Fridolin Bossard Umgang von Leitungspersonen mit Multirationalit채t in pluralistischen Organisationen
Die Schriftenreihe «Public Management» wird herausgegeben von Prof. Dr. Kuno Schedler, Universität St. Gallen
Fridolin Bossard
Umgang von Leitungspersonen mit Multirationalit채t in pluralistischen Organisationen Fallbeispiel der Sonderschulen in einem Schweizer Kanton
Haupt Verlag
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Fridolin Bossard (1983), Dr. rer. publ. HSG, schloss seine Studien an der Universität St. Gallen sowie an der Fletcher School, Tufts University, Boston, USA mit einem Master der Internationalen Beziehungen und Corporate Governance sowie einem Master in Law and Diplomacy als Fulbright Scholar ab. Danach war er mehrere Jahre international als Unternehmensberater für McKinsey & Company tätig und promovierte zur Organisationstheorie am Institut für Systemisches Management und Public Governance (IMP-HSG) an der Universität St. Gallen. Heute ist er Mitglied der Geschäftsleitung der Privatschule Dr. Bossard in Unterägeri.
Abdruck der Dissertation zur Erlangung der Würde eines Doctor rerum publicarum (Dr. rer. publ.) der Universität St. Gallen. 1. Auflage: 2016 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. ISBN 978-3-258-07989-9 Alle Rechte vorbehalten. Copyright © 2016 Haupt Bern Jede Art der Vervielfältigung ohne Genehmigung des Verlages ist unzulässig. Redaktion und Satzherstellung durch den Autor Umschlaggestaltung: Daniela Vacas, Konzept: Atelier Mühlberg, Basel Printed in Germany www.haupt.ch
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Vorwort Öfters hört man, dass das Doktorieren eine sehr einsame Angelegenheit ist, insbesondere wenn man dies als „Externer“, das heisst als Doktorand ohne Assistenzstelle an einem Institut einer Universität tut. Das ich dies selber nicht so erlebt habe, verdanke ich verschiedenen Personen. Mein grosser Dank geht an meinen Doktorvater, Prof. Dr. Kuno Schedler, für seine fachliche Unterstützung und sein Bestreben, dass ich, auch wenn ich nur wenig Zeit in St. Gallen verbrachte, vom ersten Tag an als vollwertiges Mitglied am Institut für Systemisches Management und Public Governance der Universität St. Gallen (IMP-HSG) aufgenommen wurde. Auch wurde ich von ihm sehr grosszügig für die Teilnahme an verschiedenen Konferenzen und Seminaren im Ausland unterstützt. Herzlich danken möchte ich auch meinen Peers am Institut und in der Forschungsgruppe „Multirationales Management“: Matthias Ammann, Dr. Labinot Demaj, Angela Eicher, Ali Asker Gündüz. Neben dem stets sehr konstruktiven fachlichen Austausch bleiben mir auch viele lustige Momente zur späten Stunde in St. Gallen, aber auch an verschiedenen Konferenzen im Ausland in bester Erinnerung. Ein grosses Dankeschön geht auch an Monika Steiger für ihre immer sehr freundliche Unterstützung in allen administrativen Belangen und ihre grosse Umsicht, dass ich auch immer an jedes Weihnachtessen, Skitag, Ehemaligenanlass des Instituts etc. eingeladen wurde. Ein spezieller Dank geht an Prof. Dr. Torsten Schmid für seine engagierte und äusserst hilfreiche Methodenberatung. Danken möchte ich zudem den weiteren Mitgliedern meines Dissertationskomitees: dem Korreferenten, Prof. Dr. Johannes Rüegg-Stürm, und Prof. Dr. Isabella Pröller. Für die grosszügige Unterstützung meiner Dissertation bedanke ich mich auch bei meinem ehemaligen Arbeitgeber, McKinsey & Company Zürich. Nicht zuletzt geht mein aufrichtiger Dank an die Vielzahl von Interviewpartner für die offenen und interessanten Gespräche, welche das empirische Fundament meiner Dissertation legten. Der grösste Dank gebührt meiner Familie. Im besonderen Masse danke ich meiner Frau Sohyung Kwon Bossard, welche das Auf und Ab meiner Dissertation hautnah miterlebte, immer viel Verständnis für die damit verbundenen Stimmungs-
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schwankungen zeigte und mich mental stark unterst端tze. Meinen ganz grossen Dank verdienen meine Eltern, Trudy und Constantin Bossard-B辰renbold, die mich seit jeher in jeder erdenklichen Weise unterst端tzen. Deshalb widme ich ihnen diese Dissertation.
Z端rich, November 2015
Fridolin Bossard
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Zusammenfassung Leitungspersonen von pluralistischen Organisationen sehen sich grosser Komplexität ausgesetzt, da ihre Organisationen in unterschiedliche funktionale Systeme eingebunden sind. Dadurch sind sie mit unterschiedlichen Rationalitäten ihrer verschiedenen internen und externen Anspruchsgruppen konfrontiert, die sich in unterschiedlichen, teilweise konträren Erwartungen und Forderungen an ihre Organisationen zeigen. Das gleichzeitige Einwirken unterschiedlicher Rationalitäten auf eine Entscheidungssituation führt zu Multirationalität. Sonderschulen sind typische Beispiele von pluralistischen Organisationen. Zum einen weisen sie ein fragmentiertes Netz von externen Anspruchsgruppen auf, die jeweils anderen Rationalitäten folgend unterschiedliche Erwartungen gegenüber diesen Organisationen hegen. Zum anderen sind sie im Innenverhältnis durch das Zusammenwirken unterschiedlicher Fachkräfte geprägt, die jeweils von unterschiedlichen (Sub-) Rationalitäten angeleitet werden. Darüber hinaus sind die Sonderschulen durch die Änderung des Steuerungs- und Finanzierungssystems im Sonderschulwesen sowie den Paradigmenwechsel von der separativen hin zur integrativen Sonderschulung verstärkt auch mit Ansprüchen aus Funktionssystemen ausserhalb der traditionellen Sonderpädagogik und damit mit Multirationalität konfrontiert. Mittels einer interpretativ-qualitativen Fallstudie basierend auf sechs Sonderschulen aus einem Schweizer Kanton wird ein „grounded-theory“-Modell zum Umgang von Sonderschulleitungspersonen mit Multirationalität entwickelt. Es werden vier im Kontext des Sonderschulwesens relevante Rationalitäten (sonderpädagogische, wirtschaftliche, bürokratische und Familien-Rationalität) identifiziert, wobei die erste in fünf Sub-Rationalitäten (heilpädagogische, sozialpädagogische, therapeutische, separative und integrative Rationalität) detailliert wird. Das Zusammentreffen dieser Rationalitäten führt zu unterschiedlichen Formen der Multirationalität im Innen- und Aussenverhältnis der Sonderschulen. Diese zeigen sich jedoch nicht nur als konfliktträchtige, sondern auch als bereichernde und indifferente Beziehungen zwischen den unterschiedlichen Rationalitäten. Die Sonderschulleitungspersonen reagieren mit einer breiten Palette von Praktiken auf die unterschiedlichen Ausprä-
VII
gungsformen der Multirationalität. Gewisse Praktiken sind darauf ausgerichtet, aus der gleichzeitigen Präsenz multipler Rationalitäten Kapital zu schlagen. Andere Praktiken zielen darauf ab, allfällige Konflikte zwischen Rationalitäten zu reduzieren. Eine dritte Gruppe von Praktiken versucht die Indifferenzzone zwischen Rationalitäten auszudehnen. Die Mobilisierung dieser unterschiedlichen Praktiken wird von drei organisationalen Bedingungen beeinflusst: die Machtposition der Leitungspersonen im Innen- bzw. der Organisation im Aussenverhältnis, die intraorganisationalen Kapazitäten in Form von Know-how, Leistungsbereitschaft und zeitlichen Ressourcen sowie die Identität einer Sonderschule.
VIII
Inhaltsverzeichnis ABBILDUNGSVERZEICHNIS ........................................................................... XIII TABELLENVERZEICHNIS .................................................................................XIV ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS ........................................................................... XV 1
EINLEITUNG....................................................................................................... 1
1.1
Ausgangslage................................................................................................ 1
1.2
Forschungsmotivation und Forschungsfrage ............................................ 4
1.3
Wissenschaftstheoretische Positionierung ................................................. 7
1.4
Beitrag zur Theorie und Praxis .................................................................. 8
1.5
Aufbau ........................................................................................................ 10
2
THEORETISCHE GRUNDLAGEN UND EMPIRISCHER KONTEXT .......................................................................................................... 13
2.1
Theoretische Positionierung ..................................................................... 13
2.1.1
Neoinstitutionalistischer Ansatz in der Organisationstheorie.................. 13
2.1.2
Institutionelle Logiken und Rationalitäten .............................................. 19
2.1.3
Multirationalität....................................................................................... 31
2.1.4
Organisationale Praktiken im Umgang mit Multirationalität .................. 35
2.2
Sonderschulen in einem Schweizer Kanton als empirischer Kontext ... 39
2.2.1
Das Sonderschulwesen ............................................................................ 39
2.2.2
Die Sonderschule als pluralistische Organisation ................................... 41
2.2.3
Neue Herausforderungen für die Sonderschulen ..................................... 47
2.2.3.1 2.2.3.2
Änderung des Finanzierung- und Steuerungssystems im Sonderschulwesen .......................................................................... 47 Paradigmenwechsel im Sonderschulwesen ..................................... 50
IX
3
EMPIRISCHES FORSCHUNGSDESIGN .................................................... 53
3.1
Forschungsmethode................................................................................... 53
3.2
Fallstudienwahl.......................................................................................... 57
3.3
Datenerhebung........................................................................................... 59
3.4
Datenanalyse .............................................................................................. 66
3.5
Qualität der Forschungsergebnisse.......................................................... 76
4
FORSCHUNGSRESULTATE ......................................................................... 79
4.1
Beschreibung der Sonderschul-Cases ...................................................... 81
4.2
Rationalitäten im Sonderschulwesen ....................................................... 90
4.2.1
4.2.1.1
Heilpädagogische Rationalität ........................................................ 95
4.2.1.2
Sozialpädagogische Rationalität ..................................................... 97
4.2.1.3
Therapeutische Rationalität............................................................. 99
4.2.1.4
Separative Rationalität .................................................................. 101
4.2.1.5
Integrative Rationalität.................................................................. 104
4.2.2
Wirtschaftliche Rationalität................................................................... 107
4.2.3
Bürokratische Rationalität ..................................................................... 112
4.2.4
Familien-Rationalität ............................................................................. 115
4.3
X
Sonderpädagogische Rationalität .................................................... 91
Multirationalität im Sonderschulwesen................................................. 118
4.3.1
Multirationalität im Innenverhältnis der Sonderschule ......................... 119
4.3.2
Multirationalität im Aussen- und Innenverhältnis der Sonderschule .... 126
4.3.3
Multirationalität im Aussenverhältnis der Sonderschule....................... 139
4.4
Praktiken der Sonderschulleitungspersonen im Umgang mit Multirationalität ..................................................................................... 149
4.4.1
Praktiken im Umgang mit Multirationalität im Innenverhältnis ......... 151
4.4.1.1
Kombinieren von Rationalitäten ................................................... 153
4.4.1.2
Aushandeln zwischen Rationalitäten ............................................ 157
4.4.1.3
Kennenlernen von Rationalitäten .................................................. 158
4.4.1.4
Vermitteln zwischen Rationalitäten .............................................. 161
4.4.1.5
Klären zwischen Rationalitäten .................................................... 164
4.4.1.6
Vermeiden der Überschneidung von Rationalitäten ..................... 167
4.4.1.7
Isolieren von Rationalitäten .......................................................... 169
4.4.2
Praktiken im Umgang mit Multirationalität im Aussenverhältnis ....... 171
4.4.2.1
Kombinieren von Rationalitäten ................................................... 172
4.4.2.2
Akquirieren von Rationalitäten ..................................................... 175
4.4.2.3
Vermitteln zwischen Rationalitäten .............................................. 177
4.4.2.4
Adaptieren an Rationalitäten ......................................................... 180
4.4.2.5
Signalisieren von Rationalitäten ................................................... 185
4.4.2.6
Widerstehen gegenüber Rationalitäten ......................................... 190
4.4.2.7
Isolieren von Rationalitäten .......................................................... 192
4.5
Organisationale Bedingungen für die Mobilisierung von Praktiken .. 194
4.5.1
Machtposition ........................................................................................ 197
4.5.2
Kapazitäten ............................................................................................ 201
4.5.3
Identität ................................................................................................. 207
5
DISKUSSION DER FORSCHUNGSRESULTATE ..................................213
5.1
Einordnung des „grounded-theory“-Modells in die Literatur ............. 213
5.1.1
Element der Rationalitäten .................................................................... 216
5.1.2
Element der Multirationalität ................................................................ 218
5.1.3
Element der Praktiken ........................................................................... 221
XI
5.1.4 5.2
6
Element der organisationalen Bedingungen .......................................... 233 Kritische Reflexion des „grounded-theory“-Modells ............................ 238
AUSBLICK .......................................................................................................241
6.1
Beitrag zur Praxis .................................................................................... 241
6.2
Beitrag zur Theorie ................................................................................. 243
6.3
Limitationen des Forschungsprozesses .................................................. 245
6.4
Anregung für zukünftige Forschung ..................................................... 247
LITERATURVERZEICHNIS................................................................................249 APPENDIX ................................................................................................................259 Appendix I: Interinstitutional System Ideal Types ........................................... 259 Appendix II: Beispiel Datenstruktur Multirationalität .................................... 260 Appendix III: Beispiel Datenstruktur zu den Praktiken im Umgang mit ........... Multirationalität................................................................................................... 261
XII
Abbildungsverzeichnis Abbildung 1: Zusammenspiel von institutionellen Logiken und Rationalitäten (eigene Darstellung) ................................................................................................ 26 Abbildung 2: Zuweisungsverfahren von Kindern und Jugendlichen in eine Sonderschule (eigene Darstellung basierend auf Kanton X (2008)) ....................... 43 Abbildung 3: Gioia-Methodologie (basierend auf Gioia et al. (2013)) .................. 66 Abbildung 4: Datenanalyseprozess (eigene Darstellung) ....................................... 68 Abbildung 5: „Grounded-theory“-Modell zum Umgang der Sonderschulleitungspersonen mit Multirationalität (eigene Darstellung) ............... 79 Abbildung 6: Praktiken im Umgang mit Multirationalität im Innen- und Aussenverhältnis von Sonderschulen (eigene Darstellung) ................................... 150 Abbildung 7: Praktiken im Umgang mit Multirationalität im Innenverhältnis der Sonderschulen (eigene Darstellung) ................................................................ 152 Abbildung 8: Praktiken im Umgang mit Multirationalität im Aussenverhältnis von Sonderschulen (eigene Darstellung) ............................................................... 172 Abbildung 9: Drei organisationale Bedingungen können die Wahl von Praktiken im Umgang mit Multirationalität beeinflussen (eigene Darstellung) .... 195 Abbildung 10: Unterschiedliche Konstellationen der organisationalen Bedingung „Machtposition“ (eigene Darstellung) ................................................ 199 Abbildung 11: Unterschiedliche Konstellationen der organisationalen Bedingung „Kapazitäten“ (eigene Darstellung) ................................................... 204 Abbildung 12: Unterschiedliche Konstellationen der organisationalen Bedingung „Identität“ (eigene Darstellung) ......................................................... 209 Abbildung 13: „Grounded-theory“-Modell zum Umgang der Sonderschulleitungspersonen mit Multirationalität im institutionellen Überbau (eigene Darstellung) .............................................................................................. 214 Abbildung 14: Verortung der Praktiken im Umgang mit Multirationalität in der Literatur (eigene Darstellung) ......................................................................... 224
XIII
Tabellenverzeichnis Tabelle 1: Zentrale Institutionen („institutional orders“) und institutionelle Logiken (nach Friedland und Alford (1991))........................................................... 21 Tabelle 2: Überblick semi-strukturierte Interviews und Validierungsgespräche (eigene Darstellung) ................................................................................................ 61 Tabelle 3: Übersicht Sonderschul-Cases (eigene Darstellung basierend auf Jahresberichten der Schulen)................................................................................... 81 Tabelle 4: Rationalitäten im Sonderschulwesen (eigene Darstellung) .................... 91 Tabelle 5: Sub-Rationalitäten der sonderpädagogischen Rationalität (eigene Darstellung) ............................................................................................................. 94 Tabelle 6: Multirationalität im empirischen Kontext des Sonderschulwesens (eigene Darstellung) .............................................................................................. 118
XIV
Abkürzungsverzeichnis AfS BehiG BL BSV EFD GL ICF IS IV IVG IVSE MA NFA SHP SODK SPD TP UNESCO
Abteilung für Sonderpädagogik Behindertengleichstellungsgesetz Bereichsleiter Bundesamt für Sozialversicherung Eidgenössisches Finanzdepartement Geschäftsleiter International Classification of Functioning Integrative Sonderschulung Schweizerische Invalidenversicherung Bundesgesetz über die Invalidenversicherung Interkantonalen Vereinbarung für soziale Einrichtungen Mitarbeiter Neugestaltung des Finanzausgleiches und der Aufgabenteilung Schulischer Heilpädagoge Konferenz der kantonalen Sozialdirektorinnen und Sozialdirektoren Schulpsychologischer Dienst Trägerschaftspräsident United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization
XV
1 Einleitung In diesem Kapitel wird zuerst die grundsätzliche Thematik der Forschungsarbeit als Ausgangslage eingeführt (Kap. 1.1). Es folgt die Erläuterung der Forschungsmotivation und Formulierung der Forschungsfragen (Kap. 1.2). Im Anschluss wird die wissenschaftstheoretische Positionierung geklärt und aufgezeigt, unter welchen Prämissen die Forschungsfragen bearbeitet werden (Kap. 1.3). Danach werden die Beiträge zu Theorie und Praxis beschrieben, welche die Arbeit zu leisten beabsichtigt (Kap. 1.4). Abschliessend wird der Aufbau der Arbeit erläutert (Kap. 1.5).
1.1
Ausgangslage
Die moderne Gesellschaft ist geprägt durch die Herausbildung von unterschiedlichen Funktionssystemen, die durch eine fortschreitende Arbeitsteilung und Spezialisierung des Wissens entstehen. Unter Funktionssystemen versteht man ausdifferenzierte Handlungswelten mit „je eigenen Sinnkriterien und Erfolgsvorstellungen“, wie z.B. Politik, Recht, Wissenschaft, Wirtschaft und Religion (Schedler und Rüegg-Stürm 2013, S. 15). Der Begriff der „Funktionssysteme“ ist dabei eine Möglichkeit, die Teilbereiche der pluralistischen Gesellschaft zu benennen. Weber sieht eine Ausdifferenzierung der Gesellschaft in verschiedenen Wertesphären (Religion, Wirtschaft, Politik, Ästhetik, Erotik und Intellekt), welche je mit eigenen, unterschiedlichen Werten und Normen verknüpft sind (Oakes 2003; Cloutier und Langley 2007, S. 8). Berger und Luckmann (1967) wiederum schreiben von unterschiedlichen Sinnesgemeinschaften („communities oder subuniverses of meaning“), die sich in der modernen Gesellschaft herausbilden. Diese Sinnesgemeinschaften werden je durch ein eigenes Set von Institutionen angeleitet, welche typifiziertes, habitualisiertes Handeln innerhalb dieser Gemeinschaften darstellen (Walgenbach und Meyer 2008, S. 55). All diesen Ansätzen ist gemein, dass sie die moderne Gesellschaft als pluralistisch betrachten. Die Gesellschaft besteht demnach aus verschiedenen Teilbereichen oder Sinneswelten, die jeweils nach eigenen Werten, Regeln und Normen organisiert sind. Entsprechend werden in den unterschiedlichen Teilbereichen der Gesellschaft
1
Ausgangslage
auch unterschiedliche Handlungsmuster und Entscheidungskriterien als legitim betrachtet. In der modernen, pluralistischen Gesellschaft gibt es deshalb nicht eine, sondern verschiedene Realitäten. Was in einer Sinneswelt als rational betrachtet wird, kann in einer anderen als irrational gelten. In dieser Perspektive verliert die Rationalität ihren Anspruch auf Objektivität und Allgemeingültigkeit. Statt einer Form von Rationalität ergeben sich in der pluralistischen Gesellschaft unterschiedliche Rationalitäten. Organisationen, die gleichzeitig in unterschiedliche Sinneswelten oder Funktionssysteme eingebunden sind, werden als pluralistische Organisationen bezeichnet (z.B. Kraatz und Block 2008; Denis et al. 2007). Sie sehen sich mit unterschiedlichen, teilweise sogar widersprüchlichen Erwartungen und Forderungen ihrer internen und externen Anspruchsgruppen konfrontiert, da diese in den unterschiedlichen Teilbereichen der Gesellschaft beheimatet sind. Dies schafft Komplexität für diese Organisationen (Greenwood et al. 2011). Denn um Legitimität und damit notwendige Ressourcen von allen ihren relevanten Anspruchsgruppen zugesprochen zu bekommen, müssen sie deren unterschiedlichen Erwartungen und Forderungen möglichst gleichzeitig entsprechen. Auch im Innern von pluralistischen Organisationen entsteht Komplexität, da ihre Mitglieder, die aufgrund ihrer Sozialisierung oder eingenommenen Rollen in Beziehungen zu unterschiedlichen funktionalen System stehen, unterschiedliche Kriterien in den organisationalen Entscheidungsfindungsprozess einbringen. Besonders ausgeprägt sind die Leitungspersonen von pluralistischen Organisationen dieser Form von Komplexität ausgesetzt. Leitungspersonen werden hier als Mitglieder von Organisationen verstanden, welche strategische und/oder operative Führungsaufgaben übernehmen, weitere Mitglieder der Organisation hierarchisch unterstellt haben und die übergeordneten Entscheide in der Organisation bzw. in einem Teilbereich fällen. Sie nehmen eine Schnittstellenfunktion zwischen den verschiedenen internen und externen Anspruchsgruppen wahr und werden so tagtäglich mit den unterschiedlichen Erwartungen und Forderungen an ihre Organisation konfrontiert. Die Sonderschulen in der Schweiz können als typische Beispiele für pluralistische Organisationen betrachtet werden. Sie sind als spezialisierte Schulen für Kinder und
2
Einleitung
Jugendliche mit bestimmten Behinderungsformen (z.B. geistige Behinderung, Sehbehinderung) oder Lern- und Verhaltensschwierigkeiten Bestandteil der obligatorischen Bildungsstufe (Schweizerische Konferenz der Erziehungsdirektoren 2007c). Sie weisen im Aussenverhältnis ein fragmentiertes Netz von Anspruchsgruppen (z.B. Eltern, Politik, Behörden, Wissenschaft) auf, die jeweils in unterschiedliche Funktionssysteme einbezogen sind und entsprechend unterschiedliche Erwartungen an eine Sonderschule haben. Im Innenverhältnis sind sie geprägt durch das Wirken von verschiedenen, spezialisierten Berufsgruppen (z.B. Heilpädagogen, Sozialpä1
dagogen, Therapeuten ) die gemeinsam an der Entwicklung der Sonderschüler arbeiten. Aufgrund ihrer unterschiedlichen Sozialisierungen wird ihr Arbeiten jedoch durch unterschiedliche, manchmal auch konträre Prämissen angeleitet. Dies kann zu Konflikten führen. Darüber hinaus kam es im Sonderschulwesen vor kurzem zu zwei einschneidenden Veränderungen, welche den pluralistischen Charakter von Sonderschulen weiter verstärkt haben. Zum einen zog sich die Schweizerische Invalidenversicherung (IV) im Rahmen der Neugestaltung des Finanzausgleichs und der Aufgabenteilung (NFA) komplett aus dem Sonderschulwesen zurück. In der Folge schufen die nun alleine verantwortlichen Kantone neue, kantonale Steuerungs- und Finanzierungssysteme für das Sonderschulwesen, welche sowohl die Möglichkeit der behördlichen Einflussnahme wie auch den ökonomischen Druck auf die Sonderschulen erhöhten. Zum anderen hat der allgemeine, gesellschaftliche Trend zur Integration auch das Sonderschulwesen erreicht. Als Folge wird die Legitimität der traditionell separativ arbeitenden Sonderschulen als alleinige adäquate Beschulungsorte für Kinder und Jugendliche mit sonderpädagogischen Förderbedürfnissen vermehrt in Frage gestellt. Sonderschulleitungspersonen sehen sich durch diese Veränderungen verstärkt mit Funktionssystemen ausserhalb der traditionellen Sonderpädagogik konfrontiert und müssen Wege für den Umgang mit der daraus erwachsenden Komplexität finden.
1
In dieser Dissertation wird der Einfachheit halber stets die männliche Form gewählt, die weibliche Form ist grundsätzlich immer mitgemeint.
3
Forschungsmotivation und Forschungsfrage
1.2
Forschungsmotivation und Forschungsfrage
Sonderschulleiter sehen sich, wie andere Leitungspersonen von pluralistischen Organisationen mit unterschiedlichen, teilweise konträren Erwartungen und Forderungen ihrer internen und externen Anspruchsgruppen konfrontiert. Wie bereits beschrieben, rühren diese Unterschiede daher, dass die verschiedenen Anspruchsgruppen unterschiedlichen Funktionssystemen oder Sinneswelten zugehören. Für ihr langfristiges Überleben sind die Sonderschulen auf den Zuspruch von Legitimität von allen relevanten Anspruchsgruppen angewiesen. Legitimität gegenüber einer Anspruchsgruppe wird hergestellt, wenn ihrer Erwartungen an eine Sonderschule entsprochen wird. Wie aber können Sonderschulleiter Erwartungen der finanzierenden Behörden oder der Trägerschaft nach wirtschaftlichem Verhalten erfüllen und gleichzeitig dem Anspruch der pädagogischen Mitarbeiter nachkommen, dass jedem Kind jene Ressourcen zu Verfügung gestellt werden, welches für seine optimale Entwicklung erforderlich sind („Markt- vs. Kindsorientierung“)? Wie vereinbaren Sonderschulleiter die Forderung von den beaufsichtigenden Behörden nach standardisierten, schriftlich festgelegten Prozessen mit dem Anspruch der pädagogischen Mitarbeiter nach professioneller Autonomie und Einzelfallbetrachtung („Verfahrenskonformität vs. pädagogischer Flexibilität“)? Wie kann die Sonderschule als grundsätzlich separative Einrichtung auch der Forderung nach integrativer Sonderschulung entsprechen („Sonderschule als stationäre Einrichtung vs. Kompetenzzentrum für integrative Sonderschulung“)? Wie verträgt sich der Wunsch der Eltern nach einem intakten Familienleben mit den Anforderungen der Fachkräfte an das optimale Umfeld für das professionelle Arbeiten mit den Kindern („Norm entsprechendes Familienleben vs. optimale Förderung“)? Diese Beispiele zeigen, wie sich die Sonderschulleiter heute in einem grossen Spannungsfeld zwischen unterschiedlichen Funktionssystemen bewegen. Wie erreichen sie es, dass ihre Organisation von allen relevanten Anspruchsgruppen aus den verschiedenen Funktionssystemen Legitimität und Ressourcen zugesprochen bekommen? Oder in den Worten von Kraatz (2009, S. 72): Wie können Sonderschu-
4
Einleitung
len als pluralistische Organisationen gleichzeitig „verschiedene Dinge für verschiedene Personen“ darstellen? Als theoretische Grundlage für die Erforschung dieser Fragen wird auf die neoinstitutionalistische Organisationstheorie gebaut. Denn diese Theorie geht davon aus, dass das Überleben einer Organisation nicht primär von der Effizienz ihres Produktionsprozesses, sondern von ihrer Legitimität abhängt. Legitimität erhält eine Organisation, wenn sie den Institutionen in der Gesellschaft, also den „gesellschaftlich geteilten Werten, normativen Erwartungen mit allgemeinen Regeln und Gesetzen“ entspricht (Walgenbach und Meyer 2008, S. 12). Diese Institutionen sind mit institutionellen Logiken verbunden, welche beeinflussen, wie die Realität wahrgenommen und interpretiert wird (Friedland und Alford 1991; Thornton et al. 2012). Die institutionellen Logiken geben auch die adäquaten Verhaltensweisen und Erfolgskriterien innerhalb des Wirkungsbereichs der Institutionen vor. In der neoinstitutionalistischen Organisationstheorie wurde ursprünglich der Fokus der Analyse auf die Makro-Ebene gelegt. Besonderes Interesse galt dem organisationalen Feld als hauptsächliche Analyseeinheit. Unter dem organisationalen Feld versteht man eine Gruppe von Organisationen, die miteinander in Verbindung stehen und gemeinsam einen identifizierbaren, abgrenzbaren Bereich (z.B. Sonderschulwesen, Gesundheitswesen, Bankenwesen etc.) darstellen (DiMaggio und Powell 1983). In früheren Beiträgen zur Theorie wurde angenommen, dass organisationale Felder jeweils durch eine institutionelle Logik geprägt sind. Die Präsenz mehrerer Logiken wurde höchstens als temporärer Zustand – bis sich die Dominanz einer neuen Logik einstellte – verstanden (Thornton und Ocasio 1999). Erst ab den 2000er-Jahren wurde in der neoinstitutionalistischen Organisationstheorie zunehmend anerkannt, dass organisationale Felder gleichzeitig durch mehrere institutionelle Logiken geprägt sein können. Die Präsenz multipler Logiken in einem Feld kann zu institutioneller Komplexität für Organisationen führen, wenn sie sich mit inkompatiblen Anforderungen der verschiedenen Logiken konfrontiert sehen (Greenwood et al. 2011, S. 318). Die Erforschung des Umgangs von Organisationen mit institutioneller Komplexität steht noch weitgehend am Anfang, wie der „Call for Papers“ für die “Special issue of Strategic Organization: Strategic Responses to Institutional Complexity” aus dem Jahr 2014 zeigt:
5
Forschungsmotivation und Forschungsfrage
“[…] our knowledge of how firms and organizations respond to multiple institutional constituents with conflicting demands is limited, and few studies have examined the conflicts and struggles that result.” (Vermeulen et al. 2014)
Darüber hinaus wurden Organisationen aufgrund der eingenommenen MakroPerspektive in der neoinstitutionalistischen Organisationstheorie lange Zeit als homogene Entitäten betrachtet. Erst seit kürzerem sind auch die intra-organisationalen Dynamiken ins Zentrum des Interesses gerückt. Verschiedentlich wird festgestellt, dass es erst wenige vertiefte, empirische Studien gibt, die sich explizit mit den Mitgliedern von Organisationen im Umgang mit institutioneller Komplexität auseinandersetzen (Suddaby 2010; Kodeih und Greenwood 2013; Cloutier und Langley 2013), auch wenn in jüngster Vergangenheit einige solcher Arbeiten publiziert wurden (z.B. McPherson und Sauder 2013; Pache und Santos 2013a; Smets und Jarzabkowski 2013) und andere in Bearbeitung sind. Auch Thornton et al. (2012, S. 133-134) fordern in ihrem viel zitierten Werk zur „institutional logics perspective“ mehr Forschung zum Umgang mit institutioneller Komplexität auf der MikroEbene. In dieser Forschungsarbeit soll untersucht werden, wie die Sonderschulleiter mit den unterschiedlichen Erwartungen der relevanten Anspruchsgruppen an ihre Schulen umgehen, damit sie Legitimität herstellen und Ressourcenflüsse für ihre Organisation sichern können. Dadurch wird zum einen die Forderung nach mehr empirischer Forschung zum Umgang von Organisationen mit einer pluralistischen Umwelt entsprochen. Zum anderen wird mit dem expliziten Fokus auf die Leitungspersonen von Sonderschulen das Phänomen auf der Mikro-Ebene betrachtet, während in der Literatur bis anhin primär eine Makro-Perspektive eingenommen wurde. Zur Betonung der Mikro-Ebene wird Schedler und Rüegg-Stürm (2013) gefolgt und anstelle von institutionellen Logiken und institutioneller Komplexität die Konzepte „Rationalität“ und „Multirationalität“ verwendet. Diese Konzepte sind klar auf der Mikro-Ebene verortet (vgl. Kap. 2.1). Schedler (2003, S. 538) definiert „Rationalität“ als „eine spezifische Art des Denkens, Sprechens und Handelns, welches in sich einen logischen Sinn ergibt“. Dies sind alles Prozesse, welche auf der Ebene der Akteure angesiedelt sind. „Multirationalität“ beschreiben Schedler und RüeggStürm (2013, S. 61) als den Zustand, in dem „in einer Organisation auf Dauer mehrere Rationalitäten gleichzeitig auf eine Entscheidungssituation einwirken.“
6
Einleitung
Vor dem Hintergrund des dargestellten zu untersuchenden Phänomens und der beschriebenen theoretischen Positionierung lautet die Forschungsfrage dieser Dissertation wie folgt: Wie gehen die Leitungspersonen von Sonderschulen in einem Schweizer Kanton mit den unterschiedlichen Rationalitäten der externen und internen Anspruchsgruppen ihrer Organisationen um? Zur Beantwortung dieser übergeordneten Forschungsfrage werden die folgenden Unterforschungsfragen in sequenzieller Weise angegangen:
1.3
Was sind die Rationalitäten der relevanten Akteure im Sonderschulbereich? Mit welchen Formen von Multirationalität sehen sich die Leiter von Sonderschulen konfrontiert? Mit welchen Praktiken reagieren die Sonderschulleiter auf die Multirationalität? Welche organisationalen Bedingungen beeinflussen die Mobilisierung der Praktiken durch die Sonderschulleiter?
Wissenschaftstheoretische Positionierung
Es wurde bereits aufgezeigt, dass der Umgang der Leitungspersonen einer Organisation mit unterschiedlichen Rationaliäten noch weitgehend unerforscht ist (siehe Kap. 1.2). Deshalb erfordert die Forschungsfrage ein exploratives Herangehen („Wie-Frage“) (Eisenhardt 1989). In einer solchen Situation birgt der explorative Ansatz das Potential, einen substantiellen theoretischen Beitrag zu leisten. Die Forschungsfrage impliziert auch, dass wir in einer pluralistischen Welt mit nicht einer, sondern multiplen, sozial konstruierten Realitäten leben (Berger und Luckmann 1967). In einer solchen Welt wird – wie bereits oben erwähnt – nicht von einer objektiven Realität, sondern von multiplen Realitäten ausgegangen. Diese werden von Individuen und Organisationen durch soziale Interaktion und institutionelle Einbettung ständig neu erschaffen. In einer solchen Welt gibt es denn auch nicht nur eine objektive (d.h. ökonomische) Rationalität, sondern unterschiedliche
7
Beitrag zur Theorie und Praxis
Rationalitäten in unterschiedlichen Sub-Universen der Gesellschaft (Berger und Luckmann 1967, S. 86). Aus diesen Gründen kommt für die Beantwortung der Forschungsfrage ein positivistisch-quantitativer Ansatz kaum in Frage. Zum einen fehlt eine Theorie zum Umgang des Managements mit multiplen Logiken bzw. Rationalitäten, welche deduktiv getestet werden könnte (siehe oben). Zum anderen lässt die eingenommene ontologische Perspektive keinen positivistischen Ansatz zu, da dieser von einer einzigen, objektiven Wahrheit ausgeht, welche vom Forschenden adäquat und präzise erfasst werden könne. Für die Beantwortung der Forschungsfrage wird deshalb ein interpretativqualitativer Forschungsansatz gewählt, welcher der konstruktivistischen Perspektive gerecht wird. Interpretative Ansätze vertreten den epistemologischen Standpunkt, dass die Welt (bzw. die Welten) nur in enger Interaktion und aus Sicht der für die Forschung relevanten Akteure im Feld zu verstehen ist (Schwartz-Shea und Yanow 2012). Dabei geht es darum, nicht wie in positivistischen Forschungsansätzen eine objektive Realität zu identifizieren, sondern die unterschiedlichen Realitäten zu erfassen, wie sie von den relevanten Akteuren wahrgenommen und gelebt werden. Diese Realitäten können durchaus auch widersprüchlich sein und miteinander in Konflikt stehen (Schwartz-Shea und Yanow 2012, S. 82). Um das zu untersuchende Phänomen möglichst breit zu erfassen und die unterschiedlichen Perspektiven der forschungsrelevanten Akteure aufzuzeigen, wird die Methode der multiplen, interpretativen Fallstudie zur Entwicklung eines „grounded-theory“-Modells angewendet (Gioia et al. 2013).
1.4
Beitrag zur Theorie und Praxis
Mit der Forschungsarbeit soll sowohl ein Beitrag zur Wissenschaft, wie auch zur Praxis geleistet werden. Auf der Ebene der Theorie beabsichtigt die Arbeit einen Beitrag zur Weiterentwicklung der neoinstitutionalistischen Organisationstheorie auf der Mikro-Analyseebene zu leisten. Wie bereits gezeigt wurde (vgl. Kap. 1.2), steht die Untersuchung des Umgangs von Leitungspersonen mit unterschiedlichen
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Einleitung
Rationalitäten (bzw. institutionellen Logiken) in der neoinstitutionalistischen Organisationstheorie noch am Anfang (vgl. z.B. Vermeulen et al. 2014). Durch eine interpretativ-qualitative Fallstudie im Sonderschulwesen wird ein „groundedtheory“-Modell zum Umgang von Sonderschulleitern mit Multirationalität entwickelt. Damit wird unter anderem auch der Forderung von Thornton et al. (2012) entsprochen, die Theorie durch empirische Fallstudien zu bereichern, welche tief in die Organisationen eindringen und auf die intra-organisationalen Dynamiken im Umgang mit unterschiedlichen Rationalitäten bzw. institutionellen Logiken fokussieren. Im Rahmen der Entwicklung des „grounded-theory“-Modells werden verschiedene konkrete Beiträge zur Theorie erbracht: Zum einen wird eine Definition der Beziehung zwischen den Konzepten „Rationalitäten“ auf der Mikro- und „institutionellen Logiken“ auf der Makro-Ebene vorgeschlagen. Darauf aufbauend wird ein Ansatz zur Identifikation und Beschreibung von Rationalitäten in einem organisationalen Feld entwickelt und anhand des empirischen Kontexts des Sonderschulwesens angewendet. Zudem wird die Natur von Multirationalität (bzw. von institutioneller Komplexität) vertieft betrachtet, welche in der Literatur bis vor kurzem in der Regel negativ konnotiert war (z.B. Greenwood et al. 2011). Dadurch können auch andere Ausprägungen der Multirationalität aufgezeigt werden. In der Folge wird analysiert, mit welchen Praktiken die Sonderschulleiter auf die wahrgenommene Multirationalität reagieren. Die identifizierten Praktiken lassen sich in ein Framework einordnen, welches sich grundsätzlich auch für die Einordnung von Praktiken aus anderen Kontexten in der Literatur eignet. Abschliessend werden die organisationalen Bedingungen ergründet, welche die Mobilisierung der Praktiken durch die Sonderschulleiter beeinflussen. Dadurch wird eine von Pache und Santos (2010, S. 45) identifizierte Forschungslücke in der neoinstitutionalistischen Organisationstheorie aufgegriffen. Neben dem theoretischen Beitrag beabsichtigt die Forschungsarbeit aber auch ausdrücklich, einen echten Nutzen für die Praxis zu schaffen. Sonderschulleiter sehen sich heute als Verantwortliche von pluralistischen Organisationen aufgrund der Umwälzungen im Sonderschulwesen verstärkt mit unterschiedlichsten, teils konträren Erwartungen und Forderungen an ihre Schulen konfrontiert (vgl. Kap. 1.1).
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Aufbau
Diese Arbeit soll Leitungspersonen unterstützen, einen erfolgreichen Umgang mit Multirationalität zu finden. Mit den Konzepten der „Rationalitäten“ und „Multirationalität“ und ihrer konkreten Identifikation und Beschreibung im Sonderschulwesen, soll den Praktikern ein Instrumentarium in die Hand gegeben werden, wie sie die unterschiedlichen Ansprüche an ihre Organisation besser verstehen und einordnen können. Es erlaubt den Sonderschulleitern eine Auslegeordnung zu machen und mögliche Konflikte im Alltag dadurch sachlicher zu betrachten. Darüber hinaus werden durch die verschiedenen Konzepte von Praktiken im Umgang mit Multirationalität den Sonderschulleitern Wege aufgezeigt, wie mit der gleichzeitigen Präsenz unterschiedlicher Rationalitäten im Sonderschulwesen bewusst umgegangen werden kann und welche organisationalen Bedingungen für die Anwendung der unterschiedlichen Praktiken erforderlich sind. Die Forschungsarbeit dürfte auch für die relevanten Behörden im Sonderschulwesen von Interesse sein. Beispielsweise kann ihnen ein gutes Verständnis über die im Sonderschulwesen präsenten Rationalitäten helfen, geeignete Steuerungsmechanismen zu entwickeln. Gegebenenfalls stossen die Forschungsresultate auch bei Leitungspersonen von anderen pluralistischen Organisationen auf Interesse. Beim Transfer der Forschungserkenntnisse in andere Kontexte muss der interessierte Leser allerdings Vorsicht walten lassen, da ihre Generalisierbarkeit aufgrund des gewählten Forschungsansatzes beschränkt ist.
1.5
Aufbau
Die Arbeit ist in sechs Kapitel gegliedert. Nach dem einleitenden Kapitel werden im zweiten Kapitel die theoretischen Grundlagen für diese Dissertation gelegt und der empirische Kontext des Sonderschulwesens eingeführt. Der theoretische Teil beginnt mit einem kurzen Überblick über die Entwicklung der neoinstitutionalistischen Organisationstheorie (Kap. 2.1.1). Es folgt eine Diskussion der für die Arbeit zentralen Konzepte der institutionellen Logiken und Rationalitäten (Kap. 2.1.2) sowie der Multirationalität (Kap. 2.1.3). Im Anschluss dazu werden die in der Literatur bereits behandelten Reaktionen von Organisationen auf institutionelle Komplexität bzw. Multirationalität kurz beleuchtet (Kap. 2.1.4). In einem zweiten Teil
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Einleitung
des Kapitels wird das Sonderschulwesen als empirischer Kontext eingeführt (Kap. 2.2.1) und begründet, weshalb es sich bei Sonderschulen um typische Beispiele für pluralistische Organisationen handelt (Kap. 2.2.2). Abschliessend werden die Änderung des Finanzierungs- und Steuerungssystems (Kap. 2.2.3.1) sowie der Paradigmenwechsel hin zur integrativen Sonderschulung (Kap. 2.2.3.2) als neue Herausforderungen für die Sonderschulen bzw. die Sonderschulleiter beschrieben. Im dritten Kapitel wird das empirische Forschungsdesign zur Beantwortung der Forschungsfragen erläutert. Zuerst werden die interpretativ-qualitative Fallstudie als gewählte Forschungsmethode sowie die grundsätzliche analytische Strategie vorgestellt (Kap. 3.1). Es folgen die Begründung der gewählten Cases für die Fallstudie (Kap. 3.2) und die Beschreibung des Datenerhebungsprozesses (Kap. 3.3). Im Unterkapitel zur Datenanalyse (Kap. 3.4) wird detailliert aufgezeigt, wie die verschiedenen Forschungsfragen angegangen werden und wie unter Verwendung der „Gioia-Methodologie“ ein „grounded-theory“-Modell zum Umgang von Sonderschulleitern mit Multirationalität entwickelt wird. Das Kapitel zum empirischen Forschungsdesign wird mit einer Diskussion wichtiger Gütekriterien für interpretativ-qualitative Forschung abgeschlossen (Kap. 3.5). Im vierten Kapitel „Forschungsresultate“ werden die einzelnen Elemente des „grounded-theory“-Modells zum Umgang von Sonderschulleitern mit Multirationalität vorgestellt und miteinander in Beziehung gestellt. Einleitend dazu werden zuerst die sechs Sonderschul-Cases beschrieben (Kap. 4.1). Es folgt die Beschreibung der im Sonderschulwesen identifizierten Rationalitäten der relevanten internen und externen Anspruchsgruppen der Sonderschulen (Kap. 4.2). Darauf aufbauend wird gezeigt, wie die Präsenz unterschiedlicher Rationalitäten zu unterschiedlichen Ausprägungen von Multirationalität nur im Innen- (Kap. 4.3.1), im Innen- und Aussen(Kap. 4.3.2) oder nur im Aussenverhältnis (Kap. 4.3.3) der Schulen führen können. Im Anschluss dazu wird erörtert, mit welchen Konzepten von Praktiken die Sonderschulleiter auf die unterschiedlichen Formen der Multirationalität im Innen- und Aussenverhältnis ihrer Organisationen reagieren (Kap. 4.4). Abschliessend werden drei organisationale Bedingungen beleuchtet, welche die Mobilisierung der Praktiken durch die Sonderschulleiter wesentlich zu beeinflussen scheinen (Kap. 4.5).
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Aufbau
Im fünften Kapitel erfolgt die Diskussion der Forschungsresultate. In einem ersten Teil wird das „grounded-theory“-Modell zum Umgang von Sonderschulleitern mit Multirationalität in der Literatur der neoinstitutionalistischen Organisationstheorie verortet (Kap. 5.1). Dazu werden die einzelnen Elemente des Modells separat diskutiert. Im zweiten Teil dieses Kapitels wird das entwickelte „grounded-theory“Modell kritisch reflektiert, indem sein Erklärungspotential hinsichtlich der Forschungsfragen und auch seine Limitationen diskutiert werden (Kap. 5.2). Im sechsten und abschliessenden Kapitel werden die Beiträge der Forschungsarbeit zur Praxis (Kap. 6.1) und zur Theorie (Kap. 6.2) zusammengefasst. Danach werden die Limitationen des Forschungsprozesses aufgezeigt (Kap. 6.3) und aus der Arbeit abgeleitete Anregungen für zukünftige Forschung vorgestellt (Kap. 6.4).
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