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Die Zeitung von gestern – Wie lange ist das Neue neu?

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Impressum Imprint

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text Stefan Kutzenberger

Who wants yesterday’s papers, fragen die Rolling Stones in einem Song aus dem Jahr 1967, in einem Jahr, in dem das Alte und das Neue aufeinanderstießen wie kaum je zuvor, in dem in Frankreich die Concorde präsentiert wurde, in den USA heftige Rassenkämpfe herrschten, in Vietnam ein fürchterlicher Krieg wütete und in San Francisco der Summer of Love ausgerufen wurde. Wenn so viele Gegensätze praktisch zeitgleich aufeinanderprallen, was können uns dann noch die Zeitungen von gestern interessieren? Gibt es etwas Älteres als die Neuigkeiten vom Vortag, scheinen uns die Stones zu fragen. Wie lange aber gilt das Neue als neu? Verliert die Tageszeitung um Mitternacht ihre Gültigkeit oder mit Erscheinen der nächsten Ausgabe? Die neue Ausgabe würde heutzutage nicht mehr 24 Stunden auf sich warten lassen, da Plattformen online ihre News alle paar Stunden aktualisieren, oft sogar noch öfter. Dieser Zyklus der Neuigkeiten ist bei den politischen Nachrichten am erbarmungslosesten, aber auch ein durchaus träges Medium wie der Roman hat immer schnellere Halbwertszeiten: Noch immer planen die Verlagshäuser in Halbjahresprogrammen, doch das heißt nicht, dass das neue Buch ein halbes Jahr lang Zeit hat, bis es zum alten Buch wird. Verkauft es sich in den ersten Wochen nach dem Erscheinen nur schlecht, wird es verramscht, so wie alter Tand.

Das englische Wort für Roman ist novel und kommt vom französischen nouvel für »neu«. Die schottische Schriftstellerin Ali Smith wagte vor ein paar Jahren das Experiment, diese Textsortenbezeichnung wörtlich zu nehmen: Sie kündigte an, einen vierteiligen Romanzyklus zu schreiben – Herbst, Winter, Frühling und Sommer – in dem sie praktisch in Echtzeit schildert, was in ihrem Umfeld passiert. Die Literaturkritik verfolgte dieses Unterfangen skeptisch, man fragte sich, ob Romane, die in so rasantem Tempo produziert würden, überhaupt gut sein konnten. Herbst, der erste Teil, erschien im Oktober 2016, nur vier Monate nach dem BrexitReferendum, und Ali Smith schaffte es, den ersten BrexitRoman vorzulegen, und noch dazu einen großartigen, der von der New York Times zu den zehn besten Büchern des Jahres gewählt wurde. Sommer, der letzte Teil dieser Serie, erschien im August 2020, und wieder gelang es der Autorin, trotz des trägen Mediums hochaktuell zu sein und einen Roman über die Lockdown-Zeit während des Corona-Frühlings vorzulegen. Wie lange diese Romane »neu« bleiben, hängt dann aber letztlich doch nicht von der Thematik ab, sondern von der Qualität des Kunstwerks. Der Jugendstil ist noch immer Kunst, wenn auch nicht mehr jugendlich, genauso wie seine französische Entsprechung art-nouveau nicht mehr neu ist. Das Neue ist aber das Wesentliche der modernen Kunst: Während sich die Kunstepochen früher in großen Bögen durch die Jahrhunderte zogen, Gotik, Renaissance, Barock und so fort, beginnt die Moderne aufs Gas zu steigen: Plötzlich ist nicht mehr das gut, was dem herrschenden Ideal am nächsten kommt, sondern das, was neu ist. Wenn es dann nicht mehr neu ist, muss es von etwas Neuerem abgelöst werden, und auf einmal dauerte eine Kunstepoche nicht mehr Jahrhunderte, sondern nur mehr Jahre, und ein Ismus löste den anderen in immer haarsträubenderer Geschwindigkeit ab: Impressionismus, Expressionismus, Symbolismus, Kubismus, Surrealismus und so weiter, bis keine Steigerung mehr möglich war. In diesem Moment besann man sich auf die Vergangenheit, plötzlich war es wieder erlaubt, zurückzublicken, alte Epochen zu zitieren und sich aus diesen Zitaten eine eigene, neue Welt zu erschaffen. Und damit hatte man doch wieder etwas Neues, eine neue Epoche, die Postmoderne nämlich, geschaffen. Unsere Postmoderne ist also nur eine Spielart der Moderne, weshalb wir uns nicht gemächlich ausrasten dürfen, denn noch immer herrscht das Gebot der Geschwindigkeit und des Neuen. Gut ist das, was neu ist (und nicht unbedingt das, was gut ist, möchte man boshaft ergänzen). Das erinnert an den Mann, der sich einen neuen Mantel kauft, und plötzlich gefällt ihm seine übrige Kleidung nicht mehr. Er kauft sich alles neu, so lange, bis der Mantel das Alte ist und ausgetauscht werden muss, womit der Zyklus wieder von vorne beginnt. Nach dieser Logik scheint unsere ganze Warenwelt zu funktionieren, das Handy ist nur dann gut, wenn es die neueste Nummer trägt, auch wenn die alte Nummer gerade ein Jahr alt ist.

Wie willkürlich diese Jagd nach dem Neuen ist, zeigt sich sehr schön, wenn das Neue älter als das Alte ist. Die National Gallery in London stellte 2011 bei einer Leonardo-da-Vinci-

Ausstellung ein neu entdecktes Gemälde des italienischen Meisters aus: Salvatore Mundi aus dem Jahr 1500. Die Mona Lisa wurde wahrscheinlich erst fünfzehn Jahre später fertiggestellt, trotzdem ist das Jesusbild heute als der »neue« Leonardo bekannt. Oder vielmehr als der »teure«, denn bei einer Auktion im Jahr 2017 wurde es für 450 Millionen Dollar ersteigert und ist bis heute das bei Weitem teuerste Gemälde der Welt. Jesus ist es ja gewohnt, der Neue zu sein, denn auch das Buch über sein Leben wird, obwohl schon fast 2.000 Jahre alt, noch immer das Neue Testament genannt. Der Begriff »neu« ist also ziemlich elastisch und kann schon mal auch ganz schön alt werden, wie ja auch die »Neue Welt« schon fünfhundert Jahre lang von Europäern besiedelt wird und längst aus dem Teenager-Alter raus sein müsste. Obwohl, sich über »die Jugend von heute« zu beklagen, ist weder originell noch neu. Vor 5.000 Jahren entstanden die ersten Schulen, und auf einer Tontafel der Sumerer beschwert sich ein Lehrer: »Die Jugend achtet das Alter nicht mehr«, was zweieinhalbtausend Jahre später bei den alten Griechen noch immer der Fall war, wie Sokrates kritisch festhält: »Die Jugend liebt heutzutage den Luxus, hat schlechte Manieren, verachtet die Autorität, hat keinen Respekt vor älteren Leuten und schwatzt, wo sie arbeiten sollte.« Als die Jugend in den 1960er Jahren begann, eine eigene Jugendkultur für sich zu beanspruchen, kam es zu einem besonders energischen Konflikt zwischen der alten und neuen Generation, was sich ja auch schön am eingangs erwähnten Lied der Rolling Stones zeigt, dessen Refrain ein für alle Mal festhält, niemand auf der Welt brauche die Neuigkeiten des Vortags. Die zweite Zeile fragt allerdings Who wants yesterday’s girl, wer mag schon das Mädchen von gestern? Das ist eine harte Ansage, und vielleicht wäre es am Feld der Liebe doch angebrachter, eine etwas größere Gelassenheit an den Tag zu legen, sodass aus »der Neuen« dann auch einmal »die Alte« werden kann.

Stefan Kutzenberger wurde 1971 in Linz geboren und lebt als Schriftsteller und Literaturwissenschaftler in Wien. In seinem aktuellen Roman Jokerman (Berlin Verlag, 2020) beschreibt er eine geheimnisvolle Bob-Dylan-Verschwörung, die Donald Trump stürzen möchte.

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