus ihrem Markteinkommen leisten. Damit ergibt sich die Notwendigkeit, entweder diese zu geringen Einkommen aus öffentlichen Mitteln zu erhöhen oder die Leistungen zu subventionieren. Die Finanzierung über Steuern und Sozialversicherungsbeiträge seitens der Empfänger reicht nicht aus, um die Kosten der Angebotserstellung zu decken. Im Einzelfall geschieht das bei einer Versicherungsregelung (z.B. Krankenversicherung) zwar immer wieder, da es sich um eine Umverteilung innerhalb der Versichertengemeinschaft (z.B. von den Gesunden zu den Kranken) handelt. Aber bei progressiver Besteuerung und linearen Beiträgen (also ohne „Kopfpauschale“) gehört diese Umverteilung zum System. Die Ungleichheit steigert auf diese Weise die Staatsausgaben und Einkommensersatzleistungen.
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2. Strukturelle Produktivitätsunterschiede Hinzu kommt ein auch ohne Ungleichheit angelegter Trend, dass eine Gesellschaft für Aufwendungen wie Absicherung gegen soziale Risiken und öffentliche Güter einen tendenziell immer größeren Teil ihres Einkommens ausgeben muss, da diese Leistungen entweder gar nicht oder nur in einem geringeren Umfang von den sonst in der Gesamtwirtschaft üblichen Produktivitätszuwächsen profitieren. Aufwendungen für Industriegüter, die mit immer weniger Arbeit hergestellt werden können, oder für Dienstleistungen, die dank moderner Informationstechnologie schneller und besser zu erbringen sind, machen einen tendenziell immer geringeren Teil der Ausgaben der privaten Haushalte aus. Staatliche Leistungen bestehen aber zum großen Teil aus Einkommensersatz wie Rente, Kranken- oder Arbeitslosengeld oder aus Dienstleistungen, die ohne Qualitätseinbußen kaum zu beschleunigen sind. Gleichzeitig steigt häufig der Bedarf an öffentlichen Gütern und Dienstleistungen mit dem Angebot und der Nachfrage nach privaten Gütern (z.B. mehr Autos brauchen mehr Straßen, Polizei, Verkehrsgerichtsbarkeit, Unfallmedizin etc.). Damit muss der Anteil öffentlicher Güter und Dienstleistungen am Verbrauch und an den Ausgaben der Gesellschaft tendenziell immer weiter zunehmen. 3. Ungeliebte Steuern Die durch Ungleichheit und Produktivitätsdifferentiale wachsenden Staatsausgaben müssten nun nicht zwangsläufig zu einer höheren Staatsverschuldung führen, sondern könnten auch durch höhere Einnahmen finanziert werden. Realwirtschaftlich würden die dazu notwendigen Mittel teilweise dank der Produktivitätssteigerungen in den anderen Sektoren zur Verfügung stehen, ohne dass Konsumeinschränkungen notwendig werden.[i] Hinzu kommt noch ein Umverteilungsrest, der sich in höherer Besteuerung und relativ höheren Abgabenlasten für die Reicheren niederschlägt. Tatsächlich bringen die wohlhabenderen Haushalte den Löwenanteil der Einkommenssteuer auf und sie werden auch – absolut, wenn auch nicht relativ und auch nur bis zur Beitragsbemessungsgrenze – stärker durch die Sozialabgaben belastet. Die betroffenen Schichten antworten darauf durchaus erfolgreich mit politischem Gegendruck und Vermeidungsstrategien. Die Beitragsbemessungsgrenze selbst ist nur ein Ausdruck davon; die seit längerer Zeit zurückgehenden Anteile der Unternehmens-, Vermögens- und Erbschaftssteuer sowie sinkende Spitzensteuersätze (z.B. Senkung der Kapitalertragssteuer auf 25%) belegen ebenfalls die Macht der Wohlhabenden. Außerdem verfügen sie über mehr oder weniger legale Möglichkeiten, sich dem Zugriff des Fiskus zu entziehen: Steuerflucht, Verlagerung von Gewinnen in Tochterunternehmen an Niedrigsteuerstandorten, Ausnutzung von
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Steuerschlupflöchern usw.. Im Endeffekt dürften viele Reiche einen geringeren Anteil ihres Einkommens für Steuern und Abgaben ausgeben als ärmere Haushalte. Öffentliche Güter laden strukturell zum Trittbrettfahren ein, das durch effiziente Kontrolle und ein klareres gesellschaftliches Bewusstsein zu bekämpfen ist. 4. Übersparen und Krise Nicht zuletzt führt die Ungleichheit der Einkommen dazu, dass reichere Haushalte relativ viel sparen und somit die Nachfrage schwächen, wenn andere Akteure sich nicht im gleichen Umfang verschulden und so das Geld ausgeben, das die reichen Haushalte sparen. Wenn Unternehmen oder andere (ärmere?) Haushalte dies nicht tun, muss ein Staat, der sich für Wachstum und Konjunktur verantwortlich fühlt, als Schuldner einspringen. Das zeigte sich deutlich in der großen Krise 2008/09, aber auch strukturell angesichts des langfristigen, demografisch bedingten Spartrends. Eine auswuchernde Geldvermögensbildung bläht den Finanzsektor auf und erhöht dessen inhärente Instabilität. Die daraus resultierenden Krisen erfordern weitere Staatsausgaben und -verschuldung. Auch hier käme alternativ eine Abschöpfung der nicht ausgegebenen Einkommen durch höhere Besteuerung in Frage. Mehr Ungleichheit durch Staatsverschuldung? Ausgabenwachstum und Steueraversion führen zu einem stetigen Wachstum der Staatsschulden. Die Gläubiger sind zum großen Teil die Mitglieder der Gesellschaft, die über Vermögen verfügen und deren Einkommen ihre Ausgaben übersteigen. Für sie sind (oder waren jedenfalls bis 2010) Staatsanleihen ein risikofreie Anlageoption. Entsprechend fließen die Zinsen der Staatschuld überwiegend an diese wohlhabenden Gläubiger, erhöhen damit deren Einkommen und – bei weiter hoher Sparneigung – auch deren Vermögen weiter. Kritiker der Staatsverschuldung weisen daher zu Recht darauf hin, dass die Steuerzahler nur einen um die staatliche Zinslast zu bereinigenden realen Gegenwert in Form öffentlicher Güter und Dienstleistungen für ihre Steuern erhalten. Dieses traurige Schicksal teilen die Konsumenten öffentlicher Güter aber mit denen privater Güter. Denn auch in deren Marktpreisen sind die Finanzierungskosten (die Zinslast der Unternehmen) enthalten. Im Ergebnis wächst die Ungleichheit in verschuldeten Gesellschaften weiter. Umgekehrt braucht die ungleiche Gesellschaft Schulden und Schuldner, damit das Sparen und der Vermögensaufbau seitens der Reicheren nicht zu Nachfrageausfällen und Rezession führt. Denn Vermögen und Schulden können nur im Gleichschritt wachsen (oder schrumpfen). Bei der Staatschuld haben die ärmeren Haushalte immerhin den Vorteil, dass sie als Bürger/innen Miteigentümer bzw. Nutznießer der damit finanzierten Realvermögen
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(z.B. Infrastruktur) oder öffentlichen Güter sind. Für sie ist eine schuldenfinanzierte Schule ähnlich sinnvoll wie ein schuldenfinanziertes eigenes Haus. Ohne Schulden hätten sie entweder die Kosten sofort voll zu tragen oder müssten während einer längeren Ansparperiode auf das gewünschte Gut warten. Auch der Hausbau verschärft die Ungleichheit der Verteilung der Einkommen und Geldvermögen zugunsten der Gläubiger (nicht die der Gesamtvermögen, da das Reinvermögen des Häuslebauers zunächst gleich bleibt; er hat nur seine Bilanz um Haus und Schulden verlängert). Gedankenexperiment: Staatsverschuldung ohne Ungleichheit In einer Gesellschaft, in der Einkommen und Vermögen gleich verteilt wären, wäre die Unterscheidung zwischen privaten und öffentlichen Gütern von deutlich geringerer Bedeutung. Nennen wir sie Gini-Null-Gesellschaft, da in ihr das bekannteste Ungleichheitsmaß, der Gini-Index, null wäre. Weil so die Notwendigkeit entfiele, durch Umverteilung für einen menschenwürdigen Mindestwohlstand zu sorgen, könnte man die Versorgung der Menschen mit Gütern und Dienstleistungen getrost weitgehend dem Markt überlassen. Die Haushalte würden bei gleicher Kaufkraft über ihre Nachfrage das Angebot an Gütern und Dienstleistungen ihren Bedürfnissen anpassen. Gleiche Finanzierung öffentlicher Ausgaben Echte öffentliche Güter, bei denen es schwierig ist, einzelne von ihrer Nutzung auszuschließen, auch wenn sie nichts zu ihrer Produktion beitragen (z.B. Sicherheit), müssten weiter durch Steuern finanziert werden. Der Steuersatz wäre aber für alle gleich. Über ihr Wahlrecht haben auch hier alle die gleiche Einflussmöglichkeit auf die Ausgestaltung des Angebots. Markt und Staat wären beide demokratisch mit gleichen Rechten und Pflichten und gleicher Macht, die Struktur des Angebots den Bedürfnissen der Menschen anzupassen. Wie würde in einer solchen Gesellschaft eine größere Investition oder eine umfangreichere Ausgabe finanziert und eventuell über eine Verschuldung entschieden? Bei privaten Gütern (z.B. Haus) läge eine genossenschaftliche Finanzierung nahe wie beim Bausparen, bei der rotierend einzelne Haushalte ihren Kapitalstock erhöhen und dazu kontinuierlich sparen. Bei öffentlichen Gütern (z.B. Sicherheit) wäre das klassische Beispiel der Kriegskredit. Er wäre von allen Haushalte in gleicher Höhe aufzubringen. Entsprechend würden alle im gleichen Umfang von den Zinszahlungen und späteren Tilgungen profitieren. Realwirtschaftlich entspricht dieser Finanzierung im privaten wie öffentlichen Fall ein Konsumverzicht. Die kaufkräftige Nachfrage wird von Konsumgütern auf Häuser
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oder Rüstungsgüter umgelenkt. Entsprechend muss der Einsatz der Produktionsfaktoren neu verteilt werden. Inwieweit dies tatsächlich einen Konsumverzicht erfordert, hängt aber von deren Auslastungsgrad ab. Nur bei Vollbeschäftigung (und in einer geschlossenen Volkswirtschaft) führt die zusätzliche Nachfrage nach Kapitalgütern zwangsläufig zu einer Einschränkung des Angebots (und damit des Verbrauchs) an Konsumgütern. Bei Unterbeschäftigung kann dagegen das Angebot ausgedehnt und die Nachfrage befriedigt werden. Schuldenlast und Steuerlast (Neo-)klassische Ökonomen von Ricardo bis Barro hielten die Staatsfinanzierung über Steuern oder Schulden für gleichwertig, da im Falle einer Schuldenfinanzierung die Haushalte Ersparnisse bilden würden, um für später zu erwartende höhere Steuern zum Zwecke des Schuldendienstes (Zinsen und Tilgung) vorzusorgen. Es käme also in beiden Fällen zu einer Einschränkung der privaten Nachfrage, womit auch der eventuell erwünschte Konjunkturanreiz des staatlichen Defizits annulliert würde. Tatsächlich ist aber Staatsverschuldung ähnlich zu sehen wie eine Verschuldung des Unternehmenssektors. Die Kunden bilden auch keine Rücklagen, um für höhere Preise vorzusorgen, die ihnen die Unternehmen, die sich heute für Investitionen verschulden, später abverlangen werden. Die Ricardo-Barro-Annahme macht nur Sinn, wenn Steuerzahler und Gläubiger zwei unterschiedliche Gruppen sind, also etwa im Fall der Staatsverschuldung im Ausland. Handelt es sich aber um dieselben Haushalte, so hätten diese offensichtlich keinen Grund, für den Fall der Tilgung Rücklagen zu bilden. Denn sie wären ja selbst die Empfänger der rückgezahlten Staatsschulden, hätten also gleichzeitig die höheren Steuerausgaben und die Einnahmen aus der Rückzahlung der Staatsschuld. So wäre es auch im Fall der Gini-Null-Gesellschaft, wenn alle Haushalte gleich zur Staatsfinanzierung beitrügen. Würde nur ein Teil der Haushalte dem Staat Kredite gewähren, so wäre das einer Kreditvergabe zwischen Haushalten vergleichbar. Eine hohe Staatsverschuldung wäre in einer Gini-Null-Gesellschaft offensichtlich auch kein Problem, da die Haushalte gleichzeitig die Steuerzahler und die Empfänger der Zinsen wären. Der wirkliche Wohlstandsgewinn resultiert – ähnlich wie bei Unternehmensinvestitonen - aus dem Realkapitalstock, der über die Staatsverschuldung geschaffen wurde (z.B. Infrastruktur). Fazit: Unproblematische Verschuldung bei Gleichheit und Freiheit Die Probleme der Staatsverschuldung resultieren offensichtlich vor allem daraus, dass die Gläubiger eine Minderheit darstellen, die eventuell als Ausländer obendrein auch keine Steuern zahlen und aus dem durch ihre Kredite finanzierten
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Realkapitalstock kaum Nutzen ziehen. In einer gleichen und freien (also nicht von ausländischen Gläubigern abhängigen) Gesellschaft stellen Staatsschulden – egal in welcher Höhe – kein dramatisches Problem dar. Dieser Aufsatz beruht weitgehend auf einem Beitrag des Autors für die Ausgabe Nr.190 der Zeitschrift für sozialistische Politik und Wissenschaft spw (http://www.spw.de/data/spw_190_dauderstaedt.pdf ) Literatur/Quellen: [i] Vgl. Dauderstädt, Michael „Der Fortschritt ist bezahlbar“ (WISO direkt) Bonn/FES 2011
Autor: Dr. Michael Dauderstädt, geboren am 24. Oktober 1947 in Nördlingen, seit 2006 Leiter der Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik der Friedrich Ebert Stiftung
Ein Mindestlohn ist nicht genug von Wolfgang Dincher & Dr. Ingmar Kumpmann Ein gesetzlicher Mindestlohn muss um Verbesserungen im System der Grundsicherung ergänzt werden, damit seine Ziele erreicht werden. Ein allgemeiner gesetzlicher Mindestlohn ist inzwischen eine zentrale Forderung der Gewerkschaften, vieler Sozialverbände, der Arbeitskammer des Saarlandes, der Arbeitnehmerkammer Bremen und inzwischen auch einiger Länderregierungen. Ziel ist es, die zunehmende Ausfransung der Lohnstruktur nach unten zu beenden. Die Zunahme der Niedriglohn-Beschäftigung ist in den letzten Jahren auf die geschwächte Verhandlungsposition der Arbeitskräfte zurückzuführen. Diese ist nicht nur Folge hoher Arbeitslosigkeit und abnehmender Tarifbindung, sondern auch Ergebnis der Arbeitsmarktreformen und des größeren Drucks der Jobcenter auf die
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Erwerbslosen. Das Hartz IV-System führt dazu, dass die Arbeitskräfte gegenüber den Arbeitgebern bei Lohn und Arbeitsbedingungen zu immer mehr Konzessionen bereit sind.[1] Unter dem Druck der Jobcenter haben viele Erwerbslose keine Alternative, wenn ihnen ein schlecht bezahlter Job angeboten wird. Die Löhne geraten auch deshalb unter Druck, weil sich Arbeitgeber darauf verlassen können, dass sehr niedrige Lohneinkommen durch Leistungen der Grundsicherung (Hartz IV) auf das politisch definierte Existenzminimum aufgestockt werden. Die Arbeitgeber profitieren somit von einer Subventionierung durch das System der Grundsicherung. Den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern fehlt unter dem Druck der Jobcenter die Ausweichoption. Ein Mindestlohn soll nun der Lohndrückerei Grenzen setzen. Mindestlohn und Existenzminimum Doch ist der Mindestlohn als Instrument der Armutsbekämpfung nicht ausreichend, da er nur die Beschäftigten erreicht, an den Arbeitslosen aber ganz vorbeigeht. Auch für Teilzeitbeschäftigte und Personen, die Kinder oder Lebenspartner zu versorgen haben, ist ein Mindestlohn kein sicherer Schutz vor Armut. Deshalb sind neben dem Mindestlohn zusätzlich Verbesserungen bei der Grundsicherung erforderlich, von denen alle von Armut bedrohten Bevölkerungsgruppen profitieren. Schon seit Jahren haben Wohlfahrtsverbände, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aufgezeigt, wie bei der Bestimmung der Hartz IV-Leistungen das Existenzminimum kleingerechnet wurde, um Kosten zu sparen und um den Druck auf die ökonomisch Benachteiligten aufrecht zu erhalten.[2] Beispielsweise hält der Paritätische Gesamtverband für Singles einen Regelsatz der Grundsicherung von monatlich mindestens 442 Euro einschließlich einmaliger Leistungen (statt heute 374 Euro) für erforderlich, um das Existenzminimum zu sichern. Die 55. Kammer des Sozialgerichts Berlin hat einen Vorlagebeschluss an das Bundesverfassungsgericht gefasst, in dem es um die Klärung der Verfassungsmäßigkeit der neuen Regelsatzhöhe geht. Nach Auffassung der Kammer hat der Gesetzgeber bei der Festlegung des Regelsatzes seinen Gestaltungsspielraum verletzt und ist dadurch zu einem deutlich zu niedrigen Regelbedarf gelangt. Zusätzlich ist zur Eindämmung von Armut eine Ausweitung von kostenlos zugänglichen öffentlichen Sachleistungen, wie die freie Nutzung von Sportstätten, Bibliotheken und Kultureinrichtungen oder kostenlose Schulmahlzeiten, sinnvoll. Da
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solche Leistungen diskriminierungsfrei und ohne Bedürftigkeitsprüfung zugänglich sind, erreichen sie auch Personengruppen in verdeckter Armut, die aus verschiedenen Gründen bei den Behörden ihre Ansprüche auf Grundsicherung nicht geltend machen. Kräfteverhältnisse am Arbeitsmarkt ausgleichen Der Mindestlohn ist ein Instrument, das bei den Ergebnissen der Marktprozesse ansetzt. Die Kräfteverhältnisse am Markt werden durch ihn nicht geändert. Deshalb besteht die Gefahr, dass der Mindestlohn teilweise umgangen wird, indem schlecht bezahlte Beschäftigung in die Bereiche der Scheinselbstständigkeit, der Honorar- und Werkverträge oder der Schwarzarbeit verlagert wird, also in Bereiche, in denen der Mindestlohn nicht wirkt. Um dies zu verhindern sind nicht nur zusätzliche Kontrollen erforderlich. Notwendig ist es, die Verhandlungsposition der Arbeitskräfte insgesamt zu stärken. Dazu ist auch der Druck der Jobcenter auf die Erwerbslosen zu reduzieren. Ein wichtiges Mittel dafür ist die Abschaffung von Sanktionsdrohungen gegen Hartz IV-Bezieher/innen. Dadurch würden nicht erst die Marktergebnisse, sondern bereits die Kräfteverhältnisse am Markt verändert: Die Position der Arbeitskräfte würde insgesamt gestärkt – auf dem regulären Arbeitsmarkt ebenso wie in den Bereichen, die (wie die Scheinselbstständigkeit oder Honorarverträge) zur Umgehung von Arbeitsmarktregulierungen genutzt werden können. Änderungen bei der Grundsicherung – bessere Leistungen und eine Reduzierung des Drucks der Behörden auf die Erwerbslosen – sind notwendig, um die Lebenslagen der Menschen mit niedrigen Einkommen zu verbessern. Die Verbesserung der Lage der Erwerbslosen ist im Interesse der Beschäftigten und ihrer Gewerkschaften. Wenn dadurch deren Verhandlungsposition gestärkt wird, ist auch ein Mindestlohn leichter durchzusetzen ist. Man könnte die Frage stellen, ob sich ein Mindestlohn erübrigen würde, wenn die Verhandlungsposition der Arbeitskräfte auf diese Weise gestärkt wäre. Wäre also die Verbesserung der Grundsicherung ausreichend und ein Mindestlohn dann überflüssig? Eine stärkere Verhandlungsposition der Arbeitskräfte verbessert die Löhne im Niedriglohnbereich, führt aber nicht automatisch zu einer angestrebten MindestLohnhöhe. So ist der zu erzielende Lohn nicht das einzige Motiv von Menschen, eine angebotene Arbeit anzunehmen. Die Perspektive, durch einen (auch schlecht bezahlten) Job den Einstieg in das Berufsleben zu schaffen, Freude an der Arbeit
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selbst oder die sozialen Kontakte, die viele Arbeitsplätze bieten, können Gründe dafür sein, auch in schlecht entlohnten Jobs zu arbeiten. Auch die wichtige Rolle, die Erwerbsarbeit in unserer Gesellschaft bei der Identitätsbildung des Einzelnen spielt, und die Bedeutung, die sie durch die Strukturierung der Zeit bei der Orientierung im Alltag haben kann, veranlasst viele Menschen zur Annahme auch sehr schlecht bezahlter Arbeitsplätze. Wenn die Gesellschaft eine absolute Lohnuntergrenze für Erwerbsarbeit in einer ganz bestimmten Höhe setzen will, dann ist diese nicht nur indirekt durch Stärkung der Verhandlungsposition der Arbeitnehmer anzustreben, sondern auch direkt zu formulieren und gesetzlich festzulegen. Außerdem dürfte in der politischen Praxis ohnehin der Streit nicht um die Frage gehen, ob man entweder den Mindestlohn oder eine bessere Grundsicherung durchsetzen sollte. Vielmehr gehen beide Forderungen in der Regel Hand in Hand und werden gemeinsam entweder bessere oder schlechtere Chancen auf Umsetzung haben. Deshalb sollte man beide Ansätze nicht gegeneinander ausspielen. Nur zusammen mit Verbesserungen bei der Grundsicherung kann ein Mindestlohn effektiv wirken.
Literatur/Quellen:
[1] Vgl. Kettner, Anja; Rebien, Martina (2007): Hartz-IV-Reform, Impulse für den Arbeitsmarkt, IAB-Kurzbericht Nr. 19, 1.10.2007. [2] Vgl. Becker, Irene (2010): Regelleistungsbemessung auf der Basis des „Hartz IVUrteils“ des Bundesverfassungsgerichts und nach den normativen Vorgaben im Positionspapier der Diakonie, Projektbericht; Martens, Rudolf (2011): Die Regelsatzberechnungen der Bundesregierung nach der Einigung im Vermittlungsausschuss sowie der Vorschlag des Paritätischen Gesamtverbandes für bedarfsdeckende Regelsätze, Paritätische Forschungsstelle.
Autoren: Wolfgang Dincher, Referent für Arbeitsmarktpolitik bei der Arbeitskammer des Saarlandes & Dr. Ingmar Kumpmann, Referent für Volkswirtschaft bei der Arbeitskammer des Saarlandes.
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Öffentliche Räume und Güter im Netz von Dr. Leonhard Dobusch Die Debatte um den Wandel der Öffentlichkeit im Zuge der Digitalisierung kreist um zwei verschiedene, aber selten systematisch miteinander verhandelte Bereiche. Einerseits entstehen im Internet über soziale Medien und Netzwerke wie Facebook, Twitter oder Wikis neue öffentliche Räume für diskursive Auseinandersetzungen. Während mancherorts deren fragmentierender Effekt auf die politische Öffentlichkeit beklagt wird,[1] gestehen andere spätestens seit dem bisweilen auf „FacebookRevolutionen“ zurückgeführten Arabischen Frühling[2] diesen „sozialen Medien“ im Internet großes Potential zur Förderung neuer, wenn nicht sogar emanzipatorischer Öffentlichkeit zu. Unbestritten ist aber von beiden Seiten, dass die Mehrzahl dieser öffentlichen Räume auf privaten Plattformen basieren, die größtenteils wiederum von profitorientierten Unternehmen betrieben werden. Andererseits ermöglicht die Digitalisierung neue oder verbesserte Formen öffentlicher Güter in Form digitaler Gemeingüter. Durch das Internet wird eine globale Wissensallmende mit freiem Zugang zu digitalen Werken vom theoretischen Konzept zur praktischen Option.[3] Paradoxerweise gilt aber auch hier, dass viele dieser digitalen Gemeingüter erst mit Hilfe privater Lizenzstandards ermöglicht werden – und zwar gerade auch in klassisch öffentlichen Sphären wie Wissenschaft und Bildung. Und schließlich stellen auch die eingangs beschriebenen öffentlichen Räume selbst ein öffentliches Gut dar. In beiden Bereichen, digital-öffentliche Räume und digital-öffentliche Güter, handelt es sich also um Gemeingüter, die zu einem wesentlichen Teil nur unter Mitwirkung privat(wirtschaftlich)er Akteure entstehen. Diese wechselseitige Abhängigkeit von privater und öffentlicher Sphäre ist allerdings keine digitale Neuerung. Auch in vordigitaler Zeit entstanden private und öffentliche Güter in wechselseitiger Bezüglichkeit zueinander – und zwar häufig in Form von zumindest potentiellen Win-Win-Konstellationen. Denn ein Ausbau öffentlicher Güter, zum Beispiel in Form eines guten Bildungs- oder Gesundheitssystems, ist Voraussetzung für wirtschaftliche Dynamik, deren Erträge – im Falle einer ausgewogenen Besteuerung – wiederum zu Erhalt und Ausbau dieser Gemeingüter beitragen. Mit neuen Technologien ändert sich also nicht diese prinzipielle, wechselseitige Bedingtheit von Öffentlichem und Privatem, es ändert sich jedoch die Form. Etablierte Regelungsbereiche – vom Urheberrecht über den Datenschutz bis hin zu Mitbestimmungsregeln – bedürfen einer Aktualisierung.
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Urheberrecht und öffentliches Eigentum Und so ist die aktuelle Debatte rund ums Urheberrecht[4] auch Zeichen von diesbezüglichen Aushandlungsprozessen – mit Folgen sowohl für öffentliche Räume als auch öffentliche Güter im Internet. Denn je mehr sich öffentliche Räume auf Basis privater Plattformen wie Google und Facebook etablieren, desto größer wird deren Bedeutung für die Ermöglichung oder Behinderung von digitaler Redefreiheit. Stellen sich dabei urheberrechtliche Fragen, wie das häufig im Bereich des Zitatrechts oder bei satirischer Auseinandersetzung mit bestehenden Werken der Fall ist, dann sind in der Regel automatisierte Filter- und Suchalgorithmen die erste (und häufig auch: letzte) Entscheidungsinstanz. Denn im Zweifel werden fragliche Inhalte erst einmal gelöscht um die Gefahr und Kosten diesbezüglicher Rechtsstreitigkeiten zu minimieren.[5] Hinzu kommt, dass in Europa die urheberrechtlichen Schrankenregelungen im Vergleich zu den USA besonders eng sind, was viele alltägliche Nutzungspraktiken wie das Teilen von Videos mit urheberrechtlich geschützter Hintergrundmusik in sozialen Netzwerken illegal macht. Eine Öffnung des abgeschlossenen Katalogs an Ausnahmen in Form einer allgemeinen Bagatellklausel nach Vorbild des „Fair Use“ im US-Copyright würde hier schon viele Probleme mildern.[6] Aber auch jenseits privater Plattformen scheitert ein besserer Zugang zu digitalen Inhalten bis zu einem gewissen Grad an einem nicht mehr zeitgemäßen Urheberrecht. So ist beispielsweise die digitale Erschließung und Zugänglichmachung von Wissen in Form von vergriffenen und/oder verwaisten Werken inzwischen weniger ein technologisches als vielmehr ein rechtliches Problem. Im Zuge der mehrmaligen Verlängerung urheberrechtlicher Schutzfristen im Verlauf des 20. Jahrhunderts auf nunmehr 70 Jahre nach dem Tod des Autors bzw. der Autorin hat auch die Zahl jener Werke stark zugenommen, die zwar noch urheberrechtlich geschützt aber nicht mehr kommerziell verwertbar sind. Die auf diese Weise entstehende „Lücke des 20. Jahrhunderts“[7] hat der US-Copyright-Forscher Paul Heald für den Buchbereich an Hand der Zahl jener Bücher illustriert, die bei Amazon käuflich erhältlich sind (siehe Abbildung 1).
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Paul Heald
Obwohl nach dem zweiten Weltkrieg mehr Bücher als davor veröffentlicht wurden, ist nur ein Bruchteil davon noch erhältlich – ganz im Gegenteil zu Werken, die vor 1920 erschienen sind. Trotz technologischer Möglichkeit verhindern also prohibitive Kosten der Rechteabklärung einen besseren Zugang zum gemeinsamen kulturellen Erbe. Ob allerdings private Versuche diesem Problem beizukommen, wie es das Massendigitalisierungsprojekt Google Books darstellt, begrüßenswert sind, ist ebenfalls fraglich. Denn die auf diese Weise erschlossenen Werke wären erst Recht wieder nicht ohne weiteres für die Allgemeinheit zugänglich – und auf Grund der hohen Fixkosten der Massendigitalisierung hätte so ein privates Unternehmen diesen Zugang quasi monopolisiert.[9] Umgekehrt hat erst das Vorpreschen von Google in einer urheberrechtlichen Grauzone dazu geführt, dass zumindest Bewegung in die Debatte um verwaiste Werke und Digitalisierung von Archiven auch in Europa gekommen ist. Alternative Lizenzen Betroffen von derartigen rechtlichen Problemen sind auch neue Formen digitaler Gemeingüter wie Open-Source-Software oder die freie Online-Enzyklopädie Wikipedia. Beide erstellen Gemeingüter auf Basis alternativer Urheberrechtslizenzen, im Fall der Wikipedia einer Creative-Commons-Lizenz. Diese bauen zwar auf dem bestehenden Urheberrecht auf, räumen Dritten aber in standardisierter Art und Weise Rechte wie beispielsweise die Adaptierung und Weiterverbreitung ein, die
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diesen ansonsten vorenthalten blieben. Creative-Commons-lizenzierte Inhalte lassen sich deshalb problemlos in private Blogs einbinden, über Tauschbörsen verbreiten und, je nach Lizenzmodul, auch miteinander kombinieren und remixen.[10] Verwertungsgesellschaften wie die GEMA verbieten allerdings bislang die Verwendung von Creative Commons, selbst wenn nur ausgewählte Werke auf diese Weise lizenziert werden. Das erschwert vor allem etablierten Kulturschaffenden die Nutzung von Creative Commons, da diese in den allermeisten Fällen Mitglied mindestens einer Verwertungsgesellschaft sind. Verwertungsgesellschaften in anderen Ländern, wie z.B. die französische SACEM, zeigen jedoch, dass zumindest ausgewählte Creative-Commons-Lizenzen durchaus mit dem Modell kollektiver Rechtewahrnehmung kompatibel sein können.[11] Besonders häufig zum Einsatz kommen Creative-Commons-Lizenzen allerdings bereits im Bereich von Wissenschaft und Bildung – den klassischen Beispielen für größtenteils öffentlich finanzierte Gemeingüter. So setzen Bestrebungen, öffentlich finanzierte Forschungsergebnisse auch frei öffentlich zugänglich zu machen („Open Access“) ebenso auf Creative Commons, wie Versuche, Lehr- und Lernunterlagen offen digital zur Verfügung zu stellen („Open Educational Resources“).[12] Spätestens bei letzteren zeigen sich aber auch die Tücken derart privatrechtlicher Versuche, kollektiv öffentliche Güter zu erstellen. Denn die verschiedenen Creative-CommonsLizenzen sind untereinander nicht alle kompatibel, was der gewünschten Rekombinierbarkeit verschiedener Lernmaterialien entgegensteht. Hinzu kommt, dass sich gerade im Bereich von Lehrbüchern Creative-Commons-Lizenzen kaum ohne Änderung öffentlicher Finanzierungs- und Ausschreibungspraktiken durchsetzen werden. Zusammengefasst zeigt sich am Beispiel der aktuellen Urheberrechtsdebatte, dass Erstellung und Bereitstellung öffentlicher Güter immer bzw. gerade auch im digitalen Bereich eine prekäre Balance zwischen privat(wirtschaftlich)en Praktiken und staatlicher Regulierung erfordert. Technologischer Wandel geht hier regelmäßig mit der Notwendigkeit zur Neujustierung rechtlicher Rahmenbedingungen einher, um die mit neuen Technologien verbundenen Potentiale für einen besseren Zugang zu öffentlichen Räumen und Gütern auch tatsächlich zu realisieren. Im Falle des Urheberrechts gilt es dafür, das Schutzniveau so anzupassen, dass der Zugang zum kulturellen Erbe erleichtert wird, und Versuchen entgegenzutreten, mittels privaten Regeln und Kopierschutztechnologien öffentliche Räume und Güter (wieder) einzuzäunen.
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Literatur/Quellen: [1] Vgl. z.B. Holtz-Bacha, Christina (1997): Das fragmentierte Medien-Publikum. Folgen für das politische System. In: Aus Politik und Zeitgeschichte. 47. Jg., Beilage 42, S. 13-21. [2] Vgl. http://www.spiegel.de/spiegel/0,1518,742430,00.html [09.07.2012] sowie kritisch dazu: Anderson, Lisa (2011): Demystifying the Arab Spring: Parsing the Differences Between Tunisia, Egypt, and Libya, Foreign Affairs, Online: http://www.ssrresourcecentre.org/wp-content/uploads/2011/06/AndersonDemystifying-the-Arab-Spring.pdf [09.07.2012] bzw. Kappes, Christoph (2011): Die „Facebook-Revolution“ – Gedanken zum Einfluss des Internets auf politische Umbrüche, Carta, Online: http://carta.info/38129/die-facebook-revolutiongedanken-zum-einfluss-des-internets-auf-politische-umbrueche/ [3] Vgl. Dobusch, Leonhard (2012): Wesen und Wirken der Wissensallmende. In: juridikum, 2/2012, S. 215-223, Online: http://www.dobusch.net/pub/uni/Dobusch(2012)Wissensallmende-Juridicumpreprint.pdf [09.07.2012] [4] Vgl. für einen Einstieg in die Debatte: Dobusch, Leonhard (2010): Urheberrecht und die Kulturtechniken der digitalen Revolution. In: Berliner Republik, 5/2010, Online: http://www.b-republik.de/aktuelle-ausgabe/urheberrecht-und-diekulturtechniken-der-digitalen-revolution [09.07.2012] [5] Vgl. z.B. http://governancexborders.com/2012/05/28/new-layer-of-copyrightenforcement-search/ [10.07.2012] [6] Vgl. z.B. Verbrauerzentrale Bundesverband (Hg./2011): Verbraucherschutz im Urheberrecht: Vorschläge für eine Neuordnung bestimmter Aspekte des geltenden Urheberrechts auf Basis einer Analyse aus verbraucherschutzrechtlicher Sicht. Online: http://www.irights.info/userfiles/2011-0503_Verbraucherschutz_im_Urheberrecht.pdf [10.07.2012] [7] Vgl. Dobusch, Leonhard/Quack, Sigrid (2011): Auf dem Weg zu einer Wissensallmende? In: Aus Politik und Zeitgeschichte, 28-30/2011, S. 41-46, Online: http://www.bpb.de/apuz/33218/auf-dem-weg-zu-einer-wissensallmende [09.07.2012]
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[8] Vgl. „The Missing 20th Century: How Copyright Protection Makes Books Vanish“, the Atlantic, 30.03.2012, http://www.theatlantic.com/technology/archive/2012/03/the-missing-20thcentury-how-copyright-protection-makes-books-vanish/255282/ [09.07.2012] [9] Vgl. zu diesem Thema: Hofmann, Jeanette (2009): Zukunft der digitalen Bibliothek. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, 42-43/2009, Online: http://www.bpb.de/apuz/31691/zukunft-der-digitalen-bibliothek [09.07.2012] [10] Zu Creative Commons siehe http://de.creativecommons.org sowie Dobusch, Leonhard (2010): Creative Commons' Privates Urheberrecht: (k)eine Lösung? In: Kurswechsel, 4/2010, Online: http://www.dobusch.net/pub/uni/Dobusch(2010)CCPrivates-Urheberrecht-(k)eine-Loesung-kursw.pdf [10.07.2012] [11] Vgl. http://de.creativecommons.org/2012/01/17/cc-frankreich-und-die-sacemschliesen-pilotvereinbarung [11.02.2012] [12] Vgl. D64 (Hg.): White Paper: Digitale Lehrmittelfreiheit – Mehr als digitale Schulbücher, Online: http://lehrmittelfreiheit.d-64.org/wpcontent/uploads/2012/05/White-Paper-DigitaleLehrmittelfreiheit-D64.pdf [09.07.2012]
Autor: Dr. Leohnhard Dobusch, Postdoc am Institut für Management der Freien Universität Berlin und Leiter der Forschungsgruppe "The Business Web" im Rahmen der Stiftung Neue Verantwortung.
Volksentscheid gegen privates Wasser von Jörn Boewe Eine der größten europäischen Privatisierungen im Bereich der öffentlichen Daseinsvorsorge steht womöglich kurz vor der Rückabwicklung: Für 650 Millionen Euro kauft das Land Berlin dem Essener RWE-Konzern sein Anteilspaket an den Berliner Wasserbetrieben (BWB) wieder ab. Der Vertrag wurde am 18. Juli unterzeichnet. RWE gehören seit dreizehn Jahren 24,95 Prozent der Anteile an dem 1999 teilprivatisierten, vormals kommunalen, Versorgungsunternehmen. Ein
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ebensolches Paket hält der französische Mischkonzern Veolia. Dieser hatte Mitte Juni signalisiert, im Falle einer Einigung zwischen RWE und Berlin seine Anteile ebenfalls an das Land rückübertragen zu wollen. Damit bietet sich für das Land die Chance, seine Wasserversorgung nach dreizehn Jahren zu rekommunalisieren. Die Verhandlungen waren im vergangenen Jahr unter dem SPD-Linke-Senat aufgenommen worden. RWE und Veolia bläst in der Hauptstadt der Wind ins Gesicht. Anfang 2011 stimmten die Berliner in einem Volksentscheid für die Offenlegung der geheimen Privatisierungsverträge. Doch das war nur der Höhepunkt einer jahrelangen politischen Auseinandersetzung, die wie kaum ein anderes Thema in der Stadt Hunderttausende bewegte. Ein Jahr zuvor hatte der damalige Wirtschaftssenator Harald Wolf (Die Linke) unter dem Druck der Öffentlichkeit ein Prüfverfahren beim Bundeskartellamt angestoßen. Dieses verhängte seit Dezember 2011 mehrere Preissenkungsverfügungen, in denen die Berliner Wasserbetriebe (BWB) verpflichtet werden, die Gebühren zu senken: In der bislang letzten Verfügung von Anfang Juni fordert die Behörde 18 Prozent Absenkung für 2012 im Vergleich zum Vorjahr und durchschnittlich 17 Prozent für die Jahre 2013 bis 2015. Das würde die Gewinne um insgesamt 254 Millionen Euro reduzieren. Mit einer vorzeitigen Beendigung hatte beim Vertragsabschluss 1999 niemand gerechnet. Damals war eine Mindestlaufzeit bis 2028 vereinbart worden. Die politisch verantwortlichen Akteure des CDU-SPD-Senats, die den Deal Ende der 1990er Jahre einfädelten, hatten den Berlinern seinerzeit versichert, dass durch die Beteiligung privater Unternehmen alles besser und billiger werden würde. Tatsächlich lief es wie bei den meisten Privatisierungen: Die Dienstleistung wurde vor allem teurer. Drei Jahre lang waren die Wasserpreise gedeckelt, dann schossen sie nach oben und mit ihnen die Gewinne der Beteiligungsgesellschaften von RWE und Veolia. Dreizehn Jahre nach der Teilprivatisierung sind die Wasserpreise um ein gutes Drittel gestiegen. Staat garantiert private Gewinne Damit die privaten Investoren kein unternehmerisches Risiko eingehen mussten, garantierte ihnen der Berliner Senat eine Mindestrendite. Diese sollte - egal wie die Geschäfte laufen - immer zwei Prozentpunkte über dem Zinssatz langfristiger Bundesanleihen liegen (»r+2«). Berlin verpflichtete sich sogar, den Gewinn der Privaten notfalls aus dem Landeshaushalt zahlen. Nach Berechnungen, die die ehemalige SPD-Abgeordnete Gerlinde Schermer 2005 auf Grundlage vertraulicher Zahlen der Finanzverwaltung anstellte, wurden den beiden Konzernen damit bis 2028 Einnahmen zugesichert, die abgezinst einer Summe von rund 3,25 Milliarden Euro entsprachen. Dies war fast das Doppelte des Kaufpreises von 1,69 Milliarden Euro.
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Die Wirtschaftskanzleien, von denen sich der Senat und seine privaten »Partner« seinerzeit den Vertrags- und Gesetzentwurf schreiben ließen, gingen zudem auf Nummer sicher: Sollte irgendetwas Unvorhergesehenes den vereinbarten Gewinnanspruch der Investoren schmälern, wäre das Land Berlin verpflichtet, den privaten Anteilseignern, die »die dadurch verursachten geringeren Gewinne oder höheren Verluste (...) auszugleichen.« Diese »Nachteilsausgleichsklausel« wurde bald benötigt. Schon 1999, kurz nach Vertragsabschluss, erklärte der Berliner Verfassungsgerichtshof die im Teilprivatisierungsgesetz verankerte Renditegarantie für verfassungswidrig. Ende 2003 fand die neue Berliner SPD-PDS-Koalition eine Lösung. Wirtschaftssenator Wolf, 1999 als Oppositionsführer im Abgeordnetenhaus noch einer der entschiedensten Gegner der Teilprivatisierung, ermöglichte den Wasserbetrieben mit einer Gesetzesänderung die Anwendung einer günstigeren Abschreibungsmethode. Der buchhalterische Trick brachte den BWB 2004 auf einen Schlag um 55,2 Millionen Euro höhere kalkulatorische Kosten, die auf die Tarife umgelegt werden konnten. In den folgenden sechs Jahren nahm das Unternehmen nach Berechnungen von Schermer dadurch 428 Millionen Euro zusätzlich ein. Und wie aus einem Anfang 2012 bekannt gewordenen internen Papier der BWB hervorgeht, rechneten die privaten Gesellschafter - allein als Konsequenz der veränderten Abschreibungsmethode - bis 2028 mit einem weiteren »Free Cash Flow« von 609,6 Millionen Euro. Wäre es nach dem Willen von RWE, Veolia und sämtlicher Senate seit 1999 gegangen, hätten die Berliner von all dem nie etwas erfahren. Im Vertrag war Geheimhaltung vereinbart worden. Ein Antrag des Autors auf Akteneinsicht nach dem Berliner Informationsfreiheitsgesetz wurde vom Ressort des damaligen Finanzsenators Thilo Sarrazin (SPD) mit der Begründung abgelehnt, es bestehe »kein überwiegendes Informationsinteresse der Öffentlichkeit«, weil das Grundgesetz nur das Privateigentum schütze, »aber nicht das Staatsvermögen«. Dennoch sickerten nach und nach Details durch. Bei der Verbreitung dieser Informationen spielte das Internet eine wichtige Rolle. Die Berliner Presse dagegen versagte weitgehend, genau wie schon zuvor im Fall der hochspekulativen Immobiliengeschäfte der Bankgesellschaft Berlin. »Wutbürger« gegen »Rot-Rot« Die Verantwortlichen übten sich in Geheimniskrämerei, doch das machte die »öffentlich-private« Beutegemeinschaft in den Augen von immer mehr Menschen nur noch verdächtiger. Im Sommer 2007 wurde aus dem verbreiteten Unbehagen eine relevante politische Opposition: Unter dem Motto »Schluss mit den Geheimverträgen – Wir Berliner wollen unser Wasser zurück« begann die Bürgerinitiative »Berliner Wassertisch«, Unterschriften für ein Volksbegehren zu sammeln. Im Mittelpunkt stand die Forderung nach Transparenz: »Alle Verträge, Beschlüsse und Nebenabreden, die im Zusammenhang mit der Teilprivatisierung der
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Berliner Wasserbetriebe stehen und zwischen dem Land Berlin und den privaten Anteilseignern geschlossen worden sind, sind (...) vorbehaltlos offenzulegen«, hieß es im Entwurf, den die Privatisierungskritiker zum Gesetz machen wollten. Im Gegensatz zu anderen Volksbegehren - wie etwa denen zur Einführung eines obligatorischen Religionsunterrichts an staatlichen Schulden oder gegen die Schließung des Flughafens Tempelhof – musste der Wassertisch ohne die Unterstützung der großen Medien – privater wie öffentlich-rechtlicher – auskommen. Aber auch die Landesregierung stand einem Volksbegehren ablehnend gegenüber. Als besonders ärgerlich empfanden die Initiatoren die Rolle der Linken: Immerhin sprach sich die Partei im restlichen Bundesgebiet grundsätzlich gegen Privatisierungen und für eine Stärkung der öffentlichen Daseinsvorsorge aus. In Berlin, wo sie in der Landesregierung saß, sah ihre praktische Politik anders aus. Im Juli lehnte der Landesparteitag mit knapper Mehrheit einen Antrag auf Unterstützung des Volksbegehrens ab, im September beschloss der Landesvorstand, Bezirksverbänden das Sammeln von Unterschriften in den lokalen Geschäftsstellen der Partei zu verbieten. Im Februar 2008 stand das amtliche Ergebnis der Unterschriftensammlung fest: 36.000 Berliner hatten die Initiative unterstützt. Das waren 16.000 mehr als für die Zulassung der sogenannten zweiten Stufe eines Volksbegehrens nötig waren. Der »rot-rote« Senat blieb seiner Linie treu: Im März beschied die Innenverwaltung unter dem Sozialdemokraten Ehrhart Körting, das Volksbegehren sei unzulässig, weil der von den Initiatoren vorgeschlagene Entwurf für ein »Gesetz zur Publizitätspflicht im Bereich der Berliner Wasserwirtschaft« gegen »Grundrechte Dritter«, nämlich »Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse« der Konzerne RWE und Veolia, verstoße. Doch die Aktivisten bewiesen langen Atem und zogen vor das Landesverfassungsgericht. Anderthalb Jahre später, im Oktober 2009 kamen sie dort zu ihrem Recht. Nun musste das Abgeordnetenhaus innerhalb von vier Monaten über den Gesetzentwurf des Volksbegehrens entscheiden. Erwartungsgemäß lehnte das Parlament die Vorlage ab. Damit hatten die Initiatoren die Möglichkeit, die nächste Stufe einleiten. Innerhalb weiterer vier Monate mussten sie 170.000 Unterschriften zusammenbringen, um einen Volksentscheid zu erzwingen. Im Juli 2010 begann der Wassertisch zu sammeln. Ende Oktober hatten 320.000 Wahlberechtigte unterschrieben. Dieses Ergebnis übertraf alle Erwartungen. Drei Tage später veröffentlichte die taz auf ihrer Internetseite den Vertrag (tatsächlich handelte es sich um eine 100seitige Kurzfassung). Das Neue Deutschland schrieb daraufhin, ein Volksentscheid sei nun »eigentlich gar nicht mehr notwendig«. Wenige Tage später trat Berlins Regierender Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD) die Flucht nach vorn an und veröffentlichte die Verträge (in sehr viel umfangreicherer Fassung) offiziell und, wie es hieß, im Einvernehmen mit den privaten Anteilseignern.
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Die Initiatoren des Volksbegehrens hielten unbeirrt an ihrem Gesetzentwurf fest. Fast zwölf Jahre nach der Teilprivatisierung der Berliner Wasserbetriebe kam es dann am 13. Februar 2011 zum Referendum. Senat und Parlamentsmehrheit forderten die Bürger auf, mit Nein zu stimmen. Insbesondere eine Klausel im Gesetzentwurf, wonach alle nicht binnen Jahresfrist veröffentlichten Dokumente unwirksam werden sollen, sei verfassungswidrig, argumentierte »Rot-Rot«. Die Berliner »Wutbürger« irritierte das nicht mehr. Von den rund 2,47 Millionen Wahlberechtigten stimmten 665.713 für das Transparenzgesetz. 25 Prozent hätten mit Ja votieren müssen – am Ende waren es 27 Prozent. Mit ihrem Votum hatten sie gegen heftigen Widerstand ihrer Landesregierung ein Gesetz beschlossen, das Signalwirkung weit über Berlin hinaus haben dürfte. Tatsächlich ging es um weit mehr als die Offenlegung der Verträge, die die Initiative schon lange vor der Abstimmung erkämpft hatte. Mit dem ersten erfolgreichen Volksentscheid in der Geschichte der Hauptstadt gelang es den Berlinern, einen zwei Jahrzehnte andauernden Trend zur Privatisierung öffentlichen Eigentums zu stoppen und umzukehren.
Autor: Jörn Boewe, geb. 1967 in Königs Wusterhausen, Ressortchef Inland bei der Tageszeitung Junge Welt
Frankreich zwischen Reform und Krise von Dr. Bernard Schmid „Ein schlechter Sommer: Es regnet Arbeitslose!“ Diese Worte legt die Pariser Abendzeitung Le Monde am 15. Juli dieses Jahres dem neuen Präsidenten, François Hollande, in den Mund. Tatsächlich drohen größere Wellen von Entlassungen und „Sozialplänen“ über das Land hereinzubrechen: Von bis zu 60.000 akut bedrohten Arbeitsplätzen im laufenden Jahr ist in verschiedenen Berichten die Rede. Auch die französischen Konzerne profitieren von der Wirtschaftskrise, um ihre Strukturen dies- und jenseits der nationalstaatlichen Grenzen zu reorganisieren und dabei überall möglichst viele Kosten einzusparen. Im ersten Halbjahr 2012 hatten sie noch ihre Ankündigungen und Hiobsbotschaften zurückgehalten, aus Rücksicht auf die Präsidentschaftswahlen und die Parlamentswahlen. Denn der frühere Staatspräsident Nicolas Sarkozy hatte die Wirtschaftsverbände ausdrücklich darum gebeten, damit seine Wiederwahlchancen – die aufgrund seiner Regierungsbilanz gerade in Sachen Sozialpolitik ohnehin eher schwach aussahen – nicht vollends
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gefährdet sind. Verschiedene Akteure, unter ihnen die Gewerkschaftsdachverbände CGT und CFDT, warnten aber das gesamte Frühjahr vor ökonomischen Problemen: Vorsicht, das dicke Ende kommt noch! Die Katze ist aus dem Sack! Nun ist die Krise da. Und die neue Regierung, welche aus Sozialdemokraten und Grünen gebildet wurde und von Premierminister Jean-Marc Ayrault – dem gelernten Deutschlehrer und früheren Fraktionsvorsitzenden der Sozialistischen Partei im Parlament – geleitet wird, darf die Sache auslöffeln. An vorderster Front steht dabei Arnaud Montebourg, denn er hat den neu geschaffenen Ministerposten unter dem schillernden Titel „Ministerium zur Wiederaufrichtung der Produktion“ inne. Was unter seiner Tätigkeit ganz genau zu verstehen ist, bleibt bislang ein wenig schwammig. Sieht man jedenfalls von der Ankündigung ab, dass Call Centers von großen Unternehmen, die wie etwa bei Orange (der französischen Telekom) aus Kostengründen nach Tunesien oder Marokko ausgelagert wurden, wieder nach Frankreich zurückgeholt werden sollen. Die Dienstleistungen würden dadurch vielleicht „um ein paar Cents teurer“ werden, aber dies sei der Preis für das Zurückholen der Arbeitsplätze, antwortete Montebourg am 18. Juli in einem morgendlichen Radiointerview. Befragt wurde der sozialdemokratische Minister mit dem noch ein wenig unklaren Aufgabenbereich auch über den momentan dicksten „Sozialplan“, den der Automobilhersteller PSA (Peugeot und Citroën) wenige Tage zuvor verkündet hatte. Am 12. Juli hatte der Autokonzern erklärt, er werde seinen Produktionsstandort in Aulnay-sous-Bois, wenige Kilometer nördlich von Paris, mit derzeit 8.000 Beschäftigten vollständig dichtmachen. Zu den ersten, noch unkoordiniert wirkenden Reaktionen des Ministers Montebourg zählte es zunächst, zu bedauern, dass der internationale Konzern einen Standort gerade in Frankreich dicht mache: Er könnte ja auch irgendwo anders schließen. Nach dieser Reaktion, die eher dem Sankt Florians-Prinzip zu gehorchen schien („Verschon‘ mein Haus, zünd‘ das des Nachbarn an“), besann Montebourg sich in den darauffolgenden Tagen darauf, sich stärker in der Sache zu äußern. In dem zuvor zitierten Rundfunkinterview gab Montebourg sich „einige Wochen“ Zeit, um gründlich zu untersuchen, wie es wirklich um die Lage des Unternehmens steht. Denn es gebe Entlassungen, die „unakzeptabel“ seien, weil die Firmen Gewinne abwerfen und nur ihre Rendite steigern wollen. In solchen Fällen müsse der Staat eingreifen und den Unternehmen die von ihnen eingestrichenen Hilfen der öffentlichen Hand kappen. In anderen Fällen dagegen seien Stellenstreichungen „unvermeidbar“, wenn wirklich rote Zahlen geschrieben würden. Montebourg erklärt nun, mit den Vertretern von Unternehmen und Beschäftigten genau hinsehen zu wollen, wie es wirklich aussieht. Da die letzte ausgeschüttete Aktionärsdividende eher von „Großzügigkeit“ gezeugt habe, wolle er auf jeden Fall korrekte Informationen.
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Das Reformprogramm Ansonsten sollten nun die ersten sozial- und wirtschaftspolitischen Weichenstellungen der neuen rot-grünen Regierung angekündigt werden. Diese wurden auf einer großen „Sozialkonferenz“ am 09. und 10. Juli im Hôtel Matignon – am Amtssitz des französischen Premierministers – mit Regierungs-, Arbeitgeberund Gewerkschaftsvertretern diskutiert. Konkrete Beschlüsse fielen dabei allerdings zunächst noch keine, vielmehr verständigte man sich „auf eine Methode“, insbesondere einen längerfristigen Kalender für mehrere Verhandlungsthemen. Bis Anfang 2013 soll etwa das Wahlkampfversprechen François Hollandes für einen so genannten „Vertrag der Generationen“ auf dem Verhandlungsweg umgesetzt werden. Es geht darum, dass ein Unternehmen weniger Sozialabgaben bezahlt, wenn es zur selben Zeit jüngere Arbeitskräfte einstellt und Senioren weiterbeschäftigt - und damit zwei Gruppen, die derzeit auf dem Arbeitsmarkt Nachteile erfahren, eine Chance lässt. Die Idee ist, dass der Betrieb jeweils eine jüngere Arbeitskraft durch eine ältere anlernen lässt. Gleichzeitig sollen die Unternehmen dafür weniger Sozialabgaben in die Renten-, Arbeitslosen- und Krankenversicherung einzahlen, da sie zur Entspannung des Arbeitsmarktes beitrügen. Aus Sicht eines „aufgeklärten“ Wirtschaftsführers bietet dies einem Unternehmen eigentlich fast nur Vorteile. Viele heikle Themen, etwa die Frage nach einer besseren Kontrolle von zeitlich befristeten und anderen prekären Arbeitsverhältnissen, wurden jedoch erst einmal mittelfristig vertagt. Bis auf eines: Der Plan für so genannte „Abkommen zur Wettbewerbsfähigkeit“, den die konservativ-wirtschaftsliberale Regierung noch kurz vor ihrem Abgang aufgelegt hatte. Das Projekt wurde Ende Januar 2012 verkündet, Anfang März war die Legislaturperiode des Parlaments zu Ende und es ist aufgegeben worden. Es ging darum, in Krisenzeiten die Löhne unter den gesetzlichen Mindestlohn (SMIC) hinunter absenken zu können, oder aber die Arbeitszeit über die gesetzliche Regelarbeitszeit hinaus auszudehnen, ohne Überstunden zu berechnen. Bei den ersten Vorgesprächen zwischen Regierung, Gewerkschaften und Arbeitgebern im Januar d.J. hatte sich bereits angedeutet, dass es bei diesem Thema schwer fallen dürfte, einen Konsens zu finden. Die neue Regierung hat das Vorhaben nun offiziell vom Tisch genommen und in die Schubladen verbannt. Arbeitgeberpräsidentin Laurence Parisot, die Präsidentin des Wirtschaftsverbands MEDEF, zeigte sich sauer und weigerte sich deswegen, nach der Abschlussrede von Premierminister Jean-Marc Ayrault zu applaudieren. Das gehört eigentlich zum politischen Spiel in Frankreich dazu: Ziehen die MEDEF-Vertreter auch ein wenig saure Mienen, so zeigen sich manche Gewerkschafter und Basismitglieder der Regierungsparteien durchaus beruhigt. Doch es gibt schon Enttäuschungen. Früher hatte es Tradition, dass der Mindestlohn (SMIC) in Wahljahren spürbar stärker angehoben wurde, was bisher ausblieb. Bei der Wahl des Sozialdemokraten François Mitterrand im Jahr 1981 etwa um 10 Prozent,
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unter dem Bürgerlichen Jacques Chirac im Jahr 1995 und nach der Parlamentswahl 1997 immerhin um je 4 Prozent. Erst der weit rechts stehende Präsident Nicolas Sarkozy wich davon ab und erhöhte den SMIC ab 2007 um keinen Cent über den obligatorischen Inflationsausgleich hinaus. Derzeit beträgt er rund 1.400 Euro (1.100 Netto). Der SMIC wird einmal im Jahr angehoben. Die jeweilige Regierung ist dazu verpflichtet, den Mindestlohn dem jährlichen Preisanstieg, also der Inflationsrate anzupassen. Die neue französische Regierung tat noch nicht sehr viel für die rund 15 Prozent der abhängig Beschäftigten, die den Mindestlohn verdienen. Ende Juni d.J. verkündete sie, dass sie ihnen 2 Prozent Anhebung gewähre – davon sind allerdings 1,4 Prozent lediglich der vorgezogene Inflationsausgleich, der zum Jahresende obligatorisch gewesen wäre und dem vorgegriffen wird. Lediglich 0,6 Prozent entfallen auf eine tatsächliche Erhöhung des Mindestlohns. Das sind 21 Euro im Monat. Wieder Wettbewerb, Sparen und die Besteuerung kleiner Einkommen…. Allerdings werden sie durch einen anderen Regierungsbeschluss deutlich mehr verlieren. Die sozialdemokratisch geführte Regierung sorgt sich nämlich um die „Wettbewerbsfähigkeit“ der Unternehmen und möchte diese steigern, indem sie die „Lohn(neben)kosten“ senken will, etwa die Beiträge der Unternehmen zu den Sozialversicherungskassen. Die alte, konservativ-wirtschaftsliberale Regierung hatte dafür ein Rezept: die so genannte „soziale Mehrwertsteuer“ (TVA sociale). Diese sollte darin bestehen, dass Unternehmensbeiträge zu den Sozialkassen gesenkt und die Mehrwertsteuer – zunächst geplant war eine Anhebung um 1,6 % auf dann 21,2 % - erhöht würde. Letzteres, um Geld in die Staatskasse zu spülen und indirekt die Sozialhaushalte zu finanzieren. Dagegen gab es massiven Protest aus den Gewerkschaften und von der Linken. Denn die Mehrwertsteuer ist, da nicht einkommensprogressiv, sondern für den Kauf desselben Produkts in gleicher Höhe für den Sozialhilfeempfänger und die Milliardärin, eine der unsozialsten Steuern. Die zum 1. Oktober d.J. geplante Mehrwertsteueranhebung wurde nun Mitte Juli 2012 durch die neue Parlamentsmehrheit gekippt. Zur selben Zeit machte Präsident François Hollande allerdings für eine andere Steuererhöhung den Weg frei – die nicht sofort, wohl aber in circa einem Jahr kommen soll. Es handelt sich um die „Allgemeine Sozialabgabe“ (CSG), die in pauschaler Höhe auf alle Einkommen erhoben wird. Auch sie ist nicht einkommensprogressiv, sondern belastet abhängig Beschäftigte, aber auch viele Arbeitslose und RentnerInnen massiv. Gewiss belastet sie auch die Bezieher von Kapitaleinkünften wie etwa die Mieteinnahmen, doch 85 Prozent ihres Gesamtvolumens stammen von den EmpfängerInnen von Lohneinkommen, Renten und Sozialtransfers. Als die CSG im Jahr 1995 durch den konservativen Premier Alain Juppé auf damals 7,5 Prozent festgelegt wurde, hagelte es massive soziale Proteste.
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Derzeit wird nun geplant, sie um 2 bis 4 Prozent anzubeben, also einen wesentlich stärkeren Beitrag als die MindestlohnverdienerInnen soeben zusätzlich erhielten. Die oppositionelle Rechte höhnt und spottet. Ex-Premier François Fillon etwa mokierte sich, er sehe nicht genau ein, warum die Erhöhung der CSG nun sozialer sei als die zuvor geplante Anhebung der Mehrwertsteuer. Und Ex-Finanzminister Eric Woerth merkte an, hätte die Regierung in den Präsidentschaftsjahren Sarkozys ihrerseits die CSG statt der Mehrwertsteuer erhöht, so würden die Sozialdemokraten nun umgekehrt die Mehrwertsteueranhebung als ein viel geringeres Übel anpreisen. Ausnahmsweise könnte der Mann an dem Punkt sogar einmal Recht heben. Eben jener Eric Woerth, der wegen seines Beitrags zur „Rentenreform“ besonders verhasst ist. Bei Letzterer ging es 2010 um die Anhebung des Mindesteintrittsalters von 60 auf 62 Jahre, die nun unter François Hollande formal rückgängig gemacht wurde - ohne aber die eingeforderten Beitragsjahre (42 seit der „Reform“ statt früher 40) ebenfalls wieder abzusenken. Erleichterungen gibt es lediglich bei Arbeitslosen und Müttern von mindestens drei Kindern, denen nun ein halbes Jahr angerechnet wird. Alles in allem eine durchwachsene Bilanz, was die sozialen Früchte der aktuellen Regierungspolitik in Frankreich betrifft. Was aus dem Sozialprotest wird, der etwa gegen die letzte Stufe der „Rentenreform“ im Jahr 2010 noch sehr heftig ausfiel, bleibt hingegen abzuwarten. Autor: Dr. Bernard Schmid, geboren 1987 in Süddeutschland, Jurist bei einer NGO zur Rassismus- und Diskriminierungsbekämpfung in Paris
Stabilität für den Euro von Dr. Hans-Ulrich Bieler & Dietmar Muscheid In der Debatte über die derzeitige Euro-Finanzkrise geistern auffällig viele volkswirtschaftliche Mythen durch die öffentliche Debatte. Die Folge ist, dass oft ungeeignete Gegenmaßnahmen vorgeschlagen und – auch unter dem Druck der öffentlichen Meinung – umgesetzt werden. Um der Politik des Sparens, die de facto eine Lohn-Deflations-Politik ist, etwas entgegenzusetzen, ist aus Sicht der Gewerkschaften die Aufklärung über volkswirtschaftliche Zusammenhänge eine der wichtigsten Aufgaben. Im Kern geht es dabei um die Ziele, die bereits 1967 von Karl Schiller für das damalige Wirtschafts- und Stabilitätsgesetzt, formuliert wurden: 1. Außenwirtschaftliches Gleichgewicht 2. Geldwertstabilität 3. Vollbeschäftigung
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4. Wachstum Diese Ziele - richtig verstanden und ernsthaft umgesetzt - wären ein wichtiger Beitrag zur Stabilität in Europa und zu sozialem Ausgleich. Auch um die Frage der gerechten Steuerpolitik wird man dabei nicht herum kommen. Außenwirtschaftliches Gleichgewicht In der Öffentlichkeit wird mit Stolz auf Deutschlands Rolle als Exportweltmeister verwiesen. In dem Maße, in dem der deutsche Exporterfolg auf besseren Produkten und effizienteren Produktionsmethoden beruht, spiegelt er tatsächlich die Leistungsfähigkeit des Landes wieder. Exportüberschüsse sind aber kein Selbstzweck. Sie machen volkswirtschaftlich nur dann Sinn, wenn im Gegenzug und im gleichen Maße Importe ermöglicht werden, die auf die Bedürfnisse der heimischen Bevölkerung stoßen und hier nicht – wie etwa Öl oder Kaffee –zu höheren Kosten hergestellt werden können. Nur dann trägt der Im- und Export zur Steigerung des Bruttoinlandsprodukts bei. Zu D-Mark-Zeiten wurde das außenwirtschaftliche Gleichgewicht unter anderem durch Wechselkursanpassungen erreicht: Die D-Mark wurde aufgewertet, in der Folge wurden deutsche Exporte teurer und Importe billiger. Schon daran ist zu erkennen: Der Verkauf von Waren an Drittländer zu einer künstlich unterbewerteten Währung ist ein Verzicht auf den Erlös (und damit Wohlstand), weil im Gegenzug weniger Waren importiert werden können. Das Bruttoinlandsprodukt bzw. das Volkseinkommen wird insgesamt kleiner. Durch den hohen Anteil Deutschlands am Binnenmarkt der 17 Eurostaaten haben die hohen Exporte Deutschlands sowohl Einfluss auf den Wechselkurs des Euro zu Drittwährungen wie auch nach Innen. Die Folge des ersten Effekts ist es, dass der Euro tendenziell stärker ist als er ohne die deutschen Exportüberschüsse wäre. Dadurch werden zwar Importe in den Euroraum preiswerter, gleichzeitig werden aber auch die Exporte anderer Euro-Mitgliedstaaten verteuert. Die sind dann nicht mehr so wettbewerbsfähig, wie sie ohne die deutschen Exportüberschüsse oder bei flexiblen Wechselkursen wären. Der zweite Effekt ist, dass die Exportüberschüsse Deutschlands in den Euroraum gleichzeitig die Importüberschüsse der anderen Euro-Länder darstellen. Die Verschuldung dieser Länder gegenüber Deutschland wächst damit immer weiter an; eine Korrektur durch Wechselkursanpassungen ist wegen des gemeinsamen Euros nicht möglich. Die deutschen Exportfirmen bekommen als Erlöse für ihre Exporte Mittel aus Bankkrediten, die über Staatsanleihen dieser Länder refinanziert werden, nun aber zunehmend an Wert verlieren. Es ist eine Spirale in den Abgrund!
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Verschärft wird dieses Problem noch dadurch, dass die deutsche Exportwirtschaft eben nicht allein aufgrund besserer Produkte wettbewerbsfähiger ist als andere europäische Länder, sondern durch Lohnverzicht erkauft worden ist. Lohnverzicht bedeutet aber de facto nichts anderes als Wohlstandsverzicht. Das Argument der Sicherung von Arbeitsplätzen durch die starke Exportwirtschaft trägt bestenfalls mittelfristig. Die Wirtschaft braucht nämlich den sogenannten Lohndruck, um innovativ und damit langfristig wettbewerbsfähig zu bleiben. Um Verwerfungen im Euroraum zu verhindern, müsste die Bundesregierung daher die Rückkehr zu einem außenwirtschaftlichen Gleichgewicht anstreben. Da dieses nicht über Wechselkursanpassungen erreicht wird, müssten andere Maßnahmen ergriffen werden. Dazu zählen auch Lohnerhöhungen, unterstützt zum Beispiel durch einen gesetzlichen Mindestlohn. Geldwertstabilität Die Bundesregierung, Bundesbank und Europäische Zentralbank sind dem Ziel Geldwertstabilität gleichsam verpflichtet. In den vergangenen zehn Jahren des gemeinsamen Euros lag die Inflationsrate meistens unter zwei Prozent und damit sogar niedriger als zu Zeiten der D-Mark, in denen die Inflation in der Regel drei bis vier Prozent betrug. Dennoch steigt in der Bevölkerung die Inflationsangst. Inflation entsteht auch durch die Verteuerung von Importen, besonders relevant sind hier Rohstoffe wie Gas oder Öl. Dieser Teil der Inflation ist durch nationale Geld- oder Wirtschaftspolitik kaum zu beeinflussen. Interessanter ist daher der Anteil der Inflation, der letztlich durch Verknappung bzw. starke Nachfrage entsteht. Der Unternehmer kann die Preise und damit die Gewinnmarge erhöhen, die Arbeitnehmer erhalten Lohnerhöhungen usw. Ein gewisser Ausgleich entsteht durch Entwicklungen bei anderen Produkten, die weniger nachgefragt werden. In einer wachsenden Wirtschaft ist es aber normal, dass der Anteil der Preiserhöhungen den der Preissenkungen überwiegt und es somit zur Inflation kommt. Die deutsche Bevölkerung ist damit in den Nachkriegsjahren immer gut klar gekommen. Das lag daran, dass keine Gruppe benachteiligt wurde. Unternehmen steigerten ihre Gewinne, in der Folge stiegen die Löhne der Beschäftigten und noch etwas später auch die Renten, die an die Lohnentwicklung gekoppelt waren. Der Anteil der verschiedenen Gruppen am Bruttoinlandsprodukt, das sozusagen die zu verteilende „Torte“ darstellt, blieb über die Jahre weitgehend gleich. Dies hat sich geändert. In den vergangenen Jahren ist die Lohnquote, also der Anteil der Arbeitnehmer am Bruttoinlandsprodukt, gesunken. Daraus folgt, dass nicht eine „normale Inflation“ Angst bei den Bürgerinnen und Bürgern auslösen müsste, sondern vielmehr der Verlust der Reallöhne als Problem zu betrachten ist. Vollbeschäftigung
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Vollbeschäftigung bedeutet, dass alle Teile der Bevölkerung, die arbeiten wollen und können, einen adäquaten Arbeitsplatz zu auskömmlicher und der Qualifizierung entsprechender Entlohnung finden können. Die im letzten Halbsatz genannten Spezifizierungen des Ziels Vollbeschäftigung sind wichtig, weil nach dem Credo der Anhänger neoliberaler Ideen die Vollbeschäftigung sich am Arbeitsmarkt im freien Spiel der Kräfte schon einstellen werde, wenn die Entlohnung nur niedrig genug ist. Nach der Definition dürfte klar sein, dass Deutschland von Vollbeschäftigung weit entfernt ist. Das gilt auch für die westlichen Bundesländer, die mit Arbeitslosenquoten um die vier Prozent die OECD-Defintion der Vollbeschäftigung erfüllen. Allerdings werden in der deutschen Arbeitslosenstatistik nur die nach den offiziellen Kriterien Arbeitswilligen erfasst. Das Potenzial ist hingegen wesentlich größer. Ein Beispiel ist die Situation vieler Frauen: Wenn diese nach der Unterbrechung der Berufstätigkeit wegen Kindererziehung wieder einen Arbeitsplatz suchen, werden sie vom Arbeitsamt nicht als arbeitslos erfasst, wenn sie keinen Kinderbetreuungsplatz vorweisen können. Andererseits bekommen Frauen für ihre Kinder keinen der knappen Betreuungsplätze, wenn sie mangels Arbeitsplatz keinen Bedarf nachweisen können (sog. „Hauptmann-von-Köpenick-Effekt“). Noch schlechter sieht es bei der Frage der auskömmlichen und der Qualifizierung entsprechenden Entlohnung aus. Ein wichtiger Aspekt der Hartz-Gesetzgebung war, dass die Zumutbarkeit der Arbeit deutlich herabgestuft wurde, vor allem hinsichtlich der Qualifizierung, aber auch hinsichtlich der Entfernung zum Wohnort. Die Folge ist, dass heute Personen einen freien Arbeitsplatz annehmen müssen, der ihnen vom Jobcenter der BA zugewiesen wird, um nicht eine Minderung oder Aussetzung des Arbeitslosengeldes zu erleiden. Dann sind diese bislang Arbeitslosen zwar beschäftigt, aber sozusagen unter Wert, und ihr verfügbarer Arbeitslohn mindert sich um die ggf. hohen Wegekosten zur Arbeitsstelle bzw. die Umzugskosten. Vollbeschäftigung, wie sie in der offiziellen Statistik erscheinen mag, bedeutet demnach nicht unbedingt eine Vollbeschäftigung im Sinne einer volkswirtschaftlich effizienten und für die Betroffenen zufriedenstellenden Vollbeschäftigung. In diesem Zusammenhang muss auf die in Deutschland fehlenden Mindestlöhne eingegangen werden: Als Schlussfolgerung aus dem Credo der Neoliberalen, dass sich am Arbeitsmarkt bei entsprechend niedrigen Löhnen Vollbeschäftigung einstellen werde, lehnt die derzeitige Regierungskoalition Mindestlöhne ab, weil dann Arbeitsplätze vernichtet würden. Allerdings handelt es sich hier um die Arbeitsplätze der untersten Lohnkategorie, deren Nettolöhne unter den nach den Hartz-Gesetzen zustehenden Bedarfen liegen. Die Folge ist, dass die Regierung Lohnsubvention betreiben muss, indem sie den Betroffen Arbeitnehmern die Differenz zu den HartzBedarfssätzen auszahlt.
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Abgesehen davon, dass durch diese Lohnsubventionen Wettbewerbsverzerrungen entstehen (auch gegenüber dem Ausland, denn in den meisten Ländern gelten Mindestlöhne), muss die Frage gestellt werden, ob nicht solche Niedriglohnarbeitsplätze in einer hochentwickelten Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft eine Verschwendung von Manpower in offensichtlich unproduktiven Arbeitsplätzen bedeutet. Volkswirtschaftlich sinnvoller wäre die Qualifizierung dieser Personen, um höherwertige Tätigkeiten ausüben zu können, die auch am Arbeitsmarkt eine bessere Entlohnung erzielen, und zweitens eine bessere gewerkschaftliche Organisation der Arbeitnehmer, um eine bessere Entlohnung durchsetzen zu können. Denn in den auf Arbeitnehmerseite gut organisierten Branchen liegen die niedrigsten Löhne weit über den aktuell diskutierten Mindestlöhnen, ohne dass diese Branchen ineffizient sind. Eine Lohnerhöhung sollte also nicht zur Vernichtung von Arbeitsplätzen durch billigere Angebote führen. Wachstum Wachstum entsteht durch technischen Fortschritt infolge neuer Produkt- oder Produktionsentwicklungen. Es setzt eines voraus: die gute Ausbildung der beteiligten Menschen, seien sie in der Produktion, Forschung oder in der Unternehmensleitung. Deshalb ist Investition in den Produktionsfaktor „Human Ressources“ in Form von Bildung jeglicher Form eine Grundvoraussetzung für Wachstum. Werden jedoch Teile der Bevölkerung von Bildung ausgeschlossen bzw. erhalten nur eine unzureichende Bildung und Fortbildung, liegt ein wichtiger Grund für Wachstumshemmnisse vor. Weitere Wachstumshemmnisse können in übermäßiger, behindernder Bürokratie liegen (z.B. bei der Zulassung neuer Produkte oder Produktionsverfahren) oder Zugangsbehinderungen infolge von künstlichen Marktabschottungen. Angesichts der derzeitigen Probleme am Kapitalmarkt soll nicht unterschlagen werden, dass auch die ausreichende Versorgung der Unternehmen mit Kapital für die Entwicklung und Einführung neuer Produkte bzw. verbesserter Produktionstechniken eine wichtige Wachstumsvoraussetzung ist. Funktioniert diese Kapitalversorgung nicht, weil die Banken etwa wegen Basel-III-Verpflichtungen oder wegen Spekulationen an Derivatemärkten und ähnlichem nicht bereit sind, die Unternehmen mit den notwendigen Krediten zu versorgen, dann liegt ebenfalls ein gravierendes Wachstumshemmnis vor. In modernen Volkswirtschaften beeinflusst der Staat dreißig bis fünfzig Prozent des Bruttoinlandsprodukts, einerseits auf der Verwendungsseite des Volkseinkommens über Steuern, Gebühren und Abgaben, auf der Produktionsseite des Bruttoinlandsprodukts durch die Bereitstellung von Dienstleistungen und Gütern (Schulen, Krankenhäuser, Sicherheit etc.). Der Staat ist heutzutage im großen Stil sowohl Anbieter wie auch Nachfrager. Wenn er sich aus dieser Rolle teilweise
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zurückziehen will, z.B. um Sparauflagen zu genügen, dann besteht die große Gefahr, dass strukturell ein Bruch entsteht, weil die Umstellung zu Anpassungs- und Übergangsproblemen führt. Unabhängig davon ist die Gefahr eines Konjunktureinbruchs zu erwarten, da der Staat als Nachfrager bestimmter Dienstleistungen und Produkte ausfällt und nicht sofort und im gleichen Maß andere Nachfrager einspringen. Geschehen solche staatlichen Nachfragerückgänge im großen Stil (wie derzeit in Ländern wie Griechenland und Spanien), entsteht ein Konjunktureinbruch, d.h. negatives Wachstum oder genauer gesagt: Schrumpfung der Wirtschaft, mit all den damit einhergehenden Verwerfungen und Verteilungskämpfen. Das klassische Beispiel dafür waren die Brüningschen Notverordnungen Anfang der dreißiger Jahre des letzten Jahrhunderts. Generell ist richtig, dass auch eine Volkswirtschaft wie jeder Unternehmer oder Privathaushalt mittel- und längerfristig nicht mehr aus- als einnehmen kann. Allerdings nimmt auch jeder Unternehmer oder Privathaushalt einen Kredit auf, wenn er einen neuen Betriebszweig aufbauen oder ein Haus finanzieren will. Insofern kann auch eine Volkswirtschaft Kredite aufnehmen, wenn es um Investitionen geht, die für das Bestehen und Wachstum der Volkswirtschaft notwendig sind. Kurzfristig macht es für eine Volkswirtschaft auch Sinn, Kredite aufzunehmen, um konjunkturelle Nachfrageeinbrüche auszugleichen. Das Land Rheinland-Pfalz hat daher zu Recht in seinem Begleitgesetz zur Schuldenbremse festgelegt, dass aus konjunkturellen Gründen für einen Zeitraum von bis zu vier Jahren eine Nettoneuverschuldung möglich sein kann, allerdings verbunden mit einer verbindlichen Verpflichtung zur Sondertilgung dieser Schulden bei Konjunkturerholung. Eine Vollbremsung der Staatsausgaben, wie jetzt in Griechenland, ist gesamtwirtschaftlich nicht zu verantworten, da die Gefahr eines unkontrollierten Zusammenbruchs der Volkswirtschaft entsteht. Gesamtwirtschaftliches Wachstum ist sowohl für untere und mittlere Schichten der Bevölkerung eine notwendige Voraussetzung, um Einkommen und Wohlstand zu verbessern als auch gesamtwirtschaftlich zur Weiterentwicklung der Volkswirtschaft notwendig, denn Stillstand bedeutet mittelfristig Rückschritt. Aber die Regierung muss versuchen zu vermeiden, dass durch rigide Sparmaßnahmen das Wachstum verringert oder gar abgewürgt wird. Die eingeführten Schuldenbremsen, vor allem aber der geplante Fiskalpakt, sind volkswirtschaftlich betrachtet vollkommen falsche Instrumente, die Wachstum und damit allgemeinen Wohlstand hemmen. Die Alternative: Gerechte Steuerpolitik Die oben aufgeworfenen Punkte führen zwangsläufig zu der Frage, wie Gemeinwohl finanziert werden soll. Oder anderes formuliert: Wie ein transparentes, gerechtes und
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effizientes Steuersystem aussehen könnte. Fritz Neumark hat dazu Überlegungen angestellt, die hier kurz vorgestellt werden sollen. Der wichtigste Aspekt für den Beitrag des Einzelnen zum Gesamtsteueraufkommen (einschließlich der Gebühren und Abgaben) ist die individuelle Leistungsfähigkeit. Bei der Einkommensteuer ergeben sich daraus der Grundfreibetrag und die Steuerprogression. Kern der Debatte über Steuergerechtigkeit ist in der Regel die Frage, wie „steil“ diese Progression ausfällt, was wiederum nicht unwesentlich von der Höhe des Spitzensteuersatzes abhängt. Der zweite Aspekt der Leitungsgerechtigkeit bei der Einkommensteuer betrifft die Abzugsfähigkeit von individuellen „Erschwernissen“. Es leuchtet ein, das ein Steuerzahler, der zwei Kindern das Studium oder einer demenzkranken Mutter das Pflegeheim finanziert, steuerlich weniger leistungsfähig ist als jemand, der solche Belastungen nicht hat. Weniger einleuchtend ist, wenn zu solchen Belastungen auch Aufwendungen zählen wie die Absetzbarkeit der Betriebskosten von Luxusautos bei Selbständigen, um nur ein Beispiel zu nennen. Beide genannten Elemente machen als Teil eines gerechten Steuersystems auch in Zukunft Sinn. Eine Umsatz- oder Mehrwertsteuer ist zwar steuersystematisch nicht unumstritten (da sie jeder zahlen muss, unabhängig vom Einkommen), hat sich aber historisch in fast allen Ländern bewährt. Trotz aller Defizite, die sich u.a. aus verschiedenen Steuersätzen ergeben, muss man sich wohl mit dem Grundsatz der Finanzwissenschaftler zufrieden geben „Alte Steuer, gute Steuer“. Bleiben also die Vermögenssteuer und die Erbschaftssteuer. Beide sind steuersystematisch vor allem unter dem Aspekt der Leistungsfähigkeit zu betrachten. Denn Vermögen, selbst wenn es keinen Ertrag abwirft (z.B. wertvolle Gemälde), schafft doch insofern Leistungsfähigkeit, als es beliehen werden kann und dem Eigner ermöglicht, z.B. einen Kredit für eine Geschäftsgründung oder -erweiterung zu beantragen. Für Einkommen aus Vermögen muss natürlich auch jetzt schon Einkommensteuer gezahlt werden, aber die Vermögensteuer ist in Deutschland abgeschafft (genauer formuliert ausgesetzt) worden, weil das BVerfG nicht ganz unbegründet darauf hingewiesen hat, dass einzelne Vermögensarten unterschiedlich besteuert werden. Auch die Erbschaftssteuer ist aus volkswirtschaftlicher Betrachtung ähnlich einzuordnen: Dadurch, dass jemand eine Erbschaft macht (also Einkommen ohne eigene Leistung erzielt), ist die Startgerechtigkeit ins Ungleichgewicht geraten. Denn der potentielle Konkurrent am Markt ohne eine solche Erbschaft hat nicht die gleichen Chancen, seine Geschäftsidee zu realisieren. Da sie eine Ländersteuer ist, besteht allerdings die Gefahr, dass „wohlhabende“ Länder mit einem niedrigeren Steuersatz wohlhabende Bürger anlocken, ihren Wohnsitz in Ländern mit niedrigem
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Erbschaftssteuersatz zu verlegen, während Länder, in denen ohnehin wenige wohlhabende Bürger leben (vor allem die neuen Länder), diese auch noch durch Abwanderung verlieren. Insofern ist ein einheitlicher Steuersatz in ganz Deutschland die Voraussetzung für eine Reform. Autoren: Dr. Hans-Ulrich Bieler, Geboren am 6. November 1948 in Halle /Saale, ehemaliger Ministerialdirigent in der Landesvertretung von Rheinland-Pfalz in Berlin, seit 6. Juli 2012 Pensionär & Dietmar Muscheid, geboren am 2. März 1957 in Neuwied, seit dem 16. Februar 2002 Vorsitzender des DGB-Bezirks West (RheinlandPfalz und Saarland).
Produktivgenossenschaften als Forschungs- und Praxisfeld von Stefan Kerber-Clasen In öffentlichen und politischen Debatten kommen (Produktiv-)Genossenschaften seit kurzem wieder häufiger vor. Sie werden diskutiert als Wirtschaftsform, die weniger unter der wirtschaftlichen Krise leidet und die Standortverlagerungen weder androht noch vollzieht sowie als Möglichkeit zur Schaffung von Arbeitsplätzen für am Arbeitsmarkt benachteiligte Menschen. KritikerInnen wie VerteidigerInnen des Sozialstaates betrachten sie als – willkommene oder gefürchtete – Lückenbüßer ehemals sozialstaatlicher Leistungen. Bei manchen VertreterInnen gesellschaftskritischer Positionen werden sie schließlich thematisiert als Form der kollektiven Selbsthilfe Arbeitsloser (Wir-eG), als Alternative zur Privatisierung kommunalen Eigentums, als innovativer Ansatz bürgerschaftlicher Teilhabe, als Form des Wirtschaftens nach alternativen Werten. Die Belebung dieser Debatte geht einher mit neuen Formen alternativen Wirtschaftens, die seit der letzten großen Welle, den Alternativbetrieben der 1970/80er Jahre, entstanden sind. Gleichzeitig zeigen sich die verbleibenden Alternativbetriebe auch wieder offensiver in der Öffentlichkeit. Diese alternativen Wirtschaftsformen entstehen nicht nur im Dritten Sektor „gemeinnütziger bzw. zivilgesellschaftlicher Organisationen“ (Priller/Zimmer 2006, S. 17), der realwirtschaftlich von Gewicht ist und wissenschaftlich thematisiert wird, sondern auch als neue genossenschaftliche Ansätze in Form von Selbsthilfegenossenschaften (Flieger 2007b) oder als Teile einer „Solidarischen Ökonomie“ (Voß 2010). Diese sind bisher im Vergleich zu anderen Unternehmen quantitativ marginal und wissenschaftlich unterbelichtet.
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Bei genauerem Hinsehen zeigt sich aber auch, dass Genossenschaften in die Diskussion oft eher undifferenziert als Stichwort wieder eingeführt werden. Dies zeigt sich beispielsweise an der Ignoranz gegenüber verschiedenen Versuchen, genossenschaftliche Prinzipien zu definieren, um diese Wirtschaftsform von anderen abzugrenzen, oder in der ungenauen Bezeichnung des Gegenstandes – bei der Genossenschaft gleichbedeutend mit Produktivgenossenschaft verwendet wird oder verschiedene Genossenschaftsformen (Produktiv-, Konsum-, Wohnungsbaugenossenschaften etc.) und -typen (Förder-, Produktiv- und Vollgenossenschaften) begrifflich zusammenfallen[1]. Weitere Probleme zeigen sich in der Rezeption genossenschaftlicher Konzepte und in der Analyse der derzeitigen genossenschaftlichen Unternehmen und Akteure in der Debatte um Wirtschaftsdemokratie. So führt beispielsweise Vilmar Produktivgenossenschaften als „älteste Struktur der Wirtschaftsdemokratie“ in sein Konzept von Wirtschaftsdemokratie ein – argumentiert aber zugleich, dass diese durch eine Kombination von verschärfter Gewerbeaufsicht und erweiterter Mitbestimmung auch ersetzt werden können (Vilmar 1999, S. 20). Krätke hingegen charakterisiert die gesamte Bewegung der Genossenschaften als Eckpfeiler einer demokratischen Wirtschaftsordnung und potentielle Basis eines sozialistischen Transformationsprozesses (Krätke 2008, S. 102 f.). Dies wird jedoch weder dem Selbstverständnis noch dem Handeln der Mehrzahl der Genossenschaftsmitglieder und der Genossenschaften als Akteure gerecht. Doch wie ist es nun um die Genossenschaften und besonders die Produktivgenossenschaften in Deutschland bestellt? Die genossenschaftliche Landschaft in Deutschland ist gekennzeichnet durch ein Nebeneinander „liberaler“ Genossenschaften und Genossenschaftsforschung einerseits und alternativer oder „sozialreformerischer“ Genossenschaften[2] samt einer spezialisierten Teilöffentlichkeit andererseits. Liberale Genossenschaften und genossenschaftliche Forschung In quantitativer Hinsicht sind vor allem die liberalen Genossenschaften bedeutsam: Dietmar Berger, Vorstandsvorsitzender des „liberalen“ Fördervereins Hermann Schulze-Delitzsch, spricht bundesweit von 16,1 Millionen Mitgliedern der Kreditgenossenschaften, 2,1 Millionen Mitgliedern der verschiedenen RaiffeisenGenossenschaften, 200.000 Mitgliedern gewerblicher Waren- und Dienstleistungsgenossenschaften, 700.000 Mitgliedern der Konsum- und Dienstleistergenossenschaften und auf Sachsen beschränkt von 590.000 Mitgliedern der Wohnungsgenossenschaften (Berger 2008, S. 413 f.). Diese formalen Mitgliederzahlen geben allerdings keinen Aufschluss darüber, inwiefern bei den entsprechenden Organisationen in ihrer Wirtschaftspraxis von Genossenschaften gesprochen werden kann – im Sinne einer praktischen Realisierung
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genossenschaftlicher Prinzipien: Förder-, Identitäts-, Demokratieprinzip, Genossenschaftsgeist (Flieger 1996, S. 21-33) – und inwiefern den Mitgliedern ihre Rolle als GenossenschafterInnen bewusst ist und sie von ihnen aktiv wahrgenommen wird. Die Forschung an den genossenschaftlichen Instituten, die es an einigen Universitäten weiterhin gibt, orientiert sich thematisch an den existierenden liberalen Genossenschaften. Sie forschen im Sinne einer Betriebswirtschaftslehre für die bestehenden liberalen Genossenschaften und blenden so die politische Dimension weitgehend aus[3]. Damit einher geht die Historisierung der sozialreformerischen Strömung der Genossenschaftsbewegung. Das transportierte Selbstbild vieler liberaler Genossenschaftsmitglieder, -manager, funktionäre, -förderer und -wissenschaftler betont sowohl die Distanz und Differenz zu rein profitorientierten Unternehmen als auch zu weltanschaulich-politischen Zielsetzungen. Leitbild wirtschaftlichen Handelns scheint sozial-verantwortliches Unternehmertum zu sein, wie es auch in Debatten um „Corporate Social Responsibility“ diskutiert wird. Dietmar Berger grenzt sich beispielsweise ausdrücklich von den „Genossenschaftsromantikern“ und „Sozialromantikern[4]“ ab, „die den ‚neuen‘ Genossenschaften die Lösung aller sozialen Probleme zuordnen“, und betont als Stärke der Genossenschaften das „zuverlässige Agieren der Wirtschaftsunternehmen Genossenschaft im eigenen Territorium auf lange Sicht“ (Berger 2008, S. 416-418). Sozialreformerische Produktivgenossenschaften „Sozialreformerische“ Genossenschaften hingegen sind bestrebt, gemeinwohlorientiert zu agieren, nicht „ausschließlich der wirtschaftlichen Besserstellung ihrer Mitglieder [zu] dienen“ (Elsen 2007, S. 276), sondern solche Ziele einzuschließen, „die weder unmittelbar noch mittelbar wirtschaftlich fördernd wirksam sind und mit einem rein ökonomistischen Verständnis des [genossenschaftlichen, SKC] Förderauftrages kollidieren“ (Flieger 2006, S. 58). Nach der einflussreichen Bestimmung von Mersmann und Novy verstehen sich sozialreformerische Genossenschaften darüber hinaus „als Substitute zu Privateigentum und Marktwirtschaft (‚Kooperation statt Konkurrenz‘, ‚Solidarismus')“ (Mersmann/Novy 1991, S. 29 f.). Verlässliche statistische Daten über die Anzahl dieser Genossenschaften, speziell der Produktivgenossenschaften, und die dort tätigen Personen gibt es nicht. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass nicht alle die Rechtsform der eingetragenen Genossenschaft (eG) nutzen, sondern aus verschiedenen Gründen auf andere Rechtsformen zurückgreifen, z.B. auf e.V. oder gGmbH (vgl. für die Motive Flieger 1984, 2007a). Zu
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vermuten ist, dass aktuell weitaus weniger sozialreformerische Genossenschaften existieren als in den 1970/80er Jahren. Die dynamischste Entwicklung vollzieht sich zurzeit innerhalb der Bewegung der „Solidarischen Ökonomie“. Seit einigen Jahren sammeln sich unter diesem Begriff, der aus der lateinamerikanischen alternativökonomischen Diskussion stammt, sowohl sozialreformerische Produktivgenossenschaften als auch andere Formen alternativen Wirtschaftens wie Tauschringe, Regionalwährungen, fairer Handel, Energiegenossenschaften, Wohnprojekte (einen Überblick bietet: Voß 2010). Genossenschaften, verstanden als sozialreformerische Genossenschaften, kommt dabei in der wirtschaftlichen Praxis und den Diskussionen eine zentrale Rolle zu. Offene Fragen Weitere theoretische und empirische Forschungsergebnisse[5] zu diesen dynamischen Entwicklungen potenziell emanzipatorischer Gestaltung von Arbeit und Wirtschaft sind notwendig, sollen diese Potenziale so gut wie möglich ausgeschöpft werden. Weitere Erkenntnisse könnten einerseits von den Akteurinnen und Akteuren sozialreformerischer Genossenschaften und der „Solidarischen Ökonomie“ aufgegriffen und angeeignet werden sowie andererseits dazu beitragen, politische und akademische Perspektiven zu erweitern: Das gilt für (kritische) sozialwissenschaftliche Ansätze genauso wie für die Debatten um Wirtschaftsdemokratie, für die Bestimmung gewerkschaftlicher Positionen zu (sozialreformerischen) Genossenschaften wie für konzeptionelle und utopische Überlegungen der Richtung eines progressiven politischen Projektes. Sozialwissenschaftliche Forschung zu (Produktiv-) Genossenschaften müsste heute nicht bei Null anfangen, denn die reichhaltigen Studien zu den alternativen Betrieben der 1970er und 1980er Jahre sowie vereinzelte spätere Arbeiten (z.B. Flieger 1996; Plogstedt 2006) bieten Anknüpfungspunkte, die erschlossen werden können. Gleiches gilt für die internationale Forschung: In Frankreich, Italien, Spanien, Argentinien, Brasilien, Kanada und den USA existieren beispielsweise Forschungstraditionen, die sozialreformerische Aspekte von Genossenschaften thematisieren. Bei dieser zukünftigen Forschungsarbeit sollten die emanzipatorischen Potenziale, aber auch die Widersprüche und Grenzen dieser Wirtschaftspraktiken vor dem Hintergrund einer kritischen Gesellschaftsanalyse untersucht werden. Wichtige Themenfelder für die Forschung seien abschließend genannt:
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(1) Aus meiner Perspektive scheint es interessant, die aktuell existierenden Projekte wahrzunehmen und akademisch sowie politisch zu diskutieren – besonders an Debatten um Wirtschaftsdemokratie könnte hierbei angeknüpft werden. (2) Die genossenschaftliche Form der Demokratisierung der Wirtschaft wäre dabei stets auch unter dem Aspekt der Geschlechterdemokratie zu untersuchen. Um den egalitär-demokratischen Anspruch genossenschaftlichen Wirtschaftens umzusetzen, sollte gendersensible Forschung und Praxis Normalität werden. (3) Dabei müsste sich eine kritische Forschung zu Genossenschaften die Grundlagen genossenschaftlichen Wirtschaftens erneut aneignen und mit angemessenen wissenschaftlichen Begriffen empirische Studien durchführen, um die demokratische Organisation der Arbeit, die Ziele, spezifischen Erfahrungen und die Lernprozesse der AkteurInnen sowie hemmende und fördernde Rahmenbedingungen produktivgenossenschaftlichen Wirtschaftens analysieren zu können (4) Sie könnte weiterhin davon profitieren, historisch-vergleichend sowohl die Alternativbetriebe als auch die gewerkschaftliche Gemeinwirtschaft erneut in den Blick zu nehmen. (5) Schließlich wären diejenigen Bereiche der Wirtschaft vertieft zu analysieren, in denen produktivgenossenschaftliches Wirtschaften besondere Chancen bietet. Bei anhaltenden Politiken der Privatisierung und der Einschränkung (der Qualität) Öffentlicher Dienste könnten personenbezogene soziale Dienstleistungen – Kinderbetreuung, Bildung, Pflege – in dieser Hinsicht strukturell (arbeitsintensiv, ortsgebunden, expandierend) als mögliches Wachstumsfeld infrage kommen. Auf theoretischer Ebene gewinnt damit beispielsweise die Frage an Aktualität: Wie stehen staatlich-öffentlich und genossenschaftlich organisierte Dienste und Einrichtungen einer „sozialen Infrastruktur“ zueinander?
Literatur/Quellen: Berger, D. (2008): Das Genossenschaftswesen heute - eine Erfolgsgeschichte, in: Förderverein Hermann Schulze-Delitzsch (Hrsg.): Hermann Schulze-Delitzsch, Weg Werk - Wirkung [Festschrift zum 200. Geburtstag am 29. August 2008]. Wiesbaden, S. 412–421 Bierbaum, H. (2011): Renaissance der Belegschaftsbetriebe? Zur Diskussion in den Gewerkschaften, in: Luxemburg. Gesellschaftsanalyse und linke Praxis 3(3), S. 6 – 12
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Blome-Drees, J. (2012): Wirtschaftliche Nachhaltigkeit statt Shareholder Value : das genossenschaftliche Geschäftsmodell, http://library.fes.de/pdffiles/wiso/08964.pdf (letzer Zugriff 10.6.2012) Demirovic, A. (2011): „Wir können das besser“. Belegschaftseigentum, Demokratie und Transformation, in: Luxemburg. Gesellschaftsanalyse und linke Praxis 3 (3), S. 22 – 31 Elsen, S. (2007): Die Ökonomie des Gemeinwesens. Sozialpolitik und soziale Arbeit im Kontext von gesellschaftlicher Wertschöpfung und -verteilung, Weinheim Exner, A./Kratzwald, B. (2012): Solidarische Ökonomie & Commons, Wien Flieger, B. (Hrsg.) (1984): Produktivgenossenschaften. Oder der Hindernislauf zur Selbstverwaltung/Theorie, Erfahrungen und Gründungshilfen zu einer demokratischen Unternehmensform, unter Mitarbeit von Henry Kotek, München Flieger, B. (1996): Produktivgenossenschaft als fortschrittsfähige Organisation, Theorie, Fallstudie, Handlungshilfen, Marburg Flieger, B. (2006): Genossenschaften in Deutschland - Teil der Solidarischen Ökonomie, in: Altvater, A./Sekler, N. (Hrsg.): Solidarische Ökonomie. Reader des Wissenschaftlichen Beirats von Attac, Hamburg, S. 47–61 Flieger, B. (2007a): Das novellierte Genossenschaftsgesetz als Chance für die Sozialwirtschaft, in: Müller-Plantenberg, C./Nitsch, W./Schlosser, I./Loccumer Initiative (Hrsg.): Solidarische Ökonomie in Europa. Betriebe und regionale Entwicklung /Internationale Sommerschule in Imshausen, Kassel,S. 265–273 Flieger, B. (2007b): Selbsthilfegenossenschaften. Die Wir-eG: Arbeitsplätze durch unterstützte Gruppenselbsthilfe, in: Müller-Plantenberg, C./Nitsch, W./Schlosser, I./Loccumer Initiative (Hrsg.): Solidarische Ökonomie in Europa. Betriebe und regionale Entwicklung /Internationale Sommerschule in Imshausen, Kassel, S. 143– 149 Grosskopf, W./Münkner, H.-H./Ringle, G. (2010): Our Co-op. Idea - Mission – Achievements, Neu-Ulm Habermann, F. (2009): Halbinseln gegen den Strom. Anders leben und wirtschaften im Alltag, Königstein/Taunus
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Hettlage, R. (2000): Genossenschaft, in: Schäfers, Bernhard (Hrsg.): Grundbegriffe der Soziologie. 6., überarb. Aufl., Opladen, S. 103–106 Kerber-Clasen, S. (2012): Produktivgenossenschaften und solidarische Ökonomie als Forschungs- und Praxisfeld, in: WSI Mitteilungen 4/2012, 281-288 Klemisch, H./Sack, K./Ehrsam, C. (2010): Betriebsübernahme durch Belegschaften – Eine aktuelle Bestandsaufnahme, http://www.boeckler.de/pdf_fof/S-2009 – 303 – 1-1.pdf (letzter Zugriff 4.11.2011) Krätke, M. A. (2008): Über Wirtschaftsdemokratie, in: transform! Europäische Zeitschrift für kritisches Denken und politischen Dialog, H. 2, S. 93–103 Mersmann, A./Novy, K. (1991): Gewerkschaften, Genossenschaften, Gemeinwirtschaft. Hat eine Ökonomie der Solidarität eine Chance? Köln Notz, G. (2010): Theorien alternativen Wirtschaftens. Fenster in eine andere Welt, Stuttgart Plogstedt, S. (2006): Frauenbetriebe. Vom Kollektiv zur Einzelunternehmerin, Königstein/Taunus Priller, E./Zimmer, A. (2006): Dritter Sektor: Arbeit als Engagement, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, H. 12, S. 17–24 Vilmar, F. (1999): Wirtschaftsdemokratie - Zielbegriff einer alternativer Wirtschaftspolitik. Kritische Bilanz und Aktualität nach 40 Jahren, http://www.memo.uni-bremen.de/docs/m3206.pdf (letzter Zugriff: 9.12.2011) Voß, E. (2010): Wegweiser Solidarische Ökonomie. Anders wirtschaften ist möglich!, Neu-Ulm
[1] Die Bestimmung der verschiedenen Genossenschaftsformen und -typen diskutieren z.B. Mersmann/Novy (1991: 31-33, 92-99) sowie Hettlage (2000). Produktivgenossenschaften können nach Mersmann/Novy charakterisiert werden „als Wirtschaftsgemeinschaft zur Verwertung der Arbeitskraft“ – ArbeitnehmerInnen werden zugleich ihre eigenen ArbeitgeberInnen.
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[2] Im historischen Rückblick (von der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis 1933) wird in der Genossenschaftsforschung unterschieden zwischen liberalen, christlichen und sozialdemokratischen oder sozialreformerischen genossenschaftlichen Strömungen. Die liberale Orientierung zeigt sich heute beispielsweise in der unhinterfragten Akzeptanz marktwirtschaftlicher Prinzipien und einer entsprechenden effizienzgerichteten innerbetrieblichen Organisation. [3] Ausnahmen sind beispielsweise die Arbeiten von von Grosskopf et al. (2010) und Blome-Drees (2012). Einen Überblick über die aktuelle Forschung bieten die Beiträge in der „Zeitschrift für das gesamte Genossenschaftswesen“. [4] Diese Abwertung zielt vermutlich auf AkteurInnen der alternativen Betriebe, die teilweise (zu) große Hoffnungen in das Potenzial selbstverwalteten Wirtschaftens für die gesellschaftliche Entwicklung und die Lösung sozialer Probleme setzten. [5] Für einen Überblick über aktuelle Forschungsergebnisse siehe: Kerber-Clasen 2012; zu einzelnen Facetten z.B. Klemisch et. al 2010, Bierbaum 2011 (Belegschaftübernahmen), Voß 2010, Exner/Kratzwald 2012 (Solidarische Ökonomie), Notz 2010 (Theorien alternativen Wirtschaftens), Habermann 2009, Notz 2010 (Geschlechterverhältnisse), Demirovic 2011 (demokratietheoretische Fragen).
Autor: Stefan Kerber-Clasen, Promotionsstipendiat der Hans-Böckler-Stiftung
Orientierungsloses Europa von Dr. Wolfgang Kowalsky, EGB Über die „Krise des Euro“ wird viel geredet. Kurzfristig hat der Gipfel vom 28. Juni Erleichterung geschaffen, ein Wachstumsprogramm auf den Weg gebracht und Spanien sowie Italien unter die Arme gegriffen. Doch wie geht es weiter? Gedreht wird an ziemlich großen Rädern: „Bankenunion“, „Fiskalunion“, „Politische Union“, „europäischer Finanzminister“ - ausbuchstabiert ist davon nichts so richtig. Fast unbemerkt läuft parallel eine Debatte über die politische Zukunft Europas. Eine Leerstelle ist schon klar erkennbar: wo bleibt die „Soziale Union“, wo bleibt die „europäische Sozialstaatlichkeit“? Wenn sogar das Grundgesetz von "einem vereinten Europa“ spricht, so war sicher nicht gemeint, die Sozialstaatlichkeit auf dem Weg dahin auf der Strecke zu lassen. Wie könnte eine europäische Sozialstaatlichkeit
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aussehen? Angesichts der Großwetterlage ist es nicht verwunderlich, dass nur wenige dazu kommen, sich der Zukunftsgestaltung zuzuwenden, denn permanente Abwehrkämpfe absorbieren fast sämtliche Energien. Kalter neoliberaler Wind weht den Gewerkschaften aus Brüssel entgegen. Angriffe auf die Tarifautonomie, das Streikrecht (Monti II), die Löhne, die Renten und den Arbeitsmarkt stehen auf der Tagesordnung. Wer bestimmt Europas Zukunft? Es ist nicht verwunderlich, dass von der „Viererbande“ der 4 mächtigsten EU-Männer (Van Rompuy, Barroso, Juncker, Draghi) wenig zu einer Politischen und fast nichts zu einer Sozialen Union kommt. Schließlich hat nur einer der vier überhaupt eine soziale Sensibilität. Auffällig ist das Fehlen des Europaparlaments (EP) im Prozess der „Banken- und Staatsrettung“. Zudem gibt es Konkurrenz von einer zweiten „Viererbande“ der 4 wichtigsten Euroländer (Deutschland, Italien, Frankreich, Spanien), die sich am 21. Juni trafen, um das weitere Vorgehen zu besprechen und dabei ging es wieder um die Bankenrettung. Und erneut fehlten die Parlamente. Die „parlamentsfreien“ und die „sozialpartnerfreien“ Zonen nehmen in der europäischen Politik zu. Was ist los mit dem Projekt Europa, das einmal ein Hoffnungsträger war? Es stand für eine bessere, friedliche Zukunft, nicht zuletzt für ein soziales Europa, für gute Lebens- und Arbeitsbedingungen, soziale Mindeststandards und Vollbeschäftigung. Das Versprechen, dass es der nächsten Generation besser gehen soll als ihren Eltern, ist im Angesicht der grassierenden Jugendarbeitslosigkeit in einigen Ländern von bis 50 Prozent Vergangenheit. Seit der Weltfinanzkrise wird es zu Grabe getragen. Laut EZB-Präsident Mario Draghi gehört das Europäische Sozialmodell der Vergangenheit an. Er denkt nicht nur so, sondern trägt auch aktiv zur Demontage des Europäischen Sozialmodells bei, nicht zuletzt über die sogenannte Troika, bestehend aus Vertretern von Kommission, EZB und IWF. Diese Troika geht um wie ein Gespenst in Europa und sucht es heim mit unsozialen Spardiktaten. Ziellinie der aktuellen Troikapolitik, initiiert von der Kommission, ist eine von Demokratie abgeschirmte economic governance. Der jüngste Vorschlag ist ein Gremium zur Überwachung der Lohnentwicklung. Die Gewerkschaften sind herzlich eingeladen mitzumachen. Massenarbeitslosigkeit in nie gekanntem Ausmaß berührt die Lebensschicksale von Millionen Europäern. Soziale Ungleichheiten wachsen beständig: In den meisten Ländern ist der auf Arbeit entfallende Anteil am Nationaleinkommen seit den 70er Jahren gefallen. Die Einkommens- und Vermögensverteilung wird ungerechter. Europa hat sich im Globalisierungsprozess zum Sklaven vorgeblicher Sachzwänge gemacht, deren Absicht – ein wettbewerbsfähiges Europa zu gestalten - sich alles andere als bewahrheitet. Die Kommission hat mit der Deregulierung des Finanzsektors insbesondere unter Kommissar Bolkestein der Krise den Weg geebnet.
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Eine selbstkritische Analyse wurde nie durchgeführt. Deregulierung, Flexibilisierung und Liberalisierung gelten der Kommission weiterhin als Allheilmittel. Die Aktivitäten der Kommission waren nicht auf Marktbegrenzung und -einhegung, sondern auf Entfesselung und überhöhten Wettbewerb aus. Vorherrschende Krisendiagnosen Ein Ausweg aus der Krise ist nur möglich, wenn die Diagnose der Krise stimmt. Marktradikale Deregulierungspolitik und ein weitgehend deregulierter Finanzmarktkapitalismus haben zum Bankrott von Lehman und weiteren Bankinstituten geführt. Eine Rettung durch Selbstheilungskräfte oder die unsichtbare Hand des Markts war nicht absehbar. Die Finanzmarktkrise hat das kapitalistische System an den Rand des Kollapses geführt und nur ein entschiedenes Eingreifen des Staats hat es vor diesem Zusammenbruch bewahrt. Im Gefolge der staatlichen Rettungsaktionen fanden sich die Schulden der Finanzindustrie in den Staatshaushalten wieder. Das Rezept lautete nun nicht mehr Regulierung der Finanzindustrie und Beteiligung derselben an den Kosten, sondern Schuldenbremse plus strikte Austeritätspolitik. Die konservative Lesart der Krise wurde hegemonial: Die Finanzmarktkrise wurde umgedeutet in eine „Staatsschuldenkrise“ der europäischen Peripherie, ausgehend von Griechenland. Ein zu schnelles Wachstum der Arbeitskosten in Südeuropa habe der Wettbewerbsfähigkeit geschadet und das entsprechende Rezept laute nun Lohnsenkung plus Deflation. Wer die konservative Lesart der Krise hinnimmt, kann auch die Forderung nach einer Kursänderung nur halbherzig vortragen. Mittlerweile sind viele Austeritäts-Regierungen gestürzt: Sócrates (Portugal) machte im Juni 2011 den Anfang, es folgten Papandreou (Griechenland), Zapatero (Spanien), Berlusconi (Italien), Cowen (Irland), Radičová (Slowakei), Pahor (Slovenien) und Rutte (Holland). Ein Trend zu Technokraten-Regierungen setzte ein, wie von den Verfechtern der Austeritätspolitik gewünscht. Nun gerät dieser Trend ins Stocken. Die Austeritätspolitk hat Verwüstungen hinterlassen und zu Verwerfungen der politischen Landschaft geführt. Ein Wiederaufflammen nationalistischer Ressentiments ist zu konstatieren. Europaskeptische und -kritische Strömungen haben Aufwind. Alternativen zum Credo des Demokratieabbaus Das Programm des Austeritäts-Regimes scheint zu lauten: „Weniger Demokratie wagen!“ Ist eine Souveränitätsübertragung an Europa tragbar ohne gleichzeitige Übertragung der demokratischen Kontrolle? Klar ist: Europa braucht eine Demokratieoffensive. Die Kommission hat kein Mandat, die Krisenpolitik an den
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Parlamenten und an den Sozialpartnern vorbei zu betreiben. Eine Übertragung der Befugnisse auf die Kommission allein ist demokratietheoretisch inakzeptabel, weil dann demokratische Wahlen ins Leere verlaufen. Der weitgehende Ausschluss der Sozialpartner und der nationalen Parlamente von der Entscheidungsfindung droht das europäische Haus bis zur demokratischen Fassade zu entkernen. Europa braucht eine Mitbestimmungsoffensive. Die der Schuldenkrise vorausgehende Finanzmarkt- und Bankenkrise hat gezeigt, dass die Führung einiger Unternehmen auf Abwege geraten ist, benebelt von der shareholder value-Ideologie und dem Kurzfristigkeits-Denken. Um die Unternehmen auf Nachhaltigkeit umzupolen, ist eine Stärkung der Mitbestimmung erforderlich, da die Beschäftigten eines Unternehmens ein klares Eigeninteresse an fairen Löhnen und guten Arbeitsbedingungen haben und somit einen wichtigen Beitrag zu nachhaltiger Unternehmensführung leisten können. Der EGB hat gerade ein Projekt lanciert, um endlich eine 60jährige Lücke zu schließen und einen Mindeststandard für die europäische „Mitbestimmung“ auszuarbeiten. Die Hoffnung ist: Wenn alle Gewerkschaften an einem Strick ziehen, ist der Kampf nicht aussichtslos. Warum das Ganze? Die Kommission akzeptiert ihren eigenen Vorschlag für die Europäische Aktiengesellschaft (SE) nicht – mehr? – als Mindeststandard, sondern weicht ihn permanent auf bzw. versucht ihn zu umgehen. Aus der Hexenküche der Kommission wird gemeldet, dass daran gearbeitet wird, bestehenden nationalen Gesellschaftsformen ein Europäisches Label zu verleihen. Es wird also weiter gegen eine soziale Union gearbeitet. Die Vorschriften zu Information und Konsultation wurden in den letzten Monaten einem fragwürdigen „Fitness Check“ im Rahmen der better regulation-Agenda unterworfen. Nur die Richtlinie zu Europäischen Betriebsräten blieb bislang – zum Glück – ungeschoren. Wenn es den Gewerkschaften gelingt, beim Thema Mitbestimmung den gordischen Knoten zu durchschlagen, wäre der Weg frei für die Mehrheitsentscheidung auch in der Sozialpolitik. Ohne Mehrheitsentscheidung ist kaum noch ein sozialpolitisches Vorankommen denkbar. Allerdings ist ein Insistieren auf der Einstimmigkeit solange begründet, wie die Kommission ihre Hausarbeiten nicht macht und ein akzeptabler Vorschlag für Mindeststandards auf sich warten lässt. Die Kommission ist hier gefordert. Gewerkschaften fordern einen Kurswechsel für Europa. Es geht um nichts Geringeres als eine Emanzipation der EU von der Finanzindustrie. Die Verteidigung des Europäischen Sozialmodells muss dabei die Priorität aller progressiven Kräfte in Europa werden. Der Aggregatzustand der europäischen Politik muss sich von einer ökonomisch-monetären Union mit Zügen einer konkurrierenden Staatengemeinschaft hin zu einer demokratisch-legitimierten, politisch handlungsfähigen Union, die stärker bundesstaatliche Züge annimmt, ändern. Das Europäische Sozialmodell steht dabei für mehr Gerechtigkeit und Gleichheit, für die
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Notwendigkeit des Sozialstaates, einen funktionierenden öffentlichen Dienst, den Zugang zu Bildung und Ausbildung und eine faire und gerechte Steuerpolitik. Europa: absolutistisch oder demokratisch und sozial? Wie geht es langfristig weiter mit Europa? Fährt der Zug in Richtung Parlamentarisierung oder in Richtung Präsidentialisierung des EU-Systems? Entweder erhält das Europäische Parlament mehr Rechte (und parallel ebenfalls die nationalen Parlamente) und kann den Kommissionspräsidenten wählen und abberufen. Oder aber es kommt zu einer Präsidentialisierung, mit einer Direktwahl des Kommissionspräsidenten bei den Europawahlen – so zu finden im Programm der CDU. Konkret: Der jeweilige Listenführer der europäischen Parteienformationen wird Kommissionspräsident. Die Konsequenz einer solchen Präsidentialisierung wäre logischerweise, dass das EP das Recht verliert, einen direkt gewählten Kommissionspräsidenten zum Rücktritt zu zwingen. Im Falle einer Direktwahl wäre der Kommissionspräsident quasi unantastbar. Wird der Kommissionspräsident direkt gewählt, wie könnte dann noch ein Eingriff in nationale Zuständigkeit, eine weitere Machtanmaßung der Kommission (nach den jüngsten Eingriffen in die Tarifautonomie) abgewehrt werden, wo er doch direkt national legitimiert ist? Ein solches Präsidentialregime kann nicht im Interesse der Gewerkschaften liegen. Achillesferse des EP ist die – gern verdrängte – gefährlich niedrige Wahlbeteiligung. Eine Trendwende ist unter der gegenwärtigen Euroskepsis nicht wahrscheinlich. Seit der EP-Wahl 1979 sinkt die Wahlbeteiligung von Wahl zu Wahl um mindestens 2% und liegt mittlerweile bei 43%. Mehr als die Hälfte der europäischen Bürgerinnen und Bürger ist von der demokratischen Einflussnahme bereits abgekoppelt. Diese Tendenz wirft einen langen Schatten auf die Forderung nach der Stärkung des EP, aber es ist und bleibt die einzige direkt gewählte Instanz. Armin von Bogdandy charakterisiert den gegenwärtigen Zustand als „supranationalen Föderalismus“, Jürgen Habermas spricht von „postdemokratischen Exekutivföderalismus“, Heinrich August Winkler begreift Kommission und Rat als „verselbständigte Macht der Exekutivgewalt“, ein Begriff, mit dem Karl Marx 1852 den französischen Bonapartismus charakterisierte. Schon im Mai 2000 forderte Joschka Fischer in seiner Rede an der Humboldt-Universität eine volle Parlamentarisierung in einer europäischen Föderation mit einem Verfassungsvertrag. Winkler unterstrich kürzlich, dass die Direktwahl des Kommissionspräsidenten weniger sinnvoll ist als eine Wahl durch das Europäische Parlament, da die Direktwahl ein Schritt zu einer europäischen Präsidialdemokratie wäre und eine Schwächung des EP bewirkt. Die Gewerkschaften haben stets eine europäische Parlamentsdemokratie als Ziel unterstützt. Um diese Kernfrage der europäischen Integration, die Demokratiefrage geht es bei den vordergründigen Diskussionen um die Schuldenbremse, Banken- und Fiskalunion. Mit einer gestutzten Demokratie ist der Weg zu einem sozialen Europa verbaut.
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Autor: Dr. Wolfgang Kowalsky, geboren 1956 in Köln, Referent beim Europäischen Gewerkschaftsbund (EGB)
Die Rolle der Gemeingüter in den Städten von Prof. Dr. Thomas Sauer Das Thema der Rolle der Gemeingüter in den Städten ist besonders geeignet, die Grundlagen einer kontextuellen Ökonomie der Postwachstumsgesellschaft zu veranschaulichen, die zu einem Paradigmenwechsel in der Entwicklung der modernen Wirtschaftswissenschaft führen könnte. Dabei geht es um drei Fragen: Was kommt nach dem Wachstum? Welche Ökonomie benötigt die PostwachstumsGesellschaft? Warum gehören Gemeingüter in die Städte? Die Ursache der aktuellen Wachstumskritik liegt in einem historisch neuartigen Zusammentreffen von Klima-, Energie- und Finanzmarktkrise. Das Überschreiten der Grenzen des planetaren Ökosystems wirkt erstmals unübersehbar zurück auf die Entwicklungsmöglichkeiten des Wirtschafts- und Sozialsystems im industriell entwickelten Norden. Dabei sind drei Schockgeneratoren auszumachen: Zum ersten setzt die Klimakrise absolute Grenzen für die Emission von Treibhausgasen in die Atmosphäre. Zum zweiten verweist die Energiekrise auf eine Globalisierungskrise, möglicherweise auch eine Systemkrise. Zum dritten besteht die faktische Strategie der Lösung der aktuellen Finanzmarktkrise in der Verschiebung des Verschuldungsproblems von der privaten in die öffentliche Sphäre. In der deutschen Debatte lassen sich drei konzeptionelle Strömungen der Wachstumskritik unterscheiden (Adler und Schachtschneider 2010). Zum ersten Konzeptionen einer fundamentalen Systemkritik, die die Ursachen der ökologischen Krise im allgemeinen Herrschaftssystem, in der Produktion abstrakter Werte oder der Industrialisierung ausmachen sowie Perspektiven der Subsistenzproduktion oder des Ökosozialismus einnehmen. Zum zweiten Konzeptionen einer ökologischen Modernisierung im System, wie sie aktuell unter den Stichworten einer „Green Economy“ diskutiert oder auch von der evolutorischen Sozialökonomie vertreten werden. Unter der dritten Rubrik „Phasenwechsel mit offenem Ausgang“ können Positionen zusammengefasst werden, welche die Lösung der Frage „Systemimmanenz oder Systemtransformation?“ als sekundäres Ergebnis eines sozial-ökologischen Wandels sehen. Dazu gehören Ansätze einer reflexiven Modernisierung, einer Fokussierung auf die Re-Produktivität des sozial-ökologischen
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Systems, einer Marktwirtschaft ohne Wachstum und der Transformation in Richtung auf ein sozial-ökologisches Akkumulationsregime, wobei Teile der letzteren, regulationstheoretischen Schule auch der systemkritischen Strömung zugerechnet werden können. Dilemmata fehlender Entkoppelung Im Zentrum der aktuellen wachstumskritischen Debatte steht das Dilemma einer fehlenden Entkoppelung zwischen Ressourcenverbrauch und Wirtschaftswachstum. Auch wenn die deutsche Bundesregierung auf der Rio+20-Konferenz etwas anderes behauptete, kann von einer Entkoppelung zwischen diesen beiden Größen keine Rede sein: der absolute Ressourcenverbrauch der Industriestaaten ist seit dem Erdgipfel 1992 in Rio de Janeiro in allen entscheidenden Bereichen nicht gesunken, sondern gestiegen. Der Ressourcenverbrauch wie auch die Emissionen von Treibhausgasen wachsen vielleicht etwas langsamer, aber immer noch mit Produktion und Einkommen, während eine absolute Entkoppelung, also ein Sinken der Werte, unter dem Aspekt ökologischer Nachhaltigkeit dringend erforderlich wäre. Vor diesem Hintergrund gibt es keine Begründung mehr für ein wirtschaftspolitisches „Weiter so“, das sich blind gegenüber den Umweltwirkungen des Wirtschaftswachstums zeigt. Aber auch Strategien, die nun auf ein „grünes“ oder „nachhaltiges“ Wachstum setzen, müssen sich kritisch fragen lassen, ob sie tatsächlich zu einem absoluten Rückgang des Ressourcenverbrauchs beitragen und die Umweltbelastungen wieder zurück in die „planetaren Grenzen“ bringen, die sie teilweise schon überschritten haben. Ein starkes – und in gegenwärtigen Euro-Krise ist besonders virulentes – Argument für Wirtschaftswachstum ist der enge Zusammenhang zwischen Wirtschaftswachstum und Erwerbstätigkeit: steigt das Wirtschaftswachstum, steigt auch die Erwerbstätigkeit und sinkt die Erwerbslosigkeit. Dieser Zusammenhang ist zwar von Land zu Land unterschiedlich stark, aber er existiert. In der Regel ist er in ausgeprägten Wohlfahrtsstaaten schwächer, als in Ländern mit schwachem Wohlfahrtsstaat. In allen Demokratien ist er aber zentral für die Legitimation der Politik, denn es ist üblich, dass Regierungen abgewählt werden, die einen starken Anstieg der Erwerbslosigkeit zulassen. Das muss auch eine Politik bedenken, die auf ein Konzept des „Postwachstums“ setzt. Ein weiteres starkes Argument für Wachstum aus Sicht der politischen Klasse ist die enge Kopplung zwischen Wirtschaftswachstum und Steuereinnahmen (bzw. Haushaltssaldo): nehmen Produktion und Einkommen einer Volkswirtschaft zu, steigen auch die Einnahmen aus Umsatz- und Einkommensteuer – und damit auch die Handlungsmöglichkeiten der Politik. Es gibt daher auch nur wenige Politiker, die diesen Zusammenhang entkoppeln wollen. Margaret Thatcher machte die Einführung einer Kopfsteuer, die praktisch ist von der wirtschaftlichen
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Leistungsfähigkeit der Bürger unabhängig, zu einem ihrer zentralen Programmpunkte. Letztlich scheiterte sie an dieser vormodernen Politik. Welche Ökonomie benötigt die Postwachstumsgesellschaft? Eine politische Strategie, die den Weg in eine Postwachstumsgesellschaft weisen soll, muss nicht nur die benannten Entkoppelungsdilemmata auflösen, sondern benötigt auch eine solide ökonomische Fundierung. Da ist zu allererst die Idee einer Wiedereinbettung der Ökonomie in ihren gesellschaftlichen und ökologischen Kontext. Ein relevanter Teil der aktuellen Debatte bezieht sich dabei auf das Werk The Great Transformationvon Karl Polanyi, der das Problem der liberalen Marktwirtschaft in ihrer „Entbettung“ aus den gesellschaftlichen Zusammenhängen sah. Heutzutage verortet die moderne ökologische Ökonomie das Wirtschaftssystem als Subsystem des ökologischen Systems. Eine sozial-ökologische Transformation muss demnach die doppelte Aufgabe der theoretischen und praktisch-politischen „Wiedereinbettung“ der Ökonomie in Gesellschafts- und Ökosystem leisten. Diese Idee hat mittlerweile einen prominenten Platz in der wissenschaftlichen Politikberatung eingenommen. Neuer Ökonomiebegriff Im Zentrum einer Theorie der Postwachstumsgesellschaft wird ein neuer Ökonomiebegriff stehen, der wegführt vom Thema der individuellen Nutzenmaximierung hin zum Thema der kooperativen Reproduktion der sozialen und ökologischen Ressourcenbasis. Damit wird auch die Abkehr vom Paradigma der „unsichtbaren Hand“ des Marktes verbunden sein. Es setzt sich immer mehr die Idee einer institutionellen Pluralität durch, die moderne Wirtschaftssysteme nicht in ein schlichtes zweidimensionales Schema von Markt und Staat presst. Aus dieser neuen Sichtweise wird für eine Ökonomie der Postwachstumsgesellschaft die Lösung der „Tragik der Allmende“ zentral. Laut neoklassischer Ökonomie ist die gemeinschaftliche Verwaltung von Gemeingütern nicht stabil. Der offene Zugang zu knappen Ressourcen wie Wäldern, Weideland und Fischgründen führe immer zur Übernutzung. Gerade weil sich die Nutzer ökonomisch rational verhalten und das auch von den anderen Nutzern erwarten, nutzen sie das Gemeindeland, solange es noch nutzbar ist. Entscheidend für eine Ökonomie der Postwachstumsgesellschaft ist bei diesem (nur) scheinbar unlösbaren gesellschaftlichen Dilemma, dass das Nachhaltigkeitsproblem untrennbar mit diesem Kollektivgutproblem verbunden ist. In der Logik der neoklassischen Ökonomie gibt es nur zwei stabile Lösungen für die Tragik der Allmende. Entweder die Allmende abzuschaffen - Grund und Boden, Naturressourcen allgemein zu privatisieren – das führe zu effizienten, wirtschaftlich
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rationalen Ergebnissen - oder die Allmende zu verstaatlichen, zumindest aber staatlich zu regulieren. Selbstorganisation jenseits des Marktes führe zu keinem stabilen Ergebnis. Die Forschungen der kürzlich verstorbenen Elinor Ostrom, erste Nobelpreisträgerin für Ökonomie, und ihres Netzwerkes zeigen jedoch ein anderes Ergebnis: Gemeingüter können sehr wohl erfolgreich gemeinschaftlich verwaltet werden! In ihrer polyzentrischen Sichtweise sieht sie moderne Wirtschaftssysteme aufgespannt zwischen vier statt nur zwei zentralen Güterbegriffen: Neben privaten Gütern, die die Grundlage für Marktwirtschaften bilden und öffentliche Gütern, für die der Staat zuständig ist, betrachtet sie Mautgüter und vor allem Gemeingüter, wie z.B. Grundwasserbecken, Seen, Bewässerungssysteme, Fischgründe und Wälder, die jenseits der orthodoxen Markt-Staat-Dichotomie funktionieren. Die kontextuelle Ökonomie der Postwachstumsgesellschaft Elinor Ostrom arbeitete in ihren letzten Lebensjahren daran, ihre Theorie der gemeinschaftlichen Verwaltung von Allmendegütern auf breitere, verhaltenswissenschaftliche Grundlagen zu stellen. Dabei unterscheidet sie drei Analyseebenen zur Bestimmung der Bedingung der kooperativen Verwaltung von Gemeingütern: die Ebene des individuellen menschlichen Verhaltens; die Ebene des Mikrokontextes sozialer Dilemmata (wie der „Tragik der Allmende“) und die Ebene des sozio-ökologischen Kontextes. Sie entwickelte so einen eigenständigen Ansatz zu einer Kontextuellen Ökonomie im Sinne einer Mehrebenen-Theorie des kooperativen ökonomischen Verhaltens. Dieser Ansatz kann einen allgemeineren Geltungsanspruch erheben, als die neoklassische Ökonomie des homo oeconomicus, dessen kontext- und kommunikationsfreies Verhalten von vorneherein so konstruiert wurde, um die vermeintliche Überlegenheit jeder Marktlösung zu demonstrieren. Dabei ist der Begriff der Kontextuellen Ökonomie nicht neu, er wurde schon in den 1990er Jahren von Neva Goodwin und Martin Büscher verwendet, jedoch bekommt er mit Ostroms Ökonomie des Gemeingutes eine vollkommen neue Bedeutung. Es handelt sich bei Ostroms Ansatz um eine Kontextuelle Ökonomie der Postwachstumsgesellschaft, weil sie von vorneherein die nachhaltige Schonung und Reproduktion der Ressourcen durch gemeinschaftliches Handeln in das Zentrum ihrer Forschung stellt. Individuelles Verhalten ist für Ostrom – wie für viele Kritiker des homo oeconomicus – von Normen geleitetes und lernendes Verhalten. Der Mikrokontext erfolgreicher Lösung sozialer Dilemmata – wie der „Tragik der Allmende“ – hängt nach den Ergebnissen ihrer Gemeingut-Forschung von acht Bedingungen ab: 1. Die Nutzungs-Gruppen sowie die sozio-ökologischen Systeme sind klar voneinander abzugrenzen. 2. Die Orte von Ressourcen- und Entscheidungssystem sowie von geleistetem Aufwand und erzielten Ertrag müssen übereinstimmen.
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3. Alle Nutzer des Ressourcensystems beteiligen sich an der Regelfindung. 4. Der Zusammenhang zwischen individuell geleisteten Aufwand und erzieltem Ertrag wird überwacht. 5. Regelverletzungen werden abgestuft sanktioniert. 6. Es existieren Konfliktlösungsmechanismen innerhalb der Nutzungs-Gruppe. 7. Der Staat muss zumindest minimale Organisationsrechte bei der Selbstverwaltung von Gemeingütern respektieren. 8. Lokale Ressourcensysteme, die Teil größerer Ressourcensysteme sind, müssen nach dem Subsidiaritätsprinzip verwaltet werden. Sind diese acht Bedingungen erfüllt, so lassen sich Gemeingüter sehr wohl gemeinschaftlich verwalten, wie die umfangreichen Fallstudien und Experimente des Forschungsnetzwerkes um Ostrom ergaben. Zu den kritischen Variablen des breiteren und den Mikrokontext einschließenden sozio-ökologischen Kontextes gehören vor allem vier Themenkomplexe (Sauer 2012): a) Variablen, welche die Verfügbarkeit von Informationen beschränken, wie die Größe des Ressourcensystems, die Größe der Nutzungs-Gruppe, die Produktivität des Ressourcensystems sowie die Voraussagbarkeit der Entwicklungsdynamik des Ressourcensystems. b) Die Normen und Präferenzen der Nutzer, die berücksichtigen, dass Normen und soziales Kapital von der Möglichkeit zur Kommunikation untereinander abhängig sind und die Kosten der Entscheidungsoptionen beeinflussen. Gruppenmitglieder, die leicht die Nutzung der Gemeinschaftsressource durch eine andere ersetzen können, sind in einer anderen Position, als Gruppenmitglieder, die nicht über diese Substitutionsmöglichkeiten verfügen. Andere Faktoren, welche die soziale Heterogenität und Machtasymmetrien innerhalb der Nutzungs-Gruppe vergrößern und sich negativ auf den Erfolg gemeinschaftlichen Handelns auswirken können, bestehen in einer ungleichen Verteilung von Einkommen und Vermögen. c) Entscheidungsregeln, die erfolgreichem Gemeinschaftshandeln zugrunde liegen, profitieren sehr stark von Erfahrungswissen und Engagement bei der Verwaltung des Gemeingutes sowie auf dem Verständnis des sozio-ökologischen Systems. d) Als zentrale Variable ist schließlich die lokale Autonomie bei Regelsetzung und Entscheidungsfindung zu nennen. Gemeingüter in den Städten
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Elinor Ostrom und ihrForschungsnetzwerkhaben sich bei ihrer Forschung über die Lösbarkeit sozialer Dilemmata des Gemeinschaftshandelns vor allem auf die Untersuchung der Verwaltung traditioneller, vor allem ländlicher Gemeingüter konzentriert, wie Grundwasserbecken, Seen, Bewässerungssysteme, Fischgründe, Wälder. Daher stellt sich die Frage: Finden wir Gemeingüter auch in den Städten? Die Frage lässt sich mit Ja beantworten, denn auch in den Städten sind Themen wie Wasserversorgung und Landnutzung zentral, denken wir nur an Parks und städtische Wälder. Neuerdings spielen Themen wie Urban Gardening und Urban Agricultur in gemeinschaftlicher Nutzung eine zunehmende Rolle gerade in großen Städten. Carrot Cities und Hands-on Urbanism sind Themen von Ausstellungen, die weltweit große Beachtung finden. Es scheint so, dass traditionelle Gemeingüter, die vor allem dem ländlichen Kontext zugerechnet wurden, nun auch in die Städte einrücken. Dabei darf jedoch nicht vergessen werden, dass Treiber des städtischen Wachstums bislang die Vermarktung privater Güter und privaten Grundbesitzes im globalen Kontext einerseits sowie die Bereitstellung öffentlicher Güter und Infrastrukturen andererseits sind. Angesicht dieser marktgetriebenen Dynamik ist die zweite Frage, welche Rolle Gemeingüter beim Übergang von Städten zur Nachhaltigkeit spielen werden. Diese Frage ist erst in Ansätzen systematisch untersucht. Hier soll ihr exemplarisch am Beispiel der schwedischen Stadt Växjö nachgegangen werden, eine Kommune mit 82000 Einwohnern im südschwedischen Småland, die sich stolz „Europas grünste Stadt“ nennt, seit sie in einem BBC-Bericht aus dem Jahr 2007 so bezeichnet wurde. Bekannt wurde Växjö, weil es der Stadt gelungen war, ihren CO2-Ausstoß innerhalb von wenigen Jahren überdurchschnittlich stark zu senken – in 16 Jahren um ein Drittel, ausgehend von einem bereits niedrigen Niveau von 4,6 Tonnen im Jahr 1993 auf drei Tonnen pro Einwohner im Jahr 2009. In diesem Zeitraum ging der CO2Ausstoß für Wärmeenergie um 74% zurück und der für Elektroenergie um 51%.Der Block, in dem die geringsten Erfolge erzielt wurden, besteht aus dem Verkehr und dem Einsatz von Maschinen in der Produktion: dieser ist mittlerweile für 78% der drei Tonnen CO2-Austoß verantwortlich. Es gibt zwei Ressourcensysteme, die Växjö als Untersuchungsgegenstand der Gemeingutforschung interessant machen: Das ist zum Einen der Wald, der einen Großteil der Gemeindefläche ausmacht und das sind zum anderen die 200 Seen, die sich auf dem Gebiet der Kommune befinden. Insbesondere die stadtnahen Seen Växjo und Trummen waren in der Mitte des letzten Jahrhunderts durch die zunehmenden Abwässer von Bevölkerung und Industrie extrem verschmutzt und überdüngt. Fische konnten wegen Sauerstoffmangels dort nicht mehr überleben. Nachdem erste Versuche, industrielle und Haushaltsabwässer zu trennen, keine Verbesserung brachten, wurde in den sechziger Jahren das Problem eingehend ökologisch untersucht und 1970/71 zunächst der See Trummen von einer 60 cm dicken Schicht braunen und schwarzen Schlamms befreit, was zusammen mit
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umfangreichen Kanalisationsmaßnahmen zu seiner vollkommenen Restauration führte. Mittlerweile sind die Seen Trummen und Växjö wieder im besten ökologischen Zustand und beliebte Naherholungsziele der Bevölkerung geworden. Aktuell scheint sich auch die Kommune erneut für die Fortsetzung der Restaurationsarbeiten zu interessieren, weil Seegrundstücke an restaurierten Seen im Wert steigen und sich die Kommune, die einen Großteil dieser Seegrundstück besitzt, hohe Erträge davon verspricht. Kommen wir zum Wald, der Växjö umgibt. Noch während der zweiten Ölkrise begann der kommunale Energieversorger VEAB sich nach Alternativen zur Verbrennung von fossilen Brennstoffen umzusehen und wurde bei den Abfällen der lokalen Holzindustrie, Hobelspäne und Sägemehl, fündig. 1980 wurde in Växjö das erste schwedische Fernwärmesystem in Betrieb genommen, dass auf der Verfeuerung von Biomasse der lokalen Forst- und Holzwirtschaft beruhte. Als Schweden 1991 eine CO2-Steuer einführte, war Växjö gut auf den vollständigen Umstieg auf Bioenergie vorbereitet. Mitte der 90er Jahre begann die Kommune eine Kooperation mit der Schwedischen Naturschutzgesellschaft, die in der Proklamation mündete, Växjö zu einer von fossilen Brennstoffen unabhängigen Stadt zu machen. Mittlerweile lautet das Ziel, bis 2015 eine Reduktion des CO2-Ausstoßes um 55% gegenüber 1993 zu erreichen (nachdem das 50%-Ziel 2010 nicht erreicht wurde) und um 100% bis 2030. Entscheidende Weichenstellung war die Inbetriebnahme des mit Holzabfällen gespeisten Blockheizkraftwerkes Sandvik II, das 1997 in Betrieb genommen wurde (und 2013 durch ein weiteres Kraftwerk ergänzt werden soll). Von vorneherein war die Genossenschaft der südschwedischen Waldbesitzer, SÖDRA, in das Projekt einbezogen. SÖDRA ist nun verantwortlich für die Lieferung der erneuerbaren Brennstoffe. Diese öffentlich-genossenschaftliche Partnerschaft bildet den Kern der Energiewende in Växjö und schließt die lokale Wertschöpfungskette. Unterstützt wurde diese lokale Energiewende von kompetenten Nichtregierungsorganisationen auf dem Gebiet der Ökologie und der örtlichen Linné-Universtität Växjö-Kalmar auf dem Gebiet der Ingenieurwissenschaften. Mit dem Energykontor Sydost haben sich die Städte und Gemeinden der Landkreise Kronoberg (zu dem Växjö gehört), Kalmar und Blekinge eine flexible Plattform für den Sektor nachhaltiger Energien geschaffen, die sie bei der Beantragung von Fördermitteln unterstützen soll. Zugleich bündelt der Energykontor Sydost die Verbindungen zwischen Universitäten, Industrie und Kommune in den Sektoren Bioenergie als auch beim Bau von energieeffizienten Häusern. In beiden Sektoren sind im Landkreis Kronoberg inzwischen im nennenswerten Umfang neue Arbeitsplätze entstanden, allein im Bioenergie-Sektor 5000. Die lokale „grüne“ Industrie finanziert zwei Lehrstühle für die in den beiden Sektoren benötigten Technologien.
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Das Beispiel Växjö zeigt: Die Gemeingüter Seen und Wälder können eine zentrale Rolle beim Nachhaltigkeits-Übergang von Städten spielen. Die Rückbesinnung auf das Gemeingut Seen auf dem Territorium von Växjö und deren Renaturierung bildete den Ausgangspunkt dieser Wende. Hier wurden erstmals Lernprozesse durchlaufen und Erfahrungswissen für das Management von lokalen Ressourcensystemen gesammelt, von dem die später einsetzende Energiewende vor Ort profitieren konnte, die das zweite lokale Ressourcensystem, den Wald, systematisch zu nutzen begann. Es wird auch deutlich, welch starke Rolle die Kommune und kommunale Unternehmen, wie der örtliche Energieversorger für die sozio-ökologischen Übergangsprozesse spielt. Ein treibender Faktor der Energiewende in Växjö war neben der Kommune die Genossenschaft der regionalen Waldbesitzer, die ein massives Interesse an der Nutzung der nachhaltig erzeugen Energieträger haben. Wesentlich war außerdem die frühe Hinzuziehung wissenschaftlicher Expertise, zunächst von der Universität Lund im Fall der Seenrenaturierung und nun von der lokalen Universität auf den Gebieten der Bioenergie und Passivhaustechnologie. In Bezug auf die oben genannten vier kritischen Variablenkomplexe des sozioökologischen Kontextes lässt sich für den Fall Växjö folgendes festhalten: 1. Im Zuge der Renaturierung der Seen und des Übergangs zu Erneuerbaren Energien in Växjö wurden die Verfügbarkeit von Informationen über die Größe, die Produktivität und die Entwicklungsdynamik dieser lokalen Ressourcensysteme systematisch und mit der Unterstützung von wissenschaftlicher und fachlicher Expertise erweitert. Hinzu kam, dass die lokalen Nutzungs-Gruppen von vorneherein klar definiert waren. 2. Die Normen und Präferenzen der lokalen Nutzungsgruppen haben sich im Übergangsprozess selber ständig zugunsten des sozio-ökologischen Wandels verändert. Besonders relevant war in diesem Zusammenhang der Lernprozess der mit der Renaturierung der Seen begann und in dem Zielformulierungsprozess für die lokale Energiewende in den 1990er Jahren kumulierte. Andererseits kann vermutet werden, dass die soziale Heterogenität und Machtasymmetrien im Rahmen des egalitären schwedischen Wohlfahrtssystems von untergeordneter Bedeutung waren und daher den Erfolg gemeinschaftlichen Handelns in der Kommune nicht ernsthaft behinderten (das wäre aber im Vergleich zu anderen Wohlfahrtssystemen noch zu überprüfen). 3. Die Entscheidungsregeln, die das erfolgreiche Gemeinschaftshandeln in Växjö unterstützten, profitierten im Fall der lokalen Energiewende sehr stark vom Erfahrungswissen, das die Kommune in der frühen Phase des sozio-ökologischen Wandels vor Ort erlangen konnte und das Verständnis der Gemeingüter erweiterte.
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4. Schließlich ist als vierter förderlicher Faktor für den sozio-ökologischen Wandel vor Ort der hohe Grad der Autonomie zu nennen, über die schwedische Kommunen bei der Regelsetzung und Entscheidungsfindung verfügen.
Literatur/Quellen: Adler, Frank; Schachtschneider, Ulrich (2010): Green new deal, Suffizienz oder Ökosozialismus? Konzepte für gesellschaftliche Wege aus der Ökokrise. München: Oekom Verl. Sauer, Thomas (2012): Elemente einer kontextuellen Ökonomie der Nachhaltigkeit. Der Beitrag Elinor Ostroms. In: Thomas Sauer (Hg.): Ökonomie der Nachhaltigkeit. Grundlagen, Indikatoren, Strategien. Marburg: Metropolis (91), S. 135–160.
Autor: Prof. Dr. Thomas Sauer, Professor für Volkswirtschaftslehre am Fachbereich Betriebswirtschaft der Ernst-Abbe-Fachhochschule Jena
Die Deutsche Arbeitsfront, ihr Konzern und der Untergang der gewerkschaftsnahen Genossenschaftsbewegung von Prof. Dr. Rüdiger Hachtmann Der 2. Mai 1933 ist ein tiefer Einschnitt in der Geschichte der Gewerkschaften. Zum Schicksalstag wurde dieses Datum aber auch für die Genossenschaften und Unternehmen der Gewerkschaften – die zahlreichen Wohnungs- und Bauproduktivgenossenschaften, die Konsumgenossenschaften, die Volksfürsorge, die Bank der Arbeiter, Angestellten und Beamten, die Büchergilde Gutenberg und die gewerkschaftseigenen Verlage und Druckereien sowie vieler weiterer Unternehmen. Sie alle hatten ab 1919 einen starken Aufschwung genommen und waren auch besser als die meisten privatwirtschaftlichen Unternehmen durch die Weltwirtschaftskrise Ende 1930 gekommen. Nach dem 2. Mai 1933 gingen sie in den Besitz der Deutschen Arbeitsfront (DAF) über.
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Mit der räuberischen Aneignung der gewerkschaftsnahen Unternehmen wurde die Zerschlagung der Gewerkschaften abgeschlossen und den proletarisch-sozialistischen Milieus zentrale institutionelle Halterungen genommen, wodurch deren Zerfall massiv beschleunigt wurde. Darüber hinaus beseitigte die DAF alle Mitbestimmungsrechte und Partizipationsmöglichkeiten der vordem gewerkschaftlichen bzw. gewerkschaftsnahen Unternehmen. Vor allem die Genossenschaften waren den Nazis ein Dorn im Auge, weil diese als Schulen einer basisnahen Demokratie, mit weitreichenden Rechten der Teilhabe der „Genossen“, den Gegenpol zu Führerprinzip und der Entmündigung breiter Bevölkerungsschichten markierten. Noch 1933 gingen deshalb die DAF-Führung, andere Nazifunktionäre und ihre konservativen Verbündeten in den Reichsministerien unverzüglich daran, den Genossenschaften ihren genossenschaftlichen Kern zu nehmen, sie (wie NS-freundliche Ministerialbürokraten formulierten) zu „entsozialisieren“. Die Neuausrichtung der Wirtschaft mit Gewerkschafts- und Genossenschaftsvermögen Die Genossenschaften wandelten sie in ‚normale’ Aktiengesellschaften oder GmbHs um und stellten sie damit den etablierten privatwirtschaftlichen Unternehmen gleich; Mitbestimmungsrechte gab es nicht mehr. Gleichzeitig machte die Führung der Arbeitsfront aus den zahllosen, dezentral entstandenen gewerkschaftlichen Unternehmen und gewerkschaftsnahen Genossenschaften eine Art Holding, die vom Umsatz her 1941/42 ungefähr die Dimensionen des damals weltgrößten Chemiekonzerns, der IG Farbenindustrie, erreichte und mit etwa zweihunderttausend Arbeitern und Angestellten fünfzigtausend Arbeitnehmer mehr beschäftigte als der Siemens-Konzern. Aus den vielen gewerkschaftsnahen Wohnungsgenossenschaften wurden ab Ende 1938 regionale, zentralistisch gelenkte Neue Heimat-Gesellschaften. Aus dem Verband Sozialer Baubetriebe, in dem seit 1920 die genossenschaftlichen Bauhütten zusammengefasst waren, entstand die zentral geführte Deutsche Bau AG, die innerhalb weniger Jahre zu den großen Bauunternehmen - wie Hochtief oder Holzmann - aufschloss. Die Konsumgenossenschaften nahm die Arbeitsfront erst Anfang 1941 endgültig in ihren Besitz, um sie zu unter dem Namen „Deutsches Gemeinschaftswerk“ zu einer profitablen Einzelhandelskette für Nahrungsmittel mit einem Marktanteil von etwa zehn Prozent zu machen. Die „Bank der Deutschen Arbeit“, wie das vormalige Geldinstitut des ADGB seit Ende 1933 genannt wurde, überflügelte an Größe bis 1942 die Commerzbank und war nach der Deutschen und der Dresdner Bank das drittgrößte Geldhaus des Reiches. Der Versicherungskonzern der DAF war, mit der Volksfürsorge als Kern, nach der Allianz der zweitgrößte in Deutschland und Europa. Nach dem Verlag der NSDAP (Eher Nachf.) besaß die Arbeitsfront mit der Büchergilde Gutenberg den zweitgrößten Verlagskomplex des
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Dritten Reiches; nach 1939 erhielt sie mit der von ihr geleiteten Zentrale des Frontbuchhandels de facto ein Monopol über die Belieferung der Millionenheere deutscher Soldaten. Die Büchergilde bestand unter ihrem alten Namen weiter und belieferte die Mitglieder nun mit seichter Unterhaltungslektüre und NS-Propaganda. Indem die DAF die übernommenen gewerkschaftlichen Unternehmen derart umbaute bzw. gänzlich neu ausrichtete, verstand sie sich als ein Instrument des NSRegimes, das eine Massenkonsumgesellschaft förderte - allerdings nur für politisch konforme und „rassenreine“ deutsche „Volksgenossen“. Auch zu diesem Zweck baute die Arbeitsfront mit ehemaligen Gewerkschaftsgeldern ab 1938 das heutige Volkswagenwerk in Wolfsburg (damals: KDF-Stadt) auf. Ähnlich megalomane, gleichfalls fordistisch organisierte Werke plante die Organisation zur Produktion von Volkskühlschränken und Volkstraktoren. Noch vor Beginn des Zweiten Weltkrieges begann sie ein Werften-Imperium aufzubauen, das Schiffe in großer Zahl für die NSGemeinschaft „Kraft durch Freude“ (KDF) bauen sollte. KDF wiederum war die größte Suborganisation der Arbeitsfront. Statt KDF-Schiffen bauten oder reparierten die DAF-Werften seit 1939 dann Kriegsschiffe; und das von KDF für einen modernen Massentourismus errichtete „Bad der Zwanzigtausend“ in Prora auf Rügen blieb eine riesige Bauruine, die heute noch zu besichtigen ist. Mit der Angliederung mitteleuropäischer Länder an das Dritte Reich ab 1938 und der Besetzung weiter Teile Kontinentaleuropas durch die Wehrmacht seit Herbst 1939 setzte die Arbeitsfront ihr Werk der Zerstörung genossenschaftlicher Strukturen gewerkschaftlicher Unternehmen und Einrichtungen auch außerhalb der Grenzen des deutschen „Altreiches“ fort. Große Einheiten vs. basisnahe Genossenschaften Nach 1945 sind dezentrale, gewerkschaftsnahe Genossenschaften – die deren Protagonisten vor 1933 auch als zentrale Elemente einer friedlichen „Sozialisierung von unten „ verstanden hatten – und damit auch die für eine funktionstüchtige Demokratie so wichtigen, basisnahen ‚Schulen der Demokratie’ dauerhaft nicht wieder erstanden. Führende Mitglieder des DGB und die leitenden Manager der den Gewerkschaften rückerstatteten Unternehmen und Genossenschaften erlagen der Faszination großer ökonomischer Einheiten. Dass sie damit weiter einen Weg beschritten, den die Deutsche Arbeitsfront 1933 eingeschlagen hatte, war ihnen scheinbar das kleinere Übel, als aufwendig eine Vielzahl von basisnahen, lokalen Einheiten wieder zu gründen. Der Crash des Neue-Heimat-Konzerns und der Coop AG Anfang der achtziger Jahre war für den DGB nicht allein ökonomisch eine Katastrophe. Er beschädigte zudem die Glaubwürdigkeit der Gewerkschaften in volkswirtschaftlichen Fragen nachhaltig. Den in Deutschland starken genossenschaftlichen Traditionen der sozialistischen Arbeiterbewegung bereiteten bereits NS-Regime und Arbeitsfront de facto ein Ende.
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Dass sie nach 1945 in der Bundesrepublik nicht wieder erstanden – und in der DDR letztlich zum Opfer einer zentralistischen Kommandowirtschaft wurden – , ist durch moderne technische Entwicklungen wie den PKW und den Kühlschrank begünstigt worden, da diese den Stellenwert der Verbrauchergenossenschaften zurücktreten ließen. Zudem trug eine genossenschaftsfeindliche Legislative und Exekutive in der Bundesrepublik das Ihre dazu bei, den Niedergang der Genossenschaften zu beschleunigen. Das Rabattgesetz vom 21. Juli 1954 knüpfte ziemlich nahtlos an das entsprechende Gesetz vom 25. November 1933 an, wenn es die Höhe der erlaubten Rabatte auf drei Prozent beschränkte. Bis 1933 hatte die Ausschüttung angesparter Rabatte am Jahresende in Höhe von oft zehn Prozent und mehr vielen einkommensschwachen Arbeiterfamilien die Finanzierung lang geplanter Anschaffungen erlaubt. Trotz Kühltruhe und Auto war der Niedergang der Genossenschaftsbewegung kein zwangsläufiger Prozess, wie der Blick in Länder zeigt, die nicht von der NS-Diktatur okkupiert wurden (Skandinavien, Schweiz etc.). Es war der staatsterroristische Akt vom 2. Mai 1933, der hier vollendete Tatsachen schuf. Mit der von Terror begleiteten Zerstörung der Genossenschaftsbewegung in den Kernlanden Europas ab 1933 bzw. 1938 – neben dem Deutschen Reich vor allem Österreich – verschwanden auch politisch-ökonomische Alternativen, die mikro- und ebenso makroökonomisch neue Perspektiven weisen können. Das war und ist fatal, angesichts eines neoliberal entfesselten Kapitalismus, von dem behauptet wird, er sei alternativlos, der jedoch immer sichtbarer an seine Grenzen stößt. Wer sich ausführlicher darüber informieren möchte, welche Bedeutung die Epochenzäsuren 1933 und 1945 für die Geschichte der deutschen Gewerkschaftsbewegung hatten, vor allem aber, welche Entwicklung die gewerkschaftlichen Unternehmen während der NS-Herrschaft nahmen, sei verwiesen auf: Rüdiger Hachtmann, Das Wirtschaftsimperium der Deutschen Arbeitsfront, Göttingen: Wallstein 2012.
Autor: Prof. Dr. Rüdiger Hachtmann, geboren am 3. Februar 1953 in Celle, Projektleiter am Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam
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Commons als Alternative zum Neoliberalismus von Silke Helfrich Wo der Brotgelehrte trennt, vereinigt der philosophische Geist. Friedrich Schiller, Sämtliche Werke 1-5 – Universalgeschichte Am Anfang war die Einzäunung… Die Geschichte des Kapitalismus ist die Geschichte von Trennungen. Sie fanden oft gewaltsam statt und haben einen Namen: Einhegung der Allmende (engl: enclosure of the commons). Wobei die Rede von der 'Einhegung' durchaus in die Irre führt, denn nicht das „hegen und pflegen“ ist gemeint, sondern das „einzäunen und trennen“. Getrennt werden die Menschen von den Dingen, die sie zum Leben brauchen. Früher wie heute sind das Zugang zu Grund und Boden, zu Energieträgern, Wasser, Saatgut, Wissen, Heilmitteln, Kultur, öffentlichem Raum und vielem mehr. Es sind die Dinge, die niemanden allein gehören - sollten. Die klassische Einhegung - die Einzäunung des Landes - vollzieht sich seit Hunderten von Jahren. Ihren Höhepunkt erlebte sie mit dem Beginn der industriellen Revolution ab Mitte des 18. Jahrhunderts. In unseren Gefilden kamen die so genannten Verkoppelungen oder Gemeinheitsteilungen erst Anfang des 20. Jahrhunderts zum Abschluss. Nur ein Rest der traditionellen Allmende existiert noch heute. Diese Rechtsform gemeinschaftlichen Besitzes und individueller Nutzung gilt als „mittelalterlich“, daher wird oft übersehen, wie ungemein beständig und anpassungsfähig sie ist und war. Einhegungen wurden im Laufe der Geschichte immer wieder mit der Behauptung gerechtfertigt, der Mensch sei ein homo oeconomicus, also in erster Linie ein individueller Nutzenmaximierer und als solcher nicht prädestiniert gemeinschaftlich zu handeln: "Ein Mensch, der kein Eigentum erwerben darf, kann auch kein anderes Interesse haben, als so viel wie möglich zu essen und so wenig wie möglich zu arbeiten, schrieb der schottische Moralphilosoph und Ökonom Adam Smith im Jahr 1776 in Natur und Ursachen von Nationalreichtümern. Tatsächlich aber ging es nicht wirklich um die Angst vor der Faulheit. 'Enclosures' waren im Prinzip eine Art Mega-Landreform von und für Oben. Gemeinschaftliche Landnutzungsformen wurden aufgelöst und der Ackerbau im erbrechtlichen Pachtsystem auf die für die Landlords profitablere Schafzucht umgestellt. Zu Beginn der industriellen Textilproduktion überfluteten in England „infolge der gewerblichen Nachfrage nach Wolle, die Schafherden der Grundherren die Commons,“ schreibt der Historiker Hartmut Zückert[1].
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Diese Einhegungen (die sich bis heute oft unsichtbar fortsetzen) trugen erheblich dazu bei, die Wirtschaft und Gesellschaft durchzuprivatisieren, was bislang nicht verhindert hat, dass Bodenerosion, Holzeinschlag, Überfischung, Schwund der Artenvielfalt und vieles mehr bedrohlich zunehmen. Fast alle wichtigen Nachhaltigkeitsindikatoren entwickeln sich negativ. Dennoch gehört gerade die etwas holzschnittartige Idee, Privateigentum garantiere den sorgsamen Umgang mit natürlichen Ressourcen, zu den Grundkonstanten liberalen Denkens. ihr folgte die Metapher Das Menschenbild vom homo oeconomicus wurde im Jahr 1968 von Garrett Hardin noch einmal befeuert und dabei mit der Problematik gemeinsamer Ressourcennutzung verknüpft. In der einflussreichen Wissenschaftszeitschrift Science argumentierte Hardin unter dem vielzitierten Titel „The Tragedy of the Commons“, die Commons seien keine Lösung, sondern selbst das Problem. Hardin bringt eine Metapher ins Spiel, die sich in ihrer Schlichtheit „auf leisen Sohlen ins Gehirn“ (Lakoff) ganzer Generationen schlich und bis heute dort herumlungert. Es ist das Bild der Schäfer, die isoliert voneinander ihre Schafe auf eine gemeinsame Weide treiben. Jeder versuche dabei den eigenen Nutzen zu maximieren. Noch ein Schaf und noch eins und noch eins, „als seien die Schäfer dümmer als die Schafe“ (Paysan). Die Folge sei zwangsläufig die Übernutzung der Weide. Hardin zementierte seine Grundannahme, dass eine Tragödie bei gemeinsamer Ressourcennutzung unvermeidlich sei und schloss daraus: der beste Schutz vor Übernutzung der Ressourcen sei entweder die private Kontrolle (durch Eigentümer) oder die externe Kontrolle (z.B. durch den Staat). Aus diesem Entweder-Oder-Schema, das die eigentlichen Nutzer_innen der Ressourcen entweder zum Befehlsempfänger degradiert oder ausgrenzt, hat sich das politische Denken bis heute nicht wirklich befreien können. Im Gegenteil: diese proprietäre Logik ist nicht nur in unser Denken, sondern auch in unsere Rechtsordnung eingegangen. Sie ist uns zur DNA geworden. Der Hauptfehler Hardins war, die Allmende als Niemandsland zu begreifen; ein Schlaraffenland gewissermaßen, in dem sich jeder nach Gutdünken bedienen könne. Dabei beschrieb er in seinem Science-Beitrag keine Allmende, sondern ein sogenanntes Open-Access-Regime, das heißt den ungeregelten Zugang zu Ressourcen. Gerade die gemeinschaftliche und selbstbestimmte Regelung von Zugangs- und Nutzungsbedingungen ist aber für die Allmende/Commons charakteristisch. Und zwar überall auf der Welt. Das zeigt eindrücklich die historische wie aktuelle Commonsforschung. Wer den Unterschied zwischen der Essenz der Commons[2] und „open access“ als konkrete Form der Zugangsregelung übersieht, der wird auch facebook oder youtube mit einem Commons verwechseln.
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...und die Abhängigkeit Die höhere Produktionseffizienz, die den Einhegungen folgte, war begleitet von verschärften sozialen und finanziellen Abhängigkeiten, die mit zunehmendem Geldverkehr immer mehr wurden. Dies hat gerade in den 'entwickelten Industrieländern' dazu geführt, dass ohne Geld nichts mehr geht. Und Geld bekommt man entweder durch bezahlte Arbeit oder vom Staat. Wenn aber bezahlte Arbeit nicht verfügbar ist und staatliche Leistungen sich entweder ungerecht verteilen, dahinschmelzen oder zur Überschuldung ganzer Generationen führen, dann offenbart unsere Geldabhängigkeit ihr wahres Gesicht. Auch die modernen Einhegungen (etwa die ausufernde Patentierung von Bausteinen des Wissens und des Lebens) gehen regelmäßig mit neuen Produktivitäts-, Wohlstands-, Freiheits- und Privilegienversprechungen einher. Sie wecken stets die Hoffnung, das auch unten etwas ankomme. In Teilen der Welt trifft dies zu; insbesondere da wo die ökosozialen Kosten der Wohlstandsproduktion nach anderswo verschoben werden. Denn wenn ich in einem deutschen Mediamarkt einen Flachbildschirm kaufe, dann erwerbe ich die Gemeinressourcen (common pool resources) der anderen. Wenn ich im Supermarkt den Einkaufskorb fülle, bringe ich Wasser, Boden und Biodiversität der Anbauregionen auf meinen Tisch. Begriffliche Klärung tut not Es ist wichtig, die beiden Begriffe Ressourcen und Commons/Allmende auseinanderzuhalten. Ressourcen sind frei. Sie kennen kein Eigentum und keine Staatsgrenze. Ressourcen wissen nicht, ob wir sie zum Leben brauchen oder nicht. Wir hingegen sind an die Nutzung von Ressourcen gebunden. Das alte Wort für Commons, Allmende, hat diese Bindung für uns bewahrt. Es setzt sich zusammen aus all(e) + gemeinde, so glauben zumindest die Sprachhistoriker. Der Begriff erfasst damit den Kern der Auseinandersetzung mit den Commons[3]: alle, die zu einer bestimmten Gemeinschaft gehören und Ressourcen gemeinsam nutzen, müssen sich darüber verständigen, wie sie das tun. Sie müssen Regeln entwickeln, die intergenerationelle Fairness garantieren und sie müssen die Freiheit haben dies zu tun. Das wäre die Zielperspektive. Dass dies nicht immer gelingt, liegt auf der Hand. Auch „commoners“ nutzen im gegebenen System die Ressourcen der Anderen. Nicht minder wichtig zu verstehen ist, dass der Commonsbegriff nicht an ein bestimmtes Eigentumsregime geknüpft werden kann. Anders ausgedrückt: Commons sind nicht dasselbe wie Gemeineigentum. Vielmehr gibt es de jure viele verschiedene Eigentumsformen, die individuelle Nutzung und gemeinsamen Besitz miteinander kombinieren. Commons sind zudem nicht zwangsläufig überall da, wo Gemeinschaften oder Netzwerke sind. Die Existenz derselben sind zwar notwendige, nicht aber hinreichende Bedingungen für das, was „Commoning“ genannt wird: den
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Aushandlungs- und Reproduktionsprozess der Commons selbst. In einem Satz: Commons sind nicht, sie werden gemacht. „There is no commons, without commoning“ (Peter Linebaugh). Wie komplex der Aufbau und die Stabilisierung gelingender Commons-Institutionen ist, war Forschungsgegenstand der kürzlich verstorbenen Nobelpreisträgerin Elinor Ostrom. Sie hat über Jahrzehnte die Welt und die Forschungsliteratur durchkämmt und unzählige Praktiken analysiert, in denen es Menschen gelingt (oder auch nicht), kollektive Ressourcen miteinander zu nutzen und sie dabei zu erhalten. Dabei geht es wie oft angenommen nicht nur um kleine, eng begrenzte Ressourcensysteme, sondern auch um komplexe sozio-ökologische Systeme. Es geht nicht nur um das Land, sondern auch um die Stadt. Es geht nicht nur um Wasser, sondern auch um Kultur. Ostrom hat, mit ihren Kolleginnen und Kollegen so genannte DesignPrinzipien für gelingende Commons kristallisiert. Im Kern sagen sie Folgendes: je mehr Regeln der Ressourcennutzung von den Nutzern selbst vereinbart, permanent angepasst und kontrolliert werden können und je klarer die Grenze der Ressourcennutzung ist, umso wahrscheinlicher ist die nachhaltige und faire Bewirtschaftung von Gemeinressourcen. So zentral diese Erkenntnis auch erscheint, so häufig wird sie ignoriert. Dabei geht es um nicht weniger als die Frage, wie kollektives Handeln eigentlich funktioniert. Nicht umsonst heißt Ostroms Hauptwerk im Deutschen (anders als in der englischen Originalfassung) „Die Verfassung der Allmende. Jenseits von Markt und Staat“[4]. Der wohlüberlegte Titel weist darauf hin, dass es sich bei Commons nicht um Dinge, Ressourcen oder einfach Güter handelt. Und schon gar nicht um ein vorwiegend ökonomisches Thema. Im Grunde geht es um die Verfasstheit der Gesellschaft selbst. Die gegenwärtige eigentümliche Produktionslogik Wie drängend das Thema ist, können wir täglich in den Nachrichten verfolgen. Tatsächlich erzeugt die gegenwärtige Art des Wirtschaftens mit ihrem Fokus auf den Schutz des Privateigentums einen systematischen Ausschluss von Menschen. Insbesondere die Bedürfnisse jener, die nicht über das nötige Kleingeld verfügen, spielen für den Markt keine Rolle. Und weil das so ist, weil die spätmoderne kapitalistische Gesellschaft systematisch Gewinner und Verlierer erzeugt und die Kluft zwischen beiden immer größer wird, konzentriert sich die politische Linke vor allem auf das Verteilungsproblem. Der Soziologe Hartmut Rosa findet das „unheilvoll“, da diese „Konzentration niemand anderem als dem neoliberalen Gegner in die Hände spielt und das unheilvolle Spiralsystem, welches jener betreibt, in Gang zu halten hilft“[5]. Unsere Produktionsweise ist darauf angewiesen, dass immer mehr Dinge, die ursprünglich gemeinsam genutzt und bewirtschaftet wurden, marktfähig werden. Selbst was sich mehrt, wenn wir es teilen: wie Ideen und Wissen wird mit denselben
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Instrumenten „eingefangen“ wie das, was tatsächlich geteilt werden muss. Die privateigentümliche Durchdringung aller Lebensbezüge im Dienste der Produktion für den anonymen Markt (der von immer weniger Akteuren kontrolliert wird) hat sich durchgesetzt. Beides erscheint uns selbstverständlich, obwohl die Logik der Produktion für den Markt immer auf Kosten anderer geht. Es kann immer nur einen Marktführer und einen Exportweltmeister geben! Die Beteiligung an dieser Form der Produktion ist auch in Gewerkschaften und Teilen der traditionellen Linken zum Garant für Existenzsicherung geronnen. Eng verzahnt mit dieser Produktionslogik, hat sich in unserem Denken eingenistet, dass Zugang zu Lebensnotwendigem nur über Geld zu haben ist. Wer fragt, ob dies so sein muss, erntet ein verständnisloses: „Ja wie soll das denn sonst gehen?“ Schon im Ansatz erstickt die Erklärung, dass es auch Wohlstand durch Teilen und eine Logik der Fülle gibt, die sich den „knappheitsschaffenden Institutionen“ (Wolfgang Höschele) des kapitalistischen Marktes entzieht und die Dominanz der Geldlogik zurückdrängt.
Literatur/Quellen: [1] Hartmut Zückert: Allmende ¨C Ein historischer Eigentumsbegriff, in Silke Helfrich und Heinrich Böll Stiftung: Commons. Für eine neue Politik jenseits von Markt und Staat, transcript, Bielefeld 2012, S. 160. [2] Von den Nutzerinnen und Nutzern selbst bestimmt zu sein. [3] Ich nutze den Begriff der Commons im historischen Kontext analog zur Rechtsform der Allmende, darüber hinaus aber für alle Arrangements in denen Menschen selbstbestimmt über Ressourcen verfügen, die sie teilen. [4] Elinor Ostrom: Die Verfassung der Allmende. Jenseits von Markt und Staat. Mohr Siebeck, 1999. (Engl. Titel von 1990. Governing the Commons beyond Market and State). [5] Hartmut Rosa: Das Idiotenspiel, Le Monde diplomatique Nr. 9776 vom 13.4.2012.
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Einige Beispiele: •
Noch vor 70 Jahren hätten wir uns vermutlich kaum vorstellen können, dass einmal eine kleine und fast unbekannte Kommission wie die „Kommission zur Begrenzung des Festlandsockels“[1] über die Eigentumsverhältnisse am Nordpol (und damit über eine Unmenge fossiler Bodenschätze) bestimmt. Dabei ist die Diskussion über die Frage, wem die Hohe See und wem die Arktis gehört jahrhundertealt. Unzählige Anträge der fünf Anrainerstaaten des Nordpolarmeers (Dänemark, Norwegen, Kanada, Russland und die USA) harren der dringenden Bearbeitung durch die Kommission. Die Staaten geben sich nicht mit den 200 Seemeilen zufrieden, über die sie nach dem UN-Seerechtsübereinkommen als „Ausschließliche Wirtschaftszone“ verfügen können. Sie beanspruchen das ausschließliche Nutzungsrecht (und damit zumindest auch die Schutzpflicht) über mindestens 350 Seemeilen und darüber hinaus. Deswegen lassen sie nun von ihren Geologenteams beweisen, dass ihre jeweiligen Festlandsockel weit ins Polarmeer hineinreichen: „erweiterter Festlandssockel“ heißt das Zauberwort. "Auf diese Weise können [sie] mit Hilfe des internationalen Rechts das Polarmeer wahrscheinlich nahezu restlos untereinander aufteilen. Sie können es sich sozusagen mit Hilfe geologischer Daten einverleiben. Denn der Meeresboden am Nordpol ist gebirgig und erlaubt die Interpretation, dass die Kontinentalsockel der angrenzenden Staaten sehr lange Ausläufer haben“, schreibt Gunnar Herrmann.[2] Russland hat am 2. August 2007 schon einmal vorsorglich, symbolisch und höchst medienwirksam eine Flagge auf dem Meeresgrund unter dem Nordpol gehisst. In mehr als 4000 Metern Tiefe.[3]
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Noch vor 50 Jahren war der Begriff des „Geistigen Eigentums“ nur Experten geläufig. Heute empfängt mich die Garderobenfrau im Museum mit dem Satz: „Sie dürfen hier nicht fotografieren, wegen dem Geistigen Eigentum.“ Tatsächlich löste die Gründung der WIPO, der World Intellectual Property Organization' im Jahre 1967 die inflationäre Verwendung dieses Begriffs aus. Er trägt seither dazu bei, Patentrecht, Urheberrecht/Copyright und Markenrecht nicht mehr klar voneinander zu unterscheiden und sich stattdessen abstrakt auf deren „dürftige Gemeinsamkeit“ zu beziehen, „die darin besteht, daß sie spezielle Machtzustände erzeugen, die gekauft und verkauft werden können.“ „Ein copyright-bezogenes Problem besteht beispielsweise darin, ob Musik-Tausch erlaubt sein sollte. Patentrecht hat damit nichts zu tun. Aber Patentrecht bringt die Frage auf, ob es armen Länder gestattet sein sollte, lebensrettende Medikamente zu produzieren und preiswert zu verkaufen, um Leben zu retten. Das Copyright hat damit nichts zu tun.“[4] Heute dient ein großer Teil der Patentanträge selbst nach
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Aussagen des Europäischen Patentamts in München eher der Sicherung von Marktmacht als dem Schutz von Erfindungen; und in Sachen Urheberrecht/Copyright werden Schlachten geschlagen, als ginge es um den Untergang des Abendlandes. •
Noch vor 30 Jahren hätten wir uns nicht vorstellen können, dass Lebewesen patentiert werden. Das erste Patent auf Lebewesen wurde 1988 auf die so genannte Krebsmaus erteilt. Wissenschaftler der Harvard Medical School hatten eine gentechnisch veränderte Maus hergestellt, die besonders krebsanfällig war, nachdem ein Onkogen in ihr Erbgut eingeschleust wurde. (Merke: man schleust zwar nur ein Gen in Form eines DNA-Moleküls in die Maus ein, eignet sich aber den gesamten Organismus, der diesem Gen zur Wirkung verhilft, und seine sämtlichen zukünftigen Anwendungen gleich mit an. Das ist, als müssten Kinder eine lebenslange Abgabe an Pharmakonzerne bezahlen, weil sie unter der Wirkung eines Potenzmittels gezeugt worden sind. Und es ist wie in der Petroindustrie. Man fördert das Öl und eignet sich den Rohstoff selbst, zu dessen Entstehen der Förderer keinen Beitrag geleistet hat, gleich mit an. Mit welchem Recht?) Das amerikanische Patentamt gewährte den Patentschutz im Jahr 1988 mit dem expliziten Hinweis, „dass es sich um nicht-menschliches Tier handele“, erfahren wir aus der Wikipedia.
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Noch vor 10 Jahren erschien die Warnung vor der Monopolisierung der Materie auf atomarer Ebene wie eine allzu blühende Phantasie von Technoskeptikern. Dabei beinhaltet der technikfixierte und (fleißig vom Staat geförderte) „Nanofuturismus“, durchaus den Glauben an die absolute Machbarkeit.Er zementiert die Grundannahme, dass der Mensch praktisch alles kontrollieren können, wenn er nur „den Beginn aller Kausalketten in der Hand hätte“[5]. Und dass genau das strategisch beabsichtigt ist, diagnostiziert einer der wichtigsten Beobachter der Entwicklung neuer Technologien, der Alternative Nobelpreisträger Pat Mooney. „Die Industrie kann heute recht einfach die Natur kontrollieren. Sie muss nur die so genannten Geistigen Eigentumsrechte über die 4 beziehungsweise gut 100 Elemente kontrollieren“[6], resümiert er Ende Januar 2012 auf dem Thematischen Sozialforum im südbrasilianischen Porto Alegre. Es gibt heute einzelne Patente, die 33 Elemente der Periodentabelle betreffen, zum Beispiel das US Patent 5 897 945. Je „elementarer“ (im Wortsinn) ein Patent ist, umso mehr Bereiche der Ökonomie umfasst es. So funktioniert Kontrolle auf Nanoebene.
Literatur/Quellen: [1] Die Festlandsockelgrenzkommission, ein Organ des Seerechtsübereinkommens, soll Empfehlungen über die äußere Grenze des Festlandsockels aussprechen. Sie
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stützt sich dabei auf die von den Küstenstaaten gewonnenen geographischen und geologischen Daten. [2] Gunnar Herrmann: Streit um den Nordpol. http://www.sueddeutsche.de/wissen/streit-um-den-nordpol-wem-gehoert-diearktis-1.193244, Zugriff am 01. August 2012 [3] Siehe auch: Auswärtiges Amt: 2000 Meilen unter dem Nordmeer, http://www.auswaertigesamt.de/DE/Aussenpolitik/InternatRecht/Aktuell/070822nordpol_node.html vom 08.07.2011, Zugriff am 01. August 2012. [4] Zitiert nach: Richard Matthew Stallman: Meinten Sie "geistiges Eigentum"? Ein verführerisches Nichts, 2004, http://www.geistigeseigentum.eu/meinten_Sie_geistiges_eigentum.php [5] Annette Schlemm: Risiken und Nebenwirkungen der Nanotechnig, 2010, http://www.jenion.de/AS/nano4.htm, Zugriff am 01. August 2012. [6] Siehe: Rio+20. Nein zur geo-engineerten Grünen Ökonomie: Mitschrift eines Beitrags von Pat Mooney https://commonsblog.wordpress.com/2012/01/28/rio20nein-zu-deren-geo-engineerten-grunen-okonomie/ (Zugriff am 01. August 2012) Die Krisen und die Renaissance guter Ideen Nun aber überschlagen sich die Krisen und es wird immer offensichtlicher, wieweit Markt und Staat der Gesellschaft ein Programm in die Rechtsordnung eingeschrieben haben, das vor allem Konkurrenz, Abhängigkeit vom Markt und Privateigentum sichert. Aber: die Entschärfung der damit verbundenen sozialen Konflikte ist mit Kosten verbunden. Auch die Aufgaben, um die sich der Markt nicht kümmert (öffentliche Daseinsvorsorge) bleiben kostenintensiv. Der Staat, der schon immer auch als Einheger der Commons fungierte, gerät zunehmend in die Handlungsunfähigkeit und unter Legitimationsdruck. Der Bedarf nach neuen Gesellschaftskonzepten jenseits von Markt und Staat brennt nicht mehr nur den Skeptikern des Bestehenden unter den Nägeln. Die Commons könnten ein solches Konzept sein. Wenn wir kurzschlüssige Vorstellungen vom Begriff der Commons zur Seite legen, wird dessen emanzipatorische Kraft hervortreten. Da ist etwa der Kurzschluss, Commons seien dasselbe wie gemeinsame Ressourcen, die als Güter (Naturkapital) betrachtet werden. Commons sind mehr als gemeinsame Ressourcen, mehr als Güter. Sie entstehen durch Aneignung und Selbstermächtigung immer dann, wenn Menschen etwas für so wichtig halten, dass sie es als ihr Eigenes betrachten, sich darum kümmern und Verantwortung dafür übernehmen. Sie bestehen im Grunde aus drei Elementen, einer oder mehreren Ressourcen, den Menschen, die diese Ressourcen nutzen und dem Prozess des so genannten commoning (der regel- und normenbasiert ist).
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Commoning kann man sich vorstellen wie einen kommunikationsintensiven Aushandlungsprozess darüber, wie geteilte Ressourcen so genutzt werden können, dass kein Nutzungsberechtigter ausgeschlossen ist und dass die Ressourcen weder über- noch unternutzt werden. Commons entstehen also aus einer sozialen Praxis, aus dem gemeinsamen Sorgetragen um etwas, sei es ein Gemeinschaftsgarten, ein Hackerspace oder eine genossenschaftliche Wohnform. Und 'Sorge-tragen'hat einen etwas anderen Zungenschlag als 'versorgt zu werden'. Beim Commoning geht es um das Einüben von Gemeinschaftlichkeit. Das beginnt im Alltag, etwa in der Art wie wir lernen. Mein Sohn überraschte mich kürzlich mit der Aussage, dass sie als vierköpfige Arbeitsgruppe vor der Frage ständen, ob ihre abiturrelevante Projektarbeit einzeln oder getrennt bewertet werden solle. Diese Arbeit wurde monatelang gemeinsam und arbeitsteilig produziert und am Schluss genauso präsentiert. Zwei Mädchen und zwei Jungs haben lange zusammengearbeitet und mussten sich dann für einen Bewertungsmodus entscheiden: Bekommt jeder eine Note „für sich“ oder bekommt die Gruppe „eine gemeinsame“ Bewertung? Es kommt letztlich nicht auf das Ergebnis an, aber der Diskussions- und Reflektionsprozess samt der Notwendigkeit, zu einer von Allen getragenen Lösung zu kommen ist ein wunderbares Beispiel für Commoning. In der gegenwärtigen Commons-Debatte bezieht sich der Begriff freilich umfassender auf kreative und oft dissidente Praktiken im Umgang mit Arbeit, Geld und Privateigentum, die über den Kapitalismus hinausweisen. Dass dabei produziert wird, ist offensichtlich. Allerdings sind es nicht unbedingt Waren für den Verkauf, sondern konkrete Problemlösungen und die Befriedigung der Bedürfnisse steht im Mittelpunkt. Das alles aber muss man auch wollen. Commons und Commoning sind daher auch eine Haltung. Vielleicht vergleichbar mit dem, was man in der Genossenschaftsbewegung „Genossenschaftsgeist“ nennt. Commons-basierte Peer-Produktion Derzeit ist eine Produktionsweise im Entstehen, die uns in die Lage versetzt, selbst sehr komplexe Dinge so herzustellen, dass sie gemeinsam genutzt werden können. Der Harvard-Ökonom Yochai Benkler hat dafür den Begriff Commons-basierte PeerProduktion geprägt. In ihrer emanzipatorischen Idealform verwirklicht sich darin die Überwindung des Primats von Privateigentum und der Leitidee der Knappheit sowie die Loslösung aus der Abhängigkeit von Wohl und Wehe eines wachstums- und geldabhängigen Marktes. Auch wenn in einer kapitalistischen Umgebung Commonsbasierte Peer Produktion nie ganz ohne Geld auskommt, kann sie doch Orientierung bieten für eine lebensdienliche und geldunabhängigere Produktionslogik. Und genau das tut sie: Wer diese Entwicklungen übersieht, wird den unfassbaren Erfolg von Wikipedia (der die klassische Art, Enzyklopädien zu produzieren längst „auskooperiert“ hat) nicht erklären können. Er wird nicht verstehen, wie ein Team
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von 12O Freiwilligen aus 10 Ländern unter Nutzung freier Webtools in nur drei Monaten (statt wie in der Autoindustrie üblichen zehn Jahren) ein Basismodell eines Rennwagens „produziert“, das 5-Sterne Sicherheitsstandard hat, 1,5 Liter Sprit auf 100 Kilometer verbraucht, nicht zu warten ist und von jedem nachgebaut werden darf (sic!). Gibt's nicht? Gibt's doch! Das Projekt heißt Wikispeed[6] und dürfte dem TopDown-Management der Autoindustrie gehörige Kopfzerbrechen bereiten. Es ist nicht das einzige Projekt, das materielle Güter nach dem „Wikiprinzip“ herstellt[7]. Allein 26 Open-Source Autoprojekte gibt es weltweit. Open Hardware und Open Design sind weitere Schlagwörter der Debatte. Man kann also auch Hardware, Werkzeuge, Maschinen, Infrastrukturen und ganze Betriebe zum Commons machen. Dabei ist allerdings nicht die Frage der konkreten Organisations- und Eigentumsform entscheidend (die in der Diskussion über Genossenschaften, Kollektive oder von Belegschaften übernommene Betriebe oft überbetont wird), sondern entscheidend ist wofür produziert wird: Für den Gewinn oder für die Lösung von Problemen und die Befriedigung von Bedürfnissen? Und ebenso entscheidend ist, nach welchem „Betriebssystem“, nach welchen Prinzipien produziert wird. Hier lassen sich viele Brücken schlagen zum Diskurs und zur Praxis einer Vielzahl solidarischer oder gemeinwirtschaftlicher Ökonomien. Commons-Basierte Peer-Produktion wird sich jedoch nur als sinnvoll erweisen, wenn es ihr tatsächlich gelingt, herrschaftskritisch zu bleiben und die profitorientierte Logik des Umgangs mit Ressourcen umzukehren. Derzeit werden endliche und damit in ihrer Nutzbarkeit begrenzte Ressourcen (Wasser, Land, Bodenschätze) dramatisch übernutzt, so als wären sie unbegrenzt verfügbar) und solche Ressourcen, die „mehr werden, wenn wir sie teilen“ (Ideen, Wissen) werden künstlich verknappt, so als wäre nicht genug davon da. Nur umgekehrt wird ein zukunftsfähiger Schuh daraus. Am Schluss steht eine radikale Demokratisierung Soll die Logik strukturellen Ausschlusses aufgehoben und ein möglichst herrschaftsfreies Haushalten mit dem, was wir zum Leben brauchen, gestärkt werden, dann ist es hilfreich, „strukturelle Gemeinschaftlichkeit“ (Meretz) zu denken. Das individuelle Interesse steht dem Kollektiven nämlich nicht gegenüber, sondern es ist Teil eines Ganzen. Es ist zu verstehen, schreibt Stefan Meretz „dass die eigenen Bedürfnisse nur dann berücksichtigt werden, wenn die Bedürfnisse der anderen ebenfalls in den gemeinsamen Aktivitäten aufgehoben sind. Freilich sind Commons nicht automatisch radikal-demokratisch, aber sie sind Ermöglichungsstrukturen für Orte relativer Autonomie, Räume kreativer Entfaltung und Prozesse der Selbstermächtigung. Darin liegt ein schier endloses Potential, die jeweils herrschenden Regeln immer wieder aufzubrechen, die Grenzen unserer
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„mentalen Infrastrukturen (Welzer) zu durchlöchern und unsere individuelle Freiheit zu erweitern. Denn die herrschenden (Spiel-) Regeln selbst sind das Problem. Es geht daher am Kern der Sache vorbei darauf zu beharren, dass erst einmal die Spielchancen gleich verteilt werden und jede_r gleich viele Männchen im Spiel hat. Vielleicht bekommt man für einen Zug ein paar zusätzliche Männchen, aber im nächsten Spielzug wandern sie wieder ab nach Rumänien und im übernächsten weiter nach China. Das Spiel selbst ist „idiotisch und ungesund“ und macht „über kurz oder lang alle zu Verlierern“, schreibt Rosa, da es nicht nur Gewinner und Verlierer erzeuge, „sondern zugleich die zugehörigen Muster von Angst und Begehren als psychische Antriebsenergien. Das Spiel selbst bestimmt, worauf die Akteure hoffen, wovon sie träumen und wovor sie sich fürchten. [...] Auch solche, die schon 20, 40 oder 400 Männchen im Ziel haben, werden weiter [...] spielen, auch wenn es sie selber ruiniert, sie spielen, auch wenn es ihre Familien zerstört, ihre Kinder in den Selbstmord oder Burnout treibt, die sozialen Bande untergräbt, die ökologischen Grundlagen unseres Lebens vernichtet.“ Recht hat er. Es ist höchste Zeit, das Suchtpotential des kapitalistischen Betriebssystems zu erkennen: Immer mehr Infrastruktur, mehr Wachstum, mehr Produktivität, mehr Effizienz, mehr Anteil am Weltmarkt. Aber auch mehr Erschöpfung. Weil Commons Aushandlungs- und Entscheidungsfreiräume sind und die Entscheidungen über das Ziel der Ressourcennutzung umfassen, beinhalten sie tendenziell auch neue, substanziellere Formen der Demokratie. Das ist eine ihrer wesentlichen Stärken. Und wie sonst wäre der zunehmenden Schwächung der Parlamente und der aufgeblähten autoritären Macht ökonomischer Eliten (von denen die politischen Eliten abhängen) zu begegnen? Der Staat wird uns deshalb vor dieser Macht und vor diesem „Idiotenspiel“ nicht bewahren. Er spielt nämlich mit. In der Commonsbewegung ist das weitgehender Konsens. Sie ist durchaus staatskritischer als es bei der traditionellen Linken oder in den Gewerkschaften der Fall sein mag. Sie setzt auf ein „Jenseits von Markt und Staat“ (was nicht unbedingt ohne Markt und Staat bedeutet[8]), und sie konzentriert sich dabei auf die Frage, welche institutionellen und strukturellen Bedingungen für ein gelingendes Leben und für eine lebensdienliche Wirtschaft erfüllt sein müssen. Wo immer Menschen die Angelegenheiten, die für ihr unmittelbares Lebensumfeld von Bedeutung sind, selbst in die Hand nehmen, kann das Konzept der Commons als Analyseinstrument herangezogen werden, auch wenn die Menschen selbst diesen Begriff nicht verwenden. Dieser Beitrag ist lizenziert unter einer Creative Commons Lizenz: BY-SA 2.0
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http://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0/de/ Literatur/Quellen: [6] http://wikispeed.com/ [7] Alle dürfen beitragen und alle dürfen nutzen, Code und Design liegen offen und sind zum kopieren freigegeben. [8] Um diesen Punkt wird durchaus heftig gestritten.
Autorin: Silke Helfrich, Freie Publizistin und Mitbegründerin der Commons Strategies Group, lebt und arbeitet in Jena.
Bildung als öffentliches Gut von Ulrich Thöne, GEW-Vorsitzender Die Zahl der öffentlichen Bildungseinrichtungen sinkt, die der privaten steigt. Ein Befund[1], der neben den Meldungen und Kommentierungen zu den Ergebnissen des vierten nationalen Bildungsberichts[2] kaum beachtet wurde. Während Politik und Medien darüber stritten, ob es denn nun graduell besser oder schlechter geworden sei mit der Bildung in Deutschland, kam die tiefere Analyse zu kurz. Dem Statistischen Bundesamt war diese Entwicklung immerhin eine Pressemitteilung wert. Zu Recht. Denn egal ob man, wie die Bundesregierung und die Kultusminister der Länder, die Erfolge in der Bildungsbeteiligung betont oder, wie Gewerkschaften und Sozialverbände, dass die Schere zwischen Bildungsgewinnern und -verlierern immer weiter auseinandergeht, der Trend zu mehr privaten Schulen und Hochschulen hält an, während der Anteil privater Bildungsausgaben abnimmt. Dieser Trend ist Ausdruck dafür, dass das öffentliche Gut Bildung schleichend zu einer marktgängigen Ware gemacht und öffentliche Mittel in private Erwerbsunternehmen umgeleitet werden. Das Menschenrecht auf Bildung gerät in Gefahr.
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[1] Statistisches Bundesamt, Pressemitteilung vom 22. Juni 2012 (https://www.destatis.de/DE/PresseService/Presse/Pressemitteilungen/2012/06/P D12_213_217.html), Autorengruppe Bildungsberichterstattung, Bildung in Deutschland 2012, S. 30f. [2] Autorengruppe Bildungsberichterstattung, Bildung in Deutschland 2012 (http://www.bildungsbericht.de/daten2012/bb_2012.pdf)
Öffentliche Finanzierung steigt trotz privater Trägerschaft Privatisierung, Profitgier und Ausgrenzung im Bildungssektor Mit Bildung lässt sich Geld machen, viel Geld. Je höher die Einnahmen sind und je weniger die Beschäftigten der Branche verdienen, desto mehr Gewinn für den privaten Träger. Wir sehen das aktuell beim Mindestlohn in der Weiterbildung nach
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SGB II und SGB III: 12,60 Euro soll er im Westen, 11,25 Euro im Osten betragen. Das sind in Vollzeit knapp 2.000 Euro brutto monatlich für Tätigkeiten, die im Regelfall einen Hochschulabschluss voraussetzen. Das ist alles andere als üppig. Einem Teil der Arbeitgeber, hier ausschließlich private, ist selbst das noch zu viel. Vor allem mit Hilfe der FDP ist es ihnen gelungen, den Mindestlohn über Jahre erfolgreich zu blockieren. Das Pikante ist daran, dass das Geld vom Staat kommt. Es sind Mittel der Bundesagentur für Arbeit, die an private Weiterbildungsunternehmen gehen. Bildung für Erwerbslose, aus öffentlichen Kassen finanziert, für Niedriglöhne missbraucht, mit dem Ziel Profit zu machen. Leider ist das kein Einzelfall. Überall, wo die Privatisierung im Bildungswesen fortschreitet, beobachten wir zunehmend Leiharbeit, Tarifflucht, Lohndumping und prekäre Arbeitsbedingungen. Zumindest in der BA-geförderten Weiterbildung ist dem erst einmal ein Riegel vorgeschoben: Der Branchenmindestlohn gilt seit 1. August 2012.[3] Eine andere Seite des Privatisierungstrends sind exklusive Angebote für Menschen, die es sich leisten können: private Kitas mit Extraangeboten für die Kinder reicher Eltern, Privatschulen mit kleinen Klassen und ausgefeilten pädagogischen Konzepten sowie private Unis, für die Elite von morgen – Wer standesbewusst ist und das nötige Kleingeld hat, muss sich nicht mit dem schlechtgeredeten öffentlichen Angebot abfinden. Die Folge ist, dass Privilegien und Ausgrenzung reproduziert statt abgebaut werden. In dieser Entwicklung manifestiert sich die soziale Spaltung und wird weiter vorangetrieben. Auch hier finanziert der Staat fleißig mit: Ersatzschulen privater Träger stützen sich, verfassungsrechtlich sanktioniert, weitgehend auf Mittel der öffentlichen Hand und können ihre Einnahmen über Elternbeiträge noch verbessern. Das Modell der „Bürgerschule“ des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes in Bremen verdeutlicht den Anspruch, den die Träger dieser Einrichtungen erheben: Neue private Ersatzschulen sollen etabliert oder staatliche an freie Träger, Stiftungen etc. übergeben werden. Das Land soll mindestens 100 Prozent der bisherigen Kosten zahlen, der Träger aber unabhängig über das Schulprofil, das Personal und dessen Bezahlung sowie den Einsatz sonstiger Ressourcen entscheiden. Die Eltern erhalten die „Entscheidungsmacht“ darüber, welche Schule sie wählen. Faktisch wird damit eine Konkurrenz zwischen staatlichen und privaten Schulen etabliert, bei denen sich die freien Träger Vorteile daraus versprechen, dass sie bei hundertprozentiger finanzieller Absicherung vor allem personalpolitisch flexibler handeln können – Privatisierung ohne Risiko. Auf den Unterbietungswettbewerb gegenüber der Beamtenbesoldung und den öffentlichen Tarifverträgen würde man angesichts eines solchen Konzepts wohl nicht lange warten müssen. Dabei war Bildung über lange Zeit unbestritten ein öffentliches Gut. Alle politischen Bekundungen von Linkspartei bis FDP unterstreichen bis heute den individuellen Anspruch auf bestmögliche Bildung für alle Menschen. Für die GEW ist klar: Gute Bildung ist ein Menschenrecht, das in Deutschland noch lange nicht für alle verwirklicht ist. Es ist mit dem Ziel der Chancengleichheit und
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Diskriminierungsfreiheit, mit Menschenwürde, der Achtung von Vielfalt, der Entfaltung aller menschlichen Potenziale und einer konsequenten Menschenrechtsbildung untrennbar verknüpft. Das Menschenrecht auf Bildung gründet darauf, dass es zur Wahrnehmung anderer Rechte überhaupt erst befähigt. Ihm kommt deshalb im internationalen Wertefundament der Menschenrechte eine zentrale Bedeutung zu. Dass Bildung ein öffentliches Gut sein muss ist eine zwingende Konsequenz, weil der Anspruch des Einzelnen sonst nicht erfüllt werden kann. Wie kommt es dann aber, dass ausgerechnet in der Dekade, die durch den PISA-Schock höchst unsanft auf die Defizite im Bildungswesen aufmerksam gemacht wurde, die öffentliche Bildung schrumpft, während Bildungsangebote privater Anbieter zunehmen? Und wie kann es angehen, dass die privaten Bildungsausgaben gleichzeitig sinken? Oder muss dies gar nicht verwundern? Und ist das vielleicht kein Problem? Öffentliches Gut und öffentliche Verantwortung Zunächst einmal ist es richtig, dass nie alle Bildungsbereiche zu hundert Prozent in staatlicher Hand gelegen haben. Das gilt für die Weiterbildung in erheblichem Umfang, obwohl es auch dort namhafte öffentliche Anbieter gibt, die sich mit ihren Angeboten an ein breites Publikum wenden (z.B. Volkshochschulen). Die frühkindliche Bildung war im Westen, bei einem allerdings deutlich geringeren Gesamtumfang als heute, schon immer von freien und kirchlichen Trägern mitgeprägt. Die Erkenntnis, dass es sich nicht „nur“ um Betreuung, sondern um Bildung im originären Sinn handelt, hat sich erst in den vergangenen Jahren vollends durchgesetzt. Im Schul- und Hochschulbereich waren dagegen über lange Zeit private Einrichtungen die Ausnahme, wobei vor allem konfessionelle Schulen eine lange Tradition haben. Gerade im Schul- und Hochschulbereich steigt der Anteil privater Träger in besonderem Maße. In Bayern ist der Anteil der Schüler, die eine private Schule in Anspruch nehmen von 2001 bis 2011 um ein Viertel gewachsen. Jedes neunte Kind geht dort auf eine private Schule, im Bundesdurchschnitt jedes zwölfte. In den östlichen Bundesländern ist der Anteil geradezu sprunghaft angestiegen, was nur zum Teil mit Nachholeffekten erklärt werden kann, weil der Anteil in Brandenburg und Sachsen mittlerweile fast doppelt so hoch ist wie in Schleswig-Holstein. Noch drastischer ist die Entwicklung im Hochschulbereich: Seit 2000 hat sich die Zahl privater Hochschulen mit staatlicher Anerkennung mehr als verdoppelt. Ihr Anteil liegt bei über einem Viertel aller Hochschulen. Die Bremer Jacobs University – benannt nach der Kaffeedynastie Jacobs – oder die Bucerius Law School – eine private Universität für Rechtswissenschaften, benannt nach dem ZEIT-Gründer Gerd Bucerius – sind namhafte Beispiele. Der private Charakter wird durch die Namensgebung, zumeist ein deutlicher Hinweis darauf, wer zahlt, unterstrichen. Die
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Studierendenzahlen haben sich zwar im gleichen Zeitraum verdreifacht, liegen aber bei unter fünf Prozent, weil private Hochschulen eher klein sind. Für die Frage der Bildung als öffentlichem Gut ist der formale Status nicht allein entscheidend. Öffentliche Güter müssen nicht zwingend vom Staat selbst angeboten werden. Unbestritten ist auch, dass verschiedene pädagogisch sinnvolle Konzepte durch einen privatrechtlichen Organisationsrahmen begünstigt wurden und öffentliche Bildungseinrichtungen bzw. deren Konzepte teilweise befruchtet haben. Entscheidend ist dagegen, dass der Staat sicherstellt, dass jede und jeder diskriminierungsfreien Zugang zur Bildung hat und die Regeln und Angebote öffentlichen Standards entsprechen. Nur so kann der Charakter eines individuellen Rechts, hier des Rechts auf Bildung, gewahrt werden. Gerade diese Merkmale geraten aber bei uns zunehmend unter Druck. Der Staat zieht sich aus der direkten Verantwortung zurück, ermöglicht die Bildung von (Teil-)Märkten und verliert zugleich auch die Fähigkeit, qualitativ zu steuern. Dieser Erosionsprozess ist in vollem Gang. Er findet seinen Niederschlag bis in die öffentlichen Bildungseinrichtungen. Geht aber die öffentliche Verantwortung verloren, gerät das in Gefahr, was Bildung zu einem öffentlichen Gut macht: der allgemeine und diskriminierungsfreie Zugang. Erosion öffentlicher Verantwortung – Beispiele über Beispiele Der Rückzug des Staates aus der Bildung findet statt, die öffentliche Verantwortung erodiert. Dafür gibt es zahlreiche Beispiele aus allen Bildungsbereichen: •
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Es entstehen private Bildungskonzerne wie Phorms (Kita, Vorschule, Grundschule und Gymnasium) oder Klax (Kitas) mit Umsätzen in Millionenhöhe. Die staatliche Förderung bietet Sicherheit. Elternbeiträge, die allerdings nicht durchgängig erhoben werden, und mangelnde Tarifbindung eröffnen zusätzliche Spielräume. Obwohl der diskriminierungsfreie Zugang zu diesen Bildungseinrichtungen und sogar inklusive Bildung propagiert werden, kann über die zusätzlichen Beiträge und die inhaltliche Ausrichtung der Bildungseinrichtungen sozial selektiert werden, was die Attraktivität für gut betuchte bürgerliche Kreise steigert. Öffentliche Haushaltsmittel für Bildungsangebote werden gezielt an private Dienstleister „umgeleitet“. Prominentestes Beispiel ist das Bildungs- und Teilhabepaket im Zuge des Hartz-IV-Kompromisses, über das Mittel für Nachhilfe bereitgestellt wurden, die nur von privaten Nachhilfeeinrichtungen erbracht werden kann. Es gibt nicht ausreichend Beschäftigte in den Schulen, um die Kinder und Jugendlichen gemäß ihrer Kernkompetenz individuell zu fördern. Stattdessen sollen sie den Nachhilfebedarf feststellen – als Zusatzaufgabe.
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Auch die Gründung privater Hochschulen wird kräftig gefördert: Die International University Bremen, heute Jacobs University, wurde vom Senat der Hansestadt mit 115 Millionen Euro Anschubfinanzierung gefördert – Zum Vergleich: Die öffentlichen Hochschulen des Landes erhalten jährlich 200 Millionen Euro. Staatliche Millionen gibt es auch für die European Business School in Wiesbaden: 60 Millionen Euro werden von Land und Kommune für Infrastruktur und personellen Aufbau bereitgestellt, einschließlich Tiefgarage und Architektenwettbewerb. Äußerst fraglich, ob sich diese Investitionen lohnen. Der Hamburger Investor Educationtrend musste bereits zwei Unis schließen. Davon war allein der Standort Bruchsal mit 15 Millionen Euro öffentlich gefördert worden. In Stuttgart scheiterte ein ambitioniertes PublicPrivate-Partnership-Projekt. Kitas, Schulen und Hochschulen greifen verstärkt auf externes Personal zurück. Damit werden Löcher gestopft, weil es z.B. an Lehrkräften und, mit dem Krippenausbau, zunehmend an qualifiziertem erzieherischen Personal mangelt und deshalb Hilfskräfte beschäftigt werden. Mittlerweile gibt es eine ganze Reihe von Personaldienstleistern, die Lehrkräfte an Schulen oder KitaPersonal in Leiharbeit überlassen. Über externe Kräfte werden aber auch Inhalte in die Bildungseinrichtungen eingespeist, die sich sonst nicht in dieser Form auf Lehrplänen fänden. business@school heißt die Initiative einer internationalen Unternehmensberatung, die unter aktivem Einsatz von Beschäftigten großer Wirtschaftsunternehmen zum Ziel hat: „Wirtschaftsthemen über ein gesamtes Schuljahr an Schulen (…) anschaulich und praxisnah zu vermitteln“[4]. Auch die vom Bund geförderte Initiative „Unternehmergeist in die Schulen“ will „frischen Wind in die ökonomische Bildung und Förderung junger Menschen“[5] bringen. Dadurch wird die ökonomische Bildung eindimensional auf Unternehmensinteressen, sprich: Gewinnmaximierung, ausgerichtet. Differenzierte Betrachtungen über Wohlstand, Wachstum und Nachhaltigkeit drohen dabei auf der Strecke zu bleiben, von Arbeitnehmerrechten ganz zu schweigen. Schließlich erobern private Unternehmen, Stiftungen und Medien die Deutungshoheit in der Bildungspolitik. Rankings von Ländern, Schulen oder Hochschulen im Hinblick auf ihre Leistungsfähigkeit finden oft mehr Gehör, als Debatten in den verantwortlichen demokratischen Institutionen. Damit droht das Primat der Politik endgültig gebrochen zu werden. Das Gemeinwohl als Maßstab zur Bewertung des Bildungswesens wird durch ökonomische Interessen wie gut dotierte Beratungsleistungen oder Auflagenstärken abgelöst.
Die Liste ließe sich beliebig verlängern. Der Trend zur Privatisierung hat die GEW veranlasst, die Reihe „Privatisierungsreport“ aufzulegen.[6]
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Alles kein Problem? Wie gesagt, allein die Zunahme privater Trägerschaften gefährdet noch nicht zwangsläufig das öffentliche Gut Bildung. Dieses Problem besteht aber dennoch ganz real. Die finanziellen Hürden, an einer privaten Universität studieren zu können, sind beachtlich: Auf 20.000 Euro belaufen sich die Studiengebühren an der Jacobs University – pro Jahr. 44.000 Euro sind es für ein vollständiges Jura-Studium an der Bucerius Law School. Dort heißt es zwar: „Ein Studium an der Bucerius Law School darf und soll nicht am fehlenden Geld scheitern.“ Bezahlt werden muss aber in jedem Fall, ob durch ein Stipendium finanziert oder nach dem Studium, denn der berufliche Erfolg gilt als garantiert. Stolz ist die Universität darauf, dass rund ein Viertel der Studierenden eine der verschiedenen Finanzierungsvarianten nutzt. Umgekehrt heißt das: 75 Prozent können sich das Studium ohne Unterstützung Dritter leisten. Hinzu kommen die Lebenshaltungskosten. Die soziale Abkopplung ist demnach Realität. Private Schulen leben geradezu von ihrem Ruf, besser als öffentliche zu sein. Soziale Selektion spielt dabei eine wichtige Rolle. Privatschulen wird unterstellt, dass sie Eltern aus bildungsnahen Schichten ansprechen und so ein förderndes Umfeld schaffen. Bekenntnisse zur sozialen Offenheit werden problemlos umgangen. Wählt eine private Schule z.B. einen musischen Schwerpunkt, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass Kinder von Eltern mit geringem Bildungsstand oder geringem Einkommen den Weg dorthin nicht finden. Ein Phänomen, das auch vor öffentlichen Schulen nicht Halt macht und die soziale Spaltung im Bildungssektor verstärkt. Öffentliche Haushaltsmittel, die in private Einrichtungen umgeleitet werden, entziehen dem öffentlichen Bildungsangebot die Basis. Die Privatisierung nimmt eine Eigendynamik an, die sich kaum stoppen lässt. Geld, das in eine insolvente private Hochschule gegangen ist, ist unwiderruflich verloren. Die Folgekosten werden meist vergesellschaftet. Da die öffentlichen Haushalte gleichfalls chronisch unterfinanziert sind, steigt der Druck, die Kosten zu senken. Über diesen Druck finden Leiharbeit und nicht-professionell geschultes Personal ihren Weg in die öffentlichen Bildungseinrichtungen. So begrüßenswert es war, dass im Zuge des Hartz-IV-Kompromisses Mittel für 3.000 zusätzliche Schulsozialarbeiterstellen bereit gestellt wurde, die bis 2013 befristete Finanzierung nötigt die Kommunen geradezu, keine Festanstellungen einzugehen. Lieber greift man auf freie Träger zurück und beendet das Engagement nach dem Auslaufen der Mittel. Eine kontinuierliche und konzeptgebundene Bildungsarbeit wird so unmöglich gemacht. Absurde Züge haben solche Praktiken in Niedersachsen angenommen, wo in großem Stil Honorarkräfte an Ganztagsschulen beschäftigt wurden, um Sozialversicherungsabgaben zu sparen. Eine offenbar rechtswidrige
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Praxis, die massenhaft strafrechtliche Verfahren zur Folge hat. Mit der Motivation und Professionalität der Beschäftigten im Bildungswesen steht und fällt aber dessen Qualität. Marktmechanismen, seien es Studiengebühren, soziale Auswahl, Lohndumping oder Deprofessionalisierung, machen das öffentliche Gut Bildung zur Ware. Sie schließen gerade diejenigen aus, die individueller Förderung am stärksten bedürfen. Wettbewerb produziert keine Chancengleichheit. Freiheitsrechte wurden zwar unter anderem geschaffen, um Märkte zu etablieren, die Marktwirtschaft produziert aber aus sich heraus weder Freiheit noch Gleichheit. Bildung: Öffentlich, gebühren- und diskriminierungsfrei Wollen wir Chancengleichheit für alle Menschen, inklusive Bildung in einer inklusiven Gesellschaft, kurz das Menschenrecht auf Bildung verwirklichen, dann muss Bildung ein öffentliches Gut bleiben. Die Privatisierung der Bildung, der Trend, Bildung zunehmend als Ware zu definieren und zu vermarkten, muss gestoppt werden. Bildung muss gebührenfrei, öffentlich finanziert und für jeden Menschen zugänglich sein. Dafür müssen die öffentlichen Bildungsausgaben deutlich gesteigert und nachhaltig gesichert werden. Die Einführung einer Vermögensteuer und eine gerechtere Unternehmensbesteuerung sind vor dem Hintergrund von Schuldenbremse und Fiskalpakt unverzichtbare Maßnahmen. Schließlich muss dem Trend, qualifiziertes durch nicht professionell ausgebildetes Personal zu ersetzen, Einhalt geboten und durch eine Fachkräfteoffensive im Bildungsbereich ersetzt werden. Gute Bildung gibt es nur mit gutem Personal.
[3] Bundesanzeiger vom 20. Juli 2012: https://www.bundesanzeiger.de/ebanzwww/wexsservlet?session.sessionid=bc632ca 6de50861d258e9175e2355e45&page.navid=detailsearchlisttodetailsearchdetail&fts_ search_list.selected=08753e9649a58b80&fts_search_list.destHistoryId=60780 [4] Quelle: www.business-at-school.net [5] Quelle: www.unternehmergeist-macht-schule.de [6] Im Internet: http://www.gew.de/Privatisierungsreports.html Autor: Ulrich Thöne, geboren 1951 in Paderborn, Vorsitzender der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW)
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Schulden, Krieg und Wohlstand (Buchrezension) von Dr. Till van Treeck Über das Buch von David Graeber "Schulden. Die ersten 5000 Jahre", erschienen bei Klett-Cotta. 2012. 536 S. David Graeber scheint der Mann der Stunde zu sein. Schon seit längerem ist er einer der wenigen über akademische Fachkreise hinaus bekannten Anthropologen, insbesondere seit seinem Aufsehen erregenden Rauswurf aus der Eliteuniversität Yale im Jahr 2005. Doch seit kurzem ist der bekennende Anarchist und Aktivist der „Occupy Wall Street“-Bewegung der Liebling der Feuilletons und Talkshows. Gleich zwei Bücher sind in der ersten Jahreshälfte 2012 von Graeber auf Deutsch erschienen: „Inside Occupy“, ein engagierter Augenzeugenbericht des mutmaßlichen Erfinders des Occupy-Slogans „Wir sind die 99 Prozent“; und „Schulden. Die ersten 5000 Jahre“, ein populärwissenschaftliches und zugleich forschungsintensives und anspruchsvolles Meisterwerk. Auf über 500 Seiten erzählt David Graeber Geschichten von 5000 Jahren Schulden. Seine Vorgehensweise ist zugleich umfassend und anekdotenreich. Er berichtet ausführlich über die komplexen Kreditbeziehungen in afrikanischen Naturvölkern lange vor der Erfindung des Bargeldes (Graeber selbst hat einige Zeit in Madagaskar gelebt und geforscht). Er malt ein Porträt des Südamerika-Seefahrers und Goldräubers Hernan Cortés und analysiert dessen Rolle bei der Wiedereinführung eines umfassenden Bargeldsystems in Europa mit dem Übergang vom Mittelalter zum „Zeitalter der kapitalistischen Imperien“. Er arbeitet heraus, unter welchen Bedingungen die Ökonomie den komplexen Bedürfnissen der Menschen gerecht wird und friedensstiftend sein kann, und unter welchen nicht. Und folgert, dass der gewaltsame und rachsüchtige Umgang des Markgrafen Kasimir von BrandenburgKulmbach mit seinen Zahlungsschwierigkeiten in den 1520er Jahren besser mit Friedrich Nietzsche als mit Adam Smith (oder damit, was aus ihm gemacht wurde) zu verstehen ist, obwohl doch beide von der gleichen Prämisse ausgingen, nämlich „dass das Leben nichts anderes als Tauschhandel sei“ (S. 353). Er erzählt die Geschichte der Schuldenschnitte im schuldnerfreundlichen und bargeldlosen Mesopotamien zwischen 3500 und 800 v. Chr. Und stellt sie – ein paar Hundert Seiten später – der Geschichte der jüngsten Finanzkrise in den weniger schuldnerfreundlichen USA seit 2007 n. Chr. gegenüber, die unausweichlich wurde, als die Mittelschicht nach 30
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Jahren Einkommensstagnation ihre Konsumenten- und Immobilienkredite nicht mehr bedienen konnte. Eine von Graebers Hauptthesen ist, dass Geldsysteme grundsätzlich nicht als marktgesteuerte Antwort auf die praktischen Probleme des Tauschhandels entstehen. Er weist darauf hin, dass der Entstehungsmythos des Geldes, obwohl er in den zurzeit gängigen wirtschaftswissenschaftlichen Lehrbüchern noch immer erzählt wird, historisch betrachtet falsch ist. Dieser „große Gründungsmythos der Wirtschaftswissenschaften“ (S. 31) lautet folgendermaßen: Menschen sind von Natur aus auf Tauschgeschäfte ausgerichtet und auf Arbeitsteilung zum gegenseitigen Vorteil bedacht. Dabei sei das Geld die Lösung eines Koordinationsproblems: Wenn ich Kühe gegen Holz tauschen möchte, der Tauschpartner, dessen Holz ich haben möchte, aber keine Kühe sondern Stoff verlangt, muss ich meine Kühe erst mit einem Dritten gegen Stoff tauschen, um danach das Holz gegen den Stoff zu erhalten. Um den Handel zwischen Tauschwilligen zu vereinfachen, soll Geld in Form von Edelmetall als allgemein akzeptiertes Zahlungsmittel eingeführt worden sein. Auf dieser Grundlage sollen dann das Kreditsystem und später auch kompliziertere Finanzprodukte entstanden sein. Graeber macht sich über diese „Fantasievorstellung einer Welt mit Tauschhandel“ (S. 29) lustig, die es historisch nie gab. Er erläutert ausführlich die Funktionsweise von bargeldlosen Kreditsystemen, die in allen Teilen der Welt lange vor der Erfindung des Geldes existierten, das sich erst ab ca. 500 v. Chr. erstmals als Zahlungsmittel durchsetzte. Während liberale Ökonomen stets den Gegensatz von Staats- und Marktlogik betonen, weist Graeber darauf hin, dass es in der Regel der Staat selbst war und ist, der Geld in Umlauf bringt, um Märkte überhaupt entstehen zu lassen. Daher ist aus Sicht des Anthropologen und Historikers auch die heute verbreitete Vorstellung eigentümlich, der Staat müsse zunächst Geld in Form von Steuern bei der Bevölkerung eintreiben, um daraufhin seine Ausgaben finanzieren zu können. Im Gegenteil: Die ersten staatsähnlichen Institutionen haben irgendwann begonnen, selbst Münzen zu prägen, damit Güter und Dienstleistungen erworben und kraft ihres Gewaltmonopols von den Menschen verlangt, ihre Steuern mit dem neuen Geld zu bezahlen. Das garantierte, dass alle Individuen von nun an in Besitz von Geld kommen mussten, was die lokalen, vertrauensbasierten Kreditsysteme allmählich diskreditierte. Denn mit der Bezahlung per Geld war eine Transaktion abgeschlossen, ohne dass die Handelspartner später Schulden, Gefallen oder „Geschenke“ untereinander begleichen mussten.
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Erstmals entstanden somit große und anonyme Marktwirtschaften. Dies wiederum, so jedenfalls Graeber, hatte in der Geschichte in der Regel den Zweck, große staatliche Armeen mit Gütern und Dienstleistungen zu versorgen, was über eine offen autoritäre Kommandowirtschaft ungleich umständlicher und schwerer durchzusetzen gewesen wäre. In dem Maße, wie Krieg und Gewalt vorherrschten und Armeen durch fremde Lande zogen, erschienen zudem Münzen als sicherere Wertaufbewahrungsmittel als persönliche Versprechen, wie sie unter friedlichen Nachbarn möglich sind. Die Erfindung der Marktwirtschaft war damit ein Nebeneffekt großer Kriege. So beschreibt Graeber die Menschheitsgeschichte der letzten 5000 Jahre als eine Abfolge von Phasen, in denen (persönliche) Kreditverhältnisse dominieren, und Phasen mit (anonymer) Geldwirtschaft. Bis ca. 800 v. Chr. waren Europa, Asien und Afrika durch „humane Ökonomien“ gekennzeichnet, in der die Menschen in kleineren Verbänden zusammenlebten und in denen Kreditverhältnisse allein auf persönlichem Vertrauen basierten. Zwar gab es wie in jeder Phase der Geschichte Probleme mit exzessiver Verschuldung. Es gab jedoch keine Schuldknechtschaft oder gar systematische Sklaverei, und überhaupt war längst nicht alles käuflich. Periodische Schuldenerlasse führten dazu, dass alle paar Jahre „reiner Tisch“ gemacht wurde und die durch die Verschuldung entstandene Ungleichheit aufgehoben wurde. Erst in der „Achsenzeit“ (Karl Jaspers), die Graeber auf den Zeitraum 800 v. Chr. bis 600 n. Chr. datiert, entstanden mit der Erfindung des Geldes in vielen Teilen der Welt anonyme Märkte. Interessanterweise wurde das Münzgeld in Europa, China und Indien etwa zur gleichen Zeit erfunden (um 500 v. Chr.), und es entstand in allen drei Regionen im Zuge heftiger militärischer Auseinandersetzungen. Die Achsenzeit war zudem die Blütezeit der Sklaverei, und in sie fällt die Entstehung der großen, noch heute aktuellen, philosophischen Denkschulen und der Weltreligionen. Deren postmortalen Erlösungsversprechen versteht Graeber als idealistische Gegenwelten bzw. Fluchtmöglichkeiten aus der inhumanen Welt des nüchternen Kalkulierens und der ewigen Schuldverhältnisse, in der alles gehandelt werden kann (selbst Menschen als Sklaven), sowie als soziale Protestbewegungen gegen die steigende ökonomische Ungleichheit und die Überschuldung breiter Bevölkerungsteile während der Achsenzeit. Im Mittelalter (600 n. Chr. bis 1450 n. Chr.) brechen zunächst die militärischen Großmächte der Achsenzeit zusammen, und der Materialismus der Achsenzeit wird abgelöst vom „Zeitalter der Transzendenz“. Graeber räumt auf mit weit verbreiteten Vorurteilen gegenüber dem Mittelalter und weist auf die enormen sozialen Fortschritte hin, die der Rückfall in eine weitgehend geldlose Gesellschaft mit sich brachte: Zurückdrängung der Sklaverei, eine verbesserte Machtposition der einfachen Bevölkerung (paradoxerweise befördert durch die Dezimierung des
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Arbeitsangebots durch die Pestepidemien), dadurch Rückgang der ökonomischen Ungleichheit, massive Arbeitszeitverkürzung und ein relativ entspanntes Leben für breite Teile der Bevölkerung, die nun nicht mehr als Sklaven auf den Feldern die urbanen Zentren der Achsenzeit versorgen mussten. Die Phase zwischen 1450 und 1971 n. Chr. bezeichnet Graeber als die Zeit der kapitalistischen Imperien. Die schon aus der Achsenzeit bekannten Entwicklungen kehren in ähnlicher Form wieder. Die Eroberung der Neuen Welt und das Entstehen kriegerischer Staaten in Europa gehen mit der Wiedereinführung des Geldsystems einher. In Amerika werden große Mengen an Edelmetallen geraubt und mit Hilfe von nicht-europäischen Sklaven abgebaut und in den Händen weniger mächtiger Kaufleute und Staatsmänner vereint. In Europa werden die vertrauensbasierten Kreditsysteme zerstört durch die Pflicht, Steuern in Münzen zu entrichten. Graeber kommt zu dem Ergebnis, dass sich die Lebensqualität für die meisten Menschen in diesem Zeitalter gegenüber dem Mittelalter im Großen und Ganzen verschlechtert hat. Das Ende des Bretton Woods-Systems im Jahr 1971 ist für Graeber der Beginn einer neuen Phase, deren historische Bedeutung noch nicht bestimmt werden kann. Die Beschreibung des Übergangs hin zu dieser jüngsten Phase und die daran anknüpfenden Spekulationen über die Zukunft des Kapitalismus machen den wohl am wenigsten gut durchdachten Teil dieses dennoch zutreffend als „einer der erhellendsten Kommentare zur aktuellen Krise“ (Der Spiegel) gelobten Buches aus. Graeber weist zwar zu Recht auf den Zusammenhang zwischen der steigenden Einkommensungleichheit, der daraus folgenden Überschuldung der Privathaushalte und der aktuellen Finanzkrise in den USA hin. Er hat wahrscheinlich auch nicht Unrecht, wenn er folgert, dass „die meisten Menschen, die sich für Lohn oder auch für ein Gehalt verdingen, […] das Gefühl (haben), in erster Linie zu arbeiten, um verzinste Kredite abzahlen zu können“ (S. 386). Auch der Hinweis darauf, dass der von der großen Ungleichheit und der hohen Privatverschuldung ausgehende Arbeitsund Wachstumszwang auf Dauer in die ökologische Katastrophe führen wird, ist lobenswert. Aber Graeber schießt über das Ziel hinaus, wenn er in die Geschichte des Kapitalismus eine Kontinuität der Ausbeutung durch Lohnarbeit und Zinsknechtschaft hineininterpretiert, die die gewaltigen Unterschiede zwischen verschiedenen Entwicklungsphasen viel zu wenig berücksichtigt. Seine Vermutung, dass „der Kapitalismus“ nie in der Lage sein wird, allen Menschen ein anständiges Leben mit sicherem Arbeitsplatz, guter Bildung und in Wohlstand zu bieten, bleibt zu vage. Vor allem ergibt sich aus der bisweilen kategorisch anmutenden Ablehnung „des Kapitalismus“, gepaart mit der bewussten Zurückhaltung bei
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Reformvorschlägen, keine Orientierung für konkrete Schritte hin zu einem verbesserten Wirtschaftssystem. Offensichtliche Ansatzpunkte hierfür liefert die historische Erfahrung der 30 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg, als zumindest in Ansätzen keynesianische Prinzipien der Wirtschaftspolitik verwirklicht wurden. In dieser Phase war das Geldsystem in den kapitalistischen Staaten nicht dem Diktat der Finanzmärkte unterworfen. Diese waren nach der Erfahrung der Krise ab 1929 und des darauffolgenden Faschismus streng reguliert. Die Einkommensverteilung erschien den meisten Menschen zumindest in den reichen Ländern akzeptabel, und die allgemeine Arbeitszeit wurde systematisch verkürzt. Die Ausgabenpolitik der Staaten war nicht wie heute sinnlosen, selbstauferlegten Defizitregeln im Sinne des europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakts oder der deutschen „Schuldenbremse“ unterworfen, und die Zentralbanken waren nicht jeder demokratischen Kontrolle enthoben. Kurzum: Graeber verkennt, bei aller berechtigten Kritik an den „kapitalistischen Imperien“, das emanzipatorische Potenzial einer keynesianisch inspirierten Marktwirtschaft. Dabei beruft sich Graeber selbst explizit auf die „staatliche Theorie“ des Geldes von John Maynard Keynes und zeitgenössischen Postkeynesianern. Hierbei handelt es sich um die so genannte „functional finance“-Lehre, die insbesondere auf die Arbeiten des Ökonomen Abba Lerner in den 1940er Jahren zurückgeht und seither, wenn auch zunehmend außerhalb des wirtschaftswissenschaftlichen Mainstreams, systematisch weiterentwickelt wurde. Im Einklang mit dieser Sichtweise gilt Graebers Feststellung, dass Staaten keine Steuern eintreiben müssen, um ihre Ausgaben zu finanzieren, auch heute noch. Im Gegenteil: Weil Staaten Steuern einnehmen, müssen die Marktteilnehmer das Geld des Staates akzeptieren, weswegen ein souveräner Staat immer dann seine Ausgaben erhöhen könnte (und sollte), wenn der Markt allein nicht in der Lage ist, Vollbeschäftigung und die gewünschte Einkommensverteilung zu erreichen. Kenngrößen wie das staatliche Defizit oder die Schuldenstandsquote würden somit weitgehend irrelevant, und ein Ausbau der öffentlichen Beschäftigung und der sozialen Dienstleistungen könnte im gewünschten Maße durchgesetzt werden. Die Funktionsweise der Marktwirtschaft bliebe aber ansonsten unberührt. Zudem würde der Bedarf an staatlichen Defiziten immer dann verschwinden, wenn es dem privaten Sektor aus eigenen Stücken gelingt, für Vollbeschäftigung und gleichmäßige Einkommensverteilung zu sorgen. Das Prinzip des „functional finance“ bedeutet nicht Defizite um ihrer selbst willen. Es ermöglicht lediglich dem Souverän, eine Entscheidung zu Gunsten der Vollbeschäftigung und der sozialen Sicherung und gegen vermeintliche Zwänge wie unsoziale Spardiktate durch deregulierte Finanzmärkte zu treffen.
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Schließlich wäre eine schrittweise und weitgehende Arbeitszeitverkürzung, die Graeber wohl zu Recht als große Errungenschaft des Mittelalters hervorhebt, in einem wie beschrieben gezähmten Kapitalismus ebenfalls möglich. Die Vorteile einer produktionseffizienten und in weiten Teilen weiterhin anonymen Marktwirtschaft würden so kombiniert mit mehr Zeit für die individuelle Entfaltung und gemeinschaftliche Aktivitäten. Graebers Buch ist tatsächlich eine „Befreiung“, wie Frank Schirrmacher in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung begeistert festgestellt hat; und es ist genau zur richtigen Zeit erschienen. Mitten in der Krise öffnet es den Blick für alternative Staats- und Gesellschaftsformen, der im Zeitalter des neoliberalen Kapitalismus weitgehend verloren gegangen ist. Es verdeutlicht, was die gegenwärtige krisenhafte Entwicklung des Kapitalismus und die vermeintliche „Staatsschuldenkrise“ in Wirklichkeit sind: das Resultat eines ideologischen Festhaltens an der „Disziplinierung“ der Bevölkerung und der Politik durch entfesselte internationale Finanzmärkte und ein ohne jede Notwendigkeit forcierter Rückbau des (Wohlfahrts-)Staats selbst in konjunkturellen Schwächephasen. Zu befürchten ist aber, dass Graebers anthropologischer Blick in so mancher Talkshow und in den Feuilletons gerade deswegen so gerne aufgegriffen wird, weil mit ihm keine konkreten bzw. äußerst radikale, als anarchistisch belächelte Forderungen in Verbindung gebracht werden, die womöglich als intellektuell anregend aber letztlich nicht ganz ernst zu nehmen verbucht werden. Hieraus ergäbe sich aber für die gegenwärtigen ökonomischen Eliten keine unmittelbare Herausforderung. So bleibt nur zu hoffen, dass die allseitige Begeisterung für „Schulden. Die ersten 5000 Jahre“ sich auch in einer erhöhten Zustimmung zu konkreten, reformistischen Politikoptionen niederschlägt.
Autor: Dr. Till van Treeck, geboren 1980 in Krefeld, Wissenschaftlicher Referent am Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der Hans-BöcklerStiftung in Düsseldorf.
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Wohnungsnot und Verdrängung von Norbert Ewald Der Bund muss den sozialen Wohnungsbau stärker fördern! Deutschland hat wieder eine Wohnungsnot – nicht überall; aber in den meisten Großstädten wie Hamburg, Köln, Düsseldorf, Münster, Frankfurt am Main, Heidelberg, Stuttgart, Wiesbaden, Mainz, Darmstadt oder München. In den Ballungsräumen ist der Nachfrageüberhang damit schon heute mit Händen zu greifen. Diese Wohnungsnot ist nicht nur gefühlt. Die Angebotsmieten sind der objektive Indikator für fehlende Wohnungen. Sie sind in den letzten vier Jahren im Durchschnitt aller kreisfreien Städte um 11% gestiegen, in Hamburg sogar um 28%. Sozial schwache, aber auch Familien mit mittleren Einkommen können es sich heute immer weniger leisten, dort zu leben. Auch die Zahl der Wohnungslosen steigt wieder. Nach den Erhebungen der Bundesarbeitsgemeinschaft ist die Zahl der Wohnungslosen nach jahrelangem Rückgang wieder angestiegen – zwischen 2008 und 2010 um 9,3% auf bundesweit 248.000 Personen. Der demografische Wandel bringt mittelfristig keine Entlastung der Wohnungsmärkte mit sich. Weiterhin fragen große und kleine Haushalte Wohnungen nach. Die Gesamtzahl wird noch einige Jahre ansteigen, auch weil die Singularisierung der Haushalte in den Städten zunimmt. Die Lage in den Ballungsgebieten wird weiterhin dadurch verschärft, dass eine seit nunmehr einigen Jahren anhaltende „Landflucht“ die „Stadtflucht“ vergangener Jahrzehnte ablöst. In den meisten Großstädten ist die Wohnungsnot schon da und sie wird sich noch verschärfen, weil die städtische Bevölkerung noch weiter wachsen wird. Und da die Zahl der Haushalte, also der eigentlichen Wohnungsnachfrager, noch stärker wächst als die Zahl der Einwohner, wird sie überproportional steigen. Wohnungsmarkt und Einkommen Hinzu kommt eine wachsende Schieflage in der Einkommensentwicklung. Der Anteil der Haushalte, die real (bezogen auf Preise von 2002) unter 1.500 € pro Monat zur Verfügung haben, ist von 39 % in 2002 auf über 44 % im Jahr 2010 angestiegen. Diese ungleicher gewordene Einkommensverteilung und die gleichzeitig insbesondere wegen der Betriebskosten (Wasser, Strom etc.) - gestiegenen Mieten haben gerade für die einkommensschwachen Haushalte zu einer teilweise deutlichen Erhöhung der Wohnkostenbelastung geführt.
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Diese Entwicklung kann nicht im Interesse eines sozial ausgewogenen, funktionierenden und intakten Zusammenlebens in Städten und Gemeinden sein. Daher brauchen wir dringend Anreize, dass insbesondere in Ballungs- und Zuzugsregionen mehr Wohnungen mit günstigen Mieten neu gebaut werden. Hierzu ist insbesondere eine Rückkehr zu den Abschreibungsbedingungen früherer Jahre erforderlich – und unumgänglich. Die neue Wohnungsnot ist für alle Beteiligten keineswegs überraschend gekommen – sie war vorprogrammiert. Denn sämtliche drei Säulen der Wohnungsbauförderung sind nach und nach demontiert worden: 1. Die Förderung des sozialen Wohnungsbaus, die seit 2001 nur noch „Wohnraumförderung“ heißt, weil eine Schwerpunktverlagerung von der Neubauförderung zur Bestandsnutzung erfolgt ist, und die im Jahr 2006 ganz aus der Verantwortung des Bundes entlassen wurde. 2. Die steuerliche Erleichterung des Baus von freifinanzierten Mietwohnungen durch die degressive Abschreibung, die in mehreren Runden reduziert und im Jahr 2006 komplett gestrichen wurde. 3. Die Förderung des Baus von Eigenheimen, indem die Eigenheimzulage erst reduziert und im Jahr 2007 vollständig abgeschafft wurde. Seit 10 Jahren sind die Bauleistungen rückläufig, und spätestens seit 2007 – also genau dem Jahr in dem die Mieten sprunghaft angestiegen sind– erreichen sie nur noch Hälfte des Niveaus, das wir bräuchten, um den Ersatzbedarf und den Zusatzbedarf in den wachsenden Regionen Deutschlands zu decken. Nur noch 183.000 Wohnungen sind im Jahr 2011 fertiggestellt worden. Mitte der 90er Jahre wurden noch über 600.000 Wohnungen jährlich gebaut. Wie steht es nun konkret um den Sozialen Wohnungsbau? Bundesweit gibt es noch rund 1,5 Millionen Sozialmietwohnungen. Derzeit werden jährlich nur noch weniger als 10.000 neue Sozialmietwohnungen gebaut. Nötig wären aber etwa 40.000. Worin liegen die Ursachen? Mit der Föderalismusreform I im Jahre 2006 wurde das Ziel verfolgt, Aufgaben zwischen Bund und Ländern so zu entflechten, dass die klare und vollständige Verantwortung entweder beim Bund oder beim Land verbleibt. Damit einher ging der Abbau von Systemen der Mischfinanzierung, denn politische Aufgaben können nur wahrgenommen werden, wenn dem politisch Verantwortlichen die notwendigen finanziellen Mittel zur Verfügung stehen. Die Ergebnisse der Reform haben sich im Gesetz zur Entflechtung von Gemeinschaftsaufgaben und Finanzhilfen
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niedergeschlagen. Hier ist geregelt, in welchem Umfang der Bund für ihm übertragene Aufgaben Finanzmittel an die Länder gibt. Es ist zwar völlig richtig, wenn Bundesverkehrs- und –bauminister Ramsauer fordert, dass „Wohnen nicht zum Luxus werden darf“. Er sieht dabei aber die Verantwortung ausschließlich bei den Bundesländern, da diese 2006 auch die Zuständigkeit für die soziale Wohnraumförderung übertragen bekommen hätten. Er „vergisst“ dabei aber die Finanzierungsfrage. Denn es kann und darf doch nicht sein, dass sich auf der einen Seite Bund und Länder im Rahmen der Föderalismusreform auf eine Trennung der Aufgaben geeinigt und damit Pflichten auf die Länder verlagert haben, und sich der Bund nunmehr weigert, den Ländern zukünftig die dafür notwendigen Mittel in ausreichendem Maße zur Verfügung zu stellen. Hier ist und bleibt die Bundesregierung – egal welche Parteien sie stellen - weiterhin in der sozialen und damit auch in der finanziellen Pflicht. Sie darf sich nicht aus ihrer sozialen Verantwortung stehlen. Aber auch die Länder sind gleichermaßen aufgerufen, ihren Verpflichtungen nachzukommen. Hier vermutet nicht nur der Bundesminister, dass einige Bundesländer die Mittel offenbar für andere Aufgaben ausgeben und „sich damit an den sozial Schwachen versündigen“. Die Bundesländer sind deshalb aufgefordert, verstärkt in den sozialen Wohnungsbau zu investieren. Denn trotz des zuletzt anziehenden Wohnungsneubaus bleibt der Wohnungsmarkt auch mittelfristig angespannt. Mittlerweile stagnieren die Baugenehmigungen für Wohnungen wieder. In den ersten fünf Monaten dieses Jahres wurden nur 0,5 % mehr neue Wohnungen genehmigt. Ein Gutachten im Auftrag des Bauministeriums belegt, dass es ohne soziale Wohnraumförderung im Zeitraum 2014 bis 2019 insbesondere in den Wachstumsregionen zu einer erheblichen Verknappung von preiswerten und zugleich barrierefreien und/oder energetisch sanierten Mietwohnungen kommt. Daher ist die Fortführung der Ausgleichszahlungen des Bundes an die Länder zur Förderung des sozialen Wohnungsbaus mindestens in bisheriger Höhe von 518 Mio. Euro zwingend geboten. Unterstellt man den aktuellen Preisanstieg im Wohnungsneubau von etwa 2,5 %, dann müssen für eine zumindest gleichbleibende Neubautätigkeit im sozialen Wohnungsbau auch die jährlichen Bundesmittel entsprechend angepasst werden. Im Übrigen belegt die RWI-Studie zu den Wirkungen staatlicher Investitionsansätze, dass der Bau von jährlich nur 2.300 zusätzlichen Wohnungen Investitionen von 530 Mio. Euro bedeutet. Diese wiederum ziehen 5.400 zusätzliche Arbeitsplätze nach sich, wodurch die öffentlichen Haushalte um 350 Mio. Euro jährlich entlastet werden.
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Wenn insgesamt also an den Rahmenbedingungen des sozialen und des Mietwohnungsbaus nichts verbessert wird, steuern wir auf eine neue Wohnungsnot zu. Im Jahr 2017 werden in diesem Falle nach Berechnungen des Pestel-Instituts bundesweit rund 400.000 Mietwohnungen fehlen. Beim Mietwohnungsbau ist deshalb eine Verdoppelung der Bauleistung auf 130.000 Wohnungen pro Jahr erforderlich. Denn Leerstände in bestimmten Regionen gleichen eben nicht die fehlenden Wohnungen in den Ballungs- und Zuzugsräumen aus! Das Bedürfnis nach gutem Wohnraum zu tragbaren Mieten wird immer öfter zum Wahlkampfthema. Das zeigten gerade die Wahlen in Berlin und Hamburg, aber auch das überraschende Ergebnis der Oberbürgermeisterwahl in Frankfurt. Hier war die soziale Wohnungspolitik das zentrale Thema des neuen OB. In den letzten Wochen scheint jedoch die Bedeutung des Themas in der Bundespolitik zumindest langsam angekommen zu sein. Aber zunächst mit dem wechselseitigen Hinweis von Bund und Ländern, die jeweils andere Seite müsse mehr tun – das hilft keinem Wohnungssuchenden weiter. Worum muss es also gehen? Ohne eine Milderung der Wohnungsnot in den Zentren wird auch die wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands leiden, denn Wohnraum ist auch ein wichtiger wirtschaftlicher Standortfaktor. Das können wir uns in der gegenwärtigen Lage weniger denn je leisten. Die inzwischen finanziell dominierende Subjektförderung über Wohngeld bzw. die Übernahme von Unterbringungskosten ist notwendig. Sie bietet aber letztlich keinerlei Anreize für den Bau neuer Wohnungen. Im Bereich der sozialen Wohnraumförderung drohen ab 2014 Kürzungen oder eine Umwidmung der Kompensationszahlung des Bundes an die Länder für andere Aufgaben statt für den Wohnungsbau. Es drängt sich der Eindruck auf, dass nicht zuletzt die im Grundgesetz verankerte Schuldenbremse sich gerade im Wohnungsbau zu einer politischen Denk- und Handlungsbremse entwickelt hat. Mit der Folge eines massiven Investitionsstaus in einem der wichtigsten Wirtschaftssektoren unserer Volkswirtschaft. Und mit schwerwiegenden sozialen Folgen. Die aktuelle Wohnungsbaupolitik wird ihren Herausforderungen in keiner Weise gerecht. Wohnen ist ein Grundbedürfnis. Deshalb brauchen wir dringend politische Entscheidungen, die den Notwendigkeiten von ausreichend bezahlbarem Wohnraum, aber auch von Klimaschutz und Demografie, gerecht werden.
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Autor: Norbert Ewald, Geboren am 7. Januar 1956 in Bad Vilbel, Leiter der Abteilung Wirtschafts-, Bau- und Arbeitsmarktpolitik beim Bundesvorstand der IG BauenAgrar-Umwelt.
Genossenschaftsleben von Claudia Falk Drei Generationen in der Baugenossenschaft freier Gewerkschafter Das Leben in einer Wohnung der Baugenossenschaft freier Gewerkschafter hat in unserer Familie Tradition. Mein Opa ist 1909 geboren und war schon früh als Klempner in der Gewerkschaft organisiert. In der Weltwirtschaftskrise Ende der 20er Jahre wurde er arbeitslos. Im 2. Weltkrieg wurden meine Großeltern ausgebombt. Bei Bekannten, die noch über ausreichend Wohnraum in Langenhorn verfügten, erhielten sie mit ihrem Sohn (meinem Vater) von 1946 bis 1949 Asyl. Das konnte nur eine Zwischenlösung sein. Schließlich ergab sich die Chance: Mein Opa arbeitete inzwischen bei den Hamburger Gaswerken. „Hein Gas“, wie der Gasversorger von den Hamburgern liebevoll genannt wurde, stellte der 1922 gegründeten Baugenossenschaft freier Gewerkschafter nach dem Krieg Kapital zum Wiederaufbau der Wohnungen zur Verfügung. Hier sollten auch einige MitarbeiterInnen des Energieunternehmens einziehen dürfen. Um aber in den Genuss einer solchen Wohnung zu kommen, mussten die Beschäftigten das damals übliche Opfer bringen. Sie mussten ihren Jahresurlaub zum Steineklopfen einsetzen. Die brauchbaren Steine mussten aus den Ruinen und Trümmern gesucht und von Mörtel abgeklopft werden. Zum Leitbild der Baugenossenschaft gehören ohnehin Selbsthilfe und Ehrenamt. Und so klopften meine Großeltern mit vielen anderen Wohnungslosen wochenlang Steine. Damit war der Wiederaufbau der Wohnsiedlung in der Alsterdorfer Straße gesichert. Als meine Großeltern im Dezember 1949 in ihre kleine 2-Zimmer Wohnung mit Kohleofen ziehen konnten, empfanden sie das als das schönste Weihnachtsgeschenk, als unendlichen Luxus. Viele junge Familien zogen in diese Anlage, und so fand mein Vater rasch Spielkameraden. Relativ zentral gelegen, bot die Wohnanlage einen großzügigen Innenhof mit Grünflächen, Teppichklopfstange, Bänken und Spielplätzen. Da neben Waschküchen und Trockenräumen auch Gemeinschaftsräume zur Wohnanlage gehören, feierten die Nachbarn viele Feste zusammen. Im Laufe der Jahrzehnte wurden die Wohnungen Stück für Stück modernisiert und zum Teil auch zu zusammengelegt. Die Miete blieb für meine Großeltern auch mit kleiner Rente bis zum Schluss bezahlbar.
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Die nächsten Generationen Geprägt von diesen positiven Erfahrungen fragte auch mein Vater – Maschinenbauschlosser und aktiver Gewerkschafter - nach seiner Ausbildung Anfang der 60er Jahre bei der Genossenschaft nach günstigem Wohnraum für seine künftige Familie. Die Nachfrage war groß, aber nach einiger Wartezeit wurde meinen Eltern dann 1963 eine Wohnung in einem Rotklinker-Neubau in Fuhlsbüttel nahe des Flughafens angeboten. Am 1. September 1964 zogen sie dort ein. Die 3-Zimmer Wohnung war Ideal gelegen. Die Wege zur Arbeitsstelle meiner Eltern waren kurz. Die Nähe zum Flughafen sollte sich im Laufe der Jahre als nicht so vorteilhaft herausstellen, denn es wurde lauter, da halfen auch die Doppel- und Dreifachverglasungen nur begrenzt. Da alle BewohnerInnen gleichzeitig in die neu errichtete Anlage einzogen, entwickelte sich bald eine gute Nachbarschaft. Man half sich gegenseitig, feierte zusammen Feste in den eigens dafür ausgebauten Partykellern oder in dem Gemeinschaftsraum. Und wenn in der Wohnung einmal etwas nicht funktionierte, kam der zuständige Verwalter sehr rasch, schließlich wohnte er vor Ort. Hier bin ich groß geworden und Erinnerungen an unzählige Kinderfeste, Laternenumzüge und Theaterbesuche zur Weihnachtsmärchenzeit begleiten mich. Das wurde alles von den Genossenschaftsmitgliedern organisiert und von der Genossenschaft bezuschusst. Auch Seniorenausfahrten und Infofahrten für die gewählten Wohnungsvertreter finden bis heute regelmäßig statt. Nicht nur wegen der bis heute erschwinglichen Miete, sondern auch wegen des guten Miteinanders sind meine Eltern nie aus der 70 qm-Wohnung ausgezogen und wohnen immer noch dort. Es überrascht vielleicht nicht, dass auch ich Genossin dieser Baugenossenschaft wurde. Sehr vorausschauend mit Blick auf die am „freien Markt“ stark steigenden Mieten in Hamburg schenkten mir meine Eltern zu meinem 12. Geburtstag vier Genossenschaftsanteile à 300 DM. Nicht, dass sie mich vor die Tür setzen wollten, aber auf diese Weise kam ich frühzeitig auf die entscheidende Warteliste. Und als ich 1986 mit 19 Jahren als Studentin tatsächlich ausziehen wollte, bekam ich mit meinen Genossenschaftsanteilen bald einen Wohnungsvorschlag in meiner Wunschgegend Ohlsdorf unterbreitet – eine 2,5 Zimmer Wohnung für unter 500 DM! Ich musste meine Anteile entsprechend der Wohnungsgröße aufstocken, die Wohnung renovieren und konnte dann mit meinem Freund einziehen. Auf anderen Wegen wäre ich nie so schnell zu einer eigenen, günstigen Wohnung gekommen. Bekannte, die auf Grund meiner Berichte ebenfalls Mitglied werden wollten, hatten Pech: Mitte der 1980er Jahre gab es einen Aufnahmestopp bei der Genossenschaft – so groß war der Bedarf der geburtenstarken Jahrgänge nach einer Bleibe. Sechs Jahre lang habe ich in der Schmuckshöhe in einer ruhigen Einbahnstraße direkt am Ohlsdorfer Friedhof gewohnt und mich wohl gefühlt. Zu dieser Zeit lebten
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drei Generationen unserer Familie in den Wohnungen der Baugenossenschaft freier Gewerkschafter. Konflikte und Entscheidungen in der Genossenschaft Doch der Klinkerbau in der Schmuckshöhe, der in den 50 er Jahren mit weniger guten Nachkriegs-Materialien errichtet wurde, wies zunehmend bauliche Mängel auf. Da sich eine Sanierung nicht mehr gelohnt hätte, wurde die Anlage abgerissen und durch eine neue Wohnanlage ersetzt. Eine Entscheidung, die nicht ohne Proteste der Bewohner ablief, da diese deutliche Mietsteigerungen befürchteten. Die Baugenossenschaft ist mit ihren gewählten Gremien (Mitglieder- und Vertreterversammlung, Aufsichtrat und Vorstand) demokratisch organisiert, weshalb derartige Beschlüsse nicht ohne gründliche Diskussion, Abwägung und Prüfung gefasst wurden. Davon berichtet mir mein Vater immer wieder aus erster Hand, denn er ist für seine Wohnanlage in die Vertreterversammlung gewählt. Man ging behutsam mit den Mietern in der Schmuckshöhe um. Sie erhielten vorübergehend in der nahe gelegenen Schiffszimmerergenossenschaft, mit der man eigens eine Kooperation eingegangen war, ihre Umsetzwohnungen. Andere wollten ganz wegziehen und erhielten Alternativangebote in anderen Stadtteilen. Die Mietsteigerung in der Schmuckshöhe war deutlich, aber verglichen mit den Durchschnittsmieten für Neubauten noch moderat. Zudem wurde mit SeniorInnen, die viele Jahre in der Schmuckshöhe gelebt hatten und nur über eine kleine Rente verfügen, ein Stufenmodell vereinbart. So müssen sie die Mieterhöhung nicht auf einmal zahlen. Inzwischen lebe ich nicht mehr in Hamburg, und doch bleibe ich Mitglied der BgfG eG aus Überzeugung und halte meine Anteile. Nicht nur wegen der Dividende, die über alle Krisen hinweg sogar stabil bei über vier Prozent geblieben ist. Sondern weil ich den Grundgedanken überzeugend finde, dass Genossenschaften zwar wirtschaftlich und langfristig agieren müssen, sich aber nicht auf Kosten der Mieter den Marktkräften vorbehaltlos unterwerfen und nur dem kurzfristigen, maximalen Gewinn hinterher jagen. Substanz-Erhaltung, Investitionen und nachhaltiges Wirtschaften haben einen höheren Stellenwert als hohe Dividende. Gerade in der Hansestadt Hamburg mit einem derart angespannten Wohnungsmarkt muss es günstige Alternativen für die Menschen mit kleinerem Einkommen geben. Wohnen heute Was man dagegen auf dem privaten Wohnungsmarkt erleben kann, spüre ich gerade am eigenen Beispiel in meiner Mietwohnung in Berlin, die innerhalb von drei Jahren schon drei Eigentümer hatte. Jahrelang lebte man hier auf einer Baustelle und
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Mängel werden nur zögerlich behoben, die Risiken auf die Mieter abgewälzt und der Mietspiegel bis zur Obergrenze ausgereizt. Und einen Ansprechpartner vor Ort vermisst man natürlich auch. Wohnraum wurde in einigen Ländern Europas lange Zeit als öffentliches Gut betrachtet. Er ist ein grundlegendes, existenzielles Bedürfnis, wird aber zunehmend dem Verwertungsinteresse der Finanzinvestoren unterworfen. Miethäuser und Wohnblocks sind zu reinen Anlageobjekten geworden. Deshalb waren Baugenossenschaften nie wertvoller als heute, wo der öffentliche Einfluss schwindet und der kommunale Wohnungsbau immer weiter zurückgedrängt wird. Genossenschaften können und sollen die öffentliche Hand natürlich nicht der Verantwortung entheben, aber sie sind ein wichtiges, ausbaufähiges Gegenmodell zu privaten Immobilienspekulanten. Kein Wunder, dass die Wohnungsbaugenossenschaften nach den landwirtschaftlichen Genossenschaften mit einer Zahl von 2000 die zweitgrößte Gruppe der insgesamt 7500 Genossenschaften in Deutschland sind. Sie sind natürlich keine antikapitalistischen und mildtätigen Vereinigungen; aber die Profitgier auf Kosten der Mieter wird gebremst. Und dadurch, dass ihre Mitglieder – je nach Satzung – mehr oder weniger stark die Ausrichtung mitbestimmen können, haben sie die Entscheidungsfreiheit auch neue Projekte und Ziele, wie etwa Mehr-Generationenhäuser mit Pflegestation oder eine eigene Energieerzeugung mit Blockheizkraftwerken und Solaranlagen zu beschließen. Im Jahr der Genossenschaften 2012 sollte viel und laut über die Zukunft dieser Form des Wohnens und Wirtschaftens nachgedacht werden. ----------------------------------------------------------------------------Info der BGFG: Geschichte der Baugenossenschaft http://www.bgfg.de/genossenschaft/geschichte/ Die Baugenossenschaft freier Gewerkschafter eG wurde am 24. Februar 1922 von 16 Gewerkschaftern in Hamburg gegründet und bietet ihren Mitgliedern seitdem sicheren Wohnraum zu günstigen Preisen. Ihren Namen verdankt sie der Tatsache, dass die Bewegung des damaligen »Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes« (ADGB) als »freie Gewerkschaft« bezeichnet wurde. Die Umstände, die zu dieser Gründung führten, waren sehr ungünstig: Nach dem 1. Weltkrieg herrschte große Wohnungsnot und die wirtschaftliche Lage war allgemein
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schlecht. Der ADGB hatte damals bereits mit Wohnungsbaugesellschaften ein Unternehmen für die Wohnungsbaubetreuung der Gewerkschafter gegründet, doch den Arbeiterführern war das noch zu wenig. Ihr Ziel war die Gründung von Baugenossenschaften, die mit Hilfe staatlicher Mittel gesunde und erschwingliche Wohnungen für ihre Mitglieder bauten und selbst verwalteten. Es sollte vor allem ein Gegengewicht zur profitorientierten privaten Bau- und Wohnungswirtschaft entstehen, indem Wohnraum zu angemessenen Preisen für breite Schichten der Bevölkerung, insbesondere für Familien, geschaffen wird. Heute ist die BGFG mit rund 7.500 eigenen Wohnungen in allen Bezirken eine der größeren Wohnungsbaugenossenschaften in Hamburg und bietet ihren Mitgliedern attraktiven Wohnraum zu angemessenen Preisen. Rund 100 Mitarbeiter kümmern sich um die mehr als 10.500 Mitglieder.
Autorin: Claudia Falk, geboren am 1. Mai 1966 in Hamburg, Dipl. Sozialpädagogin und Journalistin, Leiterin des Referates Makroökonomische Koordinierung und öffentliche Daseinsvorsorge beim DGB Bundesvorstand
Wachstum – ein leidiges Thema? von Prof. Dr. Hans Diefenbacher, Stellv. Leiter FEST Heidelberg Der „Transformationskongress“, den der DGB, der Deutsche Naturschutzring und Einrichtungen der evangelischen Kirchen Anfang Juni 2012 zusammen organisiert haben, hat es in seinen acht Workshops erneut gezeigt: Auch wenn man „Wachstum“ nicht direkt zum Gegenstand der Diskussionen macht, das Thema schwingt fast immer mit wenn grundsätzliche wirtschafts- und gesellschaftspolitische Probleme erörtert werden. Und die Antwort auf die Frage „wie hältst Du es mit dem Wachstum?“ markiert im Grunde immer zentrale Positionen, die dann für viele strategische Überlegungen, die bei der Gestaltung der Transformation der Gesellschaft eine Rolle spielen, von entscheidender Bedeutung sind. Wachstum wird in der politischen und in der wissenschaftlichen Debatte wie auch in den Medien noch immer fast ausschließlich auf das Wachstum des preisbereinigten Bruttoinlandsprodukts (BIP) bezogen. Alle Diskussionen der letzten dreißig Jahre, die eine Ersetzung des rein quantitativen Wachstums durch Konzepte eines
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qualitativen Wachstums einforderten, sind hier bislang praktisch wirkungslos geblieben. Wenn der herkömmliche Wachstumsbegriff aber einer der wichtigsten, wenn nicht gar der bedeutsamste Indikator für wirtschaftlichen Erfolg ist, dann kommt jede politische Strategie zu einer gesellschaftlichen Transformation in große Legitimationsschwierigkeiten, wenn sie nicht unmittelbar verspricht, das Wirtschaftswachstum anzukurbeln. Ein Politiker, der eine Ökonomie der Genügsamkeit propagieren würde, läuft eben Gefahr, den zentralen Erfolgsindikator – wenn er denn nicht verändert wird – negativ zu beeinflussen, und wird deswegen befürchten, mit einer solchen Strategie seine eigene Abwahl zu riskieren. Das Wachstums- und Wohlfahrtsversprechen Auf der anderen Seite kann aber auch gerade eine Politik, die unbeeindruckt Wirtschaftswachstum als gesellschaftlichen Erfolg verkündet, ein Problem der Glaubwürdigkeit bekommen – dann nämlich, wenn das Wachstum bei einem großen Teil der Bevölkerung gar nicht mehr als Einkommenssteigerung ankommt, wenn die Einkommensverteilung in einem wirtschaftlich prosperierenden Land zunehmend ungleich wird. In diesem Fall stimmt die Gleichung, dass Wirtschaftswachstum mit gesellschaftlicher Wohlfahrt gleichzusetzen sei, schon allein aus Gründen der Reichtumsverteilung nicht mehr. Dies war mit der entscheidende Grund dafür, dass der französische Präsident Sarkozy 2008 eine Kommission berufen hat, die dann ein Jahr später Konzepte zu einer alternativen Art der Wohlfahrtsmessung vorgelegt hat. Die Überlegungen, die eine solche Alternative auch politisch erwünscht erscheinen lassen, haben bislang zwar die Fragwürdigkeit der Eignung des BIP als Wohlfahrtsmaß weitgehend bestätigt, die Dominanz der Idee des Wachstums konnten sie bislang nicht brechen: Die gängige Interpretation der Vorstellung einer „green economy“ besteht nach wie vor darin, dass die so begrünte Wirtschaft dann das BIP weiter wachsen lässt. Das führt zunächst zur Frage, welche prinzipiellen Einstellungen zur Frage des Wirtschaftswachstums derzeit in der Diskussion vorhanden sind. Im Grunde lassen sich vier sehr unterschiedliche Haltungen unterscheiden: 1. Eine klassisch-traditionelle Sicht setzt das Ziel des Wirtschaftswachstums nach wie vor als höchste Priorität und als Voraussetzung, um aus den Erträgen des Wachstums ökologische und soziale Fortschritte bezahlen zu können. 2. Die bereits genannte Strategie des „grünen“ Wachstums will Impulse vor allem in den grünen Wirtschaftsbereichen setzen und erhofft dort so starke Wachstumsimpulse, dass eine weitere BIP-Steigerung möglich sei. 3. Kritiker des BIP-Konzepts sehen es in der Regel für unerheblich an, ob im Rahmen einer ökologisch-sozialen Transformation die Wirtschaft – gemessen am BIP – wächst oder schrumpft, da dieser Indikator zu wenig über die Wohlfahrt eines Landes aussagt; erforderlich sei eine entschiedene ökologisch-
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soziale Transformation, die die Gesellschaft vom Wirtschaftswachstum unabhängig machen könne. 4. Befürworter einer Postwachstumsstrategie halten eine – zum Teil deutliche – Absenkung der Höhe des BIP in entwickelten Industrieländern für erforderlich, um das Ziel der nachhaltigen Ökonomie in den Grenzen der ökologischen Tragfähigkeit des Planeten überhaupt erreichen zu können. Nun ist das Unbehagen an einer tendenziell alle Lebensbereiche durchdringenden Wirtschaftsweise keineswegs neu. Aber die klassische Kritik am Versagen des Marktes trifft in jüngster Vergangenheit auf multiple Krisen, die sowohl die virtuelle Ökonomie im Bereich der Finanzmärkte als auch die reale Ökonomie durch die dramatische Überbeanspruchung der natürlichen Ressourcen dieser Erde umschließt. Genau dies führt zu dem Ruf nach einer umfassenden Transformation der kapitalistisch orientierten Wirtschaft, die sowohl die Naturvergessenheit des Marktes reparieren soll, die eine gerechte Einkommensverteilung sicherstellen soll und die die Finanzmärkte wieder an den Bedürfnissen der realen Ökonomie ausrichten soll. Das wird kaum möglich sein, ohne das Thema Wirtschaftswachstum und seine vielfältigen Folgen zentral in den Blick zu nehmen. Denn es ist bisher völlig unklar, wie ein BIP-Wachstum vereinbar mit dem politischen Ziel einer Begrenzung der maximalen Klimaerwärmung auf zwei Grad gemacht werden könnte oder dem Ziel der Beendigung des Artenverlustes. Völlig ungeklärt ist weiter, wie das Wirtschaftswachstum vom Ressourcen- oder Flächenverbrauch abgekoppelt werden kann. Das Wirtschaftswachstum, so scheint es, bietet nicht mehr die über Jahrzehnte versprochenen Lösungen zum Wohlergehen der Gesellschaft, vielmehr untergräbt es sie teilweise - oder es fällt in den alten Industrienationen als empirisches Phänomen immer häufiger sogar einfach aus, obwohl alle Anstrengungen unternommen werden, es herbeizuführen – siehe die Vereinigten Staaten von Amerika. Zudem wird unterschätzt, dass immer mehr finanzielle Mittel aufgebracht werden müssen, um auch nur den bisherigen Lebensstandard in den Industrienationen zu halten. Diese „defensiven Kosten“ sind Ausgaben, die nötig sind, um eingetretene Schäden oder Verluste im Bereich der gebauten Infrastruktur, des Naturkapitals und auch des Humankapitals auszugleichen. Was ist Wohlfahrt? Diese Situation bietet neue Chancen einer öffentlichen Diskussion darüber, was die Kernelemente gesellschaftlicher Wohlfahrt sein könnten – unter den sich verändernden ökologischen, sozialen und ökonomischen Rahmenbedingungen. Ein Vorschlag dafür bietet die Zusammenstellung der Komponenten, die bei der Berechnung des alternativen „Nationalen Wohlfahrtsindex“ (NWI) aufgenommen wurden:
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Der NWI geht von der Basisgröße „Privater Verbrauch“ aus. Dieser Ausgangspunkt beruht auf der Annahme, dass der Private Verbrauch – der Konsum von Gütern und Dienstleistungen durch die Haushalte – einen positiven Nutzen stiftet und damit zur Wohlfahrt beiträgt. Aufgrund der wohlfahrtstheoretischen Überlegung, dass ein zusätzliches Einkommen für einen armen Haushalt eine höhere zusätzliche Wohlfahrt stiftet als für einen reichen Haushalt, wird der Private Verbrauch mit der Einkommensverteilung gewichtet. Je ungleicher verteilt das Einkommen einer Gesellschaft ist, desto niedriger ist – unter sonst gleichen Bedingungen – der NWI. Dann wird die nicht über den Markt bezahlte Wertschöpfung durch Hausarbeit und Ehrenamt einbezogen. Die Entscheidung, diese Formen der Wertschöpfung im BIP nicht zu berücksichtigen, war bereits zur Zeit der Konzeptbildung der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung kontrovers diskutiert worden. Sechs Indikatoren bilden zusätzliche soziale Faktoren ab, wobei einerseits Wohlfahrt stiftende Ausgaben des Staates für Gesundheit und Bildung addiert, andererseits Kosten etwa von Kriminalität oder Verkehrsunfällen abgezogen werden. Ökologische Faktoren werden durch weitere neun Variablen erfasst: Ausgaben zur Kompensation von Umweltschäden, Schadenskosten aufgrund unterschiedlicher Umweltbelastungen und Ersatzkosten für den Verbrauch nicht erneuerbarer Ressourcen.
Es ergibt sich nun das Bild, dass das BIP nahezu kontinuierlich steigt, während der NWI seit der Jahrtausendewende in der Tendenz wieder deutlich abfällt. Verantwortlich für das Sinken des NWI sind insbesondere die zunehmende Ungleichheit der Einkommensverteilung und die negativen externen Effekte im Umweltbereich, deren quantitativ größter Posten die Ersatzkosten für den Verbrauch nicht erneuerbarer Ressourcen darstellen. Positive Faktoren, insbesondere der Wert der Hausarbeit und ehrenamtlicher Tätigkeiten, die ebenfalls zunehmen, können dies nicht ausgleichen. Interessant ist auch, dass sich BIP und NWI während der Wirtschaftskrise 2008 bis 2010 gegenläufig verhalten. Die Frage nach der „realen“ Wohlfahrt eines Landes kann vermutlich nie ganz „objektiv“ beantwortet werden. Aber die unterschiedlichen Entwicklungen von BIP und NWI machen doch evident, dass herkömmliches Wachstum mit Wohlfahrt nicht gleichgesetzt werden kann. So eröffnet der NWI die Chance, andere Quellen des Wohlstands und der Wohlfahrt zu erkennen und zu stärken: eine gerechtere Einkommensverteilung, die Wertschätzung ehrenamtlicher Arbeit, die Wertschöpfung durch ökonomische Aktivitäten, die nicht über den Markt vermittelt werden, schließlich die Minderung von Umweltbelastungen und die Absenkung des Verbrauchs natürlicher Ressourcen. Eine Politik, die sich an diesen Zielen orientieren
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würde, würde das alternative Wohlfahrtsmaß NWI steigern – aber es wäre nicht sicher, wie bei einer entsprechenden Politik das BIP reagieren würde. Das gilt insbesondere dann, wenn sich eine solche Politik nicht in erster Linie darauf konzentrieren würde, Wachstumspotentiale in „grünen“ Wirtschaftssektoren zu identifizieren, sondern wenn sie mit hoher Priorität Anreize für eine Veränderung des Lebensstils in Richtung auf das Ziel einer (materiellen) Genügsamkeit befördern würde. Ökonomie der Genügsamkeit Dieser Punkt ist auch im Workshop zur Energiewende beim Transformationskongress angesprochen worden, denn die Politik in der Bundesrepublik Deutschland kümmert sich bislang in erster Linie um die Steigerung der Effizienz bei der Verwendung von Energie für die Produktion von Gütern und Dienstleistungen. Über Fragen der Veränderung des Lebensstils auf der individuellen Ebene, geschweige denn über eine „Ökonomie der Genügsamkeit“ auf gesamtwirtschaftlicher Ebene wird allenfalls in Randbemerkungen und Fußnoten gesprochen. Aber für eine komplette Umstellung der Energieversorgung auf erneuerbare Energien bis zur Mitte des Jahrhunderts wird es nicht reichen, Suffizienz nur zur Bewältigung des ungeliebten Restes der Transformation zu betrachten, der durch Effizienzsteigerungen nicht zu bewältigen ist, und Suffizienz dann noch unter dem Stigma einer Forderung nach Verzicht und Entsagung zu führen. Suffizienz ist mehr als das, was an Effizienz (noch) nicht leistbar ist, denn die sogenannten Rebound-Effekte sind sehr verbreitet: Bleibt das Leitbild des Wachstums unverändert intakt, dann leistet man sich eben an anderer Stelle mehr, wenn bestimmte Dinge effizienter bewältigt werden können – und der Netto-Effekt von Effizienzsteigerungen kann dadurch stark verringert, wenn nicht gar kompensiert werden. Ein Diskurs über die Transformation einer reichen Industriegesellschaft könnte daher einmal – versuchsweise – von einer umgekehrten Prioritätensetzung ausgehen und zunächst einmal mögliche Grenzen des Konsums, Veränderungen des Lebensstils, auf volkswirtschaftlicher Ebene eben eine „Ökonomie des Genug“ thematisieren – um von da aus dann den „Rest“, was an Reduktionszielen durch Einsparungen nicht erfüllt werden kann, durch Effizienzsteigerungen in Angriff zu nehmen. Dies hätte gerade auch für die ökonomische Theorie weitreichende Folgen, denn dies würde bedeuten, in der politischen Planung Abschied zu nehmen vom Gedankenkonstrukt des Homo Oeconomicus, dieses gefräßigen Wesens, das niemals ganz satt und zufrieden ist. In der modernen ökonomischen Theorie ist diese Wende längst vollzogen, in der real existierenden Grundausrichtung der (Wirtschafts-)Politik ist dies noch nicht
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angekommen, aus Angst vor ungeliebten Assoziationen. Das Trauma der „5 DM pro Liter Benzin“-Programmatik ist nach wie vor virulent. Suffizienz muss daher mit anderen Wohlstandsmodellen verbunden werden: mit Langlebigkeit, Reparaturfreundlichkeit, Benutzerfreundlichkeit von Produkten, mit ästhetischer Qualität, mit der Befreiung von unnützem materiellen Ballast, mit der Verringerung des Bedürfnisses nach Ersatz-Konsum für die mangelnde Zufriedenheit mit dem Arbeitsleben – eben durch eine Veränderung in Richtung auf „gute Arbeit“; alle, wirklich alle diese Elemente sind längst bekannt. Sie funktionieren noch immer nur zum Teil. Es bedarf sicher auch einer neuen Sensibilität für die Einflussstrategien der Industrie und der Medien über die Werbung, über die Vermittlung von Lebensentwürfen in den Vorabendserien im Fernsehen. Und es bedarf eines Umschwungs „vom Reden zum Tun“: eine Umstellung auf Ökostrom, die Umschichtung von Geldanlagen nach den Kriterien des ethischen Investments, ein Wechsel zu regional orientierten Banken, der Kauf von Kaffee und Tee ausschließlich nach Fair Trade Standards, und, sofern der Verzehr von Fleisch gewünscht wird, eine sorgfältige Information über die Herstellbedingungen. All dies lässt sich mühelos und ohne große Probleme verwirklichen. Transformation beginnt im Kleinen, und die dringend notwendige Diskussion über Wachstum könnte an eben diesen Punkten ansetzen.
Autor: Prof. Dr. Hans Diefenbacher, Stellvertrender Leiter der FEST (Forschungsstätte der evangelischen Studiengemeinschaft) in Heidelberg
Musikalische Neuerscheinungen im Sommer (Musikkritik) von Rhett Skai Das Jahr 2012 geht fulminant weiter – jedenfalls was die politischen Neuerscheinungen auf dem heimischen CD-Markt betrifft. Ausnahmsweise werden hier fünf CDs mit politischen Inhalten vorgestellt. Fünf statt vier sind es, weil die zwei neuen Alben der TOTEN HOSEN als Doppel-CD verstanden werden sollten. Seit 30 Jahren Punk
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Unter diesem Genre können DIE TOTEN HOSEN immer noch firmieren, obwohl sie in den vergangenen 30 Jahren technisch besser geworden sind. Punkrock ist halt auch Rock! In dem Doppelpack ist eine mit Neuinterpretationen unter dem Titel „DieGeisterDieWirRiefen“ und eine die „BallastDerRepublik“ heißt. Auf letzterer befinden sich 16 neue Lieder, die eine Mischung aus biografischen und gesellschaftskritischen Stücken beinhalten – nur ungleich verteilt. Lassen wir das hymnische „Tage wie diese“ (Videolink) einmal beiseite! Gegen die europäische Flüchtlingspolitik richtet sich das Lied „Europa“, es ist ein politischer Kracher. Es ist schon viel Selbstreflexion auf dieser CD enthalten, vor allem über die Liebe. Bedrückend ist das Stück „Oberhausen“. Vielleicht braucht man nach 30 Jahren soviel Reflexion und Rückschau? Doch die eigentlichen Kracher befinden sich auf der CD „DieGeisterDieWirRiefen“. Dort finden sich flotte Coverversionen von ABWÄRTS´ „Computerstaat“ und MALE`s „Sirenen“. Schön ist auch die respektvolle Version von „Die Moorsoldaten“, dass ursprünglich von Insassen des KZ Börgermoor 1933 verfasst wurde. Ein Lied, das man nicht aus Spaß singen sollte, sondern eben aus Respekt zum Gedenken! Schön interpretieren die HOSEN auch „Heute hier, morgen dort“ von HANNES WADER, den Schlager „Einen großen Nazi hat sie“ von FRITZ GRÜNBAUM von 1928 sowie „Schrei nach Liebe“ von den ÄRZTEn. Ein besonderes Augenmerk verdient die Gestaltung des CD-Covers: Auf der Box prangt der Bundesadler mit einem Hammer als Kopf und Zirkel als Kragen in Gold. Drumherum und im Booklet der „Ballast...“-CD sind Collagen der Bandmitglieder mit „deutschen“ Symbolen. Daneben enthält dieses Booklet sämtliche Liedtexte. Im Booklet der „DieGeister...“-CD sind Informationen zu den ursprünglichen InterpretInnen der Lieder enthalten und Farbcollagen mit der Band, die vor allem von rot geprägt sind. Sehr schön ist das gemacht - insgesamt! Ich empfehle den Kauf der CD vor allem wegen der „DieGeister...“-CD und der Gestaltung des Gesamtwerks – und ja, natürlich wegen „30 Jahre DIE TOTEN Hosen“. Ministry: Relapse, 2012 bei Afm Records (Soulfood) erschienen. Soulfood Rückfall der Aufgelösten Eigentlich hatte MINISTRY sich im Jahr 2008 aufgelöst. 2011 verkündete der Sänger Al Jourgensen die Reunion und die Arbeit an einem neuen Album. Das liegt nun vor. es heißt „Relapse“ und die Texte und die Musik sind kompromisslos - wie immer und gerne auch (selbst-)ironisch und sarkastisch. Die Band bleibt ihrem musikalischen Stil treu: es ist nach wie vor Metal bzw. Industrial-Metal mit
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elektronisch verzerrtem Gesang. Das Eingangslied „Ghouldiggers“ (Videolink) beschäftigt sich mit dem Musikgeschäft und seinen Regeln. Mit „99 Percenters“ (Videolink) lassen MINISTRY ihre Sympathie für die Occupy-Bewegung erkennen. Gesellschaftskritik durchzieht das ganze Album. Das hymnischste Lied „United Forces“ ruft alle emanzipativen Subkulturen der Vereinigten Staaten zur Vereinigung auf. Der Titelsong „Relapse“ ist das eingängigste Stück– und auch als „Defibrillator Mix“ auf der CD enthalten. Zudem ist „Weekend Warrior“ herrlich sarkastisch. „Bloodlust“ ist für MINISTRYs Verhältnisse geradezu eine Ballade. In den USA wird in diesem Jahr der Präsident gewählt. Folgerichtig fordert MINISTRY zur Teilnahme an den Wahlen auf: „Git Up Get Out `N Vote“. Das Album-Cover ist außen leicht kitschig, hat es innen aber durchaus in sich, vor allem ist es mit humorvollen Collagen und mit allen Liedtexten in einem herausnehmbaren Booklet versehen. Musik und Text harmonieren in diesem Album auf wunderbare Weise! Ich empfehle unvoreingenommen den KonsumentInnen und LiebhaberInnen harter Musik den Erwerb dieses Tonträgers. Killing Joke: MMXII, 2012 bei Cooperative Music (Universal) erschienen. Universal Der tödliche Witz schlägt wieder zu Das neue Werk von KILLING JOKE heißt schlicht 2012 – nur in den römischen Ziffern „MMXII“. Wie bitte, die Band gibt es noch? - wird der ein oder die andere fragen. Ja, seit 2008 sind die auch wieder in der Original-Besetzung. Das Meisterhirn und Sänger der Band Jazz Colemans war zeitweise Dirigent des neuseeländischen Symphonieorchesters. Der Hang zu symphonischer Musik ist auf diesem Album unverkennbar, natürlich ist die Musik mit Rock gepaart und Synthesizern eingespielt. Interessanterweise gelten KILLING JOKE bei vielen als Post-Punk-Band. Thematisch ist das Album mit den Weltproblemen beschäftigt. „Pole Shift“ beschreibt die Auswirkungen des Klimawandels und „Golony Collapse“ die emotionalen Veränderungen durch die zunehmende Digitalisierung aller Lebensbereiche. Tanzbar ist „Trance“, wenn auch weit mehr als Joke. Die schön gestaltete CD-Hülle ist beachtlich. Das gilt ebenso für das Booklet, nicht nur graphisch sehr klar gestaltet ist, sondern alle Texte enthält. Nach jedem Text sind internetlinks mit Belegen für die Aussagen beigefügt.
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Insgesamt ist „MMXII“ kein leichtes Album, das man nebenbei hören kann. Wer musikalisch und inhaltlich sehr anspruchsvolle Rockmusik mag, ist hier gut aufgehoben. Party ist anders! Deichkind: Befehl Von Ganz Unten, 2012 bei Vertigo Berlin (Universal) erschienen. Universal Elektropunks DEICHKIND waren mit zwei Single-Auskoppelungen aus „Befehl Von Ganz Unten“ bereits in den Top Twenty der deutschen Charts. Das Album schaffte es auf Platz 2 der Album-Charts. Die wunderbare Kritik an allen KarrieristInnen „Bück Dich Hoch“(Videolink) kam auf Platz 11, eigentlich ist es ein echtes neues ArbeiterInnenlied. „Leider Geil“ kam auf Platz 6 der Single-Charts. Herrschaftskritik äußert die Band mit dem Song „Illegale Fans“ und herrlich humorvoll ist die Beschreibung des „Partnerlook“. Wer kennt sie nicht, die Pärchen mit den gleichen Outdoor-Jacken und Fahrrädern? Der zunehmende Egozentrismus unserer Zeit wird mit „Egolution“ scharf kritisiert. Mit „Die Rote Kiste“ enthält die CD auch einen echten schönen Punkrocksong. Musikalisch haben wir es hier mit Elektronika und teilweise gerappten Texten zu tun. Leider enthält das Booklet keine Texte, aber merkwürdige Bilder mit Analogien zur letzten Science-Fiction-Saison. Deshalb nur eine zurückhaltende Kaufempfehlung, aber „Leider Geil“!.
Autor: Rhett Skai, geboren 1970 in einem ArbeiterInnenviertel, arbeitet heute in Schaff-Enspausen
Investmentbanking – „eine sozial unnütze Aktivität“? von Robert Misik Hat ein entwickelter Finanzmarkt eine produktive Funktion für Wirtschaft und Gesellschaft?
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Verfolgt man die öffentliche Debatte über die Finanzmarktkrise, Bankenrettungsprogramme und die Re-Regulierung von Finanzmärkten, dann gelangt man schnell an den Punkt, an dem die ideologischen Fronten verlaufen: Progressive haben keine grundsätzliche Skepsis gegen Finanzinstitutionen, beteuern aber, die Banken müssten der Wirtschaft und der Gesellschaft dienen. Sie wollen also eine Regulierung, die die produktive Funktion von Geschäftsbanken etwa für Investition, Wachstum, Beschäftigung oder langfristige investive Konsumentscheidungen (etwa Wohnungsbau oder den Erwerb von Einfamilienhäusern) unterstützt, aber das spekulative Geschäft streng regeln, in dem Investmentbanken, Fonds und andere Institutionen dominieren. Konservative und Wirtschaftsliberale wenden an diesem Punkt ein, dass sich hier wieder zeige, dass „die Linken nichts von Wirtschaft verstehen“, da erstens strenge Regeln das Wirken der Marktkräfte einschränken; zweitens strenge Regeln die produktive Funktion von Finanzinstitutionen behindere; und drittens gerade auch die Investmentbanken und Fonds positive Wirkungen haben, indem sie etwa innovative Unternehmungen, StartUps und anderes finanzieren. Sehen wir uns die verschiedenen Argumente beider Seiten also genauer an. Vielleicht haben die Wirtschaftsliberalen ja sogar recht? Wozu sind Investmentbanken gut? Der amerikanische Wirtschaftsjournalist John Cassidy hat jüngst in einem fulminanten Aufsatz die Frage zu klären versucht: „What Good Is Wall Street?“ („Wofür nützt die Wall Street?“). Und zwar durchaus unvoreingenommen. Investmentbanken und -Fonds sammeln Geld vermögender Leute ein und stellen das Kapital jenen zur Verfügung, die es haben. Dabei werden auch nützliche Dinge finanziert: innovative High-Tech-Gründungen, die bei normalen Banken nie einen Kredit bekämen, Umwelttechnologien usw. Cassidy hat sich aber auch genau angesehen, welchen Anteil solche Finanzierungen am Geschäftsvolumen der großen Investmenthäuser haben. Und das Ergebnis war doch relativ ernüchternd. Diese „produktiven“ Investitionen summierten sich 2010 bei Morgan Stanley auf bestenfalls 15 Prozent der Betriebseinnahmen und einen noch deutlich geringeren Anteil der Profite. Bei Goldman Sachs beträgt der Anteil gerade 13 Prozent. Der große Brocken der Einnahmen entfällt auf den Handel mit verschiedenen Finanzinstrumenten – etwa auf den Handel mit Derivaten und anderen Wertpapieren, bei denen die Firma Kursgewinne einsackt, also klassische spekulative Geschäfte, oder wo sie bei Kauf und Verkauf von ihren Kunden Gebühren kassiert (also immer einen kleinen Anteil der investierten Gelder in die eigenen Bücher transferiert). Diese Geschäfte haben in aller Regel keinen gesellschaftlichen Nutzen. Diese Firmen haben sich also, so Cassidys Resumee, zu Finanzinstitutionen
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entwickelt, „die vor allem dadurch ihre Gewinne machen, dass sie kleine Von-Tag-zuTag-Bewegungen auf den Märkten ausnützen“. Ein Urteil, das von Lord Adair Turner geteilt wird, dem Chef der britischen Bankenaufsicht Financial Services Authority. Er nannte in einem spektakulären Aufsatz das Investmentgeschäft eine „im Wesentlichen sozial unnütze Aktivität“. Und fügte hinzu: „Innovation im Finanzgeschäft … kann manchmal und unter bestimmten Bedingungen die wirtschaftliche Wertschöpfung begünstigen, aber das muss immer konkret bewiesen und die spezifischen Effekte müssten klargelegt werden – es kann nicht a priori behauptet werden.“ In den allermeisten Fällen wäre es aber so: Würden die Banker alle miteinander auf einen Schlag in den Ruhestand treten und sich in ihre schicken Villen am Meer zurückziehen, die Volkswirtschaft würde nichts verlieren – wahrscheinlich stünde sie sogar gesünder da. Von dem Argument, dass „die Linken“ die nützliche Funktion hochraffinierter Finanzinstitutionen einfach nicht verstehen und sie mit ihrem Hang zu restriktiven Regeln das Kind mit dem Bad ausschütten – uns alle zusammen also ärmer machen – würden, bleibt also nichts übrig. Ist der Finanzmarkt ein „Markt“? Was ist nun mit den anderen Argumenten, etwa, dass restriktive Regeln das Wirken der Marktkräfte im Finanzsektor einschränken würden und dies langfristig negative Folgen hätte? Dieses Argument setzt voraus, dass Finanzmärkte wie simple Gütermärkte funktionieren und - wie in diesen - die Marktkräfte produktive Wirkungen haben und deshalb das Marktprinzip der beste Mechanismus zur Ressourcenallokation wäre. Auf Gütermärkten ist das ja tatsächlich der Fall: Wird ein Gut nicht mehr nachgefragt, ist es offenbar nicht interessant genug für die Kunden oder zu teuer. In diesem Fall würde der Preis des Gutes sinken, bis die produzierte Menge abgesetzt werden kann, bzw. die Produktion würde eingeschränkt, Ressourcen wie Kapital, Arbeit, Rohstoffe, Vorprodukte würde in andere Sektoren abwandern – bis ein „Gleichgewicht“ hergestellt ist, also genauso viele Güter zu einem bestimmten Preis angeboten werden, wie auch nachgefragt werden. Hier produzieren Marktkräfte Stabilität. Schon John Maynard Kenyes, vor allem aber in der Folge der amerikanische Wirtschaftwissenschaftler Hyman P. Minsky, haben gezeigt, dass Finanzmärkte aber nicht auf solche Weise funktionieren und in ihnen endogene Kräfte wirksam sind, die nicht Stabilität, sondern Instabilität herbeiführen. Kein Mensch kauft, beispielsweise, eine Aktie von Facebook weil er sie braucht (in dem Sinn wie er Turnschuhe braucht). Er kauft sie, weil er annimmt, auch andere
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werden sie kaufen und weil er weiters denkt, nächstes Jahr werden sie noch mehr Leute kaufen, sodass sie im Wert steigen wird. Treffen viele Leute auf Basis dieser Vorannahme eine Kaufentscheidung, wird die Vorannahme zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung. So entsteht ein Boom. Ein Anstieg der Preise eines Wertpapiers kann also die Nachfrage noch befeuern (anders als das etwa bei Kartoffeln der Fall wäre, die von weniger Leuten gekauft würden, wenn sie im Preis steigen). Viele Wirtschaftsakteure kaufen Finanzinstrumente mit geliehenem Geld. Das ist auch vorerst überhaupt kein Problem, solange ihren Schulden ausreichend Vermögen gegenüber steht und sie Rückzahlungen aus liquiden Mitteln vornehmen können. Je größer die Euphorie, und je größer die Gewinne, die realisiert werden können, auf umso riskantere Finanzierungen werden sich die Investoren einlassen – etwa, dass sie von kurzfristigen Krediten zur Bedienung ihrer Verbindlichkeiten abhängig sind. Was aber passiert, wenn die Euphorie zu Ende geht? Dann können schnell mehr Leute ein Wertpapier zu verkaufen versuchen, als es Käufer gibt – entweder, weil sie vom Kursverlust des Papiers überzeugt sind oder weil sie Liquidität zur Bedienung ihrer Schulden benötigen. In solch einer Situation kann auch ein durchaus wertvolles Wertpapier in den Keller rasseln. Und zwar aus folgendem sehr einfachen Grund: Finanzmarktakteure (Banken, Fonds, oder auch nur Einzelpersonen) müssen Papiere abstoßen, weil ihre Schulden plötzlich ihr Vermögen (das ja immer nur Buchvermögen ist) übersteigen. Tun das viele gleichzeitig, fallen die Papiere noch mehr im Wert. Dadurch verringert sich das Buchvermögen der Akteure wiederum – und so weiter, bis sich die Abwärtsspirale ins siebte Untergeschoss gedreht hat. Finanzmärkte tendieren zu Instabilität - notwendigerweise Was gestern noch als fetter Vermögenswert in den Büchern stand, wird heute zum „toxischen Papier“. Minsky beschreibt das in der kühlen analytischen Sprache des Ökonomen so: „Diese Einheiten müssen sich dann Geld beschaffen, indem sie neue Schulden aufnehmen oder Vermögenswerte verkaufen. Mittlerweile versuchen sich die Einheiten mit Refinanzierungsschwierigkeiten über Wasser zu halten, indem sie Vermögenswerte verkaufen. In der Folge sinken die Preise der Vermögenswerte, mittels derer versucht wird, Positionen zu schaffen, und die Bedingungen, zu denen der Markt Verbindlichkeiten anbietet, verschlechtern sich.“ Je „entwickelter“ die Raffinesse unüberblickbarer Finanzinstrumente ist und je verwickelter die Akteure untereinander (jeder gibt jedem Kredit, jeder ist bei jedem verschuldet), umso instabiler ein System. Je höher der Verschuldungsgrad umso anfälliger ist es für Paniken und Zusammenbrüche. Je erfolgreicher ein System eine zeitlang funktioniert, desto höher werden die Risiken sein, die Akteure einzugehen gewillt sind.
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Wenn man das einmal verstanden hat, dann ist auch klar, dass es keine „externen Schocks“ braucht oder marktferne Wirkkräfte, um Finanzsysteme zum kollabieren zu bringen, es ist ihr normales Funktionieren, das ihre Fragilität erhöht – wobei „normal“ in dem Fall heißt, wenn man „Marktkräfte“ wirken lässt. Deshalb werden Finanzmärkte nur langfristig stabil und produktiv agieren, wenn die Regierungen erstens durch Regulierungen Risiken begrenzen und zweitens, wenn eine Kernschmelze des Finanzsystems und Paniken drohen, mit Rettungsmaßnahmen einschreiten. Also auch das Argument, dass das Wirken von Marktkräften im Finanzsystem zu Stabilität und Gleichgewicht führen würde, ist falsch. Nur in einem haben die wirtschaftliberalen Theoretiker recht: Wenn der Staat und Regierungsbehörden mit Rettungsmaßnahmen einschreiten (etwa, indem sie den Kursverfall mancher Papiere verhindern, Banken retten oder das gesamte Finanzsystem vor dem Kollaps bewahren), ohne gleichzeitig nötige Regulierungen vorzunehmen, dann sind diese Maßnahmen kurzfristig stabilisierend, aber langfristig destabilisierend. Denn wenn staatliche Institutionen Finanzmarktakteure vor den Folgen ihres Tuns bewahren, geben sie das implizite Signal, dass sie das auch beim nächsten Mal tun würden. Wir können die zu Beginn aufgeworfenen Fragen nun also eindeutig beantworten. Haben Investmentbanken und andere Schattenbanken eine produktive Funktion für eine Volkswirtschaft (oder die globale Ökonomie)? Nein, in ganz überwiegendem Maße nicht. Wäre das Finanzsystem stabiler, würde man Marktkräfte wirken lassen? Nein, endogene Kräfte im Finanzsystem führen notwendigerweise zu Instabilität. Behindern Regulierungen die produktive Funktion des Finanzsystems? Nein, sie stellen sie im Gegenteil gerade sicher.
Autor: Robert Misik, geboren am 3. Januar 1966 in Wien, Österreichischer Publizist und Journalist
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Gesetzliche Voraussetzungen für eine demokratische Genossenschaftskultur von Stefan Rebmann Genossenschaften haben sich gerade in Zeiten großer struktureller wirtschaftlicher Veränderungen als innovative und stabile Unternehmensform erwiesen. Sie tragen zur Stabilisierung regionaler Wirtschaftskreisläufe bei und fördern die lokale Beschäftigung. Die Prinzipien gemeinschaftlicher Selbsthilfe, Selbstverantwortung und Selbstorganisation sowie die demokratisch strukturierte Beteiligung ihrer Mitglieder bieten ein besonderes Potential zur Lösung wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Herausforderungen. Wer in eine kleine Genossenschaft eintritt, oder wer eine Genossenschaft mitgründet, der wagt den Schritt in eine möglichst weitgehende Selbstständigkeit, ohne den Rückhalt von Gleichgesinnten oder Unterstützern vermissen zu müssen. Dass das Konzept Genossenschaft auch heute funktioniert, beweisen die Volks- und Raiffeisenbanken. Sie sichern mit ihrer vorausschauenden Geschäftspolitik gemeinsam mit den Sparkassen die Finanzierung des Mittelstands in Deutschland. Nicht ohne Grund sind die Genossenschaftsbanken der Volks- und Raiffeisenbanken gemeinsam mit den Sparkassen im Vergleich zu Instituten anderer Rechtsform am besten durch die Finanzkrise gekommen. Auch am Wohnungsmarkt sind Genossenschaften eine wichtige und feste Größe. 2.000 Wohnungsgenossenschaften stellen über zwei Millionen Wohnungen in Deutschland und ermöglichen so rund fünf Millionen Menschen ein sicheres Wohnen. Auch in anderen Bereichen entscheiden sich Kommunen mittlerweile ganz bewusst für genossenschaftliche Lösungen. Zum Beispiel München gibt beim Verkauf bzw. bei der Reprivatisierung von städtischen Grundstücken Genossenschaften bevorzugt den Zuschlag. In vielen anderen Rathäusern wird etwa die kommunale Energieversorgung mit großem Erfolg in genossenschaftliche Hände gelegt. Überhaupt können gerade jene gesamtgesellschaftlichen Herausforderungen, die sich aus dem demographischen Wandel und der Energiewende ergeben, mit Hilfe von Wohnungsgenossenschaften oder durch Energiegenossenschaften bewältigt werden. Politik und Genossenschaften Aber auch der Bund muss handeln. Für Genossenschaften mit einer Bilanzsumme von einer Million Euro und mit einem Umsatz bis zwei Millionen Euro ist zwar 2006 die Pflicht zur Prüfung des Jahresabschlusses entfallen, woraufhin sich die Neugründungszahlen verdoppelt haben, aber das Genossenschaftsgesetz ist dennoch
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nicht auf der Höhe der Zeit. Mit abschreckenden Bürokratiekosten verhindern wir immer noch die Gründung neuer Genossenschaften: 2010 wurden monatlich rund 2.000 Unternehmen neu gegründet. Nur 20 davon waren Genossenschaften. An der Bereitschaft der Menschen, sich in Genossenschaften einzubringen, liegt das nicht: Deutschland hat 22 Millionen Genossenschaftler – deutlich mehr als Aktionäre. Besonders wird die Gründung kleiner Genossenschaften durch die bestehenden Regelungen verhindert. In der Kultur- und Kreativwirtschaft etwa oder bei der gemeinschaftlichen Versorgung mit Bio-Lebensmitteln könnten Genossenschaften als Unternehmensform eine gute Lösung sein. Der größte Hemmschuh für mehr Genossenschaftsgründungen sind immer noch die vergleichsweise hohen Prüfungskosten: neben einer umfangreichen Gründungsprüfung kommt auf Genossenschaften jedes Jahr eine externe Bilanzprüfung zu. Hier hat die Änderung des Genossenschaftsgesetzes zwar Einsparungen gebracht, aber diese sind gerade für kleinste Genossenschaften noch zu gering. Da auch bei anderen Gesellschaftsformen die Schwellenwerte für die Prüfung europaweit immer weiter nach oben gesetzt werden, müssen wir die Prüfpflicht für Kleinstgenossenschaften ganz abschaffen. Ein weiterer Grund, warum das Genossenschaftsmodell bei Existenzgründungen nicht zum Tragen kommt, ist die systematische Benachteiligung bei Fördermaßnahmen. Eine wesentliche Ursache ist die fehlende Bereitschaft neue Arbeitsplätze in Genossenschaften im Rahmen der Arbeitsmarktpolitik zu fördern. Bislang wird arbeitslosen Menschen die Förderung einer Existenzgründung im Rahmen einer Genossenschaft verweigert, da sie in einer Genossenschaft nicht sozialversicherungsrechtlich selbstständig werden können. Fördermittel der KfWMittelstandsbank stehen Genossenschaften in der Gründungsphase generell nicht zur Verfügung. Insbesondere die Wirtschaftsförderung auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene muss das Modell der Genossenschaften gleichberechtigt zu anderen Wirtschaftsformen in ihre Existenzgründungsberatung aufnehmen. Neue Regelungen Das Bundesjustizministerium hat angekündigt, in der laufenden Legislaturperiode einen Gesetzesentwurf einzubringen. Schwarz-Gelb ist auf diesem Gebiet allerdings wie auf vielen anderen nicht über die Ankündigung hinausgekommen. Die SPD-Bundestagsfraktion nahm das zum Anlass, selbst tätig zu werden. Dort wird an einem Antrag gearbeitet, der die genannten Missstände beheben soll. Das neue Genossenschaftsgesetz soll für Genossenschaften mit Bilanzsummen von unter einer Million Euro die Möglichkeit vorsehen, sich in eine Kooperativgesellschaft umzuwandeln. Diese sollen von der Gründungsprüfung wie auch von der jährlichen externen Prüfungspflicht befreit sein. Erhöht sich die Bilanzsumme, so erfolgt automatisch die Umwandlung in eine Genossenschaft inklusive der
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Prüfungsauflagen. Ein weiterer zentraler Punkt des Antrags ist die Gleichbehandlung von Genossenschaften bei der Vergabe von Fördermitteln. Existenzgründungen in Form von Genossenschaften sollen dadurch attraktiver werden. Der Antrag sieht außerdem vor, eine Haftungsbeschränkung einzuführen, wie sie bei der Gesellschaftsform der GmbH schon existiert. Bislang sieht das Genossenschaftsrecht die volle Haftung mit dem Privatvermögen vor. Und auch die Benachteiligung von Genossenschaften und Kooperativgesellschaften gegenüber der GmbH bei der Kreditvergabe durch die KfW soll der Vergangenheit angehören. Dass es Genossenschaften zurzeit nicht möglich ist, unter vereinfachten Bedingungen Kredite ihrer Mitglieder aufzunehmen, will der Antrag ebenfalls ändern. Darüber hinaus soll die Insolvenzordnung geändert werden. Dadurch wird sichergestellt, dass Mitglieder von Wohnungsgenossenschaften im Falle der Privatinsolvenz – ähnlich wie derzeit Mieter – vor dem Wohnungsverlust und Wohnungsgenossenschaften vor Mietern ohne Genossenschaftsanteil geschützt werden. Mit diesen Maßnahmen kann der Weg für die Gründung neuer Genossenschaften geebnet werden. Zugleich wird der soziale Auftrag der genossenschaftlichen Idee wieder massiv gestärkt. Umfragen zufolge zweifeln neun von zehn Deutschen massiv am Kapitalismus in seiner jetzigen Form. Nur wenn wir den Kapitalismus reformieren und Gemeinwohl und Wirtschaftlichkeit wieder Hand in Hand gehen, wird sich dieses Bild ändern. Genossenschaftliches Engagement kann hierzu einen enormen Beitrag leisten – wenn es den Bürgerinnen und Bürgern ermöglicht, sich zusammenzuschließen. Mit aktiver Einbringung der Gewerkschaften kann uns dieses „Hand in Hand gehen“ noch schneller gelingen.
Autor: Stefan Rebmann, geboren am 20. Juni 1962 in Heidelberg, seit November 2009 DGB- Vorsitzender Region Nordbaden, Mitglied des Deutschen Bundestags
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Neue Formen der Teilhabe – am Beispiel der Zukunftskammern von Prof. Dr. Claus Leggewie Bürgerbeteiligung heißt das Gebot der Stunde. Kurz vor der Abstimmung der Bürgerinnen und Bürger Baden-Württembergs über den Stuttgarter Bahnhof schlug in einem Interview (SZ 22.11.2011) Bundesverkehrsminister Peter Ramsauer (CSU) erstaunlich selbstkritische Töne an: „Es ist ganz klar, dass sich etwas ändern muss. Die Verfahren haben sich als nicht hinreichend erwiesen, um die Betroffenen wirklich zu Beteiligten zu machen. Die Beteiligung muss losgehen, noch ehe das formale Verfahren beginnt“ und kündigte an, die „Verwaltungsverfahren übersichtlicher und konfliktfreier <zu> gestalten. Wir wollen sie beschleunigen und die Öffentlichkeit besser beteiligen“, etwa bei der nächsten Revision des Bundesverkehrswegeplans 2015. Seit „Stuttgart 21“ ist kein Politiker zu hören, der sich nicht für mehr Partizipation ausspricht, keine Reformdebatte blieb ohne Forderung nach mehr Mitwirkung. Die rhetorische Konjunktur hat einen realen Hintergrund: Infrastrukturen von der Größe und Art des Stuttgarter Bahnhof-Neubaus lassen sich immer schwerer durchsetzen, in Frankfurt am Main, München und Berlin stoßen Flughabenausbauten auf entschiedenen juristischen und Straßenprotest, und ein derart komplexes und vielschichtiges Projekt wie die „Energiewende“, also die Umstellung auf erneuerbare Energien und nachhaltige Lebens- und Wirtschaftsstile bis 2050, erfordert nicht nur „Akzeptanz“ der Bürgerschaft am Ende eines Prozesses, sondern seine breit gefächerte und kontinuierliche Mitgestaltung von Beginn an. Auch wenn die meisten Pilotprojekte ausdrücklich oder implizit der „Akzeptanzbeschaffung“ dienen, verwandeln sie sich in der Praxis in Übungen demokratischer Legitimation. So weit, so gut – und so schwierig. Wie nämlich das allseitige Postulat konkret einzulösen ist, darüber herrscht weithin Unklarheit und Unsicherheit. Seit Jahrzehnten steht auf der einen Seite ein gut bestückter Instrumentenkasten bereit, der alle Varianten und Nuancen der Beteiligung von der deliberativen Beratung bis zur abschließenden Volksabstimmung enthält (Überblick bei Nanz/Fritsche 2012, international www.participedia.net). Das soll Willensbildung und Entscheidungsfindung in der repräsentativen Demokratie stärken, ohne sie in Frage zu stellen. Bürgerbeteiligung ist auf der anderen Seite nicht zum selbstverständlichen Bestandteil des politischen Prozesses geworden, also nichts, worauf sich politische Eliten, Verwaltungen und die Bürgerinnen und Bürger selbst routiniert eingestellt haben.
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Die Umsetzung der Energiewende Im Blick auf die anstehende Energiewende (die keine deutsche Spezialität bleiben wird) wird nun mit Recht, nicht zuletzt von der zur Herstellung eines Konsenses über den raschen Atomausstieg einberufenen Ethik-Kommission, wieder nach mehr Partizipation gerufen. Dabei zieht man vor allem deliberative und diskursive Verfahren in Betracht, die den konfliktträchtigen Entscheidungen über große Infrastrukturprojekte der kommenden Jahre vorausgehen. Zu rechnen ist auch mit solchen Konflikten, bei denen Nachhaltigkeitsanliegen aufeinandertreffen, also „grüne“ Naturschutzeinwände gegen „grüne“ Infrastrukturmaß-nahmen (wie Windparks, Pumpspeicherwerke, Überlandleitungen, Unterflurtrassen etc.) geltend gemacht werden. Hier geht es um konkrete Güter- und Nutzenabwägungen, aber auch um Richtungsentscheidungen. Ein Beispiel dafür ist die anstehende Entscheidung über Investitionen in Windparks, die von der Bundesregierung befürwortet und vorangetrieben werden. Die Betreiberfirmen des Höchstspannungsnetzes wollen derzeit vier große Leitungstrassen von der Nord- und Ostsee nach Süddeutschland bauen. Doch aus den rund 1.500 Stellungnahmen von Bürgern und Organisationen dazu geht hervor, dass die meisten eine dezentrale Stromproduktion an Stelle des forcierten Netzausbaus befürworten, erhebliche Bedenken wegen der befürchteten Beeinträchtigung ihres Wohnumfeldes hegen und den Naturschutz stärker berücksichtigt sehen wollen, etwa an Stellen, wo die Masten Naturschutzgebiete durchschneiden (taz 23.7. 2012 und www.netzentwicklungsplan.de). Hier geht es zum einen um eine Abwägung der technisch gebotenen Alternativen in der Stromerzeugung – zum Beispiel Wind- versus Solarstrom beziehungsweise Stromsparen vs. „grüne Stromwirtschaft“. Verhandelt wird aber auch die Position des Konsumenten, der als „Energiegenosse“ zum Produzenten wird, noch allgemeiner geht es um Lebensqualität, um vorherrschende Lebensstile und ihre Alternativen, um Standortkonzepte und dergleichen, alles auch im Generationsabgleich, so dass man hier von „Zukunftsagenden“ sprechen kann. Diese bilden den symbolischen Hintergrund, die Sinnebene hinter den Sachfragen, und die Kunst öffentlicher Deliberation (und des Politikerhandwerks) besteht darin, diese weder konkretistisch zu verkürzen noch unkonkret ausufern zu lassen. Einwände wie die gegen den Netzentwicklungsplan der Bundesnetzagentur und andere Planungen im Rahmen der Energiewende sind ebenso berechtigt, wie ausgetragene Konflikte zur sozialen Integration beitragen. Aber auch für nicht von vornherein konfliktträchtige Vorhaben müssen passgenaue, dem jeweiligen Fall angemessene dialogorientierte und deliberative Verfahren der Meinungs- und Willensbildung, ggf. auch der Mediation zum Einsatz kommen.
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Folgende Voraussetzungen sollten hier gegeben sein: • • • • • •
eine klar definierte Zielsetzung, Rollenaufteilung und Kompetenzzuweisung ein Höchstmaß an Inklusivität (“alle an den Tisch“) echter Gestaltungsspielraum, Ergebnisoffenheit und klare Alternativen weitestmögliche Transparenz drinnen und draußen („alles auf den Tisch“) hohe Professionalität der Durchführung und nicht zuletzt die hinreichende Rück-Koppelung an die Legislative und Exekutive
Leider sind diese Voraussetzungen bei den wenigsten Verfahren erfüllt. Dispositive diskursiver Demokratie sind vorhanden, sie werden aber in der Praxis zu wenig und unzureichend genutzt. Bei der Feststellung einer mangelhaften Partizipationskultur darf man nicht stehen bleiben. Die in Angriff genommene Energiewende erfordert zweierlei: erstens eine Generaldebatte auf nationaler und supranationaler Ebene über Richtung und Dynamik der damit verbundenen Entwicklung, zweitens deren Verankerung in einer Vielzahl von lokalen und regionalen Projekten. Einschlägige Debatten werden derzeit weder in den Parlamenten noch in den Medien geführt, Energieforschung und Infrastrukturpolitik legen es bislang höchstens auf Akzeptanzbeschaffung an, nicht auf echte Partizipation. Bürger müssen sowohl über die grundsätzliche Weichenstellung mitsprechen, auf welche Weise also der Ausstieg aus nuklearen und fossilen Energieträgern zu erreichen ist – durch zentrale oder eher dezentrale Lösungen, durch die Forcierung eines Wachstums auf regenerativer Grundlage oder durch mehr Energieeffizienz und Suffizienz, als auch effektiv an der Umsetzung solcher Strategien in einer Gemeinde oder Region mitwirken. Solche Fragen können natürlich nicht auf hoher Abstraktionsstufe vorgelegt werden, sie müssen jeweils an konkreten Vorhaben exemplarisch abzuwägen sein. Auf beiden Ebenen werden nicht nur technische Innovationen diskutiert, sondern auch soziale Zukünfte, eben nicht nur die Frage, wie eine Stadtbevölkerung in den nächsten beiden Jahrzehnten ihre CO2-Emissionen drastisch reduzieren kann, sondern nachgerade, wie sie in zehn oder dreißig Jahren leben und wohin sie sich entwickeln möchte. Erforderlich ist somit ein adäquates Beteiligungsverfahren, das mittel- und langfristige Zukunftsperspektiven ausdrücklich ins Zentrum rückt, ihnen ein angemessenes diskursives Format verleiht und dieses zugleich an die legislativen und exekutiven Instanzen ankoppelt, also Entscheidungsbezug verleiht. Die Zukunftskammer als demokratische Alternative Vorgeschlagen wird hier eine Zukunftskammer, die im wesentlichen deliberatives Agenda-setting betreibt, zugleich aber in der noch näher zu bestimmenden
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Grundeinheit einen kollektiven Lernprozess ermöglicht und im Erfolgsfall als Konsultative neben Legislative, Judikative und Exekutive einen Platz findet im gewaltenteilig organisierten Willensbildungs- und Entscheidungsprozess. Damit unterscheidet sich eine Zukunftskammer von punktuellen Debatten um ein konkretes Infrastrukturvorhaben, insofern es umfassendere Weichenstellungen und Szenarien geht, aber auch von Mediationen vor dem Hintergrund zugespitzter Konflikte, insofern hier eher antizipativ mögliche Konflikte erörtert werden. Bestehende und erprobte Deliberationsverfahren unterscheiden sich, wie man an der folgenden Zusammenstellung erkennen kann, erheblich: • • • • • •
nach ihrer thematischen Fokussierung (eng-weit, abstrakt-konkret), nach ihrer Zusammensetzung (groß-klein, <Selbst>Selektion-Zufallsauswahl, Stakeholder-breitere Öffentlichkeit), nach ihrer Dauer (punktuell-iterativ; von einem Tag bis mehrere Jahre), nach ihrer Veranlassung und Trägerschaft (Regierungen-NRO/Bürgerinitiativen), nach ihrem Kommunikationsmodus (von einer Informationsveranstaltung, über Verhandeln/Kompromissbildung bis zu Deliberation), nach ihrer Anbindung an den politischen Entscheidungsprozess (Konsultationen, Co-Governance/Mitentscheidung.
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Deliberationsverfahren Die Aufstellung darf nicht als „Rezeptbuch“ missverstanden werden, als welche vor allem die im Portfolio einschlägiger Agenturen der Bürgerbeteiligung bzw. Konfliktmediation angebotenen Prozeduren oft erscheinen. Sehr zum Verdruss vieler Veranstalter von Bürger- Dialogen und dergleichen erfordert und verdient jedes Problem ein speziell zugeschnittenes Partizipationsmuster. Die Besonderheiten bzw. Vor- und Nachteile der Formate kann man also nur schematisch so festhalten:
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Partizipationsmuster Um dafür ein paar Beispiele zu nennen: Einmalige Town Hall Meetings zogen bis zu 5000 Personen an, Bürgerräte beschränkten sich auf zufällig ausgewählte acht bis zwölf Personen, an der dänischen Konsensus-Konferenz nahmen bis 30 Personen teil. Die Mitwirkenden von Szenario-Workshops und Zukunftskonferenzen waren „handverlesen“, deliberative Meinungsumfragen beruhen oft auf einer Zufallsauswahl von Personen, die dann aber zweimal oder öfter befragt werden. Die Vor- und Nachteile kann man schematisch so gegenüberstellen: Punktuelle Versammlungen lassen sich problemlos einberufen, sie ergeben aber nur eine Momentaufnahme, während iterative Formate einen Lernprozess erlauben, aber sehr zeit- und kostenintensiv sind. Große Plenarversammlungen sind vielstimmig und repräsentativer, aber schwer überschaubar. Veranstaltungen zu einem Thema (Bahnhof ja oder nein?) haben einen klaren Fokus, können aber den Kontext aus dem Auge verlieren, der bei multithematischen Formaten (Mobilität im Stuttgarter Raum) einbezogen ist, jedoch um den Preis möglicher Verzettelung. Graswurzeldemokratie entspricht dem Ideal vieler Bürger, sie kann aber rasch diffus werden, während „von oben“ angesetzte Beteiligung entscheidungsnah ist, es ihr aber zunehmend an Legitimation mangelt. Ein weiteres kommt hinzu: die Mehrebenenproblematik. Wer entscheidet über die Energieinfrastruktur – die betroffene Gemeinde, ein regionaler Verbund, das nationale Plenum oder „Brüssel“? Je lokaler die Entscheidung angesiedelt ist, desto mehr herrscht der heilige Florian, je mehr sie sich von dem unmittelbar Betroffenen entfernt, desto unüberschaubarer werden die Legitimationsketten. Der
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überkommene Föderalismus hilft hier meistens wenig, weil er Problemfelder zerschneidet und die Politikverflechtungsfalle aufbaut. Thematisch ist die Energiewende ein multidimensionales und langfristiges Vorhaben, dessen Ergebnis nur anhand einiger grober Kennzahlen und Entwicklungskorridore bestimmbar ist. Ihr Gelingen (in ökologischer wie ökonomischer Hinsicht) ist von der Aneignung und Mitwirkung von Nutzern, Konsumenten und Bürgerinnen und Bürgern abhängig, die überdies im Blick auf den bestehenden Zeitdruck und die Komplexität der Materien ein starkes Verantwortungsgefühl jenseits ihrer konkreten und kurzfristigen Interessen aufbringen sollen (WBGU 2011). Anders als es auf den ersten Blick und in der Wahrnehmung seiner Initiatoren in Politik, Verwaltung und Unternehmen erscheinen mag, ist die Energiewende nicht nur ein Ingenieurs- und Expertenprojekt, sie impliziert eine starke soziale und politische Mobilisierung – und wird damit ein „Jedermanns-Projekt.“ Die Langfristigkeit der Energiewende legt (a) die Einrichtung eines nationalen, zahlenmäßig überschaubaren Gremiums (zum Beispiel: Mini-Populus) nahe, das einen Lernprozess über die gesamte Periode in wechselnder Zusammensetzung um einen stabilen Kern herum organisiert. Anders als bei vielen formalisierten oder informellen Einrichtungen der neokorporatistisch ausgerichteten alten Bundesrepublik bzw. der Berliner „Räterepublik“ kann dies weder ein „Rat der Weisen“ sein noch eine reine Stakeholder-Versammlung, die Bürgerkompetenz nur punktuell einbeziehen. Vielmehr müssen gut informierte und beteiligungswillige Bürger von vornherein zentral in dieser Zukunftskonferenz vertreten sein und sich notwendige Expertise und Informationsquellen heranziehen können. Denkbar ist eine Auswahl durch Losentscheid, eine partielle Freistellung von beruflichen und familiären Verpflichtungen und eine kontinuierliche Flankierung durch deliberative Meinungsumfragen. Die Multidimensionalität der Energiewende legt nahe, Zukunftskammern (b) durch möglichst zahlreiche regionale und lokale Gremien zu unterstützen, die Weichenstellungen und Infrastrukturvarianten vor Ort beraten, entscheidungsreif machen und bei ihrer Implementierung begleitend evaluieren. Diese Dezentralisierung lässt lokales Wissen in den nationalen und europäischen Planungsprozess einfließen, ohne damit zu einem Hort lokaler Resistenz zu werden, in dem nach dem NIMBY-Prinzip verfahren wird – Energiewende ja, aber nicht in unserem Kiez. Solche (im Einzelfall jeweils nachvollziehbaren und legitimen) Reaktionen werden abgeglichen durch überlokale Erwägungen und Erfordernisse. Zugleich ist der bottom up-Impuls gestützt durch eine höhere politische Identität in Gestalt lokaler und regionaler Wir-Gefühle und einen auf der kommunalen Ebene leichter erkennbaren Konkretisierungsgrad von Infrastrukturvorhaben. Hier geht es nicht darum, für zentrale Entscheidungen Akzeptanz zu besorgen; entscheidend ist
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vielmehr, das lokale, historisch eingebundene und erfahrungsgesättigte Wissen über Prozesse sozialer Transformation und Innovation gelten zu lassen und zur Geltung zu bringen. Großflächige und überregionale Modernisierungsanstöße müssen an dieser Stelle anschlussfähig sein, andernfalls werden sie verpuffen oder Widerstand auslösen. Die ehrwürdigen Konzepte der 1970er Jahre – die Politische Ökologie und di Deliberative Demokratie – stehen jetzt vor der praktischen Bewährungsprobe, jenseits von lebensweltlichem Trotz und managerialem Umweltschutz. Für André Gorz, der ursprünglich Naturwissenschaftler war und ein Faible für Ingenieure und Statistiker hatte, bestand der demokratiepolitische Clou der politischen Ökologie, in dem „Problem der rückwirkenden Koppelung von Notwendigkeit und Normativität oder, wenn man lieber will, der Umsetzung objektiver Notwendigkeiten in normative Verhaltensweisen, die gelebten Erfordernissen entsprechen, in deren Licht die objektiven Notwendigkeiten ihrerseits eine Form erhalten“ (Gorz 2009, S. 77). Beteiligung im „Parlament der Dinge“ Natur und die Welt der Dinge versus Gesellschaft und Politik wurden in modernen Gesellschaften und in den neuzeitlichen Wissenschaften als getrennte Welten, wenn nicht Gegensätze gedacht. Zwischen menschlichen Subjekten und belebten und unbelebten Objekten der Natur besteht im Übrigen eine Hierarchie und Asymmetrie – der Mensch hat sich, oft mit sichtbar katastrophalen Folgen, die Natur unterworfen. Bruno Latour bestreitet diese Separation der Wissenssysteme und hat im „Parlament der Dinge“ einen auf den ersten Blick kurios wirkenden Vorschlag unterbreitet, wie die nicht-menschliche Objektwelt in die Gesellschafts- und Kulturtheorie zu reintegrieren und eine neue Verfassung der politischen Ökologie zu begründen wäre, womit die Dinge und namentlich sogenannte Hybride (Zwischenwesen aus Kultur und Natur) angemessen berücksichtigt würden. Natürliche und artifizielle Objekte, darunter Tiere und Pflanzen sollen als gleichberechtigte Teile der sozialen Welt anerkannt sein, ihnen soll sogar ein indirektes „Mitspracherecht“ zukommen. Latour erhebt sie damit zu „Aktanten“ in einem Handlungszusammenhang, den er „Kollektiv“ nennt, das aus dinglichen, sozialen und diskursiven Entitäten besteht (Latour 2001) Das so umschriebene „Parlament der Dinge“ reagiert auf den auch nach Ansicht Latours zu kurz gegriffenen Versuch grüner Bewegungen, eine Politik der (Sorge um die) Natur zu formulieren, die Gesellschaft und Umwelt versöhnen wollte. Es geht Latour nicht um die „Erhaltung“ oder den „Schutz“ der Natur, vielmehr um die gleichrangige Platzierung von polis, logos und physis „auf dem politischen Schachbrett“. Dessen Felder werden neu geordnet, die Spielregeln neu definiert, die Figuren neu gestaltet. Latour sucht den neuen Leviathan oder einen Gesellschaftsvertrag, der nicht auf Kosten der Natur geht. Wenn Latour der Dingwelt
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einen Akteurstatus verleiht, fällt er also nicht zurück auf die romantische oder animistische Idee von der Belebtheit oder Beseeltheit „der“ Natur, er reflektiert vielmehr die Tatsache, dass natürliche Dinge wie ein Kleinstlebewesen oder ein Fluss, ein FCKW und eine an BSE erkrankte Kuh, nachdem sie zu Zwecken mutiert sind, per se schon in Assoziation mit menschlichen Wesen hervortreten; dadurch werden sie im gesellschaftlich-politischen Diskurs zum Sprechen gebracht und haben ihren reinen Objektcharakter längst verloren. Der Juchtenkäfer muss nicht unbedingt weichen für sechs Minuten weniger Bahnfahrt zwischen Stuttgart und Ulm, das Wattenmeer entscheidet bei den Klimaanpassungsmaßnahmen an der Nordsee mit. Mit der Bestimmung der Natur sollen nicht allein (Natur-) Wissenschaftler betraut werden, im Kollektiv vertreten ist auch das jeweilige Knowhow des Politikers, des Ökonomen und des Moralisten, die arbeitsteilig vorgehen: Die Wissenschaften sind „auf der Suche nach Propositionen zur Bildung einer gemeinsamen Welt und betraut mit der Aufrechterhaltung der Pluralität der Außenwelten oder äußeren Wirklichkeiten“ der Politik kommt die Aufgabe zu, unter Zeitdruck riskante Entscheidungen zu treffen und Optionen auszuschließen, Ökonomie und Moral machen Güter in einem materiellen wie immateriellen Sinne vergleichbar und schlagen Rangordnungen unter ihnen vor. Eingebracht werden diese Propositionen bei Latour in ein Zwei-Kammer-System neuen Typs. Das Oberhaus sammelt die Propositionen und bewertet sie möglichst vorurteilslos und pluralitätsförderlich; hier findet die Arbeit der Einbeziehung statt. Im Unterhaus arbeitet die ordnende Gewalt mit dem Ziel, „[...] eine gemeinsame Welt zu bilden und ein Pluriversum zu errichten“ (Latour 2001:300). Dieses Parlament der Dinge ist ein Gedankenexperiment, von dem man sich gewisse Ansätze durchaus institutionell umgesetzt vorstellen kann. Latour liefert eine Blaupause für einen neuen Gesellschaftsvertrag, der voreilige und schädliche Ausschlüsse vermeidet, das Gemeinwesen (die Republik) aber doch zu Einigungen und Entscheidungen gelangen lässt. Latours Wissenschaftskritik und der damit einhergehende Impuls, von der Arbeit der „Reinigung“ zur „Übersetzung“ bzw. Vermittlung überzugehen, haben mittlerweile weithin Anerkennung gefunden, während die Konkretisierung der Verfassungsvorschläge noch auf sich warten lässt. Mein Vorschlag der Zukunftskammern ist ein Versuch, dieses eher metaphorische Projekt des Parlaments der Dinge zu konkretisieren und in den Rahmen der liberalrepräsentativen Demokratie einzubauen. Dieser werden derzeit als Allheilmittel direkt-demokratische Entscheidungsverfahren an die Seite oder auch entgegengestellt. Die hier vorgestellten Zukunftskammern können solche Entscheidungsverfahren durch direkte oder parlamentarische Abstimmung ergänzen und vorbereiten, was nach bisheriger Erfahrung dringend notwendig ist. Es mangelt der Bürgergesellschaft nämlich weniger an Mitbestimmungsmöglichkeiten als an Reflexion und Transparenz ihrer Entscheidungsprozesse.
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Das Defizit der Demokratie, die manche heute schon von „Postdemokratie“ reden lässt (Crouch 2008), liegt meines Erachtens weniger im Repräsentationsverhältnis von Volk und (Parteien-)Staat als in einer durch konventionelle elektronische Medien (darunter die Massennutzung des Internet) unterstützten Lernpathologie. Zwar haben sich die Wählerschaften von weltanschaulichen Positionen weitgehend gelöst und sich aus politischen Polarisierungen der Industriegesellschaften befreit, aber ihnen mangelt es an einem handlungspraktischen und lebensweltlich gestützten Zugriff auf den politischen Betrieb und an argumentativen Alternativen, wenn es um die unter vermeintlicher Alternativlosigkeit stehende Zukunft der nächsten ein, wie oder auch fünf Jahrzehnte geht. Hier sollen die Zukunftskammern in ihrer strikten Beschränkung auf deliberative und konsultative Rollen einen kollektiven Lernprozess in ökologischer und sozialer Verantwortung erleichtern. Literatur/Quellen: Gorz, André (1977): Ökologie und Politik. Beiträge zur Wachstumskrise. Reinbek Gorz, André (2009): Auswege aus dem Kapitalismus, Zürich (2. Auflage) Latour, Bruno (2001): Das Parlament der Dinge. Für eine politische Ökologie, Frankfurt/Main 2001 Leggewie, Claus (2011): Mut statt Wut. Aufbruch in eine neue Demokratie, Hamburg Nanz, Patrizia/ Miriam Fritsche (2012): Handbuch Bürgerbeteiligung. Verfahren und Akteure, Chancen und Grenzen, Bonn Linden, Markus/ Winfried Thaa (Hg.) (2011): Krise und Reform der politischen Repräsentation, Baden-Baden WBGU (Schellnhuber, H.J./Messner, D./Leggewie, C./Leinfelder, R./Nakicenovic, N./Rahmstorf, S./Schlacke, S./Schmid, J./Schubert, R.) (2011): Welt im Wandel. Gesellschaftsvertrag für eine große Transformation.- Hauptgutachten, Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen, Berlin. Der Text entstand im Rahmen einer Tagung des Institute for Advanced Sustainability Studies (IASS) Potsdam. Autor: Prof. Dr. Claus Leggewie, Professor für Politikwissenschaft an der JustusLiebig-Universität Gießen, Direktor des Kulturwissenschaftlichen Instituts Essen
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