LUZÄRN MAGAZINE__NICHT-ORTE

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Ég er komin heim

Für zwei Jahre von Zuhause weg - mein bisher längstes Abenteuer. Wie ist es in Island? Ist es kalt? Hast du schon den Geysir gesehen? Hat es viel Schnee? Klar, kann ich nach zwei Jahren Island viel über das Land, die Kultur, Natur, Sprache und Leute erzählen. Und das mache ich auch sehr gerne. Hier möchte ich aber hauptsächlich über die Sicht auf meine Heimat sprechen, die sich durch meinen zweijährigen Aufenthalt in Island verändert hat. Bestimmt kennst du das auch; Im Ausland fallen dir immer wieder Dinge auf, die dir total fremd sind und dich zum Nachdenken über deine Heimat anregen. Na klar habe ich mir schon gedacht, dass ich bestimmt meine Familie, Freunde, die Schoggi und den Käse vermissen werde aber es waren auch andere Dinge, die ich von Zuhause vermisst habe. Gehe ich zum Beispiel jetzt wieder in Luzern spazieren, geniesse ich es, dass man ohne auf sein Handy zu schauen weiss, wie spät es ist. Vielleicht ist das auch der Grund für unsere Überpünktlichkeit. Die habe ich in Island aber nicht unbedingt vermisst. Die Isländer leben gerne in den Tag hinein und nehmen es eher gemütlich. Ich habe grundsätzlich sehr geschätzt, dass vieles sehr spontan und total unkompliziert möglich war. Manchmal konnte es aber auch etwas zu gemütlich sein. Denn ist man einmal an die Schweizer Arbeitsmoral gewöhnt, kann es einem schon komisch vorkommen plötzlich mit diesen gemütlichen Isländern zu arbeiten. Wobei ich nicht sagen möchte, dass die Isländer faul sind. Viele Isländer sind tüchtig und ziehen mit Mut auch eigene, innovative Projekte durch. Vielleicht sind es gerade ihre Gelassenheit und Zuversicht, die sie zum Erfolg bringen. Denn die Isländer sind uns in einigen Sachen einen Schritt voraus. Früher hätte ich mich vielleicht auch manchmal an den Touristenschwärmen in Luzern gestört, heute sehe ich das ein wenig anders. Denn im Zentrum von Reykjavik trifft man praktisch nur Touristen an. Die Isländer verbringen ihre Freizeit lieber in den öffentlichen Schwimmbädern; kleine, geothermale Wellnessoasen im Freien. Erst nach Mitternacht trauen sich dann auch die Isländer auf die Strasse, feiern und trinken was das Zeugs hält. Das können die Isländer


sehr gut. Wobei ich mich immer wieder gefragt habe, wie sie sich ihren Alkoholkonsum finanzieren. Sind es die Connections? Fast alle sind irgendwie miteinander verwandt. Oder geben sie wirklich zehn Franken für ein Bier aus? Naja, immerhin sind viele Veranstaltungen und Konzerte kostenlos und davon gibt es in Reykjavik wirklich sehr viele. Generell sind viele Lebensmittel in Island relativ teuer ausser man holt sich einen der breühmten, isländischen Hotdogs. Ein Gang durch die Migros ist jetzt aber nicht nur preislich ein Paradies. Seit ich zurück bin, muss ich immer einen kurzen Stopp bei der Käsevitrine einlegen, um die grosse Auswahl zu bestaunen. Aber nicht nur das, sondern auch die Gemüse- und Früchteabteilung hat für mich einen anderen Wert erhalten. Klar war ich erstaunt, dass es isländische Tomaten und Bananen zu kaufen gibt, jedoch konnten diese geschmacklich nicht wirklich mit jenen in der Schweiz mithalten. Trotz den überteuerten Preisen, den vielen Touristen, den geschmacklosen Tomaten und den uhrenlosen Strassen, wurde Island für mich zu einem Stück Heimat und es gibt Vieles, was ich vermisse. Dazu vielleicht ein andermal. Takk fyrir mig Ísland.




La stanza in fondo Der Fernseher steht in der Stanza in fondo. Man muss den ganzen langen Korridor bis zuhinterst gehen, bis man dort ist. Das keilförmige Haus sei wie der Bug eines Schiffes, die Stanza in fondo das Galion, meint Paul, wenn er gut gelaunt ist. Vom Fenster aus blickt man auf die beiden Strassen, eine links, eine rechts. Paul sagt, er sie seine ganze Kindheit hindurch am Fenster gestan den. Während er redet, folgen seine Augen einer Fliege im Raum. Er sitzt so dicht beim Frischverheirateten, dass jener seinen alkoholdurchtränkten Atem riechen kann. Andrin hat im Schneider sitz den Sofasessel für sich in Anspruch genommen. Er verschlingt Chips. Reste davon bleiben ihm an den Lippen und an den Fingern kleben. Paul schielt zu ihm hinüber und schüttelt den Kopf. Tags über sitzt jetzt Andrin stundenlang am Fenster und zählt die Autos. Das hätten sie alle so gemacht, sagt Paul. So kämen die Kinder auf keine dummen Ideen. Mehr als fünftausend an einem Tag habe er einmal gezählt. Draussen sei es für die Kinder ohnehin zu gefährlich. Keine Fussgängerstreifen, keine Ampeln, nur ein viel zu schmales Trottoir. Der Abend ist eingebrochen. Es wird rasch dunkel. Autozählen ist nicht mehr spannend, da man die Farben nicht mehr sieht. Im Fernseher läuft Midnight Express. Lydia geht nervös eine Zigarette rauchend den Korridor auf und ab. Eins zwei Mal steckt

sie den Kopf in die Stanza in fondo. Paul tut so, als würde er es nicht merken. Der Frischverheiratete weiss nicht, wo Amélie ist. In der Küche wahrscheinlich, die am anderen Ende des Korridors liegt. Amélie sitzt dort fest. In diesem Moment hasst Lydia den Frischverheirateten, weil er sich mit Paul und Andrin diesen scheusslichen Film ansieht. «Ich merke doch, wie sie kocht», schmun zelt Paul. Der Frischverheiratete sitzt auch fest. Amélie hat heute ihrem Vater gesagt, sie sei schwanger. Zur Antwort hat der Vater nur mit der Schulter ge zuckt. Amélies Lippen zitterten. Es war ziemlich dunkel in der Wohnung, als ihr Vater sie besucht hat. «War denn das wirklich gewollt?», hat er nach langem Überlegen gefragt. Der Frischverheiratete hat verlegen gelä chelt. Er ist sich so hilflos vorgekommen. Und feige. Amélie hatte bereits Tränen in den Augen. Der Vater hat dem Frischver heirateten gesagt: « Du sorgst jetzt für sie!» Für sie sorgen bedeutet weg von diesem Haus, weg von dieser Strasse, weg von dieser Stadt. Auch der Frisch verheiratete ist in der Stanza in fondo gross geworden und hat Autos gezählt. Er weiss, zu welcher Tageszeit die Stadt finstergrau wird. Er kenn den Abgasge stank, der bis in die Wohnung dringt. Er hat ihn schon so oft eingeatmet. Er kenn das fahle Licht, das durch die staubbe schichtete Fensterscheibe dringt.


Amélie sitzt in der Küche und unter drückt schon wieder die Tränen, weil Lydia weinende Frauen verachtet. Der Frischverheiratete kann nicht zu ihr. Er möchte es. Im Fernseher läuft jetzt grad die Sze ne, wo Billy, der gefangene Amerikaner, total durchdreht und wutentbrannt alles zusammenschlägt und dem Verräter die Zunge aus dem Mund herausbeisst. «Dass ihr so etwas anschauen müsst!», ruft Lydia. Sie hält ein Glas Weisswein in der Hand. Paul meint, das sei schreck lich. Andrin lacht. «Was gibt es da zu lachen?», faucht Paul. Lydia tritt kurz in die Stanza in fondo und öffnet das Fenster. Der Autolärm übertönt den Film. Plötzlich steht der alte Untermieter in der Wohnung. «Er habe gehört, Amélie sei schwanger.» «Was?», ruft Lydia beleidigt und eilt in die Küche. Das sei kein Ort, um ein Kind aufwachsen zu lassen, meint der Untermieter. Andrin faucht ihn an. Der Untermieter ist ein untalentierter, aber leidenschaftlicher Klavierspieler. Er habe ein neues Stück eingeübt, sagt er, ob er es vorspielen dürfe. «Nach dem Film», sagt Paul schroff. «Nein jetzt», ruft Lydia aus der Küche. «Es jagt ja die Mäuse aus dem Haus, wenn du spielst», lacht Andrin. Der Frischverheiratete merkt, dass An drin stottert. Er wundert sich, dass ihm

das noch nie aufgefallen ist. Er denkt, der Film wühle den Jungen zu sehr auf. «Was jetzt?», fragt der Untermieter etwas verlegen. Der Frischverheiratete hat den Film schon mehrmals gesehen, nicht mit Amélie, allein, als er nach dem Autozäh len eine Kassette einlegen durfte. Sein Vater hatte eine kleine Sammlung. Zehn Kassetten, darunter Midnight Express. Deswegen weiss Andrin genau, was jetzt kommt. Trotzdem bleibt er sitzen. Und prompt folgt die Szene, wo Billy mit dem Kopf den dicken Wächter gegen die Wand stösst. Dessen Nacken prallt gegen einen Kleiderhaken. Der dicke Wächter ist sofort mausetot. Andrin, der den Film zum ersten Mal sieht, ruft: «Jetzt zieht er sich das Uniform seines Peinigers über». «Ach was», meint Paul verachtungsvoll, «woher willst du das wissen!» Der Frischverheiratete hört, wie Lydia in der Küche auf Amélie einredet. Sie solle doch fortgehen, sie könne sich noch ret ten, ihr Kind retten. Der Frischverheira tete müsste jetzt bei ihr sein. Überhaupt müsste er jetzt etwas Anderes tun, als sich diesen Film anzuschauen, den er inn- und auswendig kennt. Amélie tut einem leid. Sie kann sich nicht wehren und jetzt, da sie schwanger ist, bekommt sie beim Weinen zittrige Lippen. «Tränen des Glücks», meint sie.


«Das neue Stück, das ich eingeübt habe, ist so aufheiternd», ruft der Untermie ter, der immer noch im Korridor wartet. Andrin zuckt ein Buch über die Mondlan dung aus dem Regal. Der Film sei ihm zu langweilig geworden. «Wie lange dauert es noch bis zum Schluss?», fragt Paul. «Nicht mehr so lange», sagt der Frisch verheiratete. Andrin spricht Neil Arm strongs Worte nach,

«that's one small step for a man, one giant leap for man kind» , während Billy im Film die Pistole auf den toten Wächter richtet. Seine Lippen zittern vor Wut. «Tu es nicht!», ruft Paul. Lydia steht in der Tür und tritt gegen den Türrahmen. «Wo ist Amélie?», fragt der Frischverhei ratete. «Ihr Vater hat angerufen», antwortet Lydia triumphierend. «Ich hatte es ja gesagt», jubelt Andrin. Paul schaut verwundert zum Frischverhei rateten und lächelt. Billy hat die Uniform angezogen und schreitet aus dem Ge fängnis. Paul macht ein weiteres Bier auf. «Kann ich jetzt mein neues Stück vorspie len?», ruft der Untermieter.



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