Berner Universitätsschriften
Band 60
Grenzen in den Wissenschaften
Referate einer Vorlesungsreihe des Collegium generale der Universität Bern im Frßhjahrssemester 2015
Herausgegeben im Auftrag des Collegium generale von Sara Kviat Bloch Martina Dubach Gabriele Rippl
Haupt Verlag
Die Beiträge dieses Bandes gehen zurück auf die interdisziplinäre Vorlesungsreihe des Collegium generale Am Limit? Grenzen in den Wissenschaften, die im Frühjahrssemester 2015 an der Universität Bern stattfand. Das Collegium generale fördert den fächerübergreifenden Dialog und die Vernetzung innerhalb der Universität durch Veranstaltungen für Lehrende, Nachwuchsforschende und Studierende aller Fakultäten.
Bildnachweis Cover und S. 137 © CERN S. 11 Novum organum scientiarum, Frontispiz. EC.B1328.620ib, Houghton Library, Harvard University 1. Auflage: 2017 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. Der Haupt Verlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2016 – 2020 unterstützt. ISBN: 978-3-258-07964-6 Alle Rechte vorbehalten. Copyright © 2017 Haupt Bern Jede Art der Vervielfältigung ohne Genehmigung des Verlages ist unzulässig. Korrektorat: Nathalie Comment Satzherstellung: Die Werkstatt Medien-Produktion GmbH, Göttingen Umschlaggestaltung: Daniela Vacas nach einem Konzept von René Tschirren Printed in Germany www.haupt.ch
Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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«Ich weiss, dass ich nicht weiss»? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Über die Vermessung der menschlichen Erkenntnisgrenzen Claus Beisbart
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Das Geheimnis der Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Begrenztheit menschlichen Wissens als Thema der Theologie Konrad Schmid
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Kulturwissenschaft – grenzenlos? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aleida Assmann
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Bilder als Grenzgänger zwischen den Disziplinen . . . . . . . . . . . . . . Überlegungen zu den methodisch-theoretischen Voraussetzungen der Cyber-Bildlichkeit Marion G. Müller
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Fair oder rational, bewusst oder anreizgesteuert? . . . . . . . . . . . . . . . 115 Stösst der Homo Oeconomicus an Grenzen? Gunter Stephan The Frontier of Knowledge in Particle Physics . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 Gian Francesco Giudice Grenzen überwinden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 Ethik in Medizin und Biowissenschaften Bernice S. Elger Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165
Vorwort Aufbruch zu neuen Ufern, Entdeckungen neuer Welten, Fortschritt ohne Grenzen – mit Stichwörtern wie diesen schmückt sich die neuzeitliche Wissenschaft gerne. Doch in Wirklichkeit stösst der Erkenntnisdrang zunehmend an Grenzen, die manchmal sogar unüberwindbar scheinen. In der Physik wird es immer schwieriger, in das Innerste der Materie vorzudringen. In der Ökonomie begrenzt die Komplexität der Phänomene die Möglichkeiten, genaue Vorhersagen zu liefern. Die Fremdheit anderer Sprach- und Denkmuster limitiert unseren Zugang zu anderen Kulturen. Und manchmal ist die Forschung auch durch die Grenzen des moralisch Erlaubten eingeschränkt, wie etwa in der Medizin. Der vorliegende Band versucht, die Grenzen der heutigen Wissenschaften zu vermessen. Beiträge aus Natur- und Geisteswissenschaften loten die Grenzen des Wiss- und Verstehbaren, des Denk- und Beweisbaren aus. Vor welchen Grenzen stehen die einzelnen Wissenschaften heute? Wie gehen die Forschenden damit um? Und wie kann das Aufbrechen von Fächergrenzen im interdisziplinären Dialog Erkenntnisgrenzen überwinden helfen? Die Beiträge dieses Bandes gehen zurück auf die interdisziplinäre Vorlesungsreihe des Collegium generale Am Limit? Grenzen in den Wissenschaften, die im Frühjahrssemester 2015 an der Universität Bern stattfand. Die Idee der Reihe hatte gleichsam etwas Provokatives: Die Disziplinen wurden sozusagen in eine Ecke versetzt, genau dorthin, wo sie nicht weiterkommen. Wo genau die einzelnen Disziplinen an ihre Grenzen stossen, ist natürlich verhandelbar. Die Vorlesungsreihe des Collegium generale hat gefragt: Ist die Wissenschaft am Limit? Was limitiert, was begrenzt die wissenschaftliche Forschung? Welche Grenzen können überwunden werden, welche nicht? Und wie können wir mit den unüberwindbaren Grenzen umgehen? Die Fragen, die das Collegium generale damit stellte, beschäftigen die meisten Forschenden immer wieder aufs Neue, wenn auch in jeweils fachspezifischer Weise. Am Anfang von Wissenschaft steht der Versuch, die Grenzen der menschlichen Erkenntnis zu verschieben. Erfolgreiche wissenschaftli-
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che Forschung erweitert daher den Horizont dessen, was uns bekannt ist. Dieses Projekt stösst am sinnfälligsten dort an Grenzen, wo sich das menschliche Wissen nicht mehr vermehren lässt, wo sich Grenzen des für uns Wissbaren finden. Aber gibt es solche Grenzen überhaupt? Und wenn ja, wie können wir diese Grenzen bestimmen? Claus Beisbart verfolgt in seinem Aufsatz das Ziel, diese Fragen ein Stück weit zu beantworten. Dazu erläutert er zunächst, was Wissensgrenzen sind und wie sie zustande kommen, und untersucht in einem nächsten Schritt die historisch prominenten Versuche von John Locke und Immanuel Kant, die Grenzen des Wissbaren zu eruieren. Nicht nur die Wissenschaftsphilosophie, auch die Theologie ist als Disziplin berufen, über die Begrenztheit menschlichen Wissens zu reflektieren. Kann der Mensch jemals alles über sich und die Welt wissen? Obwohl das Wissen immer weiterwächst, kann man davon ausgehen, dass damit auch das Nichtwissen zunimmt und ein vollständiges Verständnis der Welt dem Menschen letztlich wohl entzogen bleiben wird. Nach Konrad Schmid hat die biblische Trennung von Gott und Welt, von Schöpfung und Geschöpf, nicht nur eine Entzauberung der Welt ermöglicht, sondern führt auch dazu, dass die Bibel und die theologische Tradition gerade dadurch der Welt – und der Wissenschaft – einen Horizont geben, der über sich selbst hinausreicht. Aus theologischer Sicht ist die Welt, so wie wir sie wahrnehmen können, insofern als Grösse vorletzter Ordnung zu verstehen. Die Kulturwissenschaften sind auf andere Art gefordert, ihren Gegenstandsbereich überhaupt erst zu definieren, und stossen schon hier an Grenzen bzw. auf deren Abwesenheit: Wenn die Kultur nicht nur erklärend, sondern aktiv an der Konstitution und Veränderung der Welt beteiligt ist, wie kann dann das Forschungsfeld eingegrenzt werden? «Sind die Kulturwissenschaften grenzenlos?», fragt Aleida Assmanns in ihrem Beitrag, der eine Grenzerweiterung sowie eine Grenzerweichung diskutiert. Die Kulturwissenschaften sind dadurch gekennzeichnet, dass die Grenzen zwischen Forscherin und Gegenstand besonders durchlässig sind. Sie lassen sich deswegen auch kaum eingrenzen.
Vorwort
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Von der visuellen Konstruktion von Realität ist die Rede in Marion G. Müllers Beitrag. Bilder sind vermehrt bestimmend für die andauernde Erzeugung von Sinn in demokratischen Zivilgesellschaften. Ein umfassendes methodisches Modell, das die politisch-visuellen Praktiken analysieren könnte, steht hingegen erst am Anfang. Bilder sind Grenzgänger zwischen den Disziplinen und können nur durch transdisziplinäre Ansätze analysiert werden. Das Entstehen der Visuellen Kommunikationswissenschaft aus der Ikonologie des 20. Jahrhunderts bietet sich als Plädoyer für eine kritische Auseinandersetzung auch mit Bildern der Gegenwart an. Die Digitalisierung hat aber neulich die Bildproduktions- und Rezeptionsstrukturen verändert und eine neue Bildkultur, eine Cyber-Bildlichkeit, geschaffen, die für die Kommunikationswissenschaften eine zusätzliche Herausforderung darstellt. Einen Einblick in die ökonomischen Wissenschaften und deren theoretische Herausforderungen gibt Gunter Stephan in seinem Beitrag zu Rationalität, Entscheidungsprozessen und Fairness. In der Volkswirtschaftslehre wird das lang bewährte Modell des homo oeconomicus kritisch hinterfragt, nicht zuletzt auf dem Hintergrund der Finanzkrise von 2008. Das Modell des wirtschaftlich handelnden und entscheidenden Individuums, das fast mechanisch sein eigenes Wohl maximiert und dabei die Auswirkungen auf andere vernachlässigt, ist an seine Grenzen gekommen. Am Beispiel der Umweltökonomie zeigt Gunter Stephan alternative verhaltensökonomische Modelle auf, die Rücksicht auf strategische Interdependenz und Gerechtigkeitssinn auf individueller Ebene nehmen. Die Erforschung der Welt im kleinstmöglichen Format hat sich als einer der erfolgreichsten Methoden erwiesen, um neue Horizonte in den Naturwissenschaften zu erschliessen. In der Teilchenphysik wird ersichtlich, dass sich grundlegende Naturgesetze vorerst in der mikroskopischen Welt der Elementarteilchen manifestieren. Gian Francesco Giudice stellt dar, wie neue Erkenntnisse über diese Gesetzte es uns ermöglichen, die physikalische Geschichte des Universums bis hin zum allerfrühsten Anfang zu rekonstruieren. Der Large Hadron Collider, der grösste Teilchenbeschleu-
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niger der Welt, setzt neue Massstäbe für das Wissen über das Verhalten von kleinsten Partikeln bis zum grössten Multiversum. Nicht die physikalischen Grenzen, sondern die Grenzen, die die Wissenschaft und wir uns selber stellen, werden im abschliessenden Beitrag diskutiert. Neue medizinische Behandlungen, Diagnosemöglichkeiten und moderne Biotechnologie bieten ein breiteres Spektrum an Möglichkeiten, sind aber gleichzeitig auch mit Risiken verbunden. Auf individueller wie auch auf gesellschaftlicher Ebene sind wir mit neuen Fragen konfrontiert. Brauchen wir zusätzliche oder andere Gesetze? Und sind Gesetze das richtige Mittel, um auf komplexe ethische Fragen Antworten zu finden? Bernice S. Elger betont in ihren Ausführungen zu ethischen Grenzen in Medizin und Biowissenschaften, dass fächerübergreifendes Wissen unumgänglich ist, um medizin- und bioethische Fragestellungen kompetent beantworten und nach gesamtgesellschaftlichen Lösungen suchen zu können. Um Faktenwissen und ethische Analysefähigkeiten zusammenzubringen, ist es nötig, die Grenzen disziplinären Denkens zu überwinden. Sara Kviat Bloch Martina Dubach Gabriele Rippl
«Ich weiss, dass ich nicht weiss»? Über die Vermessung der menschlichen Erkenntnisgrenzen Claus Beisbart
1. Einleitung Das Meer liegt offen da. Zwei Segelschiffe sind darauf unterwegs. Das vordere passiert gerade zwei Säulen, die links und rechts in die Höhe ragen. Es handelt sich dabei um die sagenhaften Säulen des Herakles, welche die Grenzen der bekannten Welt markieren. Das Schiff kehrt also augenscheinlich von einer Expedition ins Unbekannte zurück. Der Aufbruch zu neuen Ufern scheint geglückt. Ein Bild mit diesem Motiv schmückt als Frontispiz das «Novum organum scientiarum» von Francis Bacon aus dem Jahre 1620, eine der wichtigsten Programmschriften der neuzeitlichen Wissenschaften.1 Das Frontispiz versinnbildlicht, wie die erneuerten Wissenschaften die Grenzen des bisher Bekannten hinter sich lassen sollen. Der lateinische Spruch unter dem Bild sagt: «Viele werden zwischen den Säulen hindurchfahren, wodurch das wissenschaftliche Wissen erweitert wird.» Novum organum scientiarum, Frontispiz 1
Zur Deutung siehe etwa Mieth (2002).
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Claus Beisbart
Wie würden wir heute die Wissenschaft und ihre Lage versinnbildlichen? Würden wir wieder ein Schiff zeichnen, das mit vollen Segeln auf neue Ufer zustrebt? Oder würden wir eher ein Schiff abbilden, das auf stürmischer See mit zerfetzten Segeln hin- und herschwankt? Ein Schiff vielleicht, dessen Mannschaft wegen der schlechten Arbeitsbedingungen meutert? Ein Schiff, das auf eine Sandbank aufgelaufen ist und nicht mehr weiterkommt? Tatsache ist in jedem Fall, dass uns der Optimismus, mit dem Bacon die Wissenschaften betrachtet, heute naiv anmutet. Denn die Wissenschaften stossen immer mehr an Grenzen des Wissbaren, des Machbaren und des ethisch Verantwortbaren. Bücher wie John Horgans «The End of Science. Facing the Limits of Knowledge in the Twilight of the Scientific Age» (1996) versuchen, diese Diagnose zu erhärten. Die Grenzen, mit denen sich die Wissenschaften heute konfrontiert sehen, sind vielgestaltig. Einige Grenzen sind ethischer oder rechtlicher Natur, weil die Anwendung neuer, vielversprechender Methoden, zum Beispiel in der Medizin oder der Biologie, die Normen des Erlaubten zu verletzen droht; man denke etwa an Experimente mit Stammzellen oder genetisch verändertem Saatgut.2 Begrenzt ist auch das Geld, das für die Anschaffung neuer Apparate und für die Anstellung gut ausgebildeten Personals zur Verfügung steht. Auf Grenzen stossen Forschende aber auch dann, wenn sie sich an die Öffentlichkeit wenden, um ihre Resultate in den politischen Diskurs einzubringen. So wichtig die eben genannten Grenzen sein mögen, sie bleiben den Wissenschaften doch äusserlich. Denn dass unsere Handlungsoptionen durch moralische oder rechtliche Grenzziehungen beschränkt werden, dass Geld und Aufmerksamkeit begrenzt sind, gilt auch für andere Lebensbereiche, sagen wir für die Kunst und den Sport. Es gibt nun aber auch Grenzen, die es mit dem Wesen von Wissenschaft selbst zu tun haben. Diese Grenzen betreffen nicht bloss Mittel, deren sich die wissenschaftliche Forschung bedient, und rühren nicht von Normen her, die auch anderswo gelten, sondern betreffen diejenigen Zwecke und Werte, die Wissenschaft erst von 2
Um solche Grenzen geht es im Aufsatz von B. Elger in diesem Band.
«Ich weiss, dass ich nicht weiss»?
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anderen menschlichen Unternehmungen wie dem Sport abheben. Zu diesen Zielen, die konstitutiv für das Unterfangen Wissenschaft sind, gehören der Erwerb neuen Wissens, die Systematisierung des Erkannten und die Erklärung bisher unverstandener Phänomene. Es könnte nun sein, dass sich diese Ziele aus prinzipiellen Gründen in bestimmten Fächern nicht erreichen lassen. Vielleicht sind unsere Sinne nicht in der Lage, alle Dimensionen der Realität zu erfassen; vielleicht ist unser Verstand zu begrenzt, als dass sich jedes Phänomen, jede andere Kultur verstehen liesse. Die Wissenschaft wäre dann insofern limitiert, als sich einige ihrer Zwecke nicht voll erreichen liessen, wie viele Mittel auch immer wir aufwendeten. Grenzen dieser Art liegen tiefer; Sie gehen sozusagen unter die Haut, weil ihre Existenz darauf hinausläuft, dass wir in den Wissenschaften prinzipiell nie so weit kommen, wie wir uns das vielleicht erträumt hatten. In meinem Beitrag geht es um die offensichtlichste Grenze, die wesentliche Zwecke der Wissenschaft betrifft. Unser Thema gilt den Grenzen unseres Wissens. Die Gewinnung neuen Wissens, im Frontispiz als die Überschreitung einer Grenze versinnbildlicht, ist eines der wichtigsten Ziele wissenschaftlicher Forschung. Unsere Fragen nach der Grenze lauten: Gibt es Grenzen des Wissbaren? Kann es Dinge geben, von denen wir nicht wissen können? Und wenn ja, können wir wenigstens diese Grenzen des Wissbaren bestimmen? In Folgenden möchte ich diese Fragen wenigstens ein Stück weit beantworten. Ich tue das als Philosoph. Denn die kritische Untersuchung von Wissensansprüchen gehört seit jeher zu den Geschäften der Philosophie. In seiner Verteidigungsrede berichtet Sokrates, wie er in Athen seine Mitmenschen befragte, um herauszufinden, ob sie mehr wüssten als er. Er stellte fest, dass viele Menschen ihr Wissen überschätzen. Der Ausspruch von Sokrates, «Ich weiss, dass ich nicht weiss»3, erkennt demgegenüber die Grenzen des eigenen Wissens an. Diese Wissensgrenze soll selbst paradoxerweise Gegenstand von Wissen sein. Später haben John Locke und Immanuel Kant – um
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Der Ausspruch findet sich nicht wörtlich in der Verteidigungsrede des Sokrates. Siehe aber Platon (1986), 21b, 21d und 23b.
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nur zwei bekannte Namen zu nennen – zu bestimmen versucht, was der Mensch wissen kann.4 Dass die Grenzen des Wissens ein philosophisches Thema bilden, leuchtet auch unabhängig von der Philosophiegeschichte ein. Denn es mag zwar sein, dass bestimmte Wissensgrenzen in dieser oder jener Einzelwissenschaft thematisiert werden. Aber in ihrer Allgemeinheit wird die Frage nach den Wissensgrenzen nur in der Philosophie gestellt. Es geht uns hier nämlich um das gesamte menschliche Wissen, und es gibt keine Wissenswissenschaft ausser der Philosophie selbst. Wie weit die Philosophie wirklich Wissensgrenzen eruieren kann, müssen wir freilich noch sehen. Da die Ringvorlesung die Wissenschaften zum Gegenstand hatte, beschränkt sich meine Untersuchung auf wissenschaftliches Wissen. Sie konzentriert sich ausserdem auf Wissen, das man insofern als handgreiflich bezeichnen kann, als es sich recht einfach auf den Begriff bringen und thematisieren lässt. Dazu gehört vieles Wissen, das in den Naturwissenschaften erworben wird. Das Verstehen, das die Geisteswissenschaften in Anspruch nehmen, muss ich im Folgenden aussen vor lassen, da dies ein ganz eigenes Thema wäre. Meine Überlegungen sind wie folgt aufgebaut: Ich kläre zunächst, was wir unter Wissensgrenzen verstehen und wie wir sie untersuchen können. Ich gehe dann auf zwei klassische Versuche ein, unsere Wissensgrenzen zu bestimmen, nämlich auf diejenigen von Locke und Kant. Die Auseinandersetzung mit diesen Klassikern verleiht unserer Ringvorlesung nicht nur einen angemessenen historischen Rahmen, sondern ist auch deshalb erkenntnisfördernd, weil wir uns heute, rückblickend und aus einer gewissen Distanz, fragen können, ob die Erkenntnisgrenzen, welche die beiden benannt haben wollen, nicht schon überholt sind. Dabei versuche ich zu zeigen, dass es Kant gelungen ist, echte Strukturprobleme der Erkenntnisgewinnung zu thematisieren. Ausserdem laufen meine Überlegungen 4
Für Kant gehört die Frage «Was kann ich wissen?» dabei sogar zu den Grundfragen, die das «Interesse meiner Vernunft» ausdrücken (Kant, 1781/87, S. A804 f./B832 f./780; hier und im Folgenden beziehen sich hinsichtlich der «Kritik der reinen Vernunft», d. h. Kant 1781/87, Seitenangaben mit «A» auf die erste Auflage, Seitenangaben mit «B» auf die zweite und Seitenangaben ohne Buchstabenkennzeichnung bei wörtlichen Zitaten auf die von G. Mohr besorgte Ausgabe).
«Ich weiss, dass ich nicht weiss»?
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auf die methodologische These zu, dass sich Erkenntnisgrenzen nur im Zusammenspiel einzelwissenschaftlicher Forschung und philosophischer Reflexion bestimmen lassen.
2. Wissensgrenzen und ihre Bestimmung Um über die Grenzen des Wissbaren nachzudenken, ist es hilfreich, sich zunächst zu vergegenwärtigen, was wir unter einer Wissensgrenze verstehen. Wir können dazu von jenem sokratischen «Ich weiss, dass ich nicht weiss» ausgehen, das ja eine Wissensgrenze festhält. Wie ist die Verlautbarung von Sokrates zu verstehen? Sokrates will zunächst einfach Folgendes sagen: Einige Dinge weiss ich nicht. Auch wir können sagen, dass wir bestimmte Dinge nicht wissen, zum Beispiel, wie sich der Kurs des Frankens entwickeln wird. Andere Dinge wissen wir, zum Beispiel, dass 2 plus 2 die 4 ergibt. Aber von was für Dingen reden wir eigentlich, wenn wir sagen, wir wüssten sie? In unseren Beispielen haben wir den Inhalt unseres Wissens in Sätzen ausgedrückt. In der Philosophie nennt man daher das entsprechende Wissen gerne Satzwissen oder propositionales Wissen. Nur darum soll es in diesem Aufsatz gehen. Jeder (Aussage-) Satz lässt sich auf seine Wahrheit hin beurteilen. Nur wenn ein Satz wahr ist, spiegelt er die Wirklichkeit so wider, wie sie ist. Er stellt dann eine Wahrheit, eine Tatsache fest. Ein Satz kann nur dann Inhalt unseres Wissens sein, wenn er wahr ist. In diesem Sinne bezeichnen wir nur diejenigen Behauptungen einer Person als Wissen, die wir selbst für wahr halten. Wenn wir etwa glauben, dass Bern 1191 gegründet wurde, dann sagen wir nicht, eine andere Person wisse, dass Bern 1499 gegründet worden sei. Wir können allenfalls sagen, sie glaube das zu wissen. Wahrheit ist also eine Bedingung für Wissen. Was wir wissen, sind Wahrheiten oder Tatsachen. Was aber heisst es, eine Wahrheit zu wissen? Wir müssen die Wahrheit zunächst einmal für wahr halten. Indem wir das tun, werden wir der Wahrheit insofern gerecht, als sie eben etwas Wahres ist. Aber es reicht nicht, die Wahrheit nur für wahr zu halten. Für unser Wissen verlangen
Autorinnen und Autoren Aleida Assmann hat Anglistik und Ägyptologie studiert, von 1993–2014 war sie Professorin für Anglistik und Allgemeine Literaturwissenschaft an der Universität Konstanz. Sie hatte zudem zahlreiche Fellowships (u. a. am Wissenschaftskolleg zu Berlin und am Aby-Warburg-Haus Hamburg) sowie Gastprofessuren an amerikanischen Universitäten inne. Ihre Forschungsthemen sind individuelles und kulturelles Gedächtnis, Gewalt, Trauma und Geschichtspolitik. Die Themen ihrer aktuellsten Publikationen sind: Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur (2013); Ist die Zeit aus den Fugen? Aufstieg und Niedergang des Zeitregimes der Moderne (2013); Im Dickicht der Zeichen (2015); Formen des Vergessens (2016). Claus Beisbart ist ein Grenzgänger zwischen den Wissenschaften. Er studierte Physik, Mathematik und Philosophie und wurde zunächst an der Ludwig-Maximilians-Universität München mit einer Dissertation zur Kosmologie in Physik promoviert. Nach einer zweiten Promotion in Philosophie an derselben Universität habilitierte er sich 2012 an der Technischen Universität Dortmund mit einer Arbeit, in der es um die Grenzen von Computer-Simulationen geht. Seit 2012 ist er Extraordinarius für Wissenschaftsphilosophie an der Universität Bern und dabei nicht nur Angehöriger des Instituts für Philosophie, sondern auch dem Oeschger Centre for Climate Change Research (OCCR) und dem Center for Space and Habitability verbunden. Neben den Grenzen des Wissens, insbesondere in der Kosmologie, interessieren ihn die Themen Wahrscheinlichkeit, Erkenntnistheorie der Modellierung und die Grundlagen der Ethik. Sara Kviat Bloch studierte Religionswissenschaft und Sozialanthropologie an der Universität Kopenhagen und an der University of California, Santa Barbara. Sie ist seit 2013 Geschäftsführerin und wissenschaftliche Mitarbeiterin des Collegium generale an der Universität Bern und seit 2017 Lehrbeauftragte an der Universität Zürich. Sara Kviat Bloch ist Autorin
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mehrerer Lehrbücher zum Themenbereich Judentum sowie Religion im Allgemeinen. Martina Dubach hat ihr Studium an der Universität Zürich absolviert und 1980 in Zoologie promoviert. Von 1977 bis 1983 weilte sie zu Forschungszwecken am Klinikum der Justus-Liebig-Universität in Giessen. Seit 2002 ist sie Geschäftsleiterin des Forums für Universität und Gesellschaft an der Universität Bern, welches mit seinen Projekten grundlegende Diskurse zu Gegenwartsfragen anstösst. Sie war Initiantin der Vorlesungsreihe zu den Grenzen der Wissenschaften und hat diese in gemeinsamer Diskussion mit dem Collegium generale entwickelt. Bernice Elger ist Internistin und Theologin und unterrichtet seit 1995 Ethik und Medizinrecht an der Universität Genf. Seit Mai 2011 leitet sie das Institut für Bio- und Medizinethik an der Universität Basel. Sie gewann verschiedene Preise, 2010 den Schweizerischen Forschungspreis Hausarztmedizin, 2005 den Prix Bizot (Universität Genf), 1999 den Preis der Genfer Medizinischen Fakultät für ihre Doktorarbeit zum medizinischen Paternalismus und 1997 den Prix Arditi in Ethik. Ihre mehr als 150 wissenschaftlichen Publikationen befassen sich u. a. mit ethischen Fragen im Zusammenhang mit medizinischem Paternalismus, Gentests, Biobanken und Forschung mit vulnerablen Gruppen. Gian Francesco Giudice is a theoretical particle physicist based at CERN. His work deals with formulating theories that describe the particle world at the smallest distances and the earliest stages of the universe. For his contributions to research, he has been awarded the 2013 Jacques Solvay Chair in Physics. He is the author of A Zeptospace Odyssey, a popular-science book on the physics of the Large Hadron Collider. Marion G. Müller ist seit 2004 Professorin für Massenkommunikation an der Jacobs University Bremen. Sie war Vorsitzende der Visual Communication Studies Division der International Communication Association (ICA)
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und Sprecherin der Fachgruppe Visuelle Kommunikation der Deutschen Gesellschaft für Publizistik und Kommunikationswissenschaft (DGPuK). Sie war Gastprofessorin an der Universität St. Gallen sowie Fellow an der Kollegforschergruppe «Bildakt und Verkörperung» an der HumboldtUniversität zu Berlin. 2015 erschien die völlig überarbeitete 2. Auflage von Grundlagen der Visuellen Kommunikation (mit Stephanie Geise). Ihre gegenwärtigen Forschungsthemen sind visuelle politische Kommunikation, Cyber-Bildlichkeit, interkulturell vergleichende Kommunikation sowie das Verhältnis von menschlicher Empathie und dem Visuellen. Gabriele Rippl studierte Anglistik, Amerikanistik und Germanistik an den Universitäten Konstanz und Bristol und promovierte und habilitierte sich in Konstanz. Von 2003-2005 war sie Lehrstuhlinhaberin für Anglistik an der Universität Göttingen; seit 2005 ist sie Ordinaria für Literaturen in englischer Sprache in Bern. Sie hatte Fellowships in Oxford, Cambridge, London/Western Ontario, an der UCLA und dem Morphomata Kolleg zu Köln inne. Aktuell forscht sie zu kultureller Nachhaltigkeit, Intermedialität, Techniken und Ästhetiken der Reproduzierbarkeit sowie zu transkultureller Literatur im digitalen Zeitalter. Konrad Schmid ist Professor für Alttestamentliche Wissenschaft und Frühjüdische Religionsgeschichte an der Universität Zürich. Von 1985–1990 studierte er Theologie in Zürich, Greifswald und München, von 1991–1999 wirkte er als Assistent und Oberassistent in Zürich. Von 1999–2002 lehrte er als Professor für Alttestamentliche Theologie an der Universität Heidelberg. 2002 kehrte er nach Zürich zurück. Im akademischen Jahr 2006– 2007 war er Member in Residence am Center of Theological Inquiry in Princeton, 2008–2010 war er Dekan der Theologischen Fakultät in Zürich und von 2012–2013 forschte er am Israel Institute of Advanced Studies in Jerusalem. Gunter Stephan studierte in Heidelberg und Stanford (USA) Mathematik, Physik und Wirtschaftswissenschaften und ist seit 1988 Professor
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für Angewandte Mikroökonomie, Umwelt- und Ressourcenökonomie an der Universität Bern. Er ist Mitglied des Oeschger Centre of Climate Change Research (OCCR), des European Academies‘ Science Advisory Council (EASAC) und des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Berlin.