Harald Tuckermann und Markus Schwaninger (Hrsg.)
WEGE AUS DER COVID-19-KRISE
Anamnese, Diagnose und Design
Harald Tuckermann / Markus Schwaninger (Hrsg.)
Wege aus der Covid-19-Krise Anamnese, Diagnose und Design
Haupt Verlag
1. Auflage: 2022 ISBN: 978-3-258-08271-4 Umschlaggestaltung: Haupt Verlag, Tanja Frey, unter Verwendung einer Grafik von Katalin Schwaninger-Planta Gestaltung und Satz: Die Werkstatt Medien-Produktion, Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Copyright © 2022 Haupt Verlag, Bern Jede Art der Vervielfältigung ohne Genehmigung des Verlags ist unzulässig. Wir verwenden FSC®-Papier. FSC® sichert die Nutzung der Wälder gemäß sozialen, ökonomischen und ökologischen Kriterien. Gedruckt in Slowenien
Diese Publikation ist in der Deutschen Nationalbibliografie verzeichnet. Mehr Informationen dazu finden Sie unter http://dnb.dnb.de. Der Haupt Verlag wird vom Bundesamt für Kultur für die Jahre 2021–2024 unterstützt. www.haupt.ch
Inhaltsverzeichnis Einleitung
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Harald Tuckermann & Markus Schwaninger
Literatur
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Kapitel 1: Pandemie als «Stresstest» der Gesellschaft. Der historische Blick auf eine Krise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Flurin Condrau & Leander Diener
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Einleitung: Drei Sommerlinden in Bern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was ist eigentlich Geschichte? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was kann Geschichte eigentlich leisten? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beispiele aus der Medizingeschichte: Pandemie als «Stresstest» der Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Einsichten: Konkrete Vorschläge für das wirksame Management . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Epilog: Fussball auf der Allmend . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Kapitel 2: Die Entwicklung von Wissen zur Pandemie
15 17 19 23 29 35
.....................
37
1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Herausforderungen, an Wissen zu kommen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Herausforderungen bei der Entwicklung von Evidenz . . . . . . . . . . 4 Lösungsansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
39 40 46 53 67
Werner Albrich
Kapitel 3: Krisenmanagement in der Pandemie: Eine organisationskybernetische Untersuchung auf den Ebenen Bund, Kanton, Gemeinde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 Markus Schwaninger & Lukas Schönenberger
1 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 2 Methodik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 3 Kurzer Abriss zur Coronakrise in der Schweiz . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 4 Lenkungsfunktionen in einem lebensfähigen System . . . . . . . . . . . 84 5 Diagnose des Corona-Krisenmanagements im Überblick . . . . . . . 87 6 Details: Von der Diagnose zur Gestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 7 Reflexion: Wie hat die Schweiz bisher die Krise gemeistert? . . . . 104 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107
6
Inhaltsverzeichnis
Kapitel 4: Steuerung in der Pandemie im Spital mit dem Kalibrierungsmodus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 Harald Tuckermann
1 COVID-19: Eine komplexe Herausforderung für Spitäler . . . . . . 2 Organisation von Normal- und Pandemiebetrieb . . . . . . . . . . . . . . 3 Kalibrierungsmodus: Steuerung von Normal- und Pandemiebetrieb über Kommunikationsplattformen . . . . . . . . . . 4 Stabilisierung des Kalibrierungsmodus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Konklusionen, Nebenwirkungen und offene Fragen . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kapitel 5: Steuerung in der Pandemie – Wege aus der COVID-Krise
113 115 120 124 129 132
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Grundlagen für die Steuerung in der Pandemie . . . . . . . . . . . . . . . Vier Prinzipien zur Steuerung komplexer Systeme . . . . . . . . . . . . . Arbeit an Voraussetzungen wirksamer Steuerung . . . . . . . . . . . . . Der vielfältige Balanceakt bei zentralen Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . Die Kernaufgabe für Führungskräfte: Organisieren, Orchestrieren und Entwickeln der Steuerung . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
137 139 141 148
Markus Schwaninger & Harald Tuckermann
1 2 3 4 5
Schlusswort
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154 157 159
Markus Schwaninger & Harald Tuckermann
Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 Die Autoren
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Einleitung Harald Tuckermann & Markus Schwaninger
Einleitung
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eit Anfang 2020 haben wir es auf allen Ebenen der Gesellschaft und über alle Grenzen hinweg in schwankender Intensität mit der Pandemie von COVID-19 zu tun. Diese Pandemie hat in vielfältiger Weise unseren bisherigen Alltag infrage gestellt und uns über entsprechende Regelungen und Einschränkungen viel abverlangt. Für Wright et al. (2021) ist sie der grösste Schock der Weltordnung seit dem Zweiten Weltkrieg mit langfristigen und weitreichenden Folgen in allen Gesellschaftsbereichen. Im Zentrum des Umgangs mit der Pandemie stehen das Gesundheitswesen, ihre Organisationen und Mitarbeitende sowie übergeordnete Steuerungsinstanzen des Bundes, der Kantone und Gemeinden, die zusammen mit anderen Akteuren von Milität, Zivilschutz bis hin zu Wirtschaftsunternehmen seit Beginn Ausserordentliches geleistet haben. Dieses Buch richtet sich an Entscheidungsträger in Politik und Gesundheitswesen auf allen Ebenen – Bund, Kantone und Gemeinden – sowie in Organisationen des Gesundheitswesens, wie Spitälern und anderen Einrichtungen. Sie alle waren ab Frühjahr 2020 massiv gefordert, Entscheidungen zur Bewältigung der COVID-19Krise zu treffen. Mit einer systemischen Reflexion des Managements der Pandemie zeigen wir realistische Möglichkeiten für einen wirksamen Umgang mit solchen Ausnahmesituationen in der Zukunft auf. Eine Anamnese – Beschreibung und Deutung der (Vor-)Geschichte – der Krise bildet den Ausgangspunkt und wird weitergeführt durch eine Diagnose und Gestaltungsvorschläge. Das Buch geht dabei weniger auf die epidemiologische Entwicklung der Pandemie ein – dazu gibt es bereits mehr als ausreichend Aufarbeitungen. Statt dessen stellt das Buch die Pandemie in einen historischen Kontext, nimmt die konkrete Herausforderung zur Wissenentwicklung auf und untersucht die Steuerung in der Pandemie auf Ebene von Bund, Kantonen, sowie auf Ebene von Spitalorganisationen. Damit möchten wir der komplexen Steuerung der Pandemie – verstanden als eine sich dynamisch entfaltende Entwicklung – auf die Spur kommen. Unser Ziel ist es, Gestaltungsprinzipien und generische Handlungsmuster herauszuarbeiten, die einen Beitrag für einen erfolgreichen Umgang mit Krisen wie der COVID-19-Pandemie leisten. Es geht dabei nicht um Rezept-Lösungen, weil die Komplexität der Pandemie keine Steuerung im Sinne vollständiger Beherrschbarkeit erlaubt. Vielmehr sollen die Reflexionen und die gezogenen Schlussfolgerungen Führungskräfte dazu einladen, ihren eigenen Umgang mit der Pandemie in ihrem Wirkungsfeld konstruktiv-kritisch zu ergründen. Auf dieser Basis entstehen Lehren, die dem jeweiligen Kontext angemessen sind.
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Einleitung
Dieses Vorhaben und die Komplexität der Pandemie erfordern einen transdisziplinären Ansatz. Deshalb ist das Team der Herausgeber und Autoren dieses Bandes disziplinenübergreifend konstituiert. Vertreten sind Gesundheitswesen, Geschichte, Ökonomie und Management. Ein solcher Ansatz hat seine eigenen Licht- und Schattenseiten. Einerseits erhöht sich durch diesen Ansatz die Vielfalt an Perspektiven zur Beobachtung der Pandemie und ihrer Steuerung. Jeder Blickwinkel legt dabei den eigenen Fokus. Zusammen ergeben sie ein reichhaltiges Bild, was eher der Komplexität angemessen ist als die Betrachtung aus einem Blickwinkel. Andererseits ergeben sich daraus aber auch gewisse Zumutungen: Die folgenden Kapitel prägen unterschiedliche Längen, Schreibstile und auch teilweise widerstreitende Inhalte. Das entspricht einer komplexen Situation, in der es keine eine Wahrheit gibt, erfordert aber, sich auf die jeweilige Sichtweise einzulassen. Bei aller Unterschiedlichkeit eint die Kapitel das Grundverständnis, dass wir es in der COVID-19-Pandemie mit einem komplexen, dynamischen, von Ungewissheiten und teils überraschenden Wechselwirkungen geprägten Phänomen zu tun haben, in das wir selbst als Akteure, Beobachter und Betroffene eingebunden sind. Kapitel 1 – Die Bedeutung der COVID-19-Pandemie aus einer historischen Perspektive. Wie erleben die Gesellschaft und die Menschen die Ausnahmesituation heute und wie war dies in den Krisen früherer Zeiten? Wie managen die Führungskräfte in Politik und Wirtschaft das Krisengeschehen, heute und damals? Welche Annahmen für die Zukunft legt die historische Analyse nahe? Kapitel 2 – Wissen zur Pandemie – greift die Frage auf, wie Wissen zur Pandemie und ihrem Umgang entwickelt wird. Der Fokus liegt in diesem Kapitel auf der Entwicklung medizinischer Erkenntnisse – sei es über den Virus, seine Infektiosität, seine Wirkung auf unterschiedliche Patientengruppen und Therapiemöglichkeiten. Derartige Erkenntnisse bilden die Grundlage für vielfältige Entscheidungen zur Pandemiebewältigung. Gleichzeitig weist dieser Prozess zur Wissensentwicklung ganz eigene Herausforderungen auf, mit denen die Beteiligten umzugehen haben. Kapitel 3 – Krisenmanagement in der Pandemie: Ebenen Bund, Kanton, Gemeinde – fokussiert auf die Steuerung auf den drei politischen Ebenen der Eidgenossenschaft. Dabei wird besonders die Problematik des Umgangs mit Krisen in einer Föderation untersucht. Zunächst wird eine Diagnose der Organisation und des Managements der Coronakrise in der Schweiz vorgenommen. Dabei verwenden wir ein kybernetisches Organisationsmodell, das Viable System Model (VSM). Dieses verkörpert unseres Wissens die bis heute stärkste Organisationstheorie und findet deshalb weltweit zunehmend Anwendung. Das VSM stellt die Lebensfähigkeit der untersuchten
Einleitung
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Systeme in den Mittelpunkt und operiert jenseits konventioneller Standards. Weiter wird die Kernfrage untersucht, wie sich das Gesundheitssystem organisieren soll, um Krisen wie die COVID-19-Pandemie in Zukunft zu meistern. Konkrete Vorschläge für Organisation und Management werden ausgearbeitet. Kapitel 4 – Der Kalibrierungsmodus zur Pandemiesteuerung im Spital – hat die Bewältigung der Pandemie auf der Ebene von Organisationen zum Thema. Die Datenanalyse einer ethnographischen Einzelfallstudie fokussiert darauf, wie das wechselseitige Verhältnis von Pandemie- und Normalbetrieb in einem Kantonsspital gesteuert wird. Dieser Kalibrierungsmodus, seine Darstellung, Erfolgsvoraussetzungen und Wirkungen stehen im Zentrum des Kapitels. Der Kalibrierungsmodus ermöglicht es, mit einer zeitüberdauernden Krise umzugehen, und begünstigt die Selbststeuerung innerhalb der Organisation. Gleichzeitig ergeben sich Nebenwirkungen, die neben offenen Fragen dieser Forschung Ansätze zur weiteren Entwicklung im Umgang mit der Pandemie liefern. In Kapitel 5 vollziehen wir eine Synthese mithilfe des Systemansatzes, die an dem Verständnis von COVID-19 als komplexer Krise ansetzt. Der Systemansatz stellt die Komplexität und Dynamik der Pandemie ins Zentrum der Betrachtung und damit die beabsichtigten und unbeabsichtigten, auch kontraintuitiven und zeitversetzten Wirkungen und Wechselwirkungen von Handlungen. Dazu skizzieren wir ein systemisches Managementkonzept, welches der Komplexität der Pandemie angemessen Rechnung trägt. Wir stützen uns dabei auf kybernetisch fundierte Prinzipien und orientieren uns an Fragestellungen von zentraler Bedeutung. Der Nutzen dieses Buches für Führungskräfte auf unterschiedlichen (System-)Ebenen, z. B. des Bundes, Kantons, der Gemeinde oder der Organisation, liegt darin, die eigene Steuerungspraxis zu reflektieren und weiter zu entwickeln. Gerade bei der Komplexität einer Pandemie geht es letztlich um den Aufbau eines entsprechend angemessenen Verhaltensrepertoires, auch: einer ausreichend «erforderlichen Varietät». Eine solche Varietät oder auch «requisite variety» (Ashby, 1974) kann nicht in vorgefertigten Rezepten liegen, sondern erfordert die fortlaufende Reflexion der eigenen Erfahrung mit der Steuerung in der Pandemie. Das Buch dient damit als Impuls zur reflexiven Weiterentwicklung der eigenen Steuerungs- oder Managementfähigkeit. Damit möchten wir einen Beitrag dazu leisten, uns auf künftige mögliche weitere Pandemien einzustellen. Wie vieles in der Zeit der Pandemie ist auch dieses Buch ein Experiment. Die Pandemie hat uns die Gelegenheit eröffnet, das Phänomen COVID-19 transdisziplinär anzugehen, was sich in den vorliegenden Kapiteln niederschlägt. Neben dieser
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Einleitung
inhaltlichen Vielfalt unterliegen auch wir mit den jeweiligen Texten der Herausforderung, dass die Pandemie während der Schreibphase noch andauert. Das heisst, wir leben mit dem Risiko, dass einzelne Aussagen bereits überholt sind. Wir bitten an dieser Stelle um eine wohwollend pragmatische Nachsicht. Genauso wie die Entscheidungen bei Führungskräften in Politik und Wirtschaft stehen auch die Aussagen dieser Untersuchung im systematischen Risiko, an der einen oder anderen Stelle eines Besseren belehrt zu werden. Dennoch haben wir dieses Experiment unternommen, um den Betrachtungshorizont auf die Covid-bedingte Krise zu erweitern. Wir wünschen Ihnen eine Lektüre, die Sie zum Nachdenken und zur Erweiterung Ihrer eigenen Wirkungsmöglichkeiten in dieser turbulenten Zeit einlädt. Harald Tuckermann & Markus Schwaninger, im September 2021, St. Gallen
Literatur Ashby, W. R. (1974). Einführung in die Kybernetik. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Wright, T.; Kahl, C. (2021). Aftershock: Pandemic Politics and the End of the Old International Order. St. Martin’s Press.
KAPITEL
1 Pandemie als «Stresstest» der Gesellschaft. Der historische Blick auf eine Krise Flurin Condrau & Leander Diener
Inhaltsverzeichnis 1 2 3 4
Einleitung: Drei Sommerlinden in Bern . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was ist eigentlich Geschichte? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was kann Geschichte eigentlich leisten? . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beispiele aus der Medizingeschichte: Pandemie als «Stresstest» der Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Einsichten: Konkrete Vorschläge für das wirksame Management . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Epilog: Fussball auf der Allmend . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildungsnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Die Literatur in diesem Kapitel ist in den Fussnoten verzeichnet
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Einleitung: Drei Sommerlinden in Bern
Als sich die eidgenössischen Räte in der ersten Maiwoche des Jahres 2020 zu einer ausserordentlichen Corona-Session trafen, war in vielerlei Hinsicht eine Überforderung mit der Situation zu spüren. Um diesem Gefühl zu begegnen, entschieden sich die drei höchsten SchweizerInnen, Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga, Nationalratspräsidentin Isabelle Moret und Ständeratspräsident Hans Stöckli für eine symbolträchtige Geste:1 Gemeinsam pflanzten sie am 7. Mai auf der Berner Allmend drei Sommerlinden («Linden der Hoffnung»), angeordnet in einem Dreieck. Bereits im Jahr 2015 wurde auf der Grossen Allmend eine erinnerungspolitisch aufgeladene Linde gepflanzt, in Erinnerung nämlich an das Ende des Zweiten Weltkrieges. Anders als die einzelne Linde, die an ein siebzig Jahre zurückliegendes Ereignis erinnerte, bedienten die drei neuen Linden eine andere Zeitlichkeit. Noch standen die drei Jungbäume isoliert nebeneinander, doch sollten die Baumkronen in einigen Jahren derart an Umfang gewinnen, dass die Bäume zu einem einzigen Dach zusammenwachsen und Schatten spenden würden.2 Abgesehen von
Abbildung 1: Planung der eidgenössischen Corona-Erinnerungspolitik: Hans Stöckli, Simonetta Sommaruga und Isabelle Moret (von links nach rechts) zwischen zwei Organisatoren vom Amt Stadtgrün, Bern.
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Die Idee kam ursprünglich von Bundespräsidentin Sommaruga und ihren MitarbeiterInnen. Persönliche Kommunikation Harald Hammel, Kommunikation UVEK, 2. September 2021. https://www.swissinfo.ch/ger/drei-sommerlinden-als-symbol-fuer-bewaeltigung-der-coronakrise/45744282 [aufgerufen am 01.09.2021].
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Kapitel 1: Pandemie als «Stresstest» der Gesellschaft
dieser hoffnungsvollen Zukunftsperspektive sollten die drei Linden an den «Dialog unter den Gewalten», d. h. an die ausserordentliche Session in der BernExpo erinnern, während der die drei Gewalten Bundesrat sowie die beiden parlamentarischen Kammern die Rechtsunsicherheiten der ausserordentlichen Lage gemeistert hatten. In den Worten des damaligen Ständeratspräsidenten Hans Stöckli: «Demokratie und Rechtsstaat durften dem Virus nicht zum Opfer fallen.»3 Die insgesamt vier geschichtspolitischen Linden auf der Berner Allmend vermitteln zwei unterschiedliche Funktionen von Geschichte. Anlässlich der sogenannten «Friedenslinde» von 2015 erklärte der damalige Berner Stadtpräsident Alexander Tschäppät, dass die Linde nicht als «Denkmal für ein historisches Ereignis, sondern als Mahnmal gegen das Vergessen und Verdrängen» zu verstehen sei.4 Der Baum sollte also Vergangenes in die Gegenwart holen und bewahren, vergangene Schrecken und vergangenes Leid sollten erinnert werden. Die Sommerlinden von 2020 wurden im Gegensatz dazu nicht alleine im Rückblick auf eine gemeisterte parlamentarische Session unter besonderen Bedingungen gesetzt, sondern inmitten einer Pandemie mit dem Ziel, positiv an die besondere parlamentarische Krisen-Session zu erinnern und sich dem Trost der fortschreitenden Geschichte zu versichern. Dies wurde mit drei Tafeln kommuniziert, die in drei Landessprachen unter den Linden verkündeten: „Gemeinsam können wir wachsen. Gemeinsam können wir gestärkt aus der Krise herauskommen.“ Trost spendete insbesondere die Vorschau auf eine Zeit, in der die Lindenkronen zusammengewachsen und die Pandemie hoffentlich vorüber sein würde. Angesichts dieser verschiedenartigen gesellschaftlichen Aneignungen des historischen Erzählens mag die Frage gestellt werden, ob denn von der wissenschaftlichen Geschichte irgendwelche Einsichten über derartige grosse symbolische Gesten hinaus zu erwarten seien, zumal praktisch jeder und jede historische Zusammenhänge praktisch beliebig in Anschlag bringen kann. Geschichte machen nicht nur professionelle HistorikerInnen, sondern auch PolitikerInnen, die Medien, und Personen aus der Zivilgesellschaft.5 Zweifellos gab es in den ersten Phasen der Pandemie ein vorerst nicht weiter expliziertes Bedürfnis nach Orientierung aus der akademischen (Medizin-)Geschichte, medizinhistorische Perspektiven erhielten mediale Aufmerksamkeit und Forschende traten ins Licht der Öffentlichkeit. Allerdings blieben die 3 4 5
En Route 2020. Der Ständerat im Jahr der ausserordentlichen Lage. Hrsg. v. Hans Stöckli, Bern 2020: 216. https://journal-b.ch/artikel/die-friedenslinde-als-mahnmal-von-bern/ [aufgerufen am 01.09.2021]. Die zivilgesellschaftliche Vereinigung «Freunde der Verfassung», die wesentlich für das sogenannte Covid-Referendum im März 2021 verantwortlich waren, verwendete das historische Narrativ der freiheitlichen Schweiz als Grundlage für ihr Argumentarium. Damit bedienten sie sich einer ähnlichen geschichtspolitischen Argumentation wie bei der Sommerlinden-Aktion, jedoch aus regierungskritischer Warte.
2 Was ist eigentlich Geschichte?
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konkreten Erwartungen an die Adresse der (Medizin-)Geschichte eher bescheiden: Beispielsweise war zu keinem Zeitpunkt eine Person aus der Geschichte in der vom Bund beauftragten COVID-Task Force vertreten.6 Als Vize-Präsidentin des Management-Teams fungierte stattdessen ab einem gewissen Zeitpunkt die Bioethikerin Samia Hurst, mit der die geistes- und sozialwissenschaftliche Perspektive in der Task Force abgedeckt wurde. Mit Recht darf also danach gefragt werden, welche Rolle der Geschichte im besonderen Fall einer umfassenden Krise wie der Corona-Pandemie zukommen kann. Zudem stellt sich die nicht mehr ganz junge Frage, wie sich Geschichte angesichts eines kurz zurückliegenden oder gar andauernden Ereignisses positionieren soll. Ist Geschichte nicht eine Disziplin, die von toten Menschen und alten Zöpfen handelt? Im Folgenden werden drei zentrale Einsichten vorgeschlagen, die historisches Denken im 21. Jahrhundert erforderlich machen: Sensibilisierung, kritische Verortung, und Narrativierung. Im Anschluss daran soll gezeigt werden, was diese Art des Reflektierens im spezifischen Fall der Corona-Pandemie leistet.
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Was ist eigentlich Geschichte?
Die zwei Zeitlichkeiten der Linden auf der Berner Allmend – eine retro- und eine prospektive Perspektive – bedienen unterschiedliche Arten der Historisierung mit unterschiedlichen Zielen. Wird eine berühmte Unterscheidung Friedrich Nietzsches etwas strapaziert, dann könnte man die retrospektive Perspektive «antiquarisch» und die prospektive Perspektive «monumentalisch» nennen.7 In Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben unterschied Nietzsche nämlich zwischen drei Arten von Geschichte: Die antiquarische Historie bewahrt die Vergangenheit mit dem Ziel, Gesellschaften durch das gemeinsame Erinnern an Positives und Negatives zu einen. Die «Friedenslinde» gemahnt in diesem Sinne die schweizerische und auch die europäische Gemeinschaft daran, dass das Motto «Nie wieder Krieg» der permanenten Aktualisierung bedarf. Ebenso dienen die drei Sommerlinden dazu, an die besonderen Umstände der Frühlingssession 2020 zu erinnern. Die monumentalische Historie hingegen dient dazu, anspornende und inspirierende Vorlagen zu liefern, um die RezipientInnen dieser Historie in ihrem eigenen Handeln zu bestärken. Die drei Sommerlinden geben insofern auch Zeugnis einer überwundenen demokratischen 6 7
Interessanterweise war auch die Veterinärmedizin kaum präsent, obschon Covid als Zoonose in deren Gebiet fällt. Dazu mehr unter «5. Einsichten: Konkrete Vorschläge für das wirksame Management». Friedrich Nietzsche, Unzeitgemässe Betrachtungen Zweites Stück: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben. In: Giorgio Colli, Mazzino Montinari (Hrsg.), Kritische Studienausgabe, Bd. 1, 10. Aufl. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 2015 [1874]: 243–334.
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Kapitel 1: Pandemie als «Stresstest» der Gesellschaft
Krisensituation und eines vorbildhaften politischen Optimismus, der sowohl eine positive Einstellung gegenüber der Zukunft als auch bereits eine Vorwegnahme weiterer Entwicklungen impliziert. Nietzsche besprach eine weitere Form der Historie: die kritische Historie. Die kritische Historie dient der Regulation der beiden anderen Geschichtsformen, etwa indem sie fehlgeleitete «monumentalische» Erzählungen eliminiert, oder indem sie von detailversessenen und gegenwartsenthobenen «antiquarischen» Geschichtsbetrachtungen warnt. Zudem führt die kritische Historie vor, dass jede Form der Geschichtsbetrachtung an bestimmte Interessen gebunden ist, weil beispielsweise die Wahl von wichtigen Vorbildern und Ereignissen in der monumentalischen Historie keineswegs neutral sind. In einem weiteren, aktuelleren Sinne hat die kritische Geschichtsschreibung die Bedeutung angenommen, eine Art Geschichte der Gegenwart zu sein. Damit ist gemeint, dass die Geschichte in Anlehnung an Nietzsche als kritische Historie eine Diskussionsgrundlage für aktuelle gesellschaftliche Probleme liefert, insofern nämlich, dass diese Geschichte von gegenwärtigen Problemen und Fragen ausgeht und sie anhand von historischen Begebenheiten erörtert. Ansätze für diese Form der Geschichte finden sich seit rund vierzig Jahren in der historischen Wissenschaftsforschung oder in der historischen Sozialwissenschaft deutscher Prägung, beides historische Disziplinen mit praktischer Ausrichtung. Mit dieser Charakteristik von kritischer Historie hängt auch ein Missverständnis von Geschichte zusammen: Die Gegenwart als Objekt der Historisierung fällt nicht unbedingt in den Kompetenzbereich der Geschichte. Insofern sind auch Fragen wie «Welche konkreten Handlungsanweisungen ergeben sich aus der Geschichte/aus historischen Vergleichen?» oder «Wie geht es mit der Pandemie weiter?» keine wirklich konstruktiven Fragen. Die Antworten fallen zwangsläufig negativ aus: Konkrete Handlungsanweisungen lassen sich kaum aus der Vergangenheit ziehen, und auch Zukunftsprognosen werden keine zu erwarten sein. Geschichte ist alles andere als ein Medikamentenschrank, sofern dieser Medikamentenschrank fixfertige Lösungen aus der Vergangenheit für die Gegenwart verspricht.8 Die Idee, dass historische Vergleiche – etwa zwischen der Spanischen Grippe und der Covid-Pandemie – weiterführend sind, ist zwar verlockend. Medizinhistoriker Erwin Heinz Ackerknecht glaubte beispielsweise daran, dass Medizingeschichte über blosse «mental gymnastics» hinaus Daten liefert, die mit Gewinn
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Vgl. Den klassischen Aufsatz von Reinhart Koselleck, Historia Magistra Vitae. Über die Auflösung des Topos im Horizont neuzeitlich bewegter Geschichte. In: Ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 1989: 38–66.
3 Was kann Geschichte eigentlich leisten?
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weiterbearbeitet werden könnten.9 In Ackerknechts Sinne wurde beispielsweise immer wieder mit statistischen Mitteln versucht, aus historischen epidemiologischen Daten Erkenntnisse für die Gegenwart zu gewinnen.10 Leider gibt es wenige überzeugende Beispiele für eine derartige und in diesem Sinne weiterführende Verwendung von Geschichte: Wenn diese Verwendung von Geschichte als Datengrundlage vielversprechend wäre, dann würde der «Mehrwert» von Geschichte wohl kaum hinterfragt und dann sähe sich die Geschichtswissenschaft auch nicht von Kürzungen und anderen Landverlusten bedroht. Solche intellektuellen Übungen, die in der Medizingeschichte als «retrospektive Diagnose» bezeichnet werden, weil sie aktuelle Konzepte auf die Vergangenheit anwenden, sind reizvolle Beschäftigungen, die allerdings weder dem Potential kritischer Geschichte gerecht werden, noch wirklich interessante medizinisch-wissenschaftliche Erkenntnisse liefern. Was ist es nun aber genau, das Geschichte als kritische Geschichte zusätzlich zu «antiquarischen» Liebhabereien und «monumentalischen» Verwertungen und vor allem über den Elfenbeinturm hinaus leisten kann?
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Was kann Geschichte eigentlich leisten?
In gewisser Weise teilt Geschichte während der Pandemie viele Probleme mit anderen Formen von Geschichte während einer Krise: Die englischsprachige contemporary history oder die deutschsprachige Zeitgeschichte waren beispielsweise Reaktionen auf die Erfahrungen des Ersten respektive des Zweiten Weltkriegs, oder in anderen Worten die Erfahrung eines «Zeitalters der Extreme»,11 eines Zeitalters «krisenhafter Erschütterung und einer eben darin sehr wesentlich begründeten universalen Konstellation».12 Erstens ist der historische Blick und damit die Arbeit der HistorikerInnen selbst historisch, zumal sich der Blick und die Forschungsprojekte angesichts einer Krise verändern: Die Krise verleiht neuen Themen und Perspektiven eine Dringlichkeit. Ähnlich wie die erwähnte historische Wissenschaftsforschung oder die historische Sozialwissenschaft wird die Geschichte auf diese Weise
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Erwin Heinz Ackerknecht, A Short History of Medicine. Revised and Expanded Edition. Foreword and Concluding Essay by Charles E. Rosenberg. Bibliographic Essay by Lisa Haushofer. Baltimore: Johns Hopkins University Press, 2016: xxi. Kaspar Staub, Peter Jüni, Martin Urner, Katarina Matthes, Corina Leuch, Gina Gemperle, Nicole Bender, Sara Fabrikant, Milo Puhan, Frank Rühli, Oliver Grübner, Joël Floris. Public Health Interventions, Epidemic Growth, and Regional Variation of the 1918 Influenza Pandemic Outbreak in a Swiss Canton and Its Greater Regions. In: Annals of Internal Medicin (8 February 2021). Hobsbawm, The Age of Extremes: A History of the World, 1914–1991. New York: Pantheon Books, 1994. Hans Rothfels, Zeitgeschichte als Aufgabe. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 1 (1953): 2.
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Kapitel 1: Pandemie als «Stresstest» der Gesellschaft
zur Orientierungsdisziplin, weil sie sich am eigenen Betroffensein ausrichtet. Dabei bieten sich insbesondere interdisziplinäre methodische Zugänge an, d. h. die Kombination historisch-hermeneutischer mit soziologischen, ethno- und anthropologischen, ethischen und anderen Methoden.13 Zweitens ist der historische Blick bestens dazu geeignet, die epistemischen Transformationsprozesse und Konsensverschiebungen während einer Krise kritisch zu analysieren, konsequenterweise auch die eigene Historizität mitzudenken. Und drittens ist der historische Blick nicht nur kritisch-dekonstruktiv, sondern auch produktiv, indem er alternative Narrative anbietet, im Falle der Covid-Pandemie beispielsweise «Weckruf»-Narrative. Während der erste Aspekt im Nachdenken über eine «Zeitgeschichte als Aufga14 be» oder über eine kritische «Geschichte der Gegenwart» seit etwa siebzig Jahren reflektiert wird, kam der zweite Aspekt als Untersuchungsgegenstand in der historischen Wissenssoziologie und Wissen(schaft)sgeschichte vor etwa einhundert Jahren auf. Diese beiden Aspekte bedienen eine kritisch-dekonstruktive Distanzierungsfunktion, um das Wesen und die Ausrichtung einer von der Gegenwart informierten Geschichtsschreibung zu analysieren. Der dritte Aspekt übersetzt den historischen Blick in einen engagierten Aktivismus, der das Schreiben von Geschichte zur politischen Praxis macht.15 Als gegenwartsbezogene Gesellschaftswissenschaft kann Geschichte also gegenwärtige Fragen diskutieren und eine Sensibilisierung leisten. Von bestimmten Gegebenheiten ausgehend sensibilisiert Geschichte für die Historizität von zentralen Kategorien: Ebenso wie vor rund einhundert Jahren über die Realität von Bazillen und Viren gestritten wurde,16 so unterlag auch die Definition von SARS-CoV-2 zahlreichen und historisch spezifischen Aushandlungsprozessen; bestimmte Quarantänemassnahmen fielen in der Geschichte im Rahmen unterschiedlicher Natio-
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Eine Krise noch während der Krise zu historisieren führt zu bestimmten Schwierigkeiten, zumal das herkömmliche Instrumentarium der Geschichtswissenschaft ab einer gewissen Nähe zur Gegenwart nicht mehr greift. Eine Historisierung der Gegenwart war auch nicht das primäre Ziel der contemporary history oder der Zeitgeschichte. Als Beispiele zeitnaher Publikationen: Heiner Fangerau, Alfons Labisch, Pest und Corona. Pandemien in Geschichte, Gegenwart und Zukunft. Herder: Freiburg im Breisgau, 2020; Malte Thießen, Auf Abstand. Eine Gesellschaftsgeschichte der Coronapandemie. Campus, 2021; Mark Honigsbaum, The Pandemic Century. One Hundred Years of Panic, Hysteria and Hubris. London: Norton: New York, 2020. Hans Rothfels, Zeitgeschichte als Aufgabe. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 1 (1953): 2. Jürgen Martschukat, Eine kritische Geschichte der Gegenwart. In: WerkstattGeschichte 61 (2012). Bruno Latour, The Pasteurization of France. Übers. v. Alan Sheridan. Cambridge: Harvard University Press, 1993; Silvia Berger, Abschied vom Krieg? Latente Infektionen und neue biologische Modelle der Wirt-Parasit-Interaktionen in der Bakteriologie der Weimarer Republik. In: Marion Hulverscheidt, Anja Laukötter (Hrsg.), Infektion und Institution. Zur Wissenschaftsgeschichte des Robert Koch-Instituts im Nationalsozialismus. Göttingen: Wallstein, 2009: 17–41.
3 Was kann Geschichte eigentlich leisten?
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nalökonomien mit guten Gründen verschieden aus,17 und ebenso verfolgten viele Nationen während der Corona-Pandemie mit ebenfalls guten Gründen andere Strategien; die Komplexität der Entwicklung von Wirkstoffen zwischen politischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Interessen lässt sich gut anhand der Entwicklung von Salvarsan oder Penicillin aufzeigen, während ähnliche Interessen auch bei der Entwicklung von ersten Impfstoffen im Jahr 2020 mitspielten; Impfskepsis und Widerstände gegen wissenschaftlich-technokratische Interventionen gab es ebenso im frühen 19. Jahrhundert wie während der Corona-Pandemie; und auch die Rolle des Militärs während der Covid-Pandemie kann beispielsweise in der Schweiz anhand militärischer Operationen während der Spanischen Grippe perspektiviert werden. Diese Sensibilisierungsfunktion teilt die Geschichte mit anderen sozialund geisteswissenschaftlichen Methoden. Sie unterscheidet sich von diesen hauptsächlich durch ihr quellenkritisches Vorgehen in der Verwertung von Zeugnissen aus der Vergangenheit. Neben dieser Sensibilisierungsfunktion kann Geschichte auch eine kritische Verortung leisten, wiederum nicht unbedingt mit einem Primat vor anderen sozialund geisteswissenschaftlichen Analysen, aber mit attraktiven Voraussetzungen. Diese Voraussetzungen betreffen vor allem die Erscheinungsform von Geschichte, die neben allen methodischen und theoretischen Raffinessen immer wieder auf das Erzählen zurückfällt: Bezeichnenderweise liegen Geschichten als narrative Weltausdeutungen praktisch sämtlichen menschlichen (und eventuell auch nichtmenschlichen) Kulturformen zugrunde. Als Disziplin, die wesentlich an der Historisierung, Kontextualisierung und Verortung von bestimmten Inhalten interessiert ist, hat Geschichte als Kritikform den entscheidenden Vorteil, dass sie eigentlich immer schon das grosse Ganze im Blick hat und damit der Vielschichtigkeit der Welt Rechnung trägt. Dies unterscheidet beispielsweise die Medizingeschichte von der biomedizinischen Ethik (wenn auch nur graduell), weil letztere sich zumindest aus der Perspektive der ersteren der De-Kontextualisierung schuldig macht und damit an kritischem Potential einbüsst. Fairerweise muss angemerkt werden, dass gerade die systematische Dekontextualisierung der biomedizinischen Ethik im Gegensatz zur Medizingeschichte erlaubt, klarere Vorschläge und Handlungsanweisungen zu liefern. Als dritte und eng mit der zweiten verwandte Funktion dient die Geschichte der Narrativierung. Damit ist mehr gemeint, als dass Geschichtenerzählen eine besonders zugängliche Form der Informationsvermittlung ist, die zudem philosophisch-anthropologisch der Natur des homo narrans entspricht. Narrativierungen 17
Peter Baldwin, Contagion and the State in Euroope 1830–1930. Cambridge: University of Cambridge Press, 1999.
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Kapitel 1: Pandemie als «Stresstest» der Gesellschaft
dienen immer der Interpretation, Verarbeitung und Tradierung von kollektiven Erinnerungen und gesellschaftlichen Lernens. Gerade in Bezug auf eine Krise wie die Corona-Pandemie werden solche Erinnerungen als handlungsleitende Elemente herangezogen, etwa im Fehlen bestimmter Erinnerungen oder als Erinnerung an Referenzkrisen. Der Wirtschaftshistoriker Hansjörg Siegenthaler sprach von «fundamentalen Krisen», die politische, gesellschaftliche, juristische und ökonomische Regeln und Erfahrungsbestände grundsätzlich in Frage stellen.18 Solche tiefgreifenden gesellschaftlichen Erschütterungen bieten die Möglichkeit gesellschaftlichen Lernens und stellen allenfalls zukünftige Referenzkrisen dar, also Modelle, die im Umgang mit späteren Krisen Orientierung und Sinnstiftung bieten. In China darf wohl in diesem Sinne die Erinnerung an die SARS-Pandemie als handlungsleitende Referenzkrise angenommen werden, die wiederum «Zero Covid» als Strategie zur vollständigen Unterdrückung der Covid-19-Pandemie begründete. Pandemien bieten in der (Medizin-)Geschichte dankbare Untersuchungsgegenstände, um genau diese fundamentale Erschütterung gesellschaftlicher Normen aufzuzeigen.19 Die aktuelle Corona-Pandemie trägt insofern ebenfalls die Merkmale einer fundamentalen Krise: Regierungsformen werden in Zweifel gezogen, gesellschaftliche Sicherheiten erschüttert, persönliches Verhalten grundsätzlich reflektiert. Wie langfristig diese Erschütterungen allerdings sein würden, wurde von Anfang an schon hinterfragt: Wo würde die Solidarität bleiben, das Versprechen eines bewussteren und besseren Lebens, das angeeignete Wissen über den Zusammenhang von Abholzung und der Entstehung von gefährlichen Zoonosen, wenn die Pandemie einmal vorüber sein sollte? Diese Dinge hängen unter anderem von den Narrativen ab, die bereits während der Krise angelegt und später weitergegeben werden. Ein produktiver Vorschlag zur Beschreibung der drei Funktionen – Sensibilisierung, kritische Einordnung und Narrativierung – der Krise ist das Konzept des «Stresstests»: Wird die Pandemie als Stresstest der Gesellschaft betrachtet, dann ergeben sich für die historische Perspektive viele weiterführende Perspektiven.
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Hansjörg Siegenthaler, Regelvertrauen, Prosperität und Krisen: Die Ungleichmässigkeit wirtschaftlicher und sozialer Entwicklung als Ergebnis individuellen und sozialen Lernens, Tübingen: Mohr, 1993. Asa Briggs, ‘Cholera and Society in the Nineteenth Century’, in: Past & Present 19 (1961): 76-96; Charles E. Rosenberg, ‘What is an epidemic? AIDS in historical perspective’, in: Daedalus 118 (1989): 1–17.
Um Krisen zu bewältigen, muss eine Gesellschaft vorbereitet, resilient und lernfähig sein. Diese transdisziplinäre Untersuchung veranschaulicht (am Beispiel der Schweiz) den schwierigen Umgang mit der Pandemie und zieht Lehren aus dieser Erfahrung. Sie bietet Führungskräften aus Politik und Gesundheitswesen einen zweifachen Nutzen. Erstens eine Perspektive, um die Corona-Krise mit ihren komplexen Zusammenhängen und «Mechanismen» besser zu verstehen. Zweitens das konzeptuelle Werkzeug, um die eigene Handlungssituation zu reflektieren und für künftige Krisen gewappnet zu sein.
ISBN 978-3-258-08271-4