Buch Schweiz 2291

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KEIN SCHERZ: EIN FRIEDLICH‘ MUTTERLAND AUCH IM 2291 Wenn man diesen Namen trägt, kommt bisweilen der Verdacht auf, er sei Programm. Aber für einmal ist es kein Scherz, den ich hier in Worte zu fassen versuche. Vielmehr werde ich geradezu ernst, wenn ich in die Zukunft dieses Landes blicke, das mir so am Herzen liegt. Und an das ich fest glaube, auch künftig. Zuerst dachte ich: Es muss sich um einen Scherz handeln. Da fragt man mich, ausgerechnet mich, wie unsere Schweiz im 2291 wohl aussehen könnte. Und weil ich Scherze mag, habe ich zugesagt. Ernsthaft – zumindest weitestgehend – will ich mich also auf den folgenden Zeilen mit der Frage auseinandersetzen, wie es denn kommen wird, mit unserer Schweiz – unserem Vater- und Mutterland, um politisch korrekt zu bleiben.

> Andrea Scherz Hotelier

Natürliche Schönheit Eines vorweg: Ich bin überzeugt, dass unser Land auch in zwei-, dreihundert Jahren noch intakt sein wird. Die Natur pur, die Luft rein, das Wasser sauber – so stelle ich mir das vor, und so wünsche ich mir dies für uns alle. Der Charme dieser heilen Welt wird sogar noch grösser sein. Noch geruhsamer, noch friedlicher, noch stiller geht es bei uns dereinst zu und her. Denn bis dann werden alle Güter und Lastwagen von den Strassen und Bahntrassen verschwunden sein. Sie rauschen stattdessen auf der SwissMetro durch den Untergrund unseres durchlöcherten Landes – von Genf nach Basel, von Basel nach Chiasso – in einem Viertelstündchen. Ein neuer Taktfahrplan wird Einzug gehalten haben. Viel Grips Die vielen smarten Köpfe, die in unserem Land leben und forschen, machen‘s möglich. Am laufenden Band erfinden sie Dinge, um die uns die restliche Welt beneidet und die wir hoch und teuer verkaufen können. Unser Wissen und Können sind unsere grössten Ressourcen, zu denen wir Sorge tragen müssen. Innovationskraft bedarf hartnäckiger Dickköpfe. Diese stur-flexiblen «Gringe» sind es, die uns weiterbringen. Vorausgesetzt, man lässt sie und erstickt nicht alle Ideen schon im Keim durch einen Urwald von Gesetzesvorlagen. Fortschritt ist wieder unser Motto. Eine Sparte, in der die Schweiz in Zukunft für Furore sorgen wird, sind die Neurowissenschaften: Heute schon sind wir führend in der Hirnfor221

Besitzer und General Manager Gstaad Palace Gstaad (BE)


schung. Dannzumal wird es möglich sein, sich dank smarter Roboter und

of Less» ist kein Wunschtraum, sondern längst gelebte Realität. – Und

intensiver Interaktion von Mensch und Maschine noch länger fit und mun-

Bescheidenheit auch künftig eine Tugend.

ter zu halten. Telepathie 4.0 und Telemedizin werden dafür sorgen, dass wir Schweizer – eh schon Fast-Weltmeister in dieser Disziplin – hundert

Total autark

Jahre und mehr alt werden. Dass wir bis dann auch die Kosten unseres

Weil wir Schweizer, trotz Klimawandel und bald verschwundener Glet-

Gesundheitssystems im Griff haben werden, wage ich hingegen zu be-

scher, hoffentlich immer noch über genügend Wasser, Wind und Sonne

zweifeln. Denn die Mühlen der Verwaltung, die mahlen bekanntlich lang-

verfügen werden, bleibt unser Land punkto Energiebeschaffung unab-

sam ... Und der Souverän, der ist so souverän auch wieder nicht, wenn

hängig. Wir funktionieren weitestgehend autark. Ob es dann noch Lan-

es um die eigene Haut und das Portemonnaie geht.

desgrenzen und die Polizei geben wird, vermag ich nicht zu beurteilen. Sicher ist: Die Schweiz wird weiterhin über klare Spielregeln verfügen,

Gesund auch für den Tourismus

wer hier leben darf und wer nicht. Wir sind ein gesuchter Hort der Frei-

Sind das nun heitere Aussichten für uns? Vorausgesetzt, die Welt bleibt

heit. Das Recht, seine Individualität auszuleben, der Respekt vor Eigen-

ruhig und vor Unruhen verschont – dann ja. Auch für uns Hoteliers und

tum und Privatsphäre sind garantiert. Vereinfacht gesagt, wird die gan-

Gastgeber, die wir es ja gewohnt sind, trotz globaler Unwägbarkeiten

ze Schweiz die über hundertjährige Philosophie des Gstaad Palace ver-

unser Geld zu verdienen. Der Gesundheitstourismus – ja die Hospita-

innerlicht haben: «Leben und leben lassen.» Das gilt nunmehr überall.

AUS ECHTEM STEIN, AUS HIESIGEM HOLZ, MIT EINHEI­MISCHEM LEDER UND WOLLSTOFFEN – NO PLASTIC, PLEASE.

litybranche überhaupt – wird enorm an Bedeutung gewinnen.

Apropos: Das Palace selbst wird weiterhin dort thronen, wo

Wir Touristiker sind es, die den Nährboden für das Gedeihen

es heute ist, am Oberbort in Gstaad. Aus echtem Stein, aus

unserer Wirtschaft bereiten. Und weil unsere liebe Schweiz

hiesigem Holz, mit einheimischem Leder und Wollstoffen – no

wohl einer der letzten Flecken intakter Natur und Kulturen sein

plastic, please. Die Gäste wohnen und arbeiten bei uns, wie

wird, werden wir bis 2291 eine Kontingentierung für Gäste ein-

es ihnen beliebt. Sie bestimmen, wie ihr temporäres Wohn-

geführt haben. Das Reisen in die Schweiz wird ein absoluter

und Arbeitszimmer aussehen soll. Intelligente Materialien wer-

Luxus sein. Wer in diesem einzigartig-nachhaltigen «Reservat»,

den auf Stimmungslagen reagieren: grüne Tapeten gegen rote

wo Milch und Honig fliessen, Ferien machen will, der wird ei-

Köpfe, himmelblaue und rosa Sessel für Honeymooner ... Je-

WIR BESITZEN DIE WÄHRUNG DER ZUKUNFT: DIE LEBENSFREUDE. WIR LEBEN SIE IM KLEINEN AUS UND IM GROSSEN VOR.

nen hohen Preis zahlen. Noch so gerne sogar. Denn «Overtourism» ist

der Gast wird seinen Personal Coach dabei haben – neben der Nanny

hierzulande ein Fremdwort. Die Sonnenanbeter liegen schichtenweise

und der restlichen Entourage. Der Flughafen Saanen wird hinfällig ge-

in Mallorca oder Phuket, – in Venedig, Paris und London stehen sich

worden sein. Stattdessen landen unsere Gäste mit privaten Drohnen

die Citybreakers auf den Füssen herum. In unseren Alpen und Städten

auf dem Parkplatz. Die Koffer finden ihren Weg von selbst aufs Zimmer.

hingegen werden sich die wahren Kennerinnen und Kenner tummeln. Alles, was auf den Tisch kommt, ist bio – direkt vom Hof nebenan.

Fröhlichkeit, die ansteckt

Wir werden dann auch nicht mehr mit physischem Geld bezahlen, die

Und wir Gastgeber? Werden wir dann noch da sein? Ich persönlich

Banknoten aus Papier werden nur noch im Album kleben. Den Franken

werde das Jahr 2291 knapp nicht mehr erleben. Aber meine Nachfah-

jedoch, den wird’s noch geben – zumindest virtuell. Er ist hart, steinhart

ren schon. Sie werden sich auf das konzentrieren, was die Essenz der

sogar. Unseren Konsum werden wir über einen implantierten Chip be-

Schweiz ausmacht: Seit 1291 nämlich sind wir nicht nur ein Sonder-,

gleichen – «in and out» werden Sensoren laufend alles abbuchen, was

sondern vor allem auch ein Glücksfall. Wir besitzen die Währung der

man sich gönnt. Weil wir uns aber ohnehin auf’s Wesentliche konzent-

Zukunft: die Lebensfreude. Wir leben sie im Kleinen aus und im Grossen

rieren, steigen die Summen trotzdem nicht ins Unermessliche. Das «Age

vor. Fröhlichkeit, Unbeschwertheit, Humor – das ist das Geheimrezept

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KLUG BLEIBEN, ABER FLEXIBEL WERDEN der Schweiz im 2291. Scherzen ist nicht nur erlaubt, sondern erwünscht.

Meine wichtigste Erkenntnis: Im Jahre 2291 werden wir Menschen gleich

Wir alle sollten uns nicht allzu ernst nehmen. Das haben mir mal mein Va-

sein wie heute – mit den gleichen Sorgen und Freuden wie heute. Aber

ter und mein Grossvater – beide trugen sie übrigens den Namen Ernst –

eine Regierungsrätin im Jahre 2291 wird nicht blind in die Zukunft schau-

geraten. Ich rate es uns allen.

en müssen. Sie wird einfach ein Stichwort eingeben, zum Beispiel «Jahr 3291?». Ohne Tastatur, nur in ein Mikrofon einhauchend. Dieser Vorgang wird mithilfe einer gewaltigen Suchmaschine mit dem Namen «I-knowit-all» in Millisekunden einen Text zusammenstellen, der sämtliche Zahlen und Fakten der Vergangenheit sinnvoll extrapoliert und intelligente Schlüsse für das Jahr 3291 daraus zieht. Ob sich der Datenträger innerhalb oder ausserhalb ihres Körpers befindet, wage ich nicht vorauszusagen. Diesen Text aus dem Computer im Jahre 2291 würden wir heute nur mit Mühe lesen können. 2291 wird Deutsch nämlich nur noch mündlich gesprochen – die Weltsprache ist eine einfache, einheitliche Computersprache. Wir sprechen zwar immer noch Schweizerdeutsch im Alltag, verzichten aber auf unsere komplizierte Grammatik. Tröstlich ist aber meine zweitwichtigste Erkenntnis: Auch der Computer wird nicht wirklich wissen, was kommt. Ich unterstelle für meine analoge Zukunftsvision optimistisch, dass wir Schweizerinnen und Schweizer so bleiben, wie wir sind: keine Hitzköpfe, sondern ein vernünftiges, wenn auch ein bedächtiges Volk. Wir sind auch 2291 noch direktdemokratisch regiert und haben in den letzten 273 Jahren seit 2018 Vieles richtig gemacht: 2030: Eine Initiative verlangt, dass die Kinder in der Schule keine Handschrift mehr lernen. Sie wird mit 70 %-Nein-Anteil abgelehnt. 2040: Wir merken, dass wir nur 1 Promille der Menschheit ausmachen, und stellen uns auf die Klimaveränderung ein. CO2-neutrale Energien werden weiter gefördert – nicht um die Welt zu retten, – sondern um unsere Selbstversorgung sicherzustellen. 2050: Die letzten AKW in Europa werden vom Netz genommen. 2070: Man kann von März bis Oktober im Zürichsee baden. In der Zürich Enge wachsen Palmen und Zypressen. Supercomputer haben tausend Mal mehr Rechenleistung als 2018 und übernehmen die Steuerung von allen Geräten, inklusive Privatfahrzeugen und Sharingvehikeln. 2090: Man stellt fest, dass der Computer zwei Fragen niemals beantworten wird. Erstens: Woher kommen wir? Zweitens: Wohin gehen wir? 2100: Schon seit zwanzig Jahren ist das Erdöl knapp und extrem teuer. 225

> Carmen Walker Späh Regierungsrätin und Volkswirtschaftsdirektorin des Kantons Zürich, Zürich (ZH)


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