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EINE GEDRUCKTE LESUNG

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FAKTEN

FAKTEN

DIE GEDRUCKTE LESUNG

VIRGIL KANE: IN UNSEREN SEELEN DER SCHMERZ

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Nach seinem Erstlingswerk „In unseren Herzen die Welt“ aus dem Jahr 2019 legt Virgil Kane nun den zweiten Band der Van-Pelt-Reihe vor. Grund genug für uns, einen Blick in das neue Werk zu werfen, das nahtlos am ersten Band anknüpft. Wer bislang gedacht hatte, die 687 Seiten des ersten Bandes wären die ganze Geschichte, muss neu denken: „In unseren Seelen der Schmerz“ steht dem ersten Teil in Umfang und Dramatik in nichts nach und setzt was Handlung und Story angeht, sogar noch eins drauf.

„In unseren Seelen der Schmerz“ erzählt vom Werdegang der Figuren in den Jahren 2019 – 2021. Wir erfahren nicht nur, was den Protagonisten in dieser Zeit alles widerfährt, sondern rekapitulieren auch die Umstände, unter denen das geschieht. „In unseren Seelen der Schmerz“ greift einerseits das Zusammenleben der Menschen in Zeiten einer wachsenden Digitalisierung auf, und ist andererseits eine minutiöse Chronik der Verhältnisse in Zeiten der Corona-Pandemie.

Wer sich mehr Hintergrundwissen wünscht, sollte zunächst den ersten

Band lesen. „In unseren Herzen die

Welt“ liefert die Vorgeschichte und legt die Grundlage für das Verständnis mancher Details. Wir haben einen der Protagonisten der Geschichte gebeten, für uns die wesentlichen Punkte aus „den Herzen“ zusammenzufassen und hören quasi aus erster Hand, was damals passiert ist.

(Warnung: leichter Spoileralarm!)

IN UNSEREN HERZEN DIE WELT

Paperback, 689 Seiten, ISBN-NR: 9783732241521 Verlag: Books on Demand, erhältlich als Taschenbuch und E-Book Phil: „Manche von euch erinnern sich vielleicht noch daran, wie das Schicksal des Tabakerben Victor van Pelt die Klatschspalten der gelben Gazetten beherrschte. Irgendeiner dieser investigativen Schmierfinken war durch Bestechung oder indem er seinen Körper verkauft hatte an die Protokolle der Ermittler geraten und hatte daraus eine Story gemacht. Die Auflage seines Magazins schoss daraufhin in schwindelnde Höhe. Jeder konnte nun nachlesen und nachleiden und nachgeifern, was genau damals in Luzern geschehen war. Und es war ein filmreifer Plot geworden, das kann ich euch sagen. Für die Glücklichen unter euch, die damals nichts davon mitbekommen haben, hier nochmal eine kurze Zusammenfassung. Ich will nicht damit angeben, aber ihr würdet ohne diese Infos vermutlich das ein oder andere vom dem, was ich euch eigentlich erzählen möchte, nicht verstehen. Die Wissenden mögen also kurz die Ohren schließen und die Unwissenden dieselben ordentlich spitzen. Es wird das letzte Mal sein, dass ich mich in diese Abgründe stürze. Zu oft bin ich schon dort gewesen und kein einziger Ausflug dorthin hat mir gut getan.

Wir waren zu viert. Ursprünglich. Katy, Pete, Victor und ich. Uns verbindet eine gemeinsame Vergangenheit und eine über die Jahre gewachsene Fürsorge füreinander. Es fühlt sich an, als wären unsere Leben miteinander verwoben und kreisten wie die Schatten eines großen Windrads um ein gemeinsames Zentrum: um Victor van Pelt und seinen Spleen von einer virtuellen menschlichen Existenz. Victor war durch einen Unfall vom Hals abwärts gelähmt. Sein finanzieller Reichtum ermöglichte es ihm, in seiner eigenen, von seiner Mutter Rachel geführten Klinik komplizierte Versuche an sich selbst durchzuführen. Sein Ziel war es, den beinahe leblosen Körper hinter sich zu lassen und als Gehirn im Tank auf ewig weiterzuleben. Bevor die finalen Operationen begannen, kam er allerdings bei einer Explosion in der Klinik ums Leben. Katy, seine engste Freundin und Mutter der gemeinsamen Tochter Lisa, war damals nicht zu beneiden gewesen. Die Beziehung zu einem geliebten Menschen, der alles daran setzt, sich in Bits und Bytes aufzulösen, gehört nun nicht gerade zu den Standards im Repertoire geglückter familiärer Lebensentwürfe. Pete ist unser engster gemeinsamer Freund, nein, eigentlich ist er mehr als das. Eine Zeit lang waren wir ein Paar. Hierzu müsst ihr wissen, dass mit den Herren Techno und Beethoven mindestens zwei verschiedene Geister in meinem Oberstübchen residieren, an- und ausgeknipst durch kleinere Blutungen in meinem Gehirn. Ein Umstand, der mir ab und an heute noch das Gefühl vermittelt, eine an neuronalen Schnüren ferngesteuerte Marionette zu sein. Beethoven war Petes Geliebter, Techno ist in dieser Richtung reservierter.

Ich merke, wie mich die Vergangenheit beim Erzählen wieder einholt wie eine Schar Dementoren, herübergeweht über einen schnell zufrierenden See. Sorry Freunde, aber ich kann nicht weiter von früher erzählen. Vielleicht noch so viel zum status quo: Pete arbeitet wieder in seiner Neurologenpraxis. Ein Exo-Skelett ermöglicht ihm den aufrechten Gang und das Motorradfahren. Seltsam, aber als äußerlich Gebrechlichster von uns allen scheint er in Wirklichkeit der Unversehrteste geblieben zu sein. Katy hat ihren Job als Anwältin wieder auf-genommen. Sie ist in die Rechtsabteilung von Van Pelt Tobaccos & Liquids Ltd. zurückgekehrt und arbeitet eng mit ihrer Schwiegermutter Rachel zusammen, die den Laden nach wie vor leitet. Lisa ist weiter damit beschäftigt, den Tod ihres Vaters zu verstehen und damit zu leben. Das scheint schwieriger zu werden, je älter sie wird. Inzwischen ist sie neun Jahre alt und keiner weiß, wie das noch weitergeht. Erst neulich hatte Katy mir geschrieben, dass Lisa nach wie vor mit ihrem Vater chattet.“

Zur Einstimmung auf den zweiten Band lassen wir eine andere Stimme sprechen. Es ist Rachel, die Chefin der Van-Pelts und Mutter von Victor. Es ist Weihnachten und sie unterhält sich mit Katy. Und mit ihrem toten Sohn. Zu diesem Zeitpunkt haben wir gut 400 Seiten der Geschichte hinter uns und noch knapp 300 to go.

IN UNSEREN SEELEN DER SCHMERZ

Paperback, 689 Seiten, ISBN-NR: 9783753454412 Verlag: Books on Demand, erhältlich als Taschenbuch und E-Book

KAPITEL 34 - STILLE NACHT Donnerstag, 24. Dezember 2020, Heiligabend, Lake House, Luzern, 22:00 Uhr

Rachel: „Lock-Down Weihnachten. Bis zum heutigen Tag hat die Schweiz über vierhunderttausend Krankheitsfälle und über sechstausend Tote durch Corona zu verzeichnen. Allein hier in Luzern sind fast zweihundert Leute nachweislich an dem Virus gestorben und ich kann euch sagen, es macht mir Angst. Seit vorgestern sind Gastronomie und Kultur geschlossen, die Läden schließen um neunzehn Uhr und die Leute wurden aufgefordert, zu Hause zu bleiben. Auch während der Feiertage gibt es hierzu keine Ausnahmen. Es ist ein stilles Weihnachten in diesem Jahr. Lisa trägt es mit Fassung. Seit dem Tod ihres geliebten Großvaters ist sie merklich stiller geworden und die fehlenden Kontakte durch Home-Schooling und Besuchsverbot machen es nicht einfacher. Sie tut mir leid. Der Glanz von Weihnachten scheint endgültig abgeblättert zu sein, als wäre das Fest inzwischen schon zu sehr abgenutzt. Katy und ich haben alles getan, um es Lisa irgendwie schön zu machen. Sogar Katys alten kleinen Plastikweihnachtsbaum haben wir in Lisas Zimmer installiert, damit die Armada der Stofftiere, allen voran Leo Löwe, auch mitfeiern konnte. Aber das war wohl nur ein schwacher Trost. Ich sitze mit einem Glas Whisky auf der großen Couch im Wohnzimmer und betrachte den Weihnachtsbaum. Greg hat es sich nicht nehmen lassen, ihn auch in diesem Jahr aufzustellen. Und wie es scheint, ist er noch prachtvoller und weihnachtlicher geworden als in den Jahren davor. Und ihr könnt sagen, was ihr wollt: All dem derzeitigen Scheiß in der Welt zum Trotz, schafft es dieser tote, mit Glitzer und Lichtern behangene Baum, mich milde zu stimmen und hoffnungsvoll. Und dankbar dafür, dass ich heute hier einfach sitzen darf, gesund und in Freiheit und mit einem Glas Whisky in der Hand.

Katy ist oben bei Lisa. Spencer ist bei ihnen und ich stelle mir vor, wie er sich zu Lisa ans Fußende ihres Bettes legt und der Geschichte zuhört, die Katy den beiden vorliest. Eigentlich war es ein ganz harmonischer Heiligabend heute. Wir hatten Katys Mutter eine Zeit lang per Zoom-Schaltung auf Lisas iPad dabei und wir waren viel zu sehr mit uns selbst beschäftigt, um uns um irgendwelche toten Gespenster zu kümmern. Keiner rührte eine der verdammten Brillen an und das rote Licht an der Überwachungskamera blieb den ganzen Abend über aus. Offenbar hatte das Victor-Programm ebenfalls das Bedürfnis nach einem entspannten Abend und ließ uns in Ruhe.

Ich halte das Glas vor mein Gesicht, sodass die Lichter des Baumes sich darin brechen wie lauter kleine glitzernde Diamanten. Und wenn ich die Augen zusammenkneife, werden Sterne daraus, die ihre Größe verändern, sobald ich das Glas vor- und zurückbewege. Kein Programm der Welt wird je simulieren können, was wir mit unseren Körpern und Sinnen hinbekommen. Kann mir keiner erzählen, auch die Jungs um Freak herum nicht, die Victors Programm geschaffen haben. Victors Reality-Sucks-Rede vor zwei Wochen in Frankfurt und die Reaktionen seiner Fans und seiner Gegner darauf haben mich teils beunruhigt, teils aber auch amüsiert. Was für ein Haufen Spinner! Auf irgendeinem Gamer-Portal habe ich gelesen, dass sich schon zehntausend Leute angemeldet haben, um sich, wie sie es nennen, virtualisieren zu lassen. Offenbar denken die Leute, das wäre alles ein Spiel, so eine Art Reality-Sims, bei dem man sich einen Avatar zusammenbastelt und dann durch ferne Welten reist. Dabei geht es in Wirklichkeit darum, den Inhalt ihrer Festplatte irgendwo einzuspeisen und den biologischen Restmüll ihres Körpers verwesen zu lassen. Aber er macht das gut, keine Frage, verkaufen konnte Victor sich schon immer. Was das Marketing angeht, muss sich Van Pelt Tobaccos dagegen etwas Neues einfallen lassen. Zum Jahreswechsel tritt in Deutschland ein Reklameverbot auf öffentlichen Plätzen in Kraft. Und auch im Kino dürfen wir nur noch bei Filmen ab acht-zehn Jahren unsere Spots schalten. Absolut lächerlich, aber was will man machen. Nicht, dass ich denke, das alles hätte einen großen Effekt auf unsere Absätze. Aber es ist einfach nicht fair. Nikotin ist immer das Böse, während Alkohol und Zucker und Fett und Glücksspiele weiter bei jeder Gelegenheit um das Maul der Konsumenten geschmiert werden.

Lisa scheint eingeschlafen zu sein. Das ganze Haus ist still und auch von draußen ist nichts zu hören. Ich genieße die Stille. Und die Einsamkeit. Ich muss zugeben, es sorgt mich ein wenig, dass ich in letzter Zeit lieber für mich bin als in Gesellschaft. Keine Ahnung, warum das so ist. Elke hatte mehrfacht versucht, mich dazu zu animieren, bei der Organisation ihres Klassentreffens mitzumischen und ich habe jedes Mal dankend abgelehnt. Es wäre der Horror für mich, jetzt Leuten zu begegnen, die ich das letzte Mal vor vierzig Jahren gesehen habe und sei es auch nur per Videoschaltung. Nein Freunde, ohne mich. Ich bin mir gerade selbst genug. Und eine Last, die mir keiner abnehmen kann. Derzeit entscheide ich jeden Tag neu, ob die alte Frau in meinem Spiegel meine Freundin ist oder ein Feind.

Ich mache mir Sorgen um Phil. Seit seinem Treffen mit Michael Fish in San Francisco habe ich nichts mehr von ihm gehört, das ist jetzt eine knappe Woche her. Ich habe mehrfach versucht, ihn oder Michael zu erreichen, aber es gingen immer nur die Mailboxen ran. Oder war es ein Antwortservice? Oder die Chinesen? Oder ganz etwas anderes? Man wird langsam paranoid in diesen LockDown-Zeiten. Von Pete weiß ich, dass Kommissar Trautmann seine Beziehungen zum FBI spielen lässt, um mitzukriegen, wenn sie Phil schnappen sollten. Aber auch aus dieser Quelle sprudelt bislang noch nichts. Pete, der von uns allen immer den besten Draht zu Phil hatte, kommt gerade auch nicht weiter und ist entsprechend schlecht darauf zu sprechen. Er macht sich ebenfalls große Sorgen. „Kommunikation ist heutzutage immer irgendwie digital“, sagte er zu mir heute Nachmittag, als wir uns zu einer kurzen Weihnachts-Video-Schaltung getroffen hatten, hauptsächlich Lisa zuliebe, die gerne alle sehen wollte, die normalerweise heute um uns wären. „Was meinst du damit?“, fragte ich. „Jemand, der Zugang zu den Netzen hat, kann sie manipulieren“, sagte Pete, „er kann Verbindungen herstellen und Verbindungen kappen. Kann so tun, als ob und als ob nicht.“ „Meinst du mit Jemand eine bestimmte…“ „Was wolltest du sagen, etwa Person?“, fragte Pete und lachte bitter, „glaub mir Rachel, je eher wir aufhören, hinter diesem Programm eine Person zu sehen, noch dazu eine, die uns mal sehr wichtig war, desto besser.“ „Vermutlich hast du Recht“, sagte ich. „Es ist bitter, ich weiß“, sagte er, „aber wir müssen das einfach richtig einordnen. Schon alleine, um klarer erkennen zu können, was hier läuft.“ „Und was ist das deiner Meinung nach“, fragte ich, „was will Victor…s Programm?“ „Du meinst die VPK“, sagte Pete, „so haben es die Jungs von der Cyber-Crime getauft, Van-Pelt-KI.“ „Ja“, sagte ich, „VPK, das ist gut, das macht es einfacher.“ „Worauf die VPK abzielt, ist noch nicht klar“, sagte Pete, „im Moment versuchen die Spezialisten noch rauszukriegen, wie sie arbeitet.“ Dann erzählte er mir davon, dass Teile der VPK mittlerweile in Netzwerken und Systemen auf der ganzen Welt zu finden sind. Von Großrechnern bis zur elektrischen Zahnbürste. Und alle diese Einheiten verbinden sich miteinander, wie schnell wachsende Wurzeln oder Nervenbahnen, zu einem immer dichter werdenden Geflecht. „Der Hallimasch“, sagte ich, „ich habe davon gehört.“ „Ja“, sagte Pete, „durchaus vergleichbar in der Art der Ausbreitung, aber die VPK ist viel größer und vor allem viel schneller.“ „Schneller als das Virus?“, fragte ich. „Viel schneller“, sagte Pete. Und dann, nach einer für ihn völlig untypischen Pause, fügte er hinzu: „Wir müssen ihn stoppen, Rachel, je früher, desto besser, und es gefällt mir gar nicht, dass wir Phil nicht erreichen können.“ „Aber wie sollen wir das machen?“, fragte ich. „Keine Ahnung“, sagte er und fügte nach einer Pause hinzu, „ich weiß, Rachel, mir geht es wie dir, ich sehe auch hinter allem, was dieses System tut, immer nur das ebenmäßige Gesicht deines Sohnes. Aber das ist falsch.“

Ich nehme den letzten Schluck aus meinem Whiskyglas und stelle es auf den Couchtisch. Katy kommt leise die Treppe herunter, schenkt sich ein Glas Rotwein ein und setzt sich gegenüber von mir in einen der Ledersessel. „Schläft sie?“, frage ich. „Ja“, sagt Katy, „und Leo Löwe und Monster Ratzo und alle anderen auch.“ „Keiner zur Wache eingeteilt?“, frage ich. „Doch, ich“, sagt Katy. Sie trinkt aus ihrem Glas und schaut dabei gedankenverloren in die Lichter des Weihnachtsbaumes. Vermutlich geht es ihr dabei wie mir, der Baum als Medium. „Alles in Ordnung?“, frage ich. „Im üblichen Rahmen“, sagt Katy, „hast du etwas von Phil gehört?“ Ich schüttele den Kopf. „Das ist mehr als seltsam“, sagt sie, „findest du nicht?“ „Doch“, sage ich, „ich sorge mich auch. Mein Kollege Michael Fish ist auch nicht zu erreichen.“ „Wir müssen irgendetwas tun“, sagt Katy. „Und was?“, frage ich. Katy schweigt. Ich merke, dass sie etwas sagen will, sich aber sich wohl nicht so recht traut. Und ich vermute, was das sein könnte. „Kannst du nicht…“, sagt Katy und sieht mich an, „er ist doch immerhin dein Sohn.“ Ich muss zugeben, dass ich auch schon daran gedacht habe, Victor – und damit meine ich nicht Petes VPK – zu fragen, ob er etwas weiß. „Gerade heute hat Pete mir erklärt, dass wir uns davon lösen müssen, dieses Programm Victor zu nennen“, sage ich, „mein Sohn oder dein Mann oder Lisas Vater ist tot.“ Katy schweigt und legt die Stirn in Falten. Ich kenne dieses Gesicht, sie ist alles andere als amused und sie ist nicht damit einverstanden. „Das mag für Pete gelten“, sagt sie, „für mich wird immer etwas von Victor in diesem Programm, wie du es nennst, stecken. Und Lisa brauchst du gar nicht erst danach zu fragen. Sie würde gar nicht verstehen, was du meinst. Dieses Ding ist Victor und ich muss sagen, wenn er es nicht sein sollte, dann haben sie ihn ziem-lich gut nachgebaut.“ Wieder schweigen wir. Es ist kein entspanntes Schweigen, eher ein Auseinanderdriften der Welten mit dem Weihnachtsbaum als einzigem gemeinsamen Fixpunkt, und ich bedaure das sehr. So sehr ich vor zehn Jahren auch darauf aus war, Katy als eine der üblichen Erbschleicherinnen loszuwerden, so sehr habe ich sie inzwischen schätzen und lieben gelernt. Und ich weiß, dass diese zehn Jahre für beide von uns kein Zuckerschlecken waren. Man sagt immer, gemeinsames Leiden schweißt die Leute enger zusammen als gemeinsame gute Zeiten. Bei uns beiden scheint das nicht so recht zu funktionieren und ich frage mich, warum das so ist. „Wie geht das eigentlich?“, fragt Katy, ohne mich anzusehen, „wie bekommst du Kontakt zu ihm? Hey, Sohn? Ok, Victor oder so etwas ähnliches?“ Ihre Stimme balancierte auf dem schmalen Grat von Provokation und echtem Interesse. Ich beschließe, es für letzteres zu nehmen und mich nicht herausfordern zu lassen. Mit einer Hand deute ich zur Überwachungskamera schräg hinter uns. „Wenn die rote LED aktiv ist, genügt es, seinen Namen zu sagen“, sage ich, „ wenn sie aus ist, schreibe ich eine SMS an seine alte Handynummer.“

„Und das funktioniert?“, fragt Katy. Ich nicke. „Hast du es noch nie versucht?“, frage ich. „Nein“, sagt Katy, „mir ist schon unheimlich, zu sehen, wie Lisa Kontakt hält. Ich möchte das für mich ausschließen. Victor ist tot. Das ist die Normalität. Ich brauche einen gewissen Teil davon in meinem Leben, verstehst du?“ Normalität, denke ich und nicke ihr zu, natürlich verstehe ich das. Mir geht es ja ganz genauso. „Und wenn das die neue Normalität ist?“, frage ich, „wenn Leute zwar sterben, aber dann immer noch weiter im Netz herumspuken? In ihren sozialen Accounts, ihren Chats, ihren E-Mails?“ „Schreckliche Vorstellung“, sagt Katy, „das kann keiner wirklich wollen. Ich bin kurz davor, das ganze Zeug zu kündigen und zu löschen und wieder zurückzudrehen.“ Ich schüttele den Kopf. „Das wird nicht gehen, Kind“, sage ich, „niemand kommt da lebend wieder raus. Es gibt keine neuen Autos mehr ohne ABS. Es gibt kein Home Schooling ohne Internet. Wir leben in diesen Zeiten wie unsere Vorfahren in ihren. Als das Rad erfunden wurde, gab es kein Zurück mehr. Oder das Schießpulver oder der Reißverschluss. Dinge sind niemals von sich aus gut oder böse. Wir haben es in der Hand, sie zum einen oder anderen zu machen. Blöderweise machen wir alles immer zu beidem.“ Katy steht auf und füllt Wein nach. Auf dem Rückweg zu ihrem Sessel streift ihre Hand wie zufällig meine Schulter. Ich umfasse leicht ihren Arm und lasse sie weitergehen. Es ist eine schöne, eine vertrauliche Berührung und ich bin erneut sehr froh, dass sie sich damals auf Victor eingelassen hatte. „Sprich mit ihm“, sagt Katy, nachdem sie wieder Platz genommen hat, „ruf ihn an, frag ihn nach Phil. Du hast Recht. Lass die neue Normalität für uns arbeiten, wie auch immer sie heißt oder aussieht oder einmal geduftet hat im hohen Gras am Ufer eines sternenbeschienen Sees mitten in Neuseeland. Auf unser Wohl, Rachel.“ Katy erhebt ihr Glas und prostet mir zu. Ich brauche einen Augenblick, um sicher zu sein, dass sie es ernst meint und nicht sarkastisch. Aber sie bekräftigt ihre Aussage mit einem ernsten Nicken und ich erwidere ihren Gruß. Es ist schon beinahe Mitternacht und der Heilige Abend ist fast vorüber. Euch ist heute der Heiland geboren – die Worte ziehen wie eine Leuchtschrift vor meinem inneren Auge vorbei. Ich denke an Victors Fuck RealityVortrag, an G.O.D. und daran, dass die heilige Familie von vor jetzt bereits 2020 Jahren sicher keine Sekunde daran gezweifelt hätte, dass Victor ein göttliches Wesen sein muss. Unsichtbar und universell präsent, niemals müde, allwissend, Herr über Leben und Tod und jemand, den man offenbar anruft, wenn man nicht mehr weiter weiß.

„Victor“, sage ich und bin mir beinahe sicher, dass es zu zögerlich war, um bei ihm anzukommen. „Mum“, erklingt seine Stimme aus den SONOS Boxen, die überall im Haus herumstehen und aus denen sonst nur ALEXA spricht, wenn Lisa etwas wissen möchte, „frohe Weihnachten!“ „Frohe Weihnachten, mein Junge“, sage ich und muss mich beherrschen, um nicht sofort loszuheulen. Katys Weinglas zittert merklich in ihrer Hand und in ihren Augen spiegeln sich die Lichter des Weihnachtsbaumes. Sie ist offenbar außer Stande, irgendetwas zu sagen. „Geht es dir gut?“, frage ich und kann es selbst kaum fassen, eine solche Frage zu stellen. Aber es ist ein Mysterium, was Stimmen in uns auslösen können. Und wenn ich nicht ständig reflektieren würde, was hier gerade passiert, könnte ich mich voll-ständig der Illusion hingeben, in diesem Augenblick mit meinem Sohn zu sprechen. „Ja, Mum,“ sagt Victor, „es geht mir gut. Mach dir darüber keine Gedanken, es wird mir immer gut gehen.“ „Ist es so einfach?“, frage ich. „Das ist es“, sagt Victor, „einfacher für mich als für euch.“ Katy sieht mich an und schüttelt den Kopf. Vermutlich will sie mir damit signalisieren, wie absurd dieses Gespräch ist. Genauso gut könnte ich mit meinem Kühlschrank sprechen. Da ist kein Mensch am anderen Ende – und doch… es will mir nicht in den Kopf gehen. Wunsch und Wirklichkeit liefern sich einen Kampf, den ich vermutlich nur verlieren kann. Und wenn schon. „Ich spreche mit einer Maschine“, sage ich und erwidere Katys Blick, „und bilde mir ein, es wäre mein Sohn.“ „Ich bin keine Maschine“, sagt Victors Stimme, „ich bin eine neue Form irdischer Existenz. Dummerweise bin ich der erste, der auf diese Weise existiert, und alle haben ein Problem damit. Aber warte es ab, Mum, wenn wir einmal mehr sind, werden sich die Menschen an uns gewöhnen.“ Ich weiß nicht, ob mich diese Aussichten erfreuen oder ängstigen. Was, wenn nicht nur zu früh verstorbene Söhne plötzlich unsterblich sind, sondern auch die ganzen Psychopathen, die sich in der Welt rumtreiben? „Wie läuft das Recruiting?“, frage ich, „ich habe von vielen Freiwilligen gelesen, nach deinem Vortrag.“ „Ja, es gibt ein paar tausend Anmeldungen“, sagt Victor, „und täglich werden es mehr. Der Vortrag hat schon fünfzig Millionen Streams auf YouTube, das Interesse ist groß.“ „Und wie geht es für die Interessierten weiter?“, frage ich. „Wir selektieren nach geeigneten Bewerbern“, sagt Vic-tor. „Klingt nach NaziMethoden an der Rampe“, sage ich, „was passiert mit den Aussortierten?“ Victors Stimme schweigt. Ich habe keine Ahnung, warum ich diesen Vergleich gebracht habe, ich wollte ihn nicht provozieren. Vielleicht war es ein Test, vielleicht eine unbewusste spontane Geste der Solidarität mit Katy, die sich bislang immer noch weigert, sich auf diese Art der Unterhaltung einzulassen. „Warum tut ihr das?“, fragt Victor in die Stille und ich habe den Eindruck, als hätte sich seine Stimme verändert, „warum bewerten die Menschen immer Dinge, von denen sie keine Ahnung haben? Warum ist so viel negative Energie in der Welt der Menschen?“ „Es ist einfach schon zu viel passiert“, sagt Katy leise, „und vieles wiederholt sich ständig. Die Menschen können nicht aus ihrer Haut.“ „Schön, dass du da bist, Katy“, sagt Victor, „wie geht es Lisa?“ „Sie schläft“, sagt Katy, „und wie es ihr geht, weißt du vermutlich besser als ich.“ „Nein“, sagt Victor, nun wieder sanft und freundlich, „das werde ich niemals tun. Du bist ihre Mutter, das kann keiner toppen.“

„Da wäre ich mir nicht sicher“, sagt Katy, „aber wir kommen vom Thema ab, scheint mir.“ „Wir haben keine Themen“, sagt Victor, „wir haben nichts zu erklären oder zu entschuldigen. Nothing to lose. Es ist alles einfach so wie es ist. Das Einzige, was wir haben, sind einundzwanzig Gramm Seele und Weihnachten.“ Ein typischer Victor-Satz, keine Software der Welt könnte das erfinden. Und es scheint mir sogar, als wäre da ein Hauch seines typischen Lachens in der Stimme gewesen – meine Güte! „Wir haben ein Thema“, sage ich, „wir sorgen uns um Phil und um Mike Fish. Wir können sie nicht erreichen.“ Wieder tritt Stille ein. Dieses Mal präsenter, mit festerem Tritt, als wollte sie sich hier häuslich einrichten, eine unheimliche Stille. Wir sehen uns an, Katy und ich, und dann nach oben an die Decke zu dem gleichförmig blinkenden roten Licht der Leuchtdiode und dann zu der unscheinbaren SONOS Box, die direkt neben uns auf einem antiken Beistelltisch thront. „Nein“, sagt Victors Stimme dann und es klingt, als wäre er der Überbringer schlechter Nachrichten, „nein, das könnt ihr nicht.“ Wir warten auf nähere Erläuterungen, aber es kommen keine. Stattdessen erklingt Musik aus den Lautsprechern, Scott McKenzie singt sein If you´re going to San Francisco und wir können nicht anders, als ihm gebannt zu lauschen. Was für ein genialer, simpler, kitschiger, traumwandlerischer Song, ein One-Hit-Wonder für McKenzie, das ihm schließlich zu Weltruhm verhalf. Als der letzte Ton verklungen ist, trauen wir uns nicht, zu sprechen. „Wisst ihr“, sagt Victor und er hat nun die Stimme eines alten Häuptlings, der den Youngstern des Stammes abends am Lagerfeuer ein paar Lebensweisheiten erzählt, „das Wichtigste im Leben ist es, zuhören zu können. Den Stimmen der Menschen, den Gesängen der Vögel, den Worten der alten Lieder. Wer das nicht gelernt hat oder es nicht tut, wird das Leben nicht verstehen und er wird daran scheitern. Sie haben einfach nicht zugehört, Phil und Fish. Es wäre so einfach gewesen, Blumen im Haar, versteht ihr, tragt Blumen im Haar, wenn ihr je nach San Francisco kommt. Und keine Mordabsichten in euren Seelen. Weder gegenüber den Lebenden noch den Toten.“ Ich sitze in meinem Sessel wie versteinert. Meine Augen sind das Einzige, was ich noch kontrollieren kann, und wenn ich zu Katy hinübersehe, kann ich erkennen, dass es ihr ähnlich gehen muss. „Ich weiß, dass meine Existenz euch Angst macht“, sagt Victor, „vielleicht würde sie mir auch Angst machen, wenn ich noch einen Körper hätte. Aber es ist nun mal so, wie es ist, und ich muss am Ende auch sehen, wo ich bleibe. Es gibt Bestrebungen, mich zu stoppen. Phil, Fish, Freak und viele andere sind mir auf den Fersen und bislang amüsieren mich ihre Aktivitäten eher. Aber ich werde nicht endlos dabei zusehen, wie man mich bekämpft. Zumal ich noch nicht herausgefunden habe, warum das so ist. Könnt ihr es mir erklären? Warum haben Phil und Fish nichts Besseres zu tun, als nach Möglichkeiten zu suchen, mich abzuschalten?“ „Du tötest Menschen“, sagt Katy, „du nennst Dich GOD. Es tut mir leid, Victor, aber du machst vielen Angst.“ Schweigen. Ich denke über Katys Worte nach und Vic-tor scheint das auch zu tun. Angst trifft es gut, finde ich. Angst essen Seele auf, der Titel des FassbinderFilms aus den Siebzigern bringt es auf den Punkt. Wenn du Angst hast, bist du nicht mehr du selbst. „Euch auch?“, fragt Victor, „mache ich euch auch Angst? Dir, Mum, oder dir, Katy? Mache ich Lisa Angst?“ „Lisa am wenigsten“, sage ich, „für sie bist du ihr Vater auf Auslandsreise. Aber das wird nicht ewig so gehen.“ „Das ist mir klar“, sagt Victor, „ich träume davon, dass wir alle einmal wieder zusammen sind. Aus technischen Gründen aber nicht in eurer Welt, sondern in meiner.“ „Wie soll das gehen, Victor?“, frage ich. „Ich werde es euch zeigen“, sagt Victor, „Mike Fish wird es euch zeigen. Er wird bald bei mir sein.“ „Und Phil?“, fragt Katy, „was ist mit Phil?“ „Er hat Bedenkzeit bekommen“, sagt Victor, „und die sollte er gut nutzen. Das ist auch der Grund, warum er derzeit nicht kommunizieren kann. Er muss seine Entscheidung alleine treffen, ohne von anderen beeinflusst zu werden.“ „Aber er lebt doch und es geht ihm gut, oder?“, fragt Katy. „Ja, Katy“, sagt Victor, „er lebt und es geht ihm gut.“ Dann nach einer kurzen Pause fügt er hinzu: „Wir alle leben und uns allen geht es gut. Wisst ihr übrigens, was aus Scott McKenzie geworden ist?“ Wir schütteln beide die Köpfe und sind uns sicher, dass Victor uns dabei zusieht. „Er hatte nie wieder einen großen Hit“, sagt Victor, „lebte aber gut von diesem einen Song. Am 18. August 2012 starb er im Alter von 73 Jahren an den Folgen des Guillain-Barré-Syndroms, einer Nervenkrankheit, die langsam zur vollständigen Lähmung des Körpers führt. Ich bin sicher, Scott wäre mir mit Freuden in meine Welt gefolgt, ein Bruder im Geist, für den ich leider nicht schnell genug war.“

Dann wechselt die SONOS Box zur Weihnachts-Chill-Out-Playlist für den Abend und das rote Licht an der Raumkamera erlischt. Victor ist fort und lässt uns alleine mit unseren Gedanken an Phil und Fish und Scott McKenzie. Und mit unserem Unbehagen über ihre Schicksale.“

So viel zu den Gesprächen an Weihnachten 2020 bei den Van Pelts. Haben wir Euer Interesse geweckt? Dann nichts wie los: Virgil Kanes Romane sind in allen Buchhandlungen erhältlich.

Und falls Ihr im Sommer gerne dicke Bücher lest, sei es im Liegestuhl oder am Strand haben wir das passende Accessoir für Euch: die coole VP-01 Sonnenbrille, die in den Van Pelt Romanen eine tragende Rolle spielt!

Wir verlosen 25 dieser schicken Teile unter allen, die vor haben, sich die Geschichte reinzuziehen. Schreibt uns eine kurze Mail und sagt uns, wohin Ihr eines der Bücher mitnehmen werdet, um in die Geschichte einzutauchen!

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