Raymond Beutler, Andreas Gerth
Naturerbe der Schweiz
Raymond Beutler / Andreas Gerth
Naturerbe der Schweiz Die Landschaften und Naturdenkm채ler von nationaler Bedeutung
Haupt Verlag
Raymond Beutler ist Sekundarlehrer und Geograf. Er arbeitet als Raumplaner im Amt für Gemeinden und Raumordnung des Kantons Bern. Andreas Gerth ist selbstständiger Fotograf. Sein Themenschwerpunkt sind die vielfältigen Naturlandschaften der Schweiz. Die Realisierung dieses Buches wurde unterstützt durch : — Bundesamt für Umwelt ( BAFU ), Abteilung Arten, Ökosysteme, Landschaften — Canton de Fribourg, Direction de l’aménagement, de l’environnement et des constructions DAEC — Etat de Genève, Direction générale de la nature et du paysage — Fonds Landschaft Schweiz ( FLS ) — Gouvernement de la République et du Canton de Jura — Kanton Aargau, Departement Bau, Verkehr und Umwelt — Kanton Basel-Landschaft, Sicherheitsdirektion — Kanton Bern, Polizei- und Militärdirektion — Kanton Schwyz, Finanzdepartement — Kanton Thurgau, Amt für Raumplanung, Abteilung Natur und Landschaft — Kulturförderung Kanton Obwalden 1. Auflage 2015 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. ISBN : 978 -3-258- 07767-3 Alle Rechte vorbehalten. Copyright © 2015 Haupt Bern Jede Art der Vervielfältigung ohne Genehmigung des Verlages ist unzulässig. Umschlag, Gestaltung und Satz : pooldesign.ch Karten: Antonia Eisenhut, Zürich Printed in Germany www.haupt.ch
Inhaltsverzeichnis Vorwort der Autoren
12
Aufwertung von BLN-Objekten – auch Aufgabe und Verdienst des Fonds Landschaft Schweiz ( FLS )
14
Faltenjura
17
1001 Linkes Bielerseeufer
18
1002 Chasseral
20
1003 Tourbière des Ponts-de-Martel
22
1004 Creux du Van et Gorges de l’Areuse
24
1005 Vallée de la Brévine
28
1006 Vallée du Doubs
30
1007 La Dôle
34
1008 Franches-Montagnes
36
1009 Gorges du Pichoux
38
1010 Weissenstein
39
1011 Lägerngebiet
40
1012 Belchen-Passwang-Gebiet
42
1013 Roches de Châtollion
44
1014 Chassagne
45
1015 Pied sud du Jura à l’ouest de La Sarraz
46
1016 Aarewaage Aarburg
47
1017 Aargauer und östlicher Solothurner Faltenjura
48
1018 Aareschlucht in Brugg
52
1019 Wasserschloss beim Zusammenfluss von Aare, Reuss und Limmat
53
1020 Ravellenflue und Chluser Roggen
54
1021 Gorges de Moutier
55
1022 Vallée de Joux et Haut-Jura vaudois
56
1023 Mormont
60
Tafeljura und Juranordfuss
63
1101 Etangs de Bonfol et de Vendlincourt
64
1102 Randen
66
1103 Koblenzer Laufen
68
1104 Tafeljura nördlich von Gelterkinden
69
1105 Baselbieter und Fricktaler Tafeljura
70
1106 Chilpen bei Diegten
72
1107 Gempenplateau
73
1108 Aargauer Tafeljura
74
1109 Aarelandschaft bei Klingnau
76
1110 Wangen- und Osterfingental
77
Westliches Mittelland
79
1201 La Côte
80
1202 Lavaux
82
1203 Grèves vaudoises de la rive nord du lac de Neuchâtel
86
1204 Rhône genevois – Vallons de l’Allondon et de la Laire
88
1205 Bois de Chênes
89
1206 Coteaux de Cortaillod et de Bevaix
90
1207 Marais de la haute Versoix
94
1208 Rive sud du lac de Neuchâtel
96
1209 Mont Vully
100
1210 Chanivaz – Delta de l’Aubonne
102
Zentrales Mittelland
105
1301 St. Petersinsel – Heideweg
106
1302 Alte Aare – Alte Zihl
108
1303 Hallwilersee
110
1304 Baldeggersee
112
1305 Reusslandschaft
114
1306 Albiskette – Reppischtal
118
1307 Glaziallandschaft Lorze – Sihl mit Höhronenkette und Schwantenau
120
1308 Moorlandschaft zwischen Rothenthurm und Biberbrugg
122
1309 Zugersee
126
1310 Gletschergarten Luzern
127
1311 Napfbergland
128
1312 Wässermatten in den Tälern der Langete, der Rot und der Önz
132
1313 Steineberg – Steinhof – Burgäschisee
134
1314 Aarelandschaft zwischen Thun und Bern
136
1315 Amsoldinger- und Übeschisee
138
1316 Stausee Niederried
140
1317 Endmoränenzone von Staffelbach
141
1318 Wauwilermoos – Hagimoos – Mauensee
142
1319 Aareknie Wolfwil–Wynau
143
1320 Schwarzenburgerland mit Sense- und Schwarzwasserschlucht
144
1321 Oberes Emmental mit Räbloch, Schopfgrabe und Rämisgumme
148
Nördliches und östliches Mittelland
151
1401 Drumlinlandschaft Zürcher Oberland
152
1402 Imenberg
153
1403 Glaziallandschaft zwischen Thur und Rhein
154
1404 Glaziallandschaft zwischen Neerach und Glattfelden
158
1405 Frauenwinkel – Ufenau – Lützelau
160
1406 Obersee
162
1407 Chatzenseen
164
1408 Jörentobel
165
1409 Pfäffikersee
166
1410 Irchel
167
1411 Untersee – Hochrhein
168
1412 Rheinfall
172
1413 Thurgauisch-fürstenländische Kulturlandschaft mit Hudelmoos
176
1414 Thurlandschaft zwischen Lichtensteig und Schwarzenbach
178
1415 Böllenbergtobel bei Uznach
180
1416 Kaltbrunner Riet
181
1417 Lützelsee – Seeweidsee – Ütziker Ried
182
1418 Espi – Hölzli
184
1419 Pfluegstein ob Herrliberg
185
1420 Hörnli-Bergland
186
Westlicher Alpennordhang
189
1501 Gälte – Iffigen
190
1502 Les Grangettes
194
1503 1713 Diablerets – Vallon de Nant – Derborence ( partie ouest )
196
1504 Vanil Noir
200
1505 Hohgant
202
1506 Chaltenbrunnenmoor – Wandelalp
206
1507 1706 Berner Hochalpen und Aletsch-Bietschhorn-Gebiet ( nördlicher Teil )
210
1508 Weissenau
214
1509 Luegibodenblock
215
1510 La Pierreuse – Gummfluh – Vallée de l’Etivaz
216
1511 Giessbach
218
1512 Aareschlucht zwischen Innertkirchen und Meiringen
220
1513 Engstligenalp und Entschligefäll
222
1514 Breccaschlund
226
1515 Tour d’Aʀ – Dent de Corjon
228
Zentraler und östlicher Alpennordhang
233
1601 Silberen
234
1602 Murgtal – Mürtschen
238
1603 Maderanertal – Fellital
240
1604 Lauerzersee
242
1605 Pilatus
244
1606 Vierwaldstättersee mit Kernwald, Bürgenstock und Rigi
248
1607 Bergsturzgebiet von Goldau
252
1608 Flyschlandschaft Haglere – Glaubenberg – Schlieren
254
1609 Schratteflue
256
1610 Scheidnössli
258
1611 Lochsite bei Schwanden
259
1612 Säntisgebiet
260
1613 Speer – Churfirsten – Alvier
264
1614 Taminaschlucht
266
1615 Melser Hinterberg – Flumser Kleinberg
267
Wallis
269
1701 Binntal
270
1702 Lac de Tanay
272
1703 Haut Val de Bagnes
274
1704 Mont d’Orge
278
1705 Valère de Tourbillon
279
1706 1507 Berner Hochalpen und Aletsch-Bietschhorn-Gebiet ( südlicher Teil )
280
1707 Dent Blanche – Matterhorn – Monte Rosa
284
1708 Pyramides d’Euseigne
288
1709 Blocs erratiques au-dessus de Monthey et de Collombey
289
1710 Rhonegletscher mit Vorgelände
290
1711 Raron – Heidnischbiel
292
1712 Les Follatères – Mont du Rosel
293
1713 1503 Diablerets – Vallon de Nant – Derborence ( partie est )
294
1714 Bergji – Platten
298
1715 Gorges du Trient
300
1716 Pfynwald – Illgraben
302
1717 Laggintal – Zwischbergental
306
1718 Val de Réchy – Sasseneire
308
Tessin
313
1801 Piora – Lucomagna – Dötra
314
1802 Delta del Ticino e della Verzasca
318
1803 Monte Generoso
320
1804 Monte San Giorgio
324
1805 Monte Caslano
325
1806 Ponte Brolla – Arcegno
326
1807 Val Verzasca
328
1808 Val Bavona
332
1809 Campolungo – Campo Tencia – Piumogna
336
1810 San Salvatore
338
1811 Arbòstora – Morcote
340
1812 Gandria e dintorni
341
1813 Denti della Vecchia
342
1814 Paesaggio fluviale e antropico della Valle di Blenio
344
Graubünden
347
1901 Lai da Tuma
348
1902 Ruinaulta
350
1903 Auenlandschaft am Unterlauf des Hinterrheins
354
1904 Val da Camp
356
1905 Kesch-Ducan-Gebiet
358
1906 Trockengebiet im vorderen Domleschg
360
1907 Quellgebiet des Hinterrheins – Passo del San Bernardino
362
1908 Oberengadiner Seenlandschaft und Berninagruppe
364
1909 Piz Arina
368
1910 Silvretta – Vereina
370
1911 Tomalandschaft bei Domat/Ems
372
1912 Paludi del San Bernardino
373
1913 Greina – Piz Medel
374
1914 Plasseggen – Schijenflue
378
1915 Schweizerischer Nationalpark und angrenzende Gebiete
380
1916 Val Bondasca – Val da l’Albigna
384
Moorw채lder am Ufer des Chapfensees (SG)
12
Vorwort der Autoren Die Schweiz verfügt über eine faszinierende Landschaftsvielfalt. Dank grosser Höhenunterschiede und klimatischer Kontraste türmen sich wilde Eis- und Felswelten über uralten Kulturlandschaften, liegen mediterrane Lebensräume nur wenige Reisestunden von den saftiggrünen Alpweiden des Alpennordrands entfernt. Doch landschaftliche Schönheit und Unversehrtheit ist – gerade in einem kleinen Land wie der Schweiz – ein knappes Gut. Schon immer war Landschaftswandel eng mit dem menschlichen Handeln verknüpft. Ab Mitte des letzten Jahrhunderts hat der Einfluss des Menschen auf die Landschaft aber deutlich zugenommen, so hat sich beispielsweise die überbaute Fläche seither mehr als verdoppelt. Immer noch geht pro Sekunde über 1 Quadratmeter Kulturland verloren. Ausserhalb der Bauzonen führte die Intensivierung der Landwirtschaft zu einer Banalisierung einst vielfältiger Kulturlandschaften. Von den damals 14 Millionen Hochstammobstbäumen etwa sind heute noch gut 2 Millionen übrig. Wie soll eine Gesellschaft auf solch rasante Veränderungen reagieren ? Für Behörden und Natur- und Landschaftsschutzkreise war bald klar, dass eine flächendeckende «Konservierung» der Landschaft weder möglich noch sinnvoll ist und sich der Schutz auf ausgewählte, landschaftlich herausragende Gebiete beschränken musste. In den 1960er-Jahren wurde deshalb durch private Schutzorganisationen ein Verzeichnis mit besonders wertvollen Landschaften erstellt. Der Bund nahm diese Idee auf und schuf darauf basierend das «Bundesinventar der Landschaften und Naturdenkmäler von nationaler Bedeutung ( BLN )». Es wurde 1977 vom Bundesrat in Kraft gesetzt und umfasst zurzeit 162 Objekte. Um Teil des BLN zu sein, muss eine Landschaft oder ein Naturdenkmal eine oder mehrere der folgenden Eigenschaften aufweisen : — Aufgrund ihrer Schönheit landesweit einzigartige Landschaft wie das Matterhorn oder der Rheinfall. — Für einen Landschaftstyp charakteristisches Gebiet wie der Chasseral als typische Landschaft des Kettenjuras. — Besonders attraktive Erholungslandschaft wie die Oberengadiner Seenplatte oder das Gebiet Untersee-Hochrhein. — Bedeutendes Naturdenkmal wie der Gletschergarten von Luzern oder die Erdpyramiden von Euseigne. Die Objekte des BLN faszinieren durch ihre ausserordentliche Vielfalt. Einige Beispiele mögen den Reichtum an Kontrasten illustrieren : Gross und klein : Das Gebiet «Berner Hochalpen und Aletsch-Bietschhorn-Gebiet» bedeckt eine Fläche von 969 km2 und ist somit grösser als der Kanton Schwyz. Am anderen Ende der Skala steht das 0.133 Hektaren kleine Objekt «Pfluegstein», ein Findling am nördlichen Zürichseeufer. Kultur und Natur : Etliche Gebiete, so zum Beispiel die Rebterrassen des Lavaux, verdanken ihren Wert explizit dem gestaltenden Wirken des Menschen. In anderen Landschaften finden sich nur dezente oder gar keine Spuren menschlichen Handelns, so etwa im Hochmoor von Chaltenbrunnen oder im Urwald von Derborence.
13
Homogen und heterogen : Landschaftlich einheitlichen, geschlossenen Räumen wie dem Hallwiler- oder dem Baldeggersee stehen höchst vielgestaltige Landschaften gegenüber : etwa das Objekt an der Walliser Sprachgrenze, welches Gebirgsseen, Gletscher, den gewaltigen Erosionskessel des Illgrabens, den Pfynwald und die Auenlandschaft an der Rhone umfasst. Belebt und einsam : Wer sommers mit dem Gummiboot zwischen Thun und Bern unterwegs ist oder an einem Sonntag auf dem Üetliberg spaziert, tut das nicht allein. Einsamkeit und Abgeschiedenheit finden Besuchende hingegen in den weiten Jurawäldern des Mont Risoux oder den Moorlandschaften bei Sörenberg. Entwicklung und Stillstand : Gebiete wie La Côte am Genfersee liegen in einer boomenden Region und spüren einen starken Siedlungsdruck. Unter dem gegenteiligen Trend leiden Gebiete wie das Zwischbergental oder das Val Verzasca : Hier wachsen durch Entvölkerung und Extensivierung jahrhundertealte Kulturlandschaftsflächen ein. Bekannt und unbekannt : der Vierwaldstättersee mit Rigi und Pilatus ist Millionen von Besuchenden ein Begriff. Das Inventar birgt aber auch zahlreiche unbekannte Schätze : etwa das Thurgauer Hangmoor «Espi-Hölzli» oder die floristisch interessante Kalkplatte «Chassagne» über dem Neuenburgersee. Zurzeit befindet sich das BLN «in Revision»: Im Rahmen des Projekts «Aufwertung BLN» erarbeitet der Bund umfassende Objektbeschreibungen, formuliert für jedes Gebiet spezifische Schutzziele, überprüft die Perimeter und passt die Verordnung zum BLN an. Das Projekt, welches die Landschaften bekannt machen und das Instrument BLN stärken will, steht kurz vor seinem Abschluss. Wir hoffen, mit diesem Buch einen bescheidenen Beitrag zum Erreichen der Ziele des Projekts «Aufwertung BLN» zu leisten.
Ein Gesicht für die schönsten Landschaften und Naturdenkmäler Mit dem Wort «Inventar» verknüpfen die wenigsten Menschen Schönheit, Sinneserfahrung und Vielfalt. Genau das bietet aber das BLN – und das vorliegende Buch. Genussvoll können Betrachterinnen und Leser in die Welt des BLN eintauchen. Die Bilder zeigen die vielfältigen Landschaften und Naturdenkmäler bewusst im besten Licht. Über den reinen Dokumentationszweck hinaus wollen sie auf das Besondere, vielleicht Überraschende hinweisen und den Betrachtenden ein sinnliches Landschaftserlebnis ermöglichen. Wer durch das Buch animiert wird, die gezeigten Schauplätze selbst zu besuchen, kann dies ohne besondere Vorkehren oder Ausrüstung tun ; es werden weder Luftbilder, Unterwasseraufnahmen noch im Hochgebirge aufgenommene Fotos gezeigt. Kurze Texte charakterisieren jedes Inventarobjekt. Dabei stützen wir uns einerseits auf eigene Erfahrungen und Recherchen, andererseits auch stark auf die obengenannten Objektbeschreibungen des BAFU. Grossen Dank verdient in diesem Zusammenhang Maria Senn Allenspach, Leiterin des Projekts «Aufwertung BLN» im Bundesamt für Umwelt ( BAFU ). Sie hat die Buchidee von Anfang an mitgetragen und uns bei der Erarbeitung mit wertvollen Rückmeldungen unterstützt. Als Autoren dieses Buchs erachten wir es als Privileg, die Schönheit der national bedeutsamen Landschaften und Naturdenkmäler in Form dieses Buchs präsentieren zu können. Möge der Funke der Begeisterung auf die Leserschaft überspringen. Winter 2014/2015, Raymond Beutler, Andreas Gerth
14
Aufwertung von BLN-Objekten – auch Aufgabe und Verdienst des Fonds Landschaft Schweiz (FLS) «In der Werbung, auf Postkarten und Kalenderbildern besteht die Landschaft der Schweiz aus einem guten Dutzend Klischees.» Das schrieb vor einem Vierteljahrhundert der Fotograf, Journalist und Bergsteiger Herbert Maeder, der sich damals als Nationalrat massgeblich für den Schutz der Moorlandschaft von Rothenthurm und der Greina-Hochebene engagierte. Zu den «schönen Klischeebildern» der Schweiz zählte er – voller Respekt – das Matterhorn, Schloss Chillon, Eiger, Mönch und Jungfrau. Dieser «Idealschweiz» stellte er die «Realschweiz» gegenüber. In Wort und Bild.
Von der Ideal- zur Realschweiz Mit Worten beklagte er im Bildband «Landschaft Schweiz – Bedrohung und Bewahrung» die «geschundene, vergewaltigte Landschaft unserer Zeit» : die «trostlose Agglomeration», die sich zwischen Bodensee und Genfersee ausbreite, die «hässlichen Spuren», die der Bau von Strassen, Zweitwohnungen, touristischen Transportanlagen und Kraftwerken auch in der Alpenwelt hinterlasse. Eine Klage, die leider auch Jahrzehnte später noch aktuell und berechtigt sein dürfte … Mit seinen Bildern jedoch lenkte Herbert Maeder den Blick auf «eine ganze Menge einzigartiger Landschaften» in dieser vielerorts verschandelten «Realschweiz». Allerdings seien diese Landschaften oft «zu wenig spektakulär» für Kalender, Karten und Plakate. Aber immerhin habe eine Reihe dieser Landschaften ab 1977 anerkennend Aufnahme gefunden im Bundesinventar der Landschaften und Naturdenkmäler von nationaler Bedeutung ( BLN ).
Erhalten, wiederherstellen, aufwerten In der Tat finden sich im BLN etliche Gebiete, die wohl nicht auf Anhieb zu den nationalen Vorzeige-Landschaften gezählt werden. Dass viele wenig bekannte und auch unscheinbare Landschaften der Realschweiz den Vergleich mit den schönen Klischeebildern der Idealschweiz nicht zu scheuen brauchen, bezeugen eindrückliche Fotos in diesem Buch. Sie zeigen oft reizvolle Kulturlandschaften – Landschaften also, die vom Menschen und seiner Wirtschaftsweise über Jahrhunderte hinweg verändert und geprägt wurden, aber dennoch weiterhin als intakte Natur wahrgenommen und geschätzt werden. Genau solche «naturnahen Kulturlandschaften zu schützen, zu pflegen, zu unterhalten oder wiederherzustellen», ist die gesetzliche Aufgabe des Fonds Landschaft Schweiz FLS, der 1991 vom Parlament zur 700-Jahr-Feier der Eidgenossenschaft gegründet worden ist. Mehr als 2000 Projekte unterschiedlichster Grösse und Ausrichtung hat der FLS seither auf Gesuch hin gefördert, in allen Landesgegenden und oft in BLN-Gebieten. Mehr noch : Auf einige BLN-Objekte hat der FLS eigentliche Schwerpunkte seines bisherigen Einsatzes von insgesamt mehr als 120 Millionen Franken gelegt. Dabei ist er oft über das primäre Schutzziel der «ungeschmälerten Erhaltung» hinausgegangen, die das Natur-und Heimatschutzgesetz ( NHG ) für die national bedeutsamen Landschaften postuliert. Indem der FLS viele lokale und regionale Pflege- und Unterhaltsprojekte unterstützte, hat er zur Erhaltung von Landschaften beigetragen, die gemäss BLN-Kriterien einzigartig oder für die Schweiz typisch sind. Darüber hinaus hat er aber auch bei der Wiederherstellung von bereits beeinträchtigten BLN-Objekten mitgeholfen. Und oft hat er Aufwertungen gefördert, die das Einzigartige und Typische der jeweiligen Landschaften nicht bloss bewahrt, sondern hervorgehoben und verstärkt haben.
15
Beispielhaftes Engagement fürs BLN Dieses gewissermassen identitätsstärkende Engagement des FLS für BLN-Gebiete lässt sich am Beispiel des Objekts 1402 Imenberg ( S.153 ) erläutern. Das 400 Hektar grosse Gebiet, zwischen Frauenfeld TG und Wil SG gelegen, verdankt seine nationale Bedeutung der «ausserordentlichen Strukturvielfalt auf kleinstem Raum». Niederwaldwirtschaft und Waldbeweidung haben, wie es das BLN beschreibt, über lange Zeiträume hinweg den «lichten Charakter» der artenreichen Wälder am Südhang des Imenbergs geprägt. Die Aufgabe dieser Nutzungen in der jüngeren Vergangenheit führte jedoch «zu sich verdunkelnden Buchenwäldern». Um Gegensteuer zu geben, hat der FLS mehrjährige Projekte zur Förderung lichter Wälder und artenreicher Trockenwiesen unterstützt – mit Erfolg : Seltene Orchideen- und Falterarten kommen am Imenberg wieder zahlreicher vor. In ähnlichem Sinne hat der FLS auch andernorts zur Wiederherstellung und Aufwertung von naturnahen Kulturlandschaften in BLN-Objekten beigetragen. Im Baselbieter Tafeljura ( Objekt 1105, S.70 ) zum Beispiel, unterstützt er den Verein «Erlebnisraum Tafeljura» in den vielfältigen Bemühungen, die ausdrücklich zwecks Aufwertung dieses BLN-Gebiets gestartet worden sind. Im Vallée de Joux ( Objekt 1022, S.56 ) hat der FLS mitgeholfen, das eindrückliche Landschaftsbild von störenden Stromleitungen zu befreien. In den Franches-Montagnes ( Objekt 1008, S.36 ) fördert der FLS seit Langem die Instandstellung der ortstypischen Trockenmauern. Und im BLN-Gebiet Gandria e dintorni ( Objekt 1812, S.341 ) sind mit FLS-Hilfe früher verbreitete Olivenbäume wieder angepflanzt worden. Das BLN-Objekt 1312 ( S.132 ) «Wässermatten in den Tälern der Langete, der Rot und der Önz» ist ganz direkt mit dem Engagement des FLS verbunden: Er gehörte nämlich zu den Mitbegründern der Langenthaler Wässermatten-Stiftung, die seit 1992 die landschaftsprägende Bewirtschaftungstradition weiterpflegen hilft. Eine wichtige Rolle spielte der FLS auch im BLN-Objekt 1701 ( S.270 ) : Er unterstützte dort diverse Aufwertungsprojekte und ebnete so den Weg zur Schaffung des regionalen Natur- und Landschaftsparks Binntal.
Eine Aufgabe für überall Die Beispiele liessen sich fortsetzen – mit Hinweisen auf unzählige Bemühungen um schöne Landschaften in der ganzen Realschweiz, auch ausserhalb von BLN-Gebieten. Denn es gibt sie auch dort : erhaltenswerte und aufwertungswürdige Kulturlandschaften ebenso wie zahlreiche Menschen, die sich – mit oder ohne Unterstützung durch den FLS – unermüdlich engagieren, oft in unbezahlter Freiwilligenarbeit, stets mit grossem Respekt vor den Leistungen früherer Generationen sowie mit starker Liebe zur Natur und zum kulturellen Erbe. «Die langfristigen Zielsetzungen des Landschaftsschutzes lassen sich nur verwirklichen, wenn überall Sorge zur Landschaft getragen wird», schrieb Herbert Maeder vor 25 Jahren und warnte zugleich : «Keinesfalls darf das BLN zu einer Alibiübung verkommen : Schutz einer Reihe berühmter Landschaften, damit man mit dem grossen Rest umso rücksichtsloser umgehen kann.» In der Tat : Auch der «grosse Rest», die Landschaft der «Realschweiz» verdient weiterhin vermehrte Sensibilität und Achtung. Und sie bedarf auch künftig vielfältiger Pflege und Aufwertung. Der FLS will dazu weiterhin seinen Beitrag leisten ; der vorliegende Bildband möge mithelfen, mehr Menschen zu sensibilisieren und zu motivieren zum Einsatz für die Landschaft. Winter 2014/2015, Bruno Vanoni, Fonds Landschaft Schweiz ( FLS )
Faltenjura
18
1001
Linkes Bielerseeufer
Intakte Reblandschaft über dem Bielersee Der Ausblick vom nördlichen Bielerseeufer über den See, die St.Petersinsel und das Mittelland bis hin zu den Berner Alpen lädt zum Verweilen ein. Dass an den Gestaden des milden Ufers des Jurarandsees gut Sein ist, war bereits in der Jungsteinzeit bekannt, was zahlreiche Funde in der Region belegen. Erst ab dem Mittelalter aber erfuhr das zwischen Tüscherz im Nordosten und la Neuveville im Südwesten gelegene Gebiet dann jene grossflächige Veränderung, welche bis heute den Charakter dieser Landschaft prägt : die Gestaltung der reich strukturierten Reblandschaft. Geradezu exemplarisch ausgebildet sind die kleinflächigen, kompakten Rebterrassen, welche dem Gelände angepasst sind und oft durch Trockenmauern gestützt werden. Die Trockenmauern verhindern die Erosion und dienen zugleich als Wärmespeicher und als Lebensraum z. B. für Reptilien. Oberhalb der Rebterrassen beginnt der mit Felsbändern durchsetzte Flaumeichenwald des Jurasüdfusses. Die Übergangszone zwischen Kultur- und Naturlandschaft bietet Lebensraum für viele wärmeliebende Arten. Eingebettet in die Reblandschaft, finden sich ausserordentlich gut erhaltene, kompakte Winzerdörfer. Die bis ins 19. Jahrhundert fehlende durchgehende Wegverbindung mag dazu beigetragen haben, dass die Siedlungsentwicklung in die Fläche grösstenteils ausblieb, sodass die historischen Siedlungsränder von Ligerz, Twann oder Wingreis heute noch weitgehend intakt sind. Ein herausragendes Beispiel für die harmonische Verschränkung von Kulturlandschaft und historischer Bausubstanz bietet die am Pilgerweg gelegene Kirche Ligerz. Das stattliche, kurz vor der Reformation erbaute Gotteshaus liegt oberhalb des Dorfes mitten im Rebgebiet und gilt als eines der kulturlandschaftlichen Wahrzeichen der Region. Einen für Besuchende willkommenen Kontrapunkt zur gut besonnten, weiten Reblandschaft setzt die düstere, feuchte Twannbachschlucht, durch welche über mehrere Stufen der rauschende Twannbach fliesst.
Vorhergehende Doppelseite : Lac des Taillères im Hochtal von La Brévine. Die feuchte, dunkle Twannbachschlucht. In die Reblandschaft über dem Bielersee eingebettet, liegt die Kirche von Ligerz. Im Hintergrund die St. Petersinsel und die Berner Alpen.
20
1002
Chasseral
Charakterberg in der ersten Reihe Der gleichmässige, sich über mehr als 25 km erstreckende Höhenrücken des Chasserals ist dank seiner privilegierten Lage in der ersten und höchsten Jurakette von vielen Orten des Mittellands und der Alpen aus erkennbar. Der Charakterberg bietet Besuchenden eine Synthese des Faltenjuras : Wer die Chasseralkette vom nordwestlich gelegenen Vallon de St-Imier über den Hauptkamm hinunter zur Montagne de Diesse überquert, trifft auf die wichtigsten Elemente dieser vielseitigen Landschaft. Die steilen Talhänge des Vallon de St-Imier sind unterhalb von 1200 m fast durchgehend bewaldet. Die Flanke wird von der Schlucht der Combe Grède, einem Naturschutz- und eidgenössischen Jagdbanngebiet, durchbrochen. Hier konnte sich dank der abgeschiedenen Lage und dem steilen Relief eine urwaldartige Vegetation ausbilden. Auf den Geländeterrassen oberhalb der bewaldeten Hänge finden sich ursprünglich dauerhaft bewohnte Einzelhöfe. Ihre Errichtung steht zum Teil im Zusammenhang mit den aus dem Emmental und dem Berner Mittelland hierher vertriebenen Täufern. Heute werden die Höfe grösstenteils nur noch als Sömmerungsbetriebe genutzt. Der lang gezogene Bergkamm des Chasserals wird durch eine gegen oben gewölbte Falte, eine sogenannte Antiklinale, gebildet. Geologisch interessant sind die Antiklinalmulden nördlich des Gipfels, welche durch Längsbrüche und Erosionsprozesse im obersten Bereich der grossen Falte entstanden sind. Im Bereich dieser Mulden finden sich auch Dutzende regelmässig angeordnete Dolinen. Dank der rauen Lebensraumbedingungen mit tiefen Temperaturen, hohen Niederschlägen und der windexponierten Lage wachsen in der Gipfelregion viele alpine Pflanzenarten. Vor dem Abstieg auf die Südseite der Rundblick : Der Alpenbogen, grosse Teile des Mittellands und gegen Nordwesten der Blick ins «Innere» des Juras – von kaum einem anderen Ort aus überblickt man einen so grossen Teil der Schweiz. Auf der Südostseite des Gipfelkamms finden sich Alpweiden, Wytweiden mit zum Teil mächtigen Solitärbäumen und – unterhalb von 1400 m – wiederum ein ausgedehntes Waldgebiet.
Trockenwiesen, Feldgehölze und Kalkschuttfluren in einer der grossen Mulden nordwestlich der Chasseralhauptkette. Urwaldartig fällt die schattige Combe Crède zum Vallon de St-Imier ab.
22
1003
Tourbière des Ponts-de-Martel
Das grösste Hochmoor der Schweiz Im weiten Tal zwischen La Sagne und Martel Dernier im Neuenburger Jura findet sich das Torfmoor von Les-Ponts-de Martel. Auf über 18 km erstreckte es sich ursprünglich, bevor man im 15. Jahrhundert begann, den Torf abzubauen. Dieser diente als Heizmaterial. Das aufstrebende La Chaux-de-Fonds sorgte durch seine zwischenzeitlich sehr grosse Nachfrage dafür, dass sogar eine Eisenbahnline von der Uhrenstadt ins abgelegene Les-Ponts-de-Martel gebaut wurde. Der systematische Abbau führte zu einer dramatischen Abnahme der Hochmoorfläche : Von den ursprünglich 1500 Hektaren sind heute noch weniger als 10 % übrig. Diese 130 Hektaren bilden aber immer noch das grösste Hochmoor der Schweiz . Entstanden ist das Hochmoor durch den für diesen Lebensraum typischen Prozess : Dieser führt von der Seeverlandung über die Entwicklung zum Flachmoor hin zum langsam in die Höhe wachsenden, vom Grundwasser abgekoppelten Hochmoor. In dem nur durch Niederschlagswasser gespeisten, nährstoffarmen Lebensraum können nur spezialisierte Arten wie zum Beispiel das Torfmoos überleben. Auch das Torfmoor von Les-Ponts-de-Martel bietet vielen seltenen Arten ( z. B. Pilzen und Gräsern ) ein wichtiges Refugium. Die Hochmoorflächen befindet sich – landschaftlich fast etwas isoliert – mitten in der heute landwirtschaftlich geprägten Ebene des Vallées des Ponts. Dunkle, rohe Torfböden, vernässte Zonen mit Seggenhorsten und Birkengruppen mit ihren auffälligen weissen Stämmen prägen das ruhige, weite Bild dieses urtümlichen, hierzulande rar gewordenen Landschaftstyps. Nur die parallel angelegten Bewirtschaftungswege und die vielen rechten Winkel der Kulturlandund Waldgrenzen erinnern an den einstigen, planmässig vorangetriebenen Abbau. Dieser wurde nach Annahme der für den flächendeckenden Moorschutz wegweisenden Rothenthurminitiative eingestellt. Im Bereich ehemaliger Torfstiche ist das Moor nun in Neubildung begriffen – aufgrund des langsamen Wachstums wird es aber noch Jahrhunderte dauern, bis sich wieder die ursprüngliche, für Hochmoore typische Vegetation etabliert haben wird.
Hochmoorvegetation ehemaliger Torfstichgebiete. Birken im Bois des Lattes.
24
1004
Creux du Van et Gorges de l’Areuse
Gewaltiger Felszirkus und grösste Juraschlucht Der Felskessel des Creux du Van und die Areuseschlucht mit ihren bewaldeten Hängen bilden eine grosszügige landschaftliche Einheit. Die Vertikale ist ein prägendes Element dieser Landschaft. In den höchsten Bereichen, ganz im Süden des Gebiets, befindet sich ein sanft gewelltes, karstig-karges, von Feldgehölzen durchsetztes Hochplateau. Nichts lässt den abrupten Felsabbruch, der nördlich dieser Weidelandschaft über 200 Meter senkrecht abfällt, erahnen. Die fast perfekte halbkreisförmige Arena des Creux du Van zählt zu den eindrücklichsten Natursehenswürdigkeiten der Schweiz. Der aus horizontalen Kalkschichten gebildetete Kessel – eine Art Halbklus – hat einen Durchmesser von einem Kilometer. Noch lange Zeit nach der letzten Vergletscherung konnte sich ein lokaler Gletscher im schattigen Kessel halten. Der Gletscher transportierte Geröll ab und half so mit, die Felswände zu bilden Im Innern des Gehängeschutts, auf einer Höhe zwischen 1150 und 1200 m ü. M. befindet sich noch heute eine für den Jura seltene Permafrostzone. Hier wachsen Fichten mit Krüppelwuchs – ein Phänomen der normalerweise deutlich höher liegenden Baumgrenze. Die rauen Lebensraumbedingungen im Creux du Van behagen auch den zahlreichen hier heimischen Gämsen und Steinböcken. Zu Füssen des Creux du Van breitet sich ein Teppich aus Nadel- und Laubwäldern aus. Dieser wird durchquert von der Areuse, welche im Abschnitt zwischen Noiraigue und Boudry die grösste Schlucht des Schweizer Juras in das Kalkgestein gefressen hat. Ihr Lauf führt über Wasserfälle und entlang teils überhängender Kalkwände durch den tiefen Einschnitt. Am linksufrigen Einhang der Areuse befindet sich – oberhalb der durch die Schlucht verlaufenden Bahnlinie – die Grotte de Cottencher. Zahlreiche Funde von Silexwerkzeugen, Tierknochen und ein über 40 000 Jahre altes Fragment eines Neandertaler-Kieferknochens bezeugen die prähistorische Besiedelung des Gebiets.
Wintermorgen am Nordrand des mächtigen Erosionskessels. Areuseschlucht mit der Steinbogenbrücke nahe des Saut de Brot. Nachfolgende Doppelseite : Der Felszirkus des Creux du Van.