Chloé Sautter-Léger Fragment of the East Side Gallery, Berlin
organisierten Persönlichkeit passt. Gilgis geordnete und kontrolliert soziale und intellektuelle Umwelt bleibt aber nicht lang so. Es gibt zwei große Umwälzungen in Gilgis Leben: die Suche nach ihrer biologischen Mutter und ihre romantische Beziehung mit Martin.8 Gilgis Leben beginnt zu wackeln, weil sie eine Identitätskrise erlebt, als sie herausfindet, dass sie adoptiert wurde. Wir erkennen an ihrer Sprache, dass sie nicht so selbstbewusst ist wie früher, als sie versucht, ihre Besorgnisse mit ihrem Freund Pit zu teilen: „[H] at gar keinen Zweck, hilf dir selbst Gilgi! – sie wird Pit ihre Geschichte nicht erzählen. Seit wann ist sie überhaupt so mitteilsamsbedürftig [sic]? Ein schlimmes Zeichen!“9 Nach Horsley zeigt dieses Beispiel, dass Dialog nicht mehr reicht, um ihre Probleme zu lösen.10 Außerdem fühlt sie sich verwundbar, denn anders als früher verspürt sie das Bedürfnis, ihre Gefühle zu kommunizieren. Gilgis dringendstes Problem ist jedoch ihre Beziehung mit Martin, weil sie ihre Selbständigkeit bedroht. Gilgi verliert sich in diesem leidenschaftlichen Verhältnis, weil sie, um Martin zu gefallen, ihre Identität (zum Beispiel als Stenotypistin) aufgibt. Das erste Zeichen dieser Änderung ihrer Persönlichkeit ist, dass Gilgi in Schlagern denkt, obwohl diese Musik ihr nicht gefällt. Das Tempo der kommerziellen Musik ersetzt das Tippen der Schreibmaschine: „Da ist was los mit mir – los mit mir - los mit mir. Man
denkt in Schlagern, fühlt im Schlager-Rhythmus, taucht darin unter – tam-tam-tam-ta“.11 Laut Geneviève Dubé wird Gilgi weniger vernünftig und eher expressionistisch: „In dieser Hinsicht schildert Gilgis Leben die geschichtliche Dualität zwischen dem Expressionismus und der Neuen Sachlichkeit.“12 Das heißt, dass Gilgi empfindlicher und weniger selbstbewusst wird, denn sie lässt sich mehr von Leidenschaft und ihren Gefühlen leiten. Sie spricht oft in verworrenen und längeren parataktischen Sätzen, die am Ende keinen Sinn ergeben, wie zum Beispiel: „Ich will ja lachen, Martin, ich lache ja – ich bin sehr glücklich – sehr, sehr glücklich, du wirst bei mir bleiben – ich werde - …“13 Diese Unfähigkeit, sich klar auszudrücken hindert Gilgi daran, ihre Ideen zu übermitteln, die Probleme ihrer Beziehung zu lösen und bringt sie nur mehr durcheinander. Diese Verwirrung und Unsicherheit wird in zwei Gesprächen zwischen Gilgi und Olga deutlich. Früher (Zitat von Seite 70) war sie sehr entschlossen und wusste, was sie wollte. Jetzt fühlt sie sich hilflos und weiß nicht mehr, was sie will: „ Alles durcheinander in mir – weiß nicht mehr, was ich will – was soll ich denn tun?“14 Es ist nicht nur Gilgi, die zugibt, dass sie verloren ist. Der Leser versteht es durch die Struktur ihrer Sprache, in der es viele Unterbrechungen und Wiederholungen gibt. Sie hat Schwierigkeiten, nicht nur ihre Ideen auszusprechen, sondern auch ihre Gefühle zu verstehen: „[M]eine Gedanken gehen
33