Siegrist, Alpenwanderer

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Dominik Siegrist Alpenwanderer



Dominik Siegrist

Alpenwanderer Eine dokumentarische FuĂ&#x;reise von Wien nach Nizza

Haupt Verlag


Der Autor dankt Harry Spiess, Gerhard StĂźrzlinger und Christian Baumgartner, Mitglieder des whatsalp-Kernteams, fĂźr ihre Begleitung und Mitwirkung. Ein groĂ&#x;es Merci geht an die insgesamt rund 200 Mitwandernden sowie alle Einzelpersonen und Institutionen, die zum Gelingen des Projekts whatsalp und zum vorliegenden Buch beigetragen haben. Insbesondere wären whatsalp und dieses Buch nicht mĂśglich gewesen ohne die UnterstĂźtzung durch eine Reihe von Organisationen und alpenweiten Netzwerken: Alpen-Initiative, Internationale Alpenschutzkommission CIPRA, HSR Hochschule fĂźr Technik Rapperswil, ALPARC – Netzwerk Alpiner Schutzgebiete, Alpine Pearls, BergsteigerdĂśrfer, Club Arc Alpin (CAA), *HPHLQGHQHW]ZHUN $OOLDQ] LQ GHQ $OSHQ ,6&$5 ,QWHUQDWLRQDO 6FLHQWLĂ€F &RPPLWWHH RQ Research in the Alps, myclimate, Mountain Wilderness, Naturfreunde Ă–sterreich, Ständiges Sekretariat der Alpenkonvention, Tractalis, ZĂźrcher Hochschule fĂźr Angewandte Wissenschaften ZHAW. Autor und Verlag danken der Schweizerischen Stiftung I U 6ROLGDULWlW LP 7RXULVPXV 667 I U GLH Ă€QDQ]LHOOH 8QWHUVW W]XQJ Die Schilderungen in diesem Buch beziehen sich im Wesentlichen auf den Stand von Sommer/Herbst 2017.

$XĂ DJH Diese Publikation ist in der Deutschen Nationalbibliothek verzeichnet. Mehr Informationen GD]X Ă€QGHQ 6LH XQWHU KWWS GQE GQE GH Der Haupt Verlag wird vom Bundesamt fĂźr Kultur mit einem Strukturbeitrag fĂźr die Jahre 2016 bis 2020 unterstĂźtzt. ,6%1 Alle Rechte vorbehalten &RS\ULJKW ‹ +DXSW 9HUODJ %HUQ Jede Vervielfältigung ohne Genehmigung des Verlags ist unzulässig. Lektorat: Martin Vetterli, ZĂźrich Produktion: Barbara Siegrist, ZĂźrich Layout: Vera Rodel, ZĂźrich )RWRQDFKZHLV *DVWHLQ 7RXULVPXV 6 ² .UDIWZHUNH 2EHUKDVOL 6 ² 6DPPOXQJ *HVHOOVFKDIW I U |NRORJLVFKH )RUVFKXQJ 6 .DUWH 2SHQ 6WUHHW 0DS +XPDQLWDULDQ Alle anderen Fotos stammen vom Autor. Printed in Germany www.haupt.ch


Inhalt (ULQQHUXQJHQ DQ 6WRFN LP (LVHQ XQG VWHFKHQGHU 6FKPHU] Eine Ausstellung mit Folgen

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6NLQRVWDOJLH gWVFKHUKLDV XQG XQZHJVDPH :LOGQLV

Naturparke und das neue Selbstbewusstsein

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3DUNGLUHNWRU /DQGHVIRUVWH XQG DOSLQH .XOLQDULN

*UDXNDV XQG *UDPPHOVFKPDO]

%LRQLHUH 3URWHVWDQWLVPXV XQG HLQH WUDXULJH 1DFKULFKW Die Bioniere von Ramsau

44

6FKXKĂ LFNHU 6FKQHHNDQRQHQ XQG NHLQH 6LFKW

1DWLRQDOSDUN *UR‰JUXQGEHVLW]HULQ XQG YHUORUHQH -XJHQG

*DVWHLQ ZRKLQ"

Widerstand gegen die Alemagna Apfelplantagen, Biokräuter und null Pestizide

64 66

Die pestizidfreie Gemeinde Mals

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Das Puschlaver Biotal

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=RLD /XSR XQG |NRORJLVFKHU 6FL U

%HUJJHELHWH XQG LKUH XQJHZLVVH =XNXQIW

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+RWHOWXUP )HULHQUHVRUW XQG NHLQ 1DWLRQDOSDUN

Warum das Nationalparkprojekt Adula scheiterte :DVVHUĂ XW :DVVHUNUDIW XQG HQWVFKLHGHQHU :LGHUVWDQG

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Gegen die ZerstĂśrung der Trift

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Raclette, Cholera und duftender Humagne blanche

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Iniziativa da las Alps

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(LQ :DQGHUYHWHUDQ VFKPHO]HQGH *OHWVFKHU XQG GLH KRFKà LHJHQGHQ Pläne der Unesco 126

Unesco-Welterbe Mont Blanc: Nur ein schĂśnes 9HUVSUHFKHQ"

'HU 6SRUWGLUHNWRU 6NL XQG HLQ 1DWLRQDOSDUN YROOHU /|FKHU Eine Indoor-Skihalle auf 2000 Metern Ăźber Meer

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9L]HEÂ UJHUPHLVWHULQ )OÂ FKWOLQJH XQG RIIHQH :LOONRPPHQVNXOWXU

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$VVHVVRUH YHUODVVHQH '|UIHU XQG QHXH ,QLWLDWLYHQ

Wie der Naturpark von Queyras die Region belebt

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Schafft das Varaitatal den Aufbruch?

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Sardellenverkäufer, Priester und die klugen Geografen

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Parkwächter, Transitpläne und der Sprung ins Meer

*HJHQ GLH QHXH 7UDQVLWDFKVH GXUFKV 5R\DWDO

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Am Berg geht es abwärts $QKDQJ

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Wandern mit whatsalp

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:HLWHUIÂ KUHQGH /LWHUDWXU $XVZDKO

:R ZLU ]ZLVFKHQ :LHQ XQG 1L]]D QlFKWLJWHQ



Erinnerungen an 1992, Stock-im-Eisen und stechender Schmerz Von Wien nach Mariazell (V LVW 6DPVWDJPRUJHQ GHU -XQL .HLQH :RONH DP +LPPHO LQ GHU Luft liegt noch etwas Frische, die Sonne wärmt die Fassaden der alten Häuser rund um den Stephansplatz. Auf dem groĂ&#x;en Geviert unter dem Dom herrscht bereits reger Betrieb. Der Kellner des Kaffeehauses nebenan Ăśffnet gerade die Sonnenschirme Ăźber den Tischen, die ersten Gäste bestellen ihren Zweispänner, einen Kaffee mit Ăźppiger Schlagrahmhaube, um uns herum das Sprachengewirr von Touristen aus aller Welt. Fotoapparate und Handys werden vor dem Stephansdom gezĂźckt. Wir mit unseren Wanderschuhen und den groĂ&#x;en Rucksäcken werden etwas verwundert beäugt, erst recht, als wir einen Holzstock heranschleppen, unsere Transparente aufspannen und eine Verstärkeranlage aufbauen. Dass wir an diesem Morgen zu unserer groĂ&#x;en Alpenwanderung starten, interessiert hier keinen. Wir aber haben Monate auf diesen Moment hingearbeitet. Vor uns liegt HLQH .LORPHWHU ODQJH 5HLVH YRQ :LHQ GXUFK GHQ $OSHQERJHQ ELV ]XP Mittelmeer. Nur fĂźr ein paar wenige Abschnitte wollen wir das Fahrrad nehmen, den groĂ&#x;en Rest werden wir zu FuĂ&#x; unterwegs sein. Vier Monate durch die Alpen wandern. Viele Freunde hatten mich skeptisch gefragt, ob ich mir das wirklich antun wolle. Ich aber hatte es mir genau Ăźberlegt und mich schon längst entschieden: Ja, ich wollte! Die Idee, einen Sommer lang Ăźber Berge und durch Täler zu streifen, unterschiedlichste Landschaften zu durchqueren, mit Leuten am Wegrand zu plaudern und mit engagierten Menschen entlang der Route zu diskutieren, das hat mich schon immer begeistert. ,P 6RPPHU KDEH LFK PLW )UHXQGHQ IDVW GLH JHQDX JOHLFKH 7RXU YRQ Wien nach Nizza unternommen, als Teil der Gruppe TransALPedes. Mit der Wanderung wollten wir damals ein Zeichen setzen gegen die ZerstĂśrung der Alpen, gegen den Massentourismus, die Betonierung der Berge. Wir wollten den vielen Menschen, die sich gegen diese Entwicklung stemmten, eine Stimme geben, die Diskussion um die Zukunft der Alpen verändern.


Dieses Mal – wir sind ein paar Jährchen älter geworden – wollen wir vor allem gut zuhĂśren und genau hinsehen. Wir sind auch dieses Mal eine kleine Wandergruppe. Neben mir der Geograf Harry Spiess, Professor an der ZĂźrcher Hochschule fĂźr Angewandte Wissenschaften ZHAW, der Wiener LandschaftsĂśkologe Christian Baumgartner und der Tiroler Raumplaner Gerhard StĂźrzlinger. Spiess und StĂźrzlinger waren bereits damals mit von der Partie. Im Moment aber kann ich mir nicht mehr richtig vorstellen, dass wir in GLHVHP 6RPPHU +|KHQPHWHU  EHUZLQGHQ XQG YLHU 0RQDWH ODQJ ELV zu zehn Stunden täglich wandern sollen. Dass uns dabei 200 Mitwandernde begleiten und an Dutzenden Orten Menschen auf uns warten, mit denen wir uns treffen und Gespräche fĂźhren wollen. Dass ich alles in einem Blog verarbeiten und dann noch mit unzähligen Medienvertretern sprechen soll. Jetzt, so kurz vor dem Start, fĂźhle ich mich ziemlich Ăźberfordert. Werde ich diese Belastung kĂśrperlich und mental durchstehen? Oder klappe ich irgendwann einfach zusammen und muss das Unternehmen abbrechen? Unser Vorhaben ist aber nur in zweiter Linie ein persĂśnlicher Härtetest. %HL ZKDWVDOS JHKW HV XQV XP ,QKDOWH :LU ZROOHQ KHUDXVĂ€QGHQ ZLH HV XP die Alpenregionen steht, und darĂźber berichten, was wir hĂśren und sehen. Wir wollen uns vor Ort ein Bild machen, wie sich die Alpenregionen in GHQ YHUJDQJHQHQ -DKUHQ |NRORJLVFK VR]LDO NXOWXUHOO XQG ZLUWVFKDIWOLFK verändert haben. Was ist aus der Aufbruchstimmung von damals geworden? Konnten umstrittene GroĂ&#x;projekte wie der Bau neuer Stauseen, Skigebiete und Autobahnen verhindert werden? Wie steht es um die ZukunftsproMHNWH GLH ZLU ]ZLVFKHQ :LHQ XQG 1L]]D DQJHWURIIHQ KDEHQ" 6LQG GLH Initiantinnen und Initianten noch aktiv, oder sind sie enttäuscht aus ihren Tälern weggezogen und haben ihr GlĂźck in den Städten des Unterlands gesucht? Vom Stephansdom schlägt es elf Uhr. Es geht los. Um uns herum hat sich eine kleine Menschentraube gebildet. Peter Hasslacher, ein alter Freund aus meiner Zeit bei der Internationalen Alpenschutzkommission Cipra, ist extra aus Innsbruck angereist. Peter ist ein alter Kämpfer gegen neue Autobahnen und Skigebiete in den Alpen. Er hofft, dass wir mit whatsalp einen Beitrag leisten, um solche Fehlentwicklungen zu stoppen. Seine GlĂźckwĂźnsche 10


QHKPHQ ZLU JHUQH PLW XQG YHUDEVFKLHGHQ XQV YRUOlXÀJ YRQ LKP ZLU ZHUGHQ ihn in einem Monat in Osttirol an einer Versammlung gegen die AlemagnaAutobahn wieder treffen. Dann hämmern Christian, Harry und ich in den Holzstock drei handgeschmiedete Eisennägel, die aus einem alten Bauernhaus in den Piemonteser Alpen stammen. Mit der kleinen Zeremonie erinnern wir an eine Tradition der Wiener Handwerksgesellen. Bevor sie auf die Walz gingen, trieben sie einen Nagel in einen Holzstamm, was sie vor Unbill und Krankheit bewahren sollte. Der benagelte historische Stock ist heute am Rand des Stock-im-Eisen-Platzes unter Glas ausgestellt. Auch wir hoffen, dass wir die kommenden vier Monate heil überstehen. Im Hintergrund spielt der Posaunenchor Ökumenobrass das Lied «Vertraut den neuen Wegen». Dann formiert sich unser kleiner Umzug, und wir wandern zusammen mit zwei Dutzend Freunden und Bekannten los, während Passanten unserem seltsamen Trupp verwunderte Blicke zuwerfen. Es ist schon ein besonderer Moment, so in voller Bergmontur durch die Wiener Innenstadt zu gehen. Ich kenne diese Gassen, war schon oft hier, aber jetzt habe ich das Gefühl, als sei es das erste Mal. Die exquisiten Markengeschäfte, die sich aneinanderreihen, kommen mir sehr eigenartig vor. Vor dem Modegeschäft Nice – der Name erinnert an das Ziel unserer Wanderung – machen wir lachend ein Gruppenbild. Aber ich fühle eine seltsame Distanz zu dieser Glitzerwelt. Vielleicht geht es meinen Mitwandernden ähnlich, denke ich, während wir einander voller Vorfreude anstrahlen. Wir gehen den Burggraben hinunter und unter der majestätischen Hofburg mit ihrer k. u. k. Schatzkammer durch. Wir überqueren den Heldenplatz XQG HUUHLFKHQ GLH PRQGlQH 0DULDKLOIHU 6WUD H 9RU -DKUHQ PXVVWH XQV die Polizei durch die damals viel befahrene Verkehrsachse begleiten. Seit ein paar Jahren ist sie autofrei, und wir brauchen keinen Polizeischutz mehr. Die Wanderung hinaus aus der Innenstadt und durch die Wiener Vorstädte wird unendlich lang und anstrengend. Die heiße Junisonne brennt unerbittlich, der Asphalt heizt sich auf, und wir kommen so richtig ins Schwitzen. Immer weiter geht es auf den geteerten Trottoirs entlang von Der Blick geht vom Peilstein in den Wienerwald »

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AusfallstraĂ&#x;en, die nicht enden wollen. Als wir eine schmale Gasse hochZDQGHUQ YHUĂ€QVWHUW VLFK GHU +LPPHO VFKODJDUWLJ (V EHJLQQW ]X GRQQHUQ zu blitzen, und dann regnet es in StrĂśmen. Innert Minuten verwandelt sich GLH *DVVH LQ HLQHQ 6WXU]EDFK 1XU PLW 0 KH Ă€QGHQ ZLU HWZDV 6FKXW] XQWHU einem Dachvorsprung. Als wir kurz darauf an unserem ersten Tagesziel in Perchtoldsdorf ankommen, sind wir bis auf die Knochen durchnässt. Am nächsten Morgen geht es weiter durch die Villenquartiere des Wiener Nobelvororts. Nach einer Viertelstunde spĂźre ich an meinem linken Zeh einen stechenden Schmerz. Eine Druckstelle! Alarmiert ziehe ich den Wanderschuh aus und betrachte das Malheur. Ein gerĂśteter Zeh, zum GlĂźck aber keine offene Wunde. Was, wenn ich jetzt eine Blase kriege? Wenn es schlimm kommt, ist das ganze Projekt infrage gestellt. Jeden Tag eingepackt im engen Bergschuh, wĂźrde eine offene Wunde kaum mehr verheilen. 6RUJIlOWLJ NOHEH LFK GLH 'UXFNVWHOOH PLW HLQHP %ODVHQSĂ DVWHU DE ]LHKH den Schuh wieder an und belaste den FuĂ&#x; vorsichtig. Es geht – vorerst. In den folgenden Tagen entfernen wir uns immer weiter von Wien Richtung SĂźdwesten und durchwandern den Wienerwald, den grĂśĂ&#x;ten Buchenwald :HVWHXURSDV 'LH 8QHVFR KDW LKQ PLW GHP /DEHO %LRVSKlUHQSDUN auszeichnet. Wir bewegen uns zwischen majestätisch hohen Bäumen, deren dichte Kronen nur wenig Licht auf den Boden durchlassen. Auch wenn die HĂśhenunterschiede gering sind, summieren sich die vielen Auf- und Abstiege durch das hĂźgelige Gelände. Zwischen den ausgedehnten Waldpartien wandern wir immer wieder durch offene Magerwiesen, die jetzt im Juni in ihrer ganzen Blumenpracht stehen. Menschen treffen wir auĂ&#x;erhalb der DĂśrfer nur wenige an, bloĂ&#x; ein paar Mountainbiker rasen in vollem Tempo an uns vorbei. Am Enziansteig Ăźberschreiten wir erstmals die Tausendmetermarke. Es geht durch den alten Bergwald mit seinen mächtigen Buchen, Fichten und FĂśhren hinauf in die Gutensteiner Alpen. Rechter Hand liegt das Kieneck mit der EnzianhĂźtte. Kaum jemand erinnert sich noch daran, doch vor Ăźber 100 Jahren wollte man hier hinauf eine Bergbahn bauen. Das Projekt scheiterte schlieĂ&#x;lich, den Initiatoren ging das Geld aus. Ein GlĂźck fĂźr diese einsame, schĂśne Landschaft, denke ich beim Aufstieg. Wäre die Zahnradbahn gebaut worden und danach noch viele weitere Bahnen, wäre von der Bergidylle wenig geblieben. 14


Den breiten Grat hoch erklimmen wir den Unterberg und gelangen in das kleine Skigebiet. Der letzte Schnee ist erst vor Kurzem weggeschmolzen, das Bergrestaurant geschlossen. Das kalte und graue Wetter verstärkt den unfreundlichen Eindruck, den die von Waldschneisen und Liften zerfurchte Landschaft hinterlässt. Mit einer groĂ&#x;en Tafel werben die Betreiber des Skigebiets, dass in ihrem ÂŤNaturschneeparadiesÂť der Schnee noch vom Himmel falle. Tatsächlich ist der Unterberg eines der wenigen Skigebiete, die bis heute auf Schneekanonen verzichten. Doch die Klimaerwärmung schreitet voran. Und Skigebiete, die auf knapp 1400 Metern Ăźber Meer liegen, werden sich wohl nicht mehr lange halten kĂśnnen. Der Unterberg lĂśst bei mir gemischte GefĂźhle aus. Es ist zwar ein vergleichbar kleines Skigebiet, aber die Eingriffe haben diese Berglandschaft dauerhaft verändert. Wie Krakenarme haben sich Lifte und Pisten immer weiter in die Berge hineingefressen. Die Skiindustrie hat viele Alpenregionen seit Jahrzehnten fest im Griff. Doch seit Jahren stagniert sie. Die Zahl GHU DNWLYHQ 6NLIDKUHQGHQ LVW U FNOlXĂ€J XQG HV IlOOW LPPHU ZHQLJHU 6FKQHH In Zukunft werden wohl nur einige wenige, groĂ&#x;e Skistationen Ăźberleben. Ich persĂśnlich bin Ăźberzeugt, dass es dennoch eine Zukunft gibt. Die Menschen werden weiterhin in die Berge gehen und die Winter dort auch ohne Skilifte und Bahnen genieĂ&#x;en. Nachdenklich geworden, gehe ich weiter und kehre in der etwas abseits gelegenen HĂźtte des Ă–sterreichischen Touristenklubs ein. Das behäbige Holzhaus atmet den verblichenen Charme jener Zeit, als die meisten Touristen noch Tourengänger und nur zu FuĂ&#x; unterwegs waren. Ich bin der einzige Gast, und die junge Wirtin ist allein. Sie bedient mich erst, als sich der groĂ&#x;e Haushund beruhigt und von mir abgelassen hat. Weiter unten im Tal liegt Rohr im Gebirge, ein verschlafenes Nest. Ein paar BauernhĂśfe, eine Kirche und ein Gasthaus. Ich bin ein paar Minuten hinter meinen Begleitern zurĂźckgeblieben und suche den Hof, auf dem wir an diesem Abend erwartet werden. Da fährt ein Auto heran, darin ein knorriger, älterer Mann mit zerfurchtem Gesicht. Er kurbelt die Scheibe herunter und fragt mich, ob ich den Garhof suche – und ja, er sei der Garhof-Bauer. Ich bin noch kaum eingestiegen, da klagt er schon: ÂŤHier is nix losÂť, die Jungen wanderten ab, die Gäste blieben aus, und von der Landwirtschaft kĂśnne man auch nicht mehr leben.


Themenfenster Eine Ausstellung mit Folgen Was die NiederĂśsterreichische Landesausstellung ÂŤĂ–tscher:reichÂť ausgelĂśst hat IDQG LQ 0LWWHUEDFK PLWWHQ LP 1Dturpark Ă–tscher-Tormäuer, die NiederĂśsterreichische Landesausstellung ÂŤĂ–tscher:reich – Die Alpen und wirÂť statt. 0LW JHJHQ %HVXFKHULQQHQ XQG Besuchern war sie ein groĂ&#x;er Erfolg. Im idyllisch gelegenen Stapelhaus wollen wir von Vertretern aus der Region wissen, ob eine solche Ausstellung eine nachhaltige Wirkung entfalten kann. Doch vorher schweift der Blick von der Terrasse Ăźber den Erlaufstausee zum Wahrzeichen der Region, dem Ă–tscher. Das Stapelhaus ist eine Errungenschaft der Landesausstellung. Hier treffen wir uns mit Vertretern des Naturparks, der Gemeinde, des Tourismus und der Landesausstellung. ÂŤSie war ein Geschenk des HimmelsÂť, sagt Alfred Hinteregger ohne Wenn und Aber. Er ist seit 16 Jahren BĂźrgermeister von Mitterbach, einer Gemeinde mit knapp 600 Einwohnern. Den Strukturwandel hat Mitterbach wie viele andere Gemeinden im Naturpark Ă–tscher-Tormäuer schon sehr frĂźh zu spĂźren bekommen. In den Siebzigerjahren hatte sich hier eine Protestbewegung gegen einen Stausee gebildet. Das Wasserkraftwerk wurde zwar realisiert, geblieben ist aber auch eine Bewegung, die sich fĂźr den Erhalt der naturbelassenen Ă–tscherlandschaft einsetzt. Ohne diesen Widerstand hätte es die Landesausstellung in dieser Form nicht gegeben. Ein internationales Team von Wissenschaftlern und Ausstellungsgestaltern hatte sich in Zusammenarbeit mit Vertreterinnen und Vertretern aus der Region frĂźh zusammengesetzt und

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sich in intensiven Diskussionen mit den Menschen und ihren Problemen auseinandergesetzt. Viele Gespräche, Wanderungen und Gasthausrunden mit den Einheimischen hätten die Basis fßr die Ausstellung gelegt, erzählt Kurt Farasin von der Schallaburg. Er war federfßhrend am Projekt beteiligt. Wir wollten weg vom klassischen Ansatz, dass eine solche Ausstellung ein sechs Monate währender HÜhepunkt ist und nichts bleibt. Wir wollten einen Entwicklungsprozess


anstoĂ&#x;en, der Ăźber das Ende der Ausstellung hinaus wirkt.Âť Die Idee dahinter war, dass sich in dieser peripheren Region mit den Jahren eine eigenständige Wirtschafts- und Lebenskultur entwickeln kann. Am Schluss waren es Ăźber 600

die Ă–tscherregion. Auch GroĂ&#x;vorhaben wie die Erneuerung der Mariazellerbahn XQG HLQ QHXHV :DQGHU]HQWUXP SURĂ€WLHUten von der Landesausstellung. Martina Kalteis, die aus der Ă–tscherregion stammt, verkĂśrpert diese Veränderung. Nach dem Studium kehrte sie in ihre Heimat zurĂźck und ist nun als Naturvermittlerin tätig. Das sei nur dank der Landesausstellung mĂśglich geworden, GHQQ TXDOLĂ€]LHUWH $UEHLWVSOlW]H LQ GLHVHU Region seien sonst eher dĂźnn gesät. Es gebe eine gute Nachfrage nach professionellen Naturvermittlungsangeboten, viele Gäste seien an einer Sensibilisierung fĂźr die Natur- und Kulturwerte interessiert, berichtet Martina Kalteis. Aber sie kĂśnne noch immer nicht allein von dieser Tätigkeit leben. Es bleibe fĂźr junge Menschen schwierig, sich in einer Randregion wie am Ă–tscher eine wirtschaftliche Existenz aufzubauen. ÂŤEs braucht weiterhin immer wieder Initiativen, um die Menschen von der eigenen Region zu Ăźberzeugen und zum Dableiben zu bewegenÂť, sagt Martina Kalteis. Die Diskussion beschlieĂ&#x;t aber Alfred Hinteregger mit sinnigen Worten: ÂŤIch bin grundsätzlich ein positiver Mensch, sonst wäre ich nicht BĂźrgermeister.Âť

Der Erlaufsee mit dem Ă–tscher, dem Wahrzeichen des Naturparks Ă–tscher-Tormäuer.

Personen, die in der einen oder anderen Form aktiv an dieser Landesausstellung mitarbeiteten. Nur so war es mÜglich, dass zahlreiche Projekte zustande kamen, so das neue Naturparkzentrum und die Renovation des Schutzhauses VorderÜtscher. Es bildete sich ein Netzwerk von  EHU 1DWXUYHUPLWWOHUQ 5HJLRQDOSDUWner unterstßtzen die Wirtschaft. Es entstand ein thematisches Wanderbuch ßber

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Zum FrĂźhstĂźck bereitet uns der Garhof-Bauer am nächsten Morgen eine reichhaltige Tafel. Die Bauersleute haben das Brot mit Mehl aus alten, in der Umgebung gezogenen Getreidesorten selbst gebacken. Dazu gibt es Käse DXV ORNDOHU 3URGXNWLRQ XQG .RQĂ€W UH XQG +RQLJ YRP HLJHQHQ %HWULHE Auf dem Dorfplatz von Rohr warten eine Journalistin und ein Fotograf der Zeitung ÂŤKurierÂť auf uns. Die Journalistin war in Wien auf mich zugekommen und hatte gefragt, ob sie uns einen Tag lang begleiten dĂźrfe. Vor dem Gasthaus Kaiser Franz Josef spannen wir unser whatsalp-Transparent und wollen fĂźr ein Bild posieren. Doch dem Fotografen ist das zu wenig lebendig, er mĂśchte Wanderbilder von uns haben. Also brechen wir auf und verlassen das Dorf. Unterwegs beantworten wir die Fragen der Journalistin: Wozu macht ihr diese Wanderung? Was sind die groĂ&#x;en Probleme der Alpen? Ich versuche kurz zu erläutern, worum es uns geht. Die Ăœbernutzung GXUFK GHQ 0DVVHQWRXULVPXV XQG GHQ 9HUNHKU GDV 'LOHPPD GDVV YLHOH 2UWH vom Fremdenverkehr leben und sich die Menschen gerade darum von ihren Regionen entfremden. Ich bin mir nicht sicher, ob ich mich verständlich machen konnte, immerhin hat die Journalistin eifrig mitgeschrieben. Als wir durch einen Fichtenwald kommen, entspinnt sich ein Gespräch Ăźber Sinn und Unsinn der Fichtenmonokulturen. Wir bleiben im Halbdunkel unter den Bäumen stehen und diskutieren intensiv. Nach zwei Wanderstunden verlässt uns das ÂŤKurierÂť-Team wieder, es muss zurĂźck in die Redaktion in Wien. Ich bin gespannt, was in der Zeitung stehen wird, immerhin eine der DXĂ DJHQVWlUNVWHQ LQ gVWHUUHLFK


Skinostalgie, Ötscherhias und unwegsame Wildnis Von Mariazell nach Palfau Vor der großen Basilika in Mariazell erwartet uns an diesem Morgen ein hagerer Mann, Herbert Gross. Er hat sich gestern Nachmittag über Bürgermeister Hinteregger aufgeregt und will uns heute ein Stück weit begleiten. Es helfe nichts, die aktuellen Probleme kleinzureden. Auch die Landesausstellung sei nicht das Gelbe vom Ei gewesen. Man müsse sich jetzt endlich auf die wesentlichen Fragen konzentrieren und die Probleme der Skigebiete, den Verlust an Arbeitsplätzen und die Abwanderung aus den Dörfern ernsthaft angehen. Das steirische Städtchen zeigt sich am frühen Morgen aufgeräumt und still – im Gegensatz zum gestrigen Sonntag, als Tausende Besucherinnen und %HVXFKHU GLH $OWVWDGW EHUÁXWHWHQ XQG QLFKW PHKU YLHO YRQ GHU 6SLULWXDOLWlW des Wallfahrtsorts zu spüren war. Unser Begleiter – sportlich, wacher Blick und feine Metallbrille – wirkt sehr präsent. Die Liebe zu den Bergen spürt man aus jedem Votum des Mitterdorfer Gemeinderats heraus. Während wir entlang des historischen Kreuzwegs nach Mitterbach wandern, erzählt er aus seinem bewegten Leben, in dem das Skifahren eine zentrale Rolle spielte. Bis zu seiner Pensionierung war Herbert Gross Geschäftsführer des Skigebiets auf der nahen Gemeindealpe, in den Achtzigerjahren wirkte er beim Bau der Winterstation Gudauri in Georgien mit. Der Stellenwert des Skitourismus hat sich in den vergangenen Jahren grundlegend gewandelt. Für kleine, tief liegende Skigebiete, wie sie für diese Gegend typisch sind, gibt es kaum Perspektiven. Immer mehr Liftanlagen P VVHQ VFKOLH HQ 6HLW GHU 3HQVLRQLHUXQJ SÁHJW +HUEHUW *URVV VHLQ +REE\ noch intensiver, er sammelt alte Skiausrüstungen. In einer Scheune neben seinem Wohnhaus hat er ein kleines Skimuseum eingerichtet. Spontan lädt er unsere Gruppe auf einen Kaffee ein und fragt, ob wir einen Blick auf seine Schätze werfen möchten. Natürlich wollen wir. Wir sind gespannt, was uns erwartet.


6R VWHLJHQ ZLU GLH NQDUUHQGHQ 6WLHJHQ ]XP 'DFKERGHQ KRFK XQG Ă€QGHQ XQV LQ HLQHP QLHGULJHQ PXIĂ€JHQ 5DXP ZLHGHU GHU YRQ HLQ SDDU /DPSHQ erhellt wird. Entlang der Wände sind Hunderte von alten Skiern aufgereiht, dazu jede Menge Skischuhe, daneben ein groĂ&#x;es Regal voller Skiliteratur. Der stolze Besitzer fĂźhrt uns herum und weiĂ&#x; Ăźber fast jedes Objekt etwas zu berichten: Ăźberlange Holzskier mit Riemenbindung aus einer Zeit, in der Pioniere den Skisport ins Ă–tscherland brachten, BambusskistĂścke mit groĂ&#x;en Holztellern und ledernen Handschlaufen, die ersten Lederskischuhe mit Metallschnallen. Es sind Relikte aus der groĂ&#x;en Zeit des Skisports, hinter denen sich Namen wie Ammann, Atomic, Attenhofer, Blizzard, Fischer, Hagan, Humanic, Pionier, Rossignol oder Vampire verbergen. Ăœber eine Stunde verbringen wir in der faszinierenden Sammlung und werden dabei fast nostalgisch. DrauĂ&#x;en erwartet uns dann das gleiĂ&#x;ende Junilicht des Mariazellerlandes. Ich bin nachdenklich geworden. Was wir gesehen haben, sind Zeugen der vergehenden Epoche des Wintersports. Sie berichten von der Pionierzeit zu Beginn des letzten Jahrhunderts und vom groĂ&#x;en Boom nach dem Zweiten Weltkrieg, als Ăźberall Bergbahnen gebaut wurden, neue und immer grĂśĂ&#x;ere Lifte und Pisten, auch hier in NiederĂśsterreich. Die alpinen Wintersportorte blĂźhten auf und brachten einigen Wohlstand in diese Randregionen. Niemand weiĂ&#x;, was es fĂźr sie bedeutet, dass diese Zeiten nun unweigerlich dem Ende entgegengehen. Die Fachleute sind sich darin einig, dass in den nächsten Jahrzehnten nur eine beschränkte Zahl groĂ&#x;er Skigebiete Ăźberleben wird. Diese Diskussion beobachte er nun schon seit Jahren, sagt mein Begleiter Harry. Es sei ernĂźchternd zu sehen, dass die Verantwortlichen offensichtlich nicht bereit seien, die Konsequenzen zu ziehen. Noch immer setzen viele Regionen auf veraltete Rezepte, obwohl es Alternativen zum Skitourismus gäbe. Hinter Mitterbach steigen wir die Ă–tschergräben hoch, eine durch wilde und steile Täler geprägte Landschaft, in der sich die Bäche tief in das weiche Sedimentgestein eingegraben haben. Herbert Gross begleitet uns noch bis zum Ă–tscherhias, dem ÂŤĂ–tscher-MatthiasÂť. Es ist eine abgeschiedene Gegend. Die Jausenstation mit ihrer hĂślzernen Terrasse klebt oberhalb des Flusses am steilen Hang. Wirtin Gabi Salzmann schildert uns, wie ihre kleine *DVWVWlWWH QHXHUGLQJV EHL VFK|QHP :HWWHU YRQ +XQGHUWHQ YRQ $XVĂ Â JOHUQ Ăźberschwemmt wird. Schlimm sei es gewesen nach einer Radiosendung 20


Ăźber das Tal. Am Wochenende danach hätten sich die Wanderer vor der schmalen BrĂźcke auf dem Wanderweg gestaut. Nach einem Most verabschieden wir uns von unserem netten Begleiter Herbert Gross und gehen den Ă–tscherbach entlang auf schmalen Wegen und Stegen weiter in die enge Schlucht hinein. Immer wieder mĂźssen wir heikle Stellen passieren, wo unter uns der Bach rauscht und vor uns steile Felswände aufragen. Nach ein paar Stunden zeigt ein Wegweiser hinauf zum attraktiv gelegenen Schutzhaus VorderĂśtscher. Die traditionsreiche BerghĂźtte wurde im Zug der Landesausstellung sanft renoviert. In der Stille und Abgeschiedenheit des VorderĂśtschers, wo manchmal tagelang kaum ein Mensch vorbeikommt, ist fĂźr mich dieses Haus eine Entdeckung. Tags darauf empfängt uns unter dem weiten BergrĂźcken des DĂźrrenVWHLQV GHU WLHIEODXH /XQ]HU 6HH +LHU EHĂ€QGHW VLFK GHU 5RWKZDOG HLQHU GHU letzten Urwälder Europas. Er erinnert daran, wie es frĂźher in weiten Teilen der Alpen aussah. Wilde Landschaften, geprägt von Wäldern und Felsen, durch die sich Bäche mit ihren Wasserfällen den Weg bahnten. Das Gebiet, in dem es nur ein paar wenige Pfade gibt, steht heute unter staatlichem Schutz. Am Ende des Sees liegt der kleine Ort Lunz. Hier treffen wir den BĂźrgermeister Josef Ploderer, der die Geschicke des Dorfs seit langen Jahren lenkt und nebenher als Lehrer arbeitet. Er fĂźhrt unsere Gruppe durch seinen Ort und zeigt uns, was man hier alles schon erreicht hat: das ortseigene Wasserkraftwerk, die biologische Forschungsstation und die Wohnbaugenossenschaft. Beim Abendessen erzählt Josef Ploderer von seiner Jugend in der Steiermark. Es sind Geschichten wie aus einer anderen Welt. Er ist als Sohn eines Holzknechts in einem abgelegenen Ort aufgewachsen, in einem Weiler, der längst vom Forst wieder in Besitz genommen wurde. Sein Vater musste die ganze Woche im Wald arbeiten. Die Wege waren so weit, dass er es nur an den Wochenenden nach Hause schaffte. Die Familie musste sich vollkommen selber versorgen, Bargeld war rar, der nächste Laden weit weg. StraĂ&#x;en und Autos gab es keine, der Schulweg zu FuĂ&#x; war lang und streng, besonders im Winter, wenn viel Schnee lag. Josef Ploderer erzählt, wie der Vater sich bei einem Sturz vom Holzfuder die HĂźfte brach und ihn die anderen Holzknechte den weiten Weg aus dem Tal hinaustragen mussten. Der Dorfarzt hat nichts machen kĂśnnen, und so haben sie den Vater halt weiter bis zur Bahnstation geschleppt und ihn dort in einen GĂźterzug gelegt. Unterwegs in den Ă–tschergräben Âť

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In der nächsten Stadt musste der Schwerverletzte einen Eisenbahnarbeiter bitten, ihn auszuladen und ins Krankenhaus zu bringen. Fasziniert höre ich dem Bürgermeister zu, wie er über seinen Großvater erzählt, der nach Kriegs- und Arbeitsverletzungen zum Wilderer wurde, da weder der Arbeitgeber noch der Staat eine Rente zahlte. Er wurde verurteilt und musste sich in einer abgelegenen Hütte im Wald verstecken. Hin und wieder besuchten ihn die Kinder und Enkel und brachten ihm Essen. Im Gegenzug versorgte der Großvater sie mit gewildertem Fleisch. Die Schilderungen des Bürgermeisters klingen unglaublich, und ich merke, wie ich Mühe habe, mich in diese Zeit zurückzuversetzen. Doch es waren genau diese Verhältnisse, die dannzumal in vielen Gegenden der Alpen weitverbreitet waren. Erst mit der Ansiedlung von Industriebetrieben in den Tälern, mit dem aufkommenden Tourismus und dem Aufbau des Sozialstaats verbesserte sich die Situation langsam. Und wir können es uns heute leisten, einfach so vier Monate durch die Alpen zu wandern und es uns dabei sogar noch gut gehen zu lassen. So wie am nächsten Abend, als wir am Tisch der Familie Lugbauer auf der Hochreith sitzen. Weit weg von den Dörfern führen die Lugbauers hier hoch über dem Tal einen Bauernhof und bieten Gästen Zimmer an. Mit dabei beim feinen Kaiserschmarren ist Reinhard Pekny vom Wildnisgebiet Dürrenstein, in das wir gestern von Lunz aus hinaufgeschaut haben. Pekny hat die Statur eines gestandenen österreichischen Forstmannes, mit grüner Uniform und breitkrempigem Hut. Er ist aber kein klassischer Förster, sondern kompromissloser Naturschützer. Zu Beginn tastet er uns noch etwas ab, nicht ganz sicher, wen er da vor sich hat. Doch er wird zugänglicher, als er uns die spannende Entstehungsgeschichte des Wildnisgebiets erzählt. Der Rothwald, der größte noch ursprüngliche Urwald Westeuropas, ist nach der letzten Eiszeit entstanden. Den jahrhundertelangen Grenzstreitigkeiten zwischen den Klöstern ist es zu verdanken, dass der Wald nie richtig genutzt ZXUGH ,P -DKUKXQGHUW HUZDUE LKQ GDQQ GHU %DQNLHU XQG 1DWXUOLHEKDEHU Albert Rothschild – und war so begeistert, dass er ihn gleich unter seinen privaten Schutz stellte. Reinhard Pekny ist sich sicher, dass wir so nicht weitermachen können. Sonst gebe es für die Menschen auf diesem Planeten keine Zukunft. Nichtstun sei oft besser, als immer mehr Entwicklung zu fördern. Das Wichtigste 24


in einem Wildnisgebiet sei, dem Wald und der Natur ihre Ruhe zu lassen und auf Eingriffe in die Ă–kosysteme zu verzichten. Deshalb fĂźhre man im DĂźrUHQVWHLQ PD[LPDO ([NXUVLRQHQ PLW WRWDO K|FKVWHQV 7HLOQHKPHQGHQ durch. Den Marketingbestrebungen von Parks und Schutzgebieten steht Reinhard Pekny ohnehin skeptisch gegenĂźber. Wieso sollen wir Werbung fĂźr einen Urwald machen, wenn wir darin nicht mehr Leute wollen? Es sei doch viel besser, die Touristinnen und Touristen in einem Besucherzentrum unten im Tal zu empfangen und sie dort Ăźber das Wildnisgebiet zu informieren. FĂźr mich wirft die Diskussion Ăźber das Wildnisgebiet DĂźrrenstein grundsätzliche Fragen auf. Sind wir bereit, der Natur ihren Eigenwert zu lassen? Ist es opportun, ein so groĂ&#x;es Gebiet von jeglicher Nutzung auszuschlieĂ&#x;en? Ist unsere Gesellschaft aufgeklärt genug, diese Fragen sachlich anzugehen? Biologinnen und Biologen sprechen nicht zufällig vom Anthropozän und meinen damit unser Zeitalter, in dem wir Menschen zum wichtigsten EinĂ XVVIDNWRU DXI GLH 1DWXU JHZRUGHQ VLQG 6FKDIIHQ ZLU HV QHXH )RUPHQ ]X Ă€QGHQ ZLH ZLU VDQIWHU PLW XQVHUHU 8P XQG 0LWZHOW XPJHKHQ N|QQHQ" Oder werden groĂ&#x;e Teile der Menschheit mit der sich abzeichnenden globalen Umwelt- und Klimakatastrophe untergehen? Alles Fragen, die sich auch auĂ&#x;erhalb der Alpen stellen. Am Ortsrand von Lassing holen mich groĂ&#x;e Tafeln und Schranken in die Realität zurĂźck. Ab hier fĂźhrt die MautstraĂ&#x;e hinauf ins Skigebiet des Hochkars. Im Tal gibt es keine Wanderwege, wir mĂźssen die nächsten zehn Kilometer auf der HauptstraĂ&#x;e bis in die Steiermark nach Palfau wandern.


Themenfenster Naturparke und das neue Selbstbewusstsein Kulinarische Spezialitäten aus den Partnerbetrieben ,Q (XURSD JLEW HV UXQG 1D WXUSDUNV PLW HLQHU *HVDPWĂ lFKH YRQ GHU *U|VVH 3ROHQV YLHOH GDYRQ EHĂ€QGHQ VLFK LQ GHQ Alpen. In den vergangenen Jahrzehnten entwickelten sich solche Naturparks zu einem Modell, wie ländliche Entwicklung in strukturschwachen Regionen funktionieren kann. Im Zentrum dieser Projekte steht immer ein Miteinander unterschiedlicher BedĂźrfnisse von Schutz, Erholung, Bildung und Regionalentwicklung. Wie das konkret funktioniert, zeigt das Projekt Naturpark-Spezialitäten. Dabei arbeiten die Ăśsterreichischen Naturparke mit rund 170 Naturpark-Partnerbetrieben zusammen. Heute Vormittag lädt der Naturpark Steirische Eisenwurzen zum PressefrĂźhstĂźck bei der Stiegenwirtin Dagmar Zwettler in Palfau ein. Im morgendlichen Gewitterregen hat allerdings nur ein einziger Journalist den weiten Weg von der Bezirkshauptstadt Liezen nach Palfau unter die Räder genommen. Die Landesmetropole Graz ist noch weiter weg, die Medien melden sich später per Telefon. Seit dem Besuch von TransALPedes vor -DKUHQ KDEHQ VLFK GLH 1DWXUSDUNH in Ă–sterreich und der Steiermark sehr JXW HQWZLFNHOW +HXWH JLEW HV 1DWXUparke. Sie umfassen eine Fläche von rund 4XDGUDWNLORPHWHUQ VHFKV 3UR]HQW der Fläche Ă–sterreichs. Der Naturpark Steirische Eisenwurzen gehĂśrt zu den grĂśĂ&#x;eren. Zu ihm zählen die vier Gemeinden Landl, St. Gallen, Wildalpen und $OWHQPDUNW 'HU 3DUN LVW 4XDGUDW kilometer groĂ&#x;, darin leben 6100 Einwohnerinnen und Einwohner.

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Die fĂźr das PressefrĂźhstĂźck vorbereiteten kulinarischen KĂśstlichkeiten sind Ausdruck des neuen Selbstbewusstseins. Das FrĂźhstĂźcksbuffet besteht ausschlieĂ&#x;lich aus einheimischen Produkten. Selbst gebackenes Bauernbrot, Bio-Ziegencamembert, Ziegen-Topfenaufstrich, Pastete vom Gsieser Edelwild, Punkerl, WĂźrstel und Salami vom Hirsch sowie Obstsäfte und Most aus der Region laden zum Schlemmen ein.


Der Naturpark Steirische Eisenwurzen leiste einen wichtigen Beitrag für die Region, berichtet die Mooslandler Ziegenbäuerin Gundula Milwisch. Zusammen mit ihrer Familie betreibt sie einen Ziegenbetrieb, der erfolgreich auf Eigenherstel-

Dabei ist die Ausgangslage im Grenzgebiet zwischen Steiermark und Niederösterreich alles andere als einfach. Die letzten Jahrzehnte waren von starker Abwanderung geprägt, erzählt Bürgermeister Bernhard Moser. Man müsse damit rechnen, dass die Bevölkerung bis LQV -DKU XP HLQ ZHLWHUHV 9LHUWHO sinken werde. Der Wassersport auf der Salza sei ein Hoffnungsschimmer, dass diese fatale Entwicklung gestoppt werden könne. Nach Jahren des Stillstands habe dieser eine neue Dynamik in den Tourismus gebracht. Weiterer Pluspunkt: Der Wassersport sei eine Form des Tourismus, die der Umwelt wenig schade. ,Q]ZLVFKHQ OHEHQ %HWULHEH JDQ] RGHU teilweise vom Natursport auf der Salza. Anfänglich seien vor allem Sportler gekommen, inzwischen habe sich die Gästeschicht vollkommen verändert, berichtet Bernhard Moser. Die Ansprüche seien gestiegen, und die heutigen Wassersportler seien zahlungskräftige Gäste, die Geld in das Tal brächten. Die Gespräche ziehen sich länger hin als geplant, und der anwesende Journalist fragt irgendwann, ob die Pressekonferenz nun zu Ende sei. Da er keine Antwort erhält, bleibt auch er sitzen und plaudert mit uns bei einem Glas Apfel-Frizzante bis in den Mittag hinein.

Köstlichkeiten aus dem Naturpark Steirische Eisenwurzen.

lung und Direktvermarktung setzt. Ihre Abnehmer sind Bioläden und Gastwirtschaftsbetriebe, darunter die Stiegenwirtin Dagmar Zwettler. Sie führt das Gasthaus seit zwölf Jahren. Im Sommer kommen vier von fünf Gästen nur wegen des Raftings und des Kajakings auf dem nahen Fluss Salza. Viele schätzen es, dass Zwettler wenn immer möglich Spezialitäten aus der Region auftischt.

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Anhang


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Wandern mit whatsalp Unter dem Namen whatsalp wanderte im Sommer 2017 ein kleines Team von Wien nach Nizza. Ihm gehĂśrten Christian Baumgartner aus Wien, Dominik Siegrist aus ZĂźrich, Harry Spiess aus dem Aargau und Gerhard StĂźrzlinger aus dem Tirol an. Unterwegs fanden an die 70 Treffen und Veranstaltungen statt. Rund 200 Mitwandernde haben die Gruppe Ăźber kĂźrzere und längere Abschnitte begleitet. Weitere Informationen Ăźber die Wanderung – Blog, Videos, Ortstermine, 5RXWH 0HGLHQPLWWHLOXQJHQ ² Ă€QGHQ VLFK DXI GHU :HEVLWH ZZZ ZKDWVDOS RUJ 'HU 6WDUW LQ :LHQ HUIROJWH DP -XQL GLH $QNXQIW LQ 1L]]D DP 6HSWHPEHU 'LH 7RXU GDXHUWH 7DJH ² :DQGHUWDJH XQG 5XKHWDJH 0LW ZHQLJHQ $XVnahmen betrugen die Auf- und Abstiege nicht mehr als 1200 HĂśhenmeter pro Tag. Einzelne Abschnitte in groĂ&#x;en Tälern haben wir mit dem Fahrrad zurĂźckgelegt – so im Ennstal, Drautal, Pustertal, Vinschgau und Rhonetal. Die Velos mieteten wir jeweils vor Ort. :LU EHZHJWHQ XQV GXUFKZHJV DXI RIĂ€]LHOOHQ :DQGHU XQG %HUJZHJHQ GLH NHLQH besonderen alpinistischen Kenntnisse erfordern. Berggängigkeit und eine gute konditionelle Verfassung sind fĂźr eine Weitwanderung dieser Dimension jedoch Voraussetzung. Wir waren bei jedem Wetter unterwegs, bei Regen haben wir einfach die Regenjacke Ăźbergezogen. Ăœbernachtet haben wir in Hotels, Gasthäusern, BerghĂźtten und in einem Fall privat. Dass wir alle Orte frĂźhzeitig reserviert haben, erwies sich vor allem in den Ferienmonaten Juli und August als sinnvoll. FĂźr die Anreise nach Wien und fĂźr die Abreise von Nizza benutzten wir die Eisenbahn. Die meisten Etappenorte sind mit Bahn und Bus erreichbar. Bei der Auswahl der UnterkĂźnfte haben wir Ăśkologische Kriterien berĂźcksichtigt. Die Klimaschutzorganisation myclimate berechnete fĂźr uns den verbleibenden CO2-AusstoĂ&#x; der Reise, den wir mit einer Spende kompensierten. Viele BergunterkĂźnfte akzeptieren nur Bargeld, und in einigen BergdĂśrfern gibt es keinen Geldautomaten. Es ist deshalb sinnvoll, genĂźgend Bargeld mit sich zu fĂźhren.

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FĂźr die Routenplanung eignen sich folgende Wanderkarten: LQ gVWHUUHLFK IUH\WDJ EHUQGW LP 6 GWLURO 7DEDFFR LQ GHU 6FKZHL] 6ZLVVWRSR LQ ,WDOLHQ ,*& LQ )UDQNUHLFK LJQ FĂźr Ă–sterreich und SĂźdtirol (www.alpenvereinaktiv.com/de/tourenplaner/), die Schweiz (www.schweizmobil.ch) und Frankreich (www.geoportail.gouv.fr/carte) sind Topokarten kostenlos online und als App verfĂźgbar. AusrĂźstung Der Rucksack sollte nicht schwerer als acht bis zehn Kilogramm sein, inklusiv Picknick und Getränk. Mehr ist nicht notwendig. Unsere Empfehlungen: Kleider und Schuhe: gute Wander- oder Trekkingschuhe, Wandersocken, leichte Trekkinghose, schnell trocknendes Wanderhemd und T-Shirt, leichter FaserpelzpulORYHU UHJHQIHVWH :LQGMDFNH DWPXQJVDNWLY OHLFKWH :DQGHUVDQGDOHQ RGHU )OLSĂ RSV Ersatzsocken, Ersatzunterwäsche, kurze Hose/Badehose, leichte Regenhose, leichte Baumwoll- oder Faserpelzhose (auch als lange Unterhose und Pyjama), langes T-Shirt (auch als Pyjama), ein bis zwei Ersatz-T-Shirts, WollmĂźtze, leichte Handschuhe (Windstopper), dĂźnnes Halstuch. 6RQQHQVFKXW] .|USHUSĂ HJH 0HGL]LQ 6RQQHQP W]H JXWH 6RQQHQEULOOH 6RQQHQFUHPH PLQGHVWHQV 6FKXW]IDNWRU /LSSHQVFKXW] 7RLOHWWHQDUWLNHO +DQGWXFK individuelle Medikamente, kleine Taschenapotheke mit Schmerz- und DesinfekWLRQVPLWWHOQ +HIWSĂ DVWHU %ODVHQSĂ DVWHU HYHQWXHOO 2KURSD[ I U + WWHQ EHUnachtungen). 9HUSĂ HJXQJ )HOGĂ DVFKH /LWHU 3URYLDQWEHXWHO 7DVFKHQPHVVHU /|IIHO Tagesproviant. Wichtig: Bargeld, Kreditkarte, Identitätskarte, Alpen-Club-Ausweis, Schreibzeug, Wanderkarten, Handy oder Smartphone (mit Ladegerät und Adapter). Verschiedenes: RegenhĂźlle fĂźr den Rucksack, Kamera mit Ladegerät (sofern die Kamera des Smartphones nicht genĂźgt), GPS, Feldstecher, kleines Nähzeug, Kompass/HĂśhenmesser, KopfhĂśrer, Spielkarten/WĂźrfel, leichte Musikinstrumente.

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