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Hausarzt Edy Riesen

Alles Liebe

Geben Sie Gas: Unser Hausarzt münzt ein tibetanisches Sprichwort auf das Altern um.

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EDY RIESEN (70) war als Hausarzt in Ziefen (BL) tätig. Er führte bis vor Kurzem eine Praxis mit seinem Schwiegersohn und ist mehrfacher Grossvater.

or einem Jahr haben wir von Freunden eine Karte als V Antwort auf unseren Neujahrsbrief erhalten. Darauf war ein tibetanischer Spruch zu lesen, der sinngemäss lautet:

«Iss die Hälfte – lauf das Doppelte – lach das Dreifache – liebe ohne Mass».

Ein gutes Motto, zweifellos. Und es gibt medizinische Evidenz dafür. Also, liebe Leserinnen und Leser, geben Sie Gas, endlich dürfen wir geplagten Wohlstandsmenschen übertreiben, denn im Grunde genommen geht auch die Anweisung zum weniger Essen in diese Richtung. So sieht das Motto für ein couragiertes Altern aus: Iss die Hälfte: Viele werde ich jetzt enttäuschen. Es spielt für Ihre weitere Lebensspanne von sagen wir 15 bis 20 Jahren kaum mehr eine Rolle, was Sie essen. Natürlich sind Diabetiker, Nieren- und Herzkranke davon ausgenommen. Aber als dem Alter entsprechend gesunde Person können Sie Ihr Restleben auch Pizzas, Hamburger und Döner futtern, voraussichtlich – und das ist der springende Punkt – Sie essen immer, wirklich immer, nur die Hälfte. Wenn ich etwa von 90-jährigen Ehepaaren höre, die unglaublich gesund essen, ist das sympathisch und qualitativ und oft auch ökologisch sinnvoll, aber auf die Verlängerung des Lebens hat es fast keinen Einfluss. Lauf das Doppelte: Da ist etwas dran. Ob Haushalt, Gartenarbeit, Wandern, Velofahren, Treppensteigen, Schwimmen, Tanzen, Tennis oder Fitnessclub, alles, was mit Bewegung zu tun hat, ist okay. Macht nicht nur fit, sondern ölt auch die Gelenke, muntert die matte Seele auf, lässt besser schlafen, verbraucht Kalorien und so weiter. Der Halbmarathon ist nicht nötig und bringt auch nicht mehr als das zügige Gehen. Lach das Dreifache: Ich kann mir denken, dass einige sich beim Lesen jetzt sagen, der Schreibende hat gut lachen. Mir geht es nicht so gut und das Lachen fällt mir schwer. Dafür habe ich Verständnis, denn auch ich bringe es nicht jeden Tag fertig. Vielleicht reicht ein feines Lächeln, vielleicht reicht sogar das Lächeln eines andern Menschen. Angeblich soll schon das bewusste Verziehen der Gesichtsmuskeln zu einem Lächeln Wohlbefinden auslösen. Einfach probieren. Sicher aber jede Möglichkeit nutzen, mit andern zu lachen. Auch das Lustspiel im Theater oder Film, das Kabarett oder die Grosskinder können Lachgeneratoren sein. Liebe ohne Mass: Jetzt wird es etwas diffizil, zum einen wegen der immer noch alltagsbeherrschenden Pandemie und zum andern, weil ja nicht jede/r einfach Menschen hat, die er lieben kann. Wenn da Menschen sind, Grosskinder, Familie, Freunde, die Lebenspartnerin, der Lebenspartner, ist das natürlich besonders schön. Aber es gilt, den Begriff auszuweiten. Es geht ja nicht nur um die romantische Liebe. Es geht um die Beziehungen, den Austausch, die Zugehörigkeit. Die Zuneigung zur Hauskatze, die Freude an der Natur, die Leidenschaft für Musik, das Theater, die Bücher, das Wandern, Singen und das Zusammensitzen in der Gruppe. Wenn man den Begriff Liebe weit fasst, wird es für jeden und jede realistisch, zu lieben, dann vermag man es selbst in der Einsamkeit. Haben wir Menschen in Zentraleuropa nicht manchmal zu viel Angst vor Gefühlen und beneiden Menschen in andern Ländern? Lieben kann ein Risiko sein. Aber es lohnt sich, darauf einzugehen ... •

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