Glasl, Selbsthilfe, 9. Auflage

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ISBN 978-3-7725-3119-4 ( Freies Geistesleben ) ISBN 978-3-258-07948-6 ( Haupt )

Glasl Selbsthilfe in Konflikten

Selbsthilfe in Konflikten Konzepte Übungen

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Freies Geistesleben

Selbsthilfe in Konflikten

Friedrich Glasl hat dieses Buch als Antwort auf zahlreiche Hilferufe geschrieben, mit denen er als Konfliktberater in Organisationen immer wieder konfrontiert wurde. In seiner Berufspraxis beobachtet er eine stetige Zunahme von Gegensätzen, Spannungen und Reibungen unter den in Organisationen tätigen Mitarbeitern. Dabei stellt er immer wieder fest, dass viele Menschen solchen Situationen hilflos gegenüberstehen und dass Organisationen in den meisten Fällen für das konstruktive Bearbeiten von Konflikten unzureichend ausgestattet sind. In vielen Auseinandersetzungen muss es aber nicht so weit kommen, dass Hilfe nur noch von außen möglich ist. Das vorliegende Buch vermittelt Konzepte, Übungen und praktische Methoden, mit deren Hilfe Konflikte selbst gelöst werden können. Das Buch wendet sich daher an alle Menschen, die innerhalb von selbstverwalteten Organisationen verantwortlich tätig sind.

Friedrich Glasl

Praktische Methoden

9., aktualisierte und erweiterte Auflage

Freies Geistesleben


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Friedrich Glasl

Selbsthilfe in Konflikten Konzepte – Übungen – Praktische Methoden

9., aktualisierte und erweiterte Auflage

Verlag Freies Geistesleben Haupt Verlag 3


Über den Autor: Friedrich Glasl wurde 1941 in Wien geboren, erlernte den Beruf des Schriftsetzers und studierte danach Politische Wissenschaften und Psychologie (Universität Wien). Nach Forschungen am Internationalen Gerichtshof, Den Haag, Dissertation zur internationalen Konfliktverhütung und Promotion zum Dr.rer.pol. 1967. Berufstätig in Druckereien und Verlagen, in der Stadtverwaltung Linz/Donau und für die UNESCO, nebenbei Regieassistent eines avantgardistischen Theaters in Wien. 1966 Heirat mit Hannelie ten Siethoff in Den Haag, Übersiedlung nach Holland und von 1967 bis 1985 am NPI-Institut für Organisationsentwicklung (gegründet von Prof. Bernard Lievegoed) als Forscher, Dozent und Berater tätig. 1983 Habilitation an der Uni Wuppertal (Organisationswissenschaften), 1985 Mitgründer der «Trigon Entwicklungsberatung» und Rückkehr nach Österreich (Salzburg). Dozent für Organisationsentwicklung und Konfliktmanagement an den Universitäten Ashridge, Cape Town, Erivan, Fribourg, Klagenfurt, Krems, Salzburg, St. Gallen, Tampere, seit 2010 Gastprofessor an der Staatlichen Universität Tbilissi, Georgien. Seine Bücher zum Konfliktmanagement und zur Mediation sowie zur Organisationsentwicklung gelten als Standardwerke in diesen Fachgebieten. Als Forscher, Lehrer und Mediator erhielt er folgende Auszeichnungen: 2013 Ehrendoktorat der Universität Tbilissi; 2014 Sokrates-Mediations-Preis; 2015 D.A.CH-Mediationspreis WinWinno; 2017 Life-Achievement-Award. Neben der wissenschaftlichen und beratenden Tätigkeit verfasste er auch Gedichte, Hörspiele (internationaler 3. UNDA-Hörspielpreis), Theaterstücke, Lehrfilme und das Libretto der Kinderoper «Der Zauberspiegel», die mit Musik von Ludwig Nussbichler zu Mozarts 250. Geburtstag in Salzburg uraufgeführt wurde. Das Buch Selbsthilfe in Konflikten liegt auch in folgenden Sprachen vor: Armenisch, Chinesisch (Mandarin), Englisch, Estnisch, Niederländisch, Polnisch, Brasilianisch-Portugiesisch, Tschechisch, Russisch. www.friedrich.glasl.trigon.at 9., aktualisierte und erweiterte Auflage 2022 Verlag Freies Geistesleben Haupt Verlag Landhausstraße 82, 70190 Stuttgart Falkenplatz 14, CH-3001 Bern www.geistesleben.com www.haupt.ch ISBN 978-3-7725-3119-4 (Verlag Freies Geistesleben) ISBN 978-3-258-08298-1 (Haupt Verlag) © für die deutsche Ausgabe: 1998, 2008 Verlag Freies Geistesleben & Urachhaus GmbH, Stuttgart Druck: BAIRLE Druck & Medien GmbH, Dischingen Printed in Germany

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Inhalt

1. Hilfe – Konflikte!  9

1.1 Konfliktfähigkeit und Konfliktfestigkeit  9 1.2 Behinderung durch zwei extreme Konflikthaltungen  11 1.3 Selbstbehauptung entwickeln – Drei Übungen  16 1.4 Was ist eigentlich mit sozialen Konflikten gemeint?  22 1.5 Veränderungen in den seelischen Funktionen: Ursachen und Wirkungen zugleich  25 (1) Veränderungen im Wahrnehmen  25 (2) Veränderungen im Vorstellen, Erinnern, Denken und ­Interpretieren  26 (3) Veränderungen im Gefühlsleben  28 (4) Veränderungen im Willensleben  29 (5) Veränderungen im äußeren Verhalten  30 (6) Wirkungen des Konfliktverhaltens  31 1.6 Die Kernfrage ist: «Habe ich einen Konflikt?» – Oder: «Hat der Konflikt mich?»  33 1.7 Konfliktfestigkeit von Organisationen  35 2. Meine Person als Quelle sozialer Konflikte  39

2.1 Der dreifältige Wesenskern der menschlichen Persönlichkeit  39 2.2 Die Beziehungen zwischen dem Alltags-Ich und dem Höheren Selbst  44 (1) Die Haltung der krampfhaften Kasteiung  45 (2) Die Flucht vor dem eigenen Idealbild  46 (3) Die Haltung der resignativen Kapitulation  47 (4) Die Illusion der Perfektion  47 2.3 Problematische Beziehungen zwischen dem Alltags-Ich und dem Doppelgänger  48 (1) Die Haltung des entschlossenen Tierbändigers  49 (2) Die Haltung des aggressiven Verdrängens  49 (3) Die Haltung der resignativen Kapitulation, Flucht  50 (4) Die Haltung der Identifikation mit dem Ungeheuer  50

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2.4 Die innere Spannung wird nach außen verlagert  51 2.5 Einige Grundformen zwischenmenschlicher Konflikte nach Horst-Eberhard Richter  53 (1) «Ich bin dein Richter!»  54 (2) «Du bist mein besserer Teil!»  55 (3) «Du bist mein schwächerer Teil!»  55 (4) «Du bist der gefährliche Teil meines Wesens!»  56 (5) «Sei doch normal – so wie ich!»  57 2.6 Die positiven Haltungen der Selbstkonfrontation und Selbstentwicklung  58 2.7 Licht und Schatten bei der Identität von Gemeinschaften und Organisationen  61 3. Wie kann ich in Konflikten an mir selbst arbeiten?  64

3.1 Wie kann ich an problematischen Zweierbeziehungen arbeiten?  64 (1) Kritische Rückschau am Ende des Tages nach Rudolf Steiner  65 (2) Inventarisieren der eigenen Ideale und Werte, der Stärken und positiven moralischen Eigenschaften  66 (3) Das Aufspüren von verschütteten Werten und Idealen nach R. Steiner  67 (4) Die Suche nach Ähnlichkeiten mit dem Feind  69 (5) Überprüfung der Verkettung mit dem Gegner  70 (6) Suche nach den «goldenen Augenblicken» im Verhalten des Gegners  71 3.2 Sie können den Feind in Ihrem Inneren erlösen  74 3.3 Wie kann ich an den Spannungen zwischen Licht und Schatten in Gruppen arbeiten?  75 (1) Entwickeln einer positiven Vision: die Lichtseite der Gruppe  75 (2) Der Steckbrief der Gemeinschaftspersönlichkeit: Licht und Schattenseite einer Gruppe  75 (3) Ziele für Veränderungen der Gruppenidentität: Der Weg aus dem Schatten ins Licht  79 (4) Richtungsaussagen zur Überwindung der Spannung zwischen Licht und Schatten  80 (5) Das Ansprechen von Diskrepanzen zwischen Ideal und Wirklichkeit in der Gruppe  81

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4. Was Konflikte vorantreibt  87

4.1 Schwellen der Eskalation  88 4.2 Was treibt die Eskalation voran? Die Eskalationstreiber  90 A.1. Wachsende Streitpunktlawine – mit gleichzeitig A.2. zunehmender Simplifizierung  91 B.1. Arena-Ausweitung – mit gleichzeitig B.2. zunehmender Personifizierung  94 C.1. Pessimistische Antizipation – bei gleichzeitig C.2. selbsterfüllender Vorhersage  96 5. Wie es in Konflikten bergab gehen kann  99

5.1 Die Eskalationsstufe 1: Verhärtung  101 5.2 Die Eskalationsstufe 2: Debatte und Polemik  102 5.3 Die Eskalationsstufe 3: Taten statt Worte  106 5.4 Die Eskalationsstufe 4: Images und Koalitionen  108 5.5 Die Eskalationsstufe 5: Gesichtsangriff und Gesichtsverlust  111 5.6 Die Eskalationsstufe 6: Drohstrategien und Erpressung  115 5.7 Die Eskalationsstufe 7: Begrenzte Vernichtungsschläge  116 5.8 Die Eskalationsstufe 8: Zersplitterung des Feindes  119 5.9 Die Eskalationsstufe 9: Gemeinsam in den Abgrund  121 5.10 Was ist Mobbing?  121 5.11 Welche Kräfte wirken in der Konflikteskalation?  122 6. Was kann ich tun, sobald mir Konflikte auffallen?  126

6.1 Einseitig «Ich-Botschaften» aussprechen  130 6.2 Konsens über die unerwünschte Zukunft (Un-Werte, «non-values») suchen  133 6.3 Beginnende Konflikte in einer Gruppe ansprechen  136 6.4 Nach der Selbsthilfe kommt Nachbarschaftshilfe oder professionelle Beratung  140 7. Was kann ich auf den einzelnen Eskalationsstufen selbst tun?  144 7.1 Zur Eskalationsstufe 1: Verhärtung  144 Konzentration auf die Kernthemen der Auseinandersetzung  145 Die passenden Gesprächsmethoden entlasten die Auseinandersetzung  147

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Entkrampfung erschließt wieder die guten Qualitäten der Beteiligten  151 7.2 Zur Eskalationsstufe 2: Debatte, Polemik  151 Die polarisierenden Kräfte unwirksam machen  152 Vom Dominanzstreben zur partnerschaftlichen Auseinandersetzung führen  156 Vom zwanghaften Pingpong zum Ich-geleiteten Handeln finden  157 7.3 Zur Eskalationsstufe 3: Taten statt Worte  157 Das Einfühlungsvermögen stärken  158 Die Rollen-Kristallisierung auflösen  161 Aufhellen der Diskrepanzen zwischen verbalen und non-verbalen Botschaften  164 7.4 Zur Eskalationsstufe 4: Images und Koalitionen  167 Die verzerrten Wahrnehmungen korrigieren und gleichzeitig die Mechanismen der Wahrnehmungsverzerrung unwirksam machen  168 Verhängnisvolle Rollenbindungen lösen  175 8. Professionelle Hilfe kann weiter gehen!  178

8.1 Bilden einer Kontakt- oder Resonanzgruppe  178 8.2 Auftragserteilung an externe Beratung  180 8.3 Zur Eskalationsstufe 5: Gesichtsangriff und Gesichtsverlust  185 8.4 Zur Eskalationsstufe 6: Drohstrategien und Erpressung  187 8.5 Zur Eskalationsstufe 7: Begrenzte Vernichtungsschläge  191 8.6 Zur Eskalationsstufe 8: Zersplitterung  192 8.7 Zur Eskalationsstufe 9: Gemeinsam in den Abgrund  194 8.8 Einige Bemerkungen zum modernen Mediationsbegriff 196 9. Selbsterkenntnis und Selbsthilfe in Konflikten  199 10. Verwendete und empfohlene Literatur  209

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Hilfe – Konflikte!

Dieses Buch ist aus Antworten auf zahlreiche Hilferufe entstanden, mit denen ich als Konfliktberater in Organisationen geholt wurde. In meiner Berufspraxis beobachte ich eine stete Zunahme von Gegensätzen, Spannungen und Reibungen. Und ich stelle auch immer wieder fest, dass viele Menschen solchen Situationen hilflos gegenüberstehen und dass Organisationen in den meisten Fällen für das konstruktive Bearbeiten von Konflikten unzureichend ausgestattet sind.

1.1. Konfliktfähigkeit und Konfliktfestigkeit Durch umfassende Veränderungen zur Bewältigung der globalen Klimakrise wird es in den nächsten Jahrzehnten vermehrt zu konflikthaften, vielleicht auch gewaltsamen Auseinandersetzungen in Wirtschaft, Politik und Kultur kommen. Deshalb befürchte ich fatale Fehlentwicklungen unserer Gesellschaft (Glasl 1992), wenn nicht große Anstrengungen unternommen werden, die Hilflosigkeit im Umgang mit Konflikten auf allen gesellschaftlichen Ebenen zu überwinden. Viele Fachleute können dazu ihre Beiträge leisten. Allerdings wäre die Ausbildung selbst einer Legion professioneller Konfliktberaterinnen oder Mediatoren dafür nicht ausreichend. Die bessere ­Lösung ist daher, bei vielen Menschen soziale Fähigkeiten so zu entwickeln, dass sie sich in Konfliktsituationen so weit wie möglich selbst zu helfen vermögen. Wenn auch bei schwerwiegenderen Kon­flikten schließlich doch Hilfe von außen geholt werden muss – in vielen Auseinandersetzungen müsste es erst gar nicht so weit kommen. – Dieses Buch soll eine Hilfe dafür sein, mit zwischenmenschlichen Spannungen fertig zu werden. Es ist eine Art «Hausapotheke für Konflikte», ein «Erste Hilfe»-Koffer. Eine Hausapotheke kann natürlich kein Ersatz für ärztliche Betreuung sein, wo diese einmal vonnöten ist. Mögen ihre Mittel gelegentlich sogar ein Leben retten, so 9


werden sie doch in erster Linie beim Auftauchen erster Symptome oder bei Unfällen zur Soforthilfe eingesetzt. Und dafür ist auch diese Selbsthilfeanleitung gedacht. Wenn Sie, verehrte Leserin und verehrter Leser, Ihre Konfliktfähigkeit verbessern wollen, dann kann ich dazu mit den Konzepten und Methoden dieses Buches einiges beitragen. Als Partei in einem Konflikt sollen Ihnen die hier gebotenen «Praxistheorien» und Übungen behilflich sein, Konflikte frühzeitig zu erkennen und auch in einem fortgeschrittenen Stadium klar zu durchschauen. Die Konzepte sind Landkarten ähnlich, die Ihnen die Orientierung erleichtern, damit Sie auf schwierigem Gelände einerseits ihren eigenen Standort feststellen können und andererseits die Übersicht nicht verlieren. Mit den Übungen und Techniken sollen Sie zum eigenständigen Bearbeiten von Konflikten in Gemeinschaften befähigt werden – sei es in Betrieben oder Ämtern, in Schulen oder Kirchen, in Krankenhäusern oder Forschungsinstituten und so weiter. Umsichtiges Ausprobieren der gebotenen Methoden wird Ihre persönliche Konfliktfähigkeit steigern. Als Person konfliktfähig zu sein heißt nämlich für mich, • dass Sie Konfliktphänomene in Ihnen selbst und in Ihrer Umgebung möglichst früh und deutlich wahrnehmen; • dass Sie verstehen, welche Mechanismen zur Intensivierung der Konflikte und zur Verstrickung beitragen; • dass Sie vielfältige Methoden anzuwenden vermögen, mit denen Sie Ihre Anliegen zum Ausdruck bringen, ohne die Situation wesentlich zu verschlimmern; • dass Sie Wege kennen und Mittel anwenden können, die zur Klärung von Standpunkten und Situationen beitragen; • dass Sie gut erkennen, wo die Grenzen Ihres Wissens und Könnens liegen und wo Sie sich deshalb um Hilfe von außen bemühen sollten. Wenn erst einmal viele Menschen «konfliktfähiger» geworden sind, können sie die Organisationen, in denen sie tätig sind, «konfliktfester» machen. Unter «Konfliktfestigkeit von Organisationen» verstehe ich, dass diese zum konstruktiven Bearbeiten von Differenzen, Reibungen und Spannungen in der Lage sind. Sie werden bei Spannungen nicht durcheinandergebracht; sie werden nicht blockiert bei Entscheidungen, wenn es einmal Widerstand gibt. Ähnlich spricht man heute bei Maschinen und Geräten davon, dass sie geringe «Störungsanfälligkeit» haben, weil 10


sie stoßfest, kratzfest, wasserdicht, gegen magnetische und elektronische Einflüsse abgeschirmt sind. Nach dem Auftreten von Störungen sollten sie einfach wieder funktionstüchtig sein. Gerade daran mangelt es aber in vielen Organisationen: Sie sind nur für «Schönwetter» gemacht und werden bei Turbulenzen, Kälte und Regen schwer beeinträchtigt und brechen bei Sturm und Hagel zusammen.

1.2. Behinderung durch zwei extreme Konflikthaltungen Wenn ich Menschen in Konfliktsituationen berate und begleite, erlebe ich oft zwei ganz unterschiedliche, extrem einseitige Haltungen in Konflikten: Die Menschen sind entweder sehr konfliktscheu oder betont streitlustig! Wo diese Haltung von vielen Personen in einer Gemeinschaft geteilt wird, entsteht in der Organisation im ersten Falle eine Organisationskultur der Konfliktvermeidung und Konfliktunterdrückung, die zu Erstarrung sowie zum Verlust von Freude, Kreativität und Vitalität führt; oder es wird im zweiten Fall über alles und mit allen heftig gestritten, bis jegliche Gemeinsamkeit zerstört ist (Figur 1.1). Aber weder die eine noch die andere Haltung befähigt dazu, sich mit Differenzen, Spannungen und Konflikten konstruktiv auseinanderzusetzen. Auf Dauer wird jede konsequent einseitige Haltung zum Verhängnis (siehe ausführlich dazu Glasl 2020). Hier liegt auf den ersten Blick ein unlösbares Dilemma vor. Denn gleichgültig, für welche Haltung Sie sich entscheiden, so oder so scheint es doch nur ein böses Ende zu geben! – Ich vertrete jedoch keineswegs ein fatalistisches Konfliktverständnis, sondern weise nur darauf hin, dass beide Haltungen einseitig sind und eigentlich etwas anderes vonnöten ist. Wenn sich beide Haltungen in ihrer Einseitigkeit verstärken, können sie eine Gemeinschaft in den Untergang treiben. Ob es so weit kommt, wird immer von den Beteiligten selbst bestimmt! Deshalb stelle ich zwischen beide Extreme eine dritte Haltung: In Bezug auf die Menschen plädiere ich für «persönliche Konfliktfähigkeit», und für die Organisationen fordere ich als Gestaltungsprinzip «Konfliktfestigkeit». Ich gehe zunächst tiefer auf die zwei extremen persönlichen Haltungen ein und zeige die gegensätzlichen Verhaltenstendenzen. 11


Konfliktscheu

Streitlust

Persönliche Haltung

Rückzug, Flucht, Defensive; Angst vor Auseinandersetzung; Ärger und emotionale Äußerungen werden unterdrückt; Differenz wird vor der Öffentlichkeit verborgen

Offensive, Aggression; Spaß an Reibung; eigene Emotionen werden gelebt und deutlich gezeigt; Differenz wird in der Öffentlichkeit ­aus­getragen

Kultur der Organisation

Zumeist formeller Umgang miteinander; distanzfördernde Strukturen und Verfahren; Systemmacht (Macht durch Position, Normen, Verfahren …) wird in den Vordergrund gestellt

Zumeist informeller Umgang miteinander; konfrontationsfördernde Strukturen und Verfahren; persönliche Macht (Überzeugung, Geschicklichkeit, Stärke, Emotionalität …) wird offen ins Spiel gebracht

Wirkung in der Gemeinschaft

«Kalte Konflikte»; Lähmung aller Energie; statisch und schwerfällig; Tod durch Erstarrung

«Heiße Konflikte»; hektisch und überdynamisch; unstetig und oberflächlich; Selbstauflösung durch Anarchie

Figur 1.1: Extreme persönliche Konflikthaltungen und Organisationskulturen

Konfliktscheu

Streitlust

Fluchttendenz: Diese Person räumt das Feld; sie wertet sich selbst ab; sie ordnet eigene Interessen denen der anderen unter; sie ist ängstlich

Aggressionstendenz: Diese Person walzt andere nieder; verletzt und beleidigt andere; ist egozentrisch, verfolgt nur Eigeninteressen; ist draufgängerisch, überheblich

” ”

Figur 1.2: Zwei extreme Grundhaltungen gegenüber Konflikten

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Den beiden Haltungen liegen im Allgemeinen Tendenzen zu bestimmten Angstvorstellungen zugrunde (siehe Richter 1980): • Die Konfliktscheuen befürchten, dass sie durch eventuelles aggressives Auftreten grob und unmenschlich wirken; dass sie andere zurückstoßen, verletzen und zerstören oder selbst verletzt werden könnten. Deshalb verzichten sie auf harte Austragungsformen, unterdrücken ihre Gefühle, ziehen sich zurück und suchen Schutz. • Die Streitlustigen befürchten hingegen, dass sie nicht genug zu sich selbst stehen, wenn sie sich zu nachgiebig zeigen; sie hassen es, für feige oder unsicher gehalten zu werden; darum zeigen sie ihre Emotionen, handeln offensiv und nehmen lieber Wunden bei sich und den anderen in Kauf, als dass sie das Feld räumen. Wenn Sie sich dieser Ängste bewusst werden, können diese nicht aus dem Unterbewussten steuernd auf Sie einwirken. Das Wissen um diese Ängste ist Voraussetzung für eine dritte Haltung, die der Selbstbehauptung in Konflikten – von manchen auch «Assertivität» genannt (Thomas 1976, Smith 1977). Sie geht davon aus, dass die verschiedenen an einem Konflikt Beteiligten grundsätzlich gleiche Existenzberechtigung und deshalb das Recht auf eigene Positionen haben. Bevor ich auf die Ängste und die Möglichkeiten ihrer Überwindung eingehe, werde ich erst noch die Grundannahmen für Konfliktscheu, Konfliktfähigkeit und Streitlust vertiefen (Figur 1.3). Konfliktscheu

Konfliktfähigkeit

Streitlust

Konflikte kosten nur Kraft, darum: Hände weg davon!

Aggressionen sind Energie: Ich leite sie positiv um!

In Konflikten erlebe ich mich selbst – sie steigern Vitalität!

Offene Konflikte zerstören unnötig vieles!

Konflikte helfen, sich von Überkommenem zu lösen!

Nur aus Chaos entsteht wirklich Neues!

Konflikte vertiefen nur die Gegensätze, Differenzen sind im Grunde doch nicht lösbar!

Unterschiede sind lebensnotwendig, das Arbeiten an Differenzen bereichert alle!

Konsens ist oft Illusion, denn: «Der Krieg ist der Vater aller Dinge!»

Figur 1.3: Die Grundannahmen der Konfliktfähigkeit zwischen Konfliktscheu und Streitlust

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Mit solchen und ähnlichen Grundannahmen sind Auffassungen über positive und negative Auswirkungen von Konflikten verbunden, über Chancen und Risiken (siehe dazu Schwarz 1995). Und das bedeutet auch, dass mit ihnen Hoffnungen und Ängste verknüpft sind. Ob die optimistische oder die pessimistische Seite überwiegt, hängt von der Persönlichkeit und den Lebenserfahrungen eines Menschen ab; außerdem wirken sich Einflüsse aus Religion und Ideologie, aus Philosophie und Kultur einer Gesellschaft prägend aus. Die Auffassungen über den Nutzen oder Schaden von Konflikten lassen sich in den wichtigsten Punkten wie in Figur 1.4 zusammenfassen. Bei folgender Situation …

… kann der Nutzen sein:

… besteht die Gefahr:

1. In der Organisation bestehen diffuse Standpunkte.

Es werden endlich klare Positionen eingenommen.

Übertriebene und erstarrte Standpunkte bilden sich.

2. Menschen zeigen bei Auseinandersetzungen kein Profil.

Personen werden deutlich sichtbar und spürbar.

Menschen zeigen extreme und fanatische Züge.

3. Das Leben in der ­Gemeinschaft ist grau und lustlos.

Es kommt zu intensiven Emotionen, Energie wird geweckt.

Emotionen überwiegen und führen zu ­Unsachlichkeit.

4. Bestehende Strukturen sind erstarrt und wirken behindernd.

Starre Formen werden radikal aufgelöst.

Jegliche Form wird zerstört, Chaos und Anarchie bleiben.

5. Alte Denkgewohnhei­ten sind tief eingewurzelt.

Alte Prinzipien und Gewohnheiten werden hinterfragt.

Es tritt totale Verunsicherung auf, jeder Halt geht verloren.

6. Bestehende Macht­ strukturen unterdrücken Innovationen.

Es kommt zu Machtwechsel und Erneuerungen.

Macht und Gegenmacht zerstören einander.

Figur 1.4: Auffassungen über Nutzen und Schaden von Konflikten; Funktionen von Konflikten

Das Bild der Figur 1.4 veranschaulicht, dass nützliche oder schädliche Funktionen von zweierlei abhängen: zum einen von der Ausgangssituation, in der sich eine Gemeinschaft vor der Konfliktaustragung befin14


det; zum andern von der «Dosierung», in der eine Haltung praktiziert wird. Es wäre also eine gefährliche Verallgemeinerung, zu behaupten, dass Konflikte immer eine Klärung der Standpunkte oder immer eine Festigung der Gemeinschaft bringen und Ähnliches. Bei den Ausgangssituationen 1 bis 3 wird eine gestaltlose Gemeinschaft durch Auseinandersetzungen gewinnen; wenn jedoch bereits stark ausgeprägte Positionen und Profilierungen bestehen, werden diese durch die Auseinandersetzung noch mehr verhärtet. Wo hingegen eine Situation mit den Merkmalen 4 bis 6 mit problematischen Verkrustungen angetroffen wird, können die gegenteiligen Wirkungen nützlich sein, sodass es zu Lockerung, Öffnung und Flexibilisierung kommt – im überzogenen Fall jedoch zu ­Anarchie und Machtspielen. Die positiven und negativen Wirkungen ergeben sich aus einem Spannungsfeld zwischen zwei Polen: • Sobald jeder Pol einseitig und übertrieben stark wirkt, führt er zu zerstörerischen Missbildungen. • Wenn eine bestimmte Maßnahme zu Beginn hilfreich gewirkt hat, wird sie bei unmäßiger Verstärkung neue Probleme schaffen. • Was in der einen Situation zum Problem wird, ist in der anderen Situation die Problemlösung. • Jede an sich richtige Maßnahme kann durch Unmäßigkeit übersteigerte und pervertierende Wirkungen haben. Das übertriebene Gute wird so zum Bösen! Zwei Beispiele sollen dies deutlich machen: Die Fürsorge des Abteilungsleiters für seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ist für diese eine Unterstützung und deshalb gut; aber bei Übertreibung wird sie zur Bevormundung. Und wo sie zu wenig gegeben wird, lässt der Vorgesetzte seine Leute hängen. – Wenn eine ältere Lehrerin einer jüngeren Kollegin ihre pädagogischen Erfahrungen zur Verfügung stellt, kann sich die Junge einige Schwierigkeiten ersparen; aber wenn die Erfahrene dies ungebeten bei jeder Gelegenheit tut, fühlt sich die Junge geschulmeistert und wird in ihrer Entwicklung gehemmt. Wenn es hingegen zu wenig geschieht, fühlt sich die jüngere Lehrerin im Stich gelassen.

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1.3. Selbstbehauptung entwickeln – Drei Übungen Das Aufdecken Ihrer unbewussten Ängste, die hinter Ihren Grundhaltungen stehen, kann Ihnen zu einer neuen Standortbestimmung verhelfen (Figur 1.5). Diese Übung sollte Anna gemeinsam mit Bernd, einer Person ihres Vertrauens, machen. Anna und Bernd beziehen die Fragen 1 bis 4 erst auf Anna. 1. Schauen Sie auf Annas Grundeinstellung gegenüber Konflikten: Ist sie tendenziell mehr von Konfliktscheu oder mehr von Streitlust geprägt? Notieren Sie in Stichworten, wie gute Bekannte Ihre Grundhaltung charakterisieren würden: «Anna neigt vorwiegend zu folgendem Verhalten: … Anna vermeidet möglichst: …» 2. Stellen Sie sich nun vor, dass Anna ihre übliche Grundhaltung gegenüber Konflikten erheblich verstärken würde: • Wie würde jemand, der Anna sehr zugetan ist, formulieren, was dann der Nutzen für Anna selbst sein könnte? «Anna hätte von einer Verstärkung den Vorteil, dass sie selbst …» • Was könnte der Nutzen einer Verstärkung von Annas bisheriger Haltung für die eigene Gemeinschaft sein? Wie würde das ihre Gemeinschaft formulieren? «Wir hätten davon den folgenden Vorteil: …» 3. Und jetzt stellen Sie sich lebhaft vor, dass Anna eine Einstellung zeigt, die deutlich das Gegenteil ihrer sonst üblichen Haltung ist: • Wie würde wieder ein guter Freund formulieren, was der Nachteil für Anna selbst sein könnte? «Anna befürchtet wahrscheinlich, dass ihr Folgendes unangenehm wäre: …» • Wie würde jemand aus Annas Gemeinschaft formulieren, was der Nachteil für die Gemeinschaft sein könnte? «Für uns könnte der folgende Schaden entstehen: …» 4. Anna vergleicht ihre Erfahrungen mit denjenigen Ihrer Vertrauensperson Bernd und achtet auf die Unterschiede zwischen eigener und fremder Einschätzung zum vermuteten Schaden und Nutzen. Anna 16


fragt dort genau nach, wo Bernd die Wirkungen auffällig anders einschätzt als sie selbst. 5. Nachdem Bernd seiner Freundin Anna mit den Fragen 1 bis 4 einen guten Dienst erwiesen hat, gibt Anna als Gegenleistung ihre Einschätzungen zu den Fragen 1 bis 4 für Bernd, und Bernd nimmt zu allen Fragen eine Selbsteinschätzung vor. Das Gespräch folgt wieder den Schritten 1 bis 4. Figur 1.5: Ängste hinter den Grundhaltungen zum Konflikt

Zum Entwickeln der Selbstbehauptung empfiehlt es sich, die eigenen Fantasien über Nutzen und Schaden immer wieder kritisch zu überprüfen. Ich erlebe in den meisten Fällen, dass die Konfliktscheuen den möglichen Schaden eines direkteren und offen konfrontierenden Verhaltens weit überschätzen und dass die Streitlustigen die zerstörerischen Wirkungen ungehemmter Angriffe drastisch unterschätzen. Die eigene Wahrnehmung weicht bezüglich der Wirkungen der Grundhaltung sehr weit von der Wahrnehmung anderer Personen ab. Nachdem Sie die Übung der Figur 1.5 mit einer Person Ihres Vertrauens durchgeführt haben, sollten große Wahrnehmungsunterschiede als Denkanstöße für das Überprüfen der eigenen Grundannahmen ernst genommen werden. Die Klärung der Fantasievorstellungen ist die Basis für die nächste Übung: «Die Kunst des rücksichtsvollen Konfrontierens» (Figur 1.6). Dafür braucht Anton die Hilfe von Brigitte als Beobachterin und von Kurt als Konfrontationspartner. Es wäre vorteilhaft, wenn noch mehrere Beobachtende mitwirken könnten. Die Übung für rücksichtsvolles Konfrontieren besteht aus drei Hauptphasen: Phase I: Killer-Konfrontation (Schritte 1 – 5) – Figur 1.6 Phase II: Fluchtgespräch (Schritte 6 – 8) – Figur 1.7 Phase III: Ausbalanciertes rücksichtsvolles Konfrontieren (Schritte 9 bis 11) – Figur 1.8 Weil die drei Phasen zusammen etwa eine Dreiviertelstunde bis Stunde beanspruchen, empfiehlt sich zwischen den Phasen eine Entspannungspause. 17


Phase I: Killer-Konfrontation 1. Anton soll an eine Person denken, der er schon längst einmal unumwunden sagen wollte, was ihn an ihr stört und wie er zu ihr steht. Anton wählt in Gedanken Peter, seinen Vorgesetzten, und erklärt Kurt mit wenigen Worten, wer Peter ist und wie er ihn normal anspricht. Mehr an Information ist nicht nötig. 2. Anton bereitet sich als «Killer» einige Minuten darauf vor, was er seinem Chef Peter direkt ins Gesicht sagen will. Er muss dabei möglichst frech und rücksichtslos, aggressiv und beleidigend vorgehen und darf sich von seinen Punkten durch «Peter» auf keinen Fall abbringen lassen. 3. Kurt bereitet sich darauf vor, die Rolle «Peters» zu spielen und bei der Konfrontation den größtmöglichen Widerpart zu bieten. Kurt überlegt sich, wie er Anton am wirkungsvollsten vom Konfrontieren abbringen könnte: durch Drohen oder durch Schmeicheln, durch Ausweichen oder durch Angreifen und so weiter. Wenn er Anton gut kennt, weiß er wahrscheinlich recht gut, wie er Anton «weich machen» kann. 4. Anton führt ein Killer-Konfrontationsgespräch mit «Peter» (gespielt­ von Kurt), der versucht, ihn davon abzubringen. Brigitte beobachtet genau, wie sich Anton verhält. Nach etwa 10 Minuten wird das Gespräch abgebrochen. 5. Brigitte (sowie die anderen Beobachter) und Kurt (als «Peter») melden ihre Beobachtungen zurück: Was ist Anton ganz oder nur ansatzweise gelungen? Wo blieb er seinem Vorhaben treu? Wo versuchte Kurt mit seinen Verführungen anzusetzen? Wie haben sie die verletzenden Wirkungen von Antons uneingeschränkt aggressivem Verhalten wahrgenommen? War das Ausmaß des Schadens so groß, wie Anton befürchtet hatte? Natürlich spricht auch Anton aus, wie ihm bei der Konfrontation zumute war, welche Finten er bei Kurt durchschaut hat, usw. Figur 1.6: Konfrontieren – Phase I – nach P. Block (1986)

Wenn diese Übung gelingt, dann erkennt Anton, wie sehr ihn seine ­eigenen – zumeist ungeprüften – Katastrophenfantasien davon abgehalten haben, für sich selbst einzutreten. In Phase I ist bei Schritt 5 die 18


Positiv-Rückmeldung für Anton wichtig. Er soll erfahren können, wo er standhaft war – auch wenn es vorläufig nur um rücksichtslose Äußerungen ging. Und es ist sehr wichtig, genau an Anton zurückzuspiegeln, wie das Verhalten auf andere gewirkt hat, das er vielleicht schon als das Äußerste an Verletzung und Beleidigung erlebt, während die anderen vielleicht finden: «Jetzt bist du zum ersten Mal sichtbar geworden!» Phase II: Fluchtverhalten 6. Brigitte bereitet sich jetzt darauf vor, wie sie Antons bisher übliche Haltung der Konfliktscheu in einem Gespräch mit Kurt (als «Peter») etwas übertrieben vorführen könnte. Brigitte spielt dies (als Anton) vor, und Kurt wird sich als Chef schwierig verhalten und das Fluchtverhalten Antons zu verstärken versuchen. 7. Brigitte und Kurt führen ein Gespräch, Anton selbst ist Beobachter. 8. Anton, Brigitte und Kurt sprechen über die Wirkungen dieses Gesprächs. Figur 1.7: Konfrontieren – Phase II (Glasl)

In Phase II wird Anton einer Karikatur seiner selbst ausgesetzt. Brigitte darf sich nicht scheuen, in ihrem Verhalten zu übertreiben, ohne jedoch skurill zu werden. Denn eine zu starke Überzeichnung würde Anton daran hindern, sich mit diesem Bild auseinanderzusetzen. Die Phase III hätte dann nicht den gewünschten Effekt. Phase III: Ausbalanciertes, rücksichtsvolles Konfrontieren 9. Zuletzt bereitet sich Anton darauf vor, wie er ein Gespräch mit ­Peter führen könnte, das die Balance zwischen Killer-Verhalten und Fluchtverhalten findet. 10. Anton führt das Gespräch, und Kurt macht es ihm wieder schwer; Brigitte beobachtet. 11. Das ausbalancierte, rücksichtsvolle Konfrontieren wird im Rückblick ausgewertet: Was ist gelungen? Wo waren Tendenzen zu Flucht oder Aggression erlebbar? Figur 1.8: Konfrontieren – Phase III (Glasl)

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Konfliktscheue Menschen neigen dazu, die geringsten Signale ihres Gegenübers wahrzunehmen und für viel gewichtiger zu halten, als sie gemeint sind; dadurch verlieren sie Kraft für ihr Handeln. Sie sind übervorsichtig, weil sie die möglichen unheilvollen Folgen ihres Tuns ständig übertrieben vor sich sehen. Ganz anders gehen die streitlustigen Menschen vor: Sie sind rücksichtslos, weil sie völlig in ihrem Tun aufgehen und dadurch ihre Wahrnehmungsfähigkeit für Rückmeldungen stark eingeschränkt ist. Sie schirmen sich vor Wahrnehmungen ab, um sich vom Gegenüber nicht erweichen zu lassen, gleichsam nach dem Motto: «Ich schaue nicht nach links und nicht nach rechts, sondern verfolge unbeirrbar meinen Weg!» Die Kunst des «rücksichtsvollen Konfrontierens» ist ein wichtiges Element der Konfliktfähigkeit. Ich spreche von «rücksichtsvoll», weil ich meine Augen und Ohren für mein Gegenüber nicht verschließe, während ich gleichzeitig mein eigenes Anliegen klar und deutlich vertrete. Ich kann meine Rücksichtnahme immer wieder merken lassen, wenn ich meinem Opponenten öfters bestätige, was ich von ihm gehört und gesehen habe. Diese Fähigkeit des gleichzeitigen Handelns und Wahrnehmens kann mit einer weiteren Übung geschult werden (Figur 1.9), die ich «Sprechen im Duett» nenne. Dazu braucht Anton wieder Brigittes Hilfe als Übungspartnerin. Das Ziel der Übung «Sprechen im Duett» ist, das Vertreten eines Standpunktes mit dem Wahrnehmen der opponierenden Partei zu verbinden im Sinne des «rücksichtsvollen Konfrontierens». 1. Anton und Brigitte einigen sich auf ein einfaches aktuelles Thema, zu dem sie bewusst kontroverse Standpunkte einnehmen. Dann stehen sie einander frontal gegenüber. 2. Anton und Brigitte sprechen die nächsten drei Minuten immer gleichzeitig. Während also Brigitte ihre Argumente vorbringt, legt auch Anton seinen Standpunkt dar. 3. Wenn Anton und Brigitte sprechen, müssen beide auch die Argumente der Gegenseite hören; sie dürfen aber nie mit dem Reden aufhören und dürfen sich nicht von ihrem Standpunkt abbringen lassen. Gleichzeitig müssen sie noch Stimmung, Gesichtsausdruck, Gestik und Körperhaltung des Gegenübers beobachten. 20


4. Nach drei Minuten wird das Gespräch unterbrochen, und beide berichten, was sie vom anderen gehört und gesehen und was sie vom Inhalt verstanden haben. Im Besonderen achten sie darauf, was sie überhört und übersehen haben. 5. Anton und Brigitte tauschen sich (nacheinander!) über ihre Übungserlebnisse aus. Figur 1.9: Sprechen im Duett (Glasl)

Auf den ersten Blick scheint die Übung nicht gerade auf Rücksichtnahme ausgerichtet zu sein. Denn es geht zunächst darum, dass Sie sich auf keinen Fall von den eigenen Argumenten abbringen lassen. Aber weil Sie gleichzeitig alle Sinne öffnen und Ihr Gegenüber wahrnehmen müssen, ist es eine Schulung für wahrnehmendes Handeln. Im nächsten Schritt können Sie üben, eine kontroverse Diskussion zu führen und zwischendurch immer wieder zu bestätigen, was Sie von der Gegenseite an Argumenten gehört und an Befindlichkeit wahrgenommen haben. Diese Übungen sind dazu gedacht, die einseitigen Grundhaltungen der Konfliktscheu und der Streitlust aus ihren extremen Positionen herauszuführen. In beiden Haltungen sind nämlich wertvolle Grundelemente zu erkennen. Sie wirken jedoch destruktiv, wenn sie verabsolutiert werden. Übend und experimentierend kann besser erlebt werden, dass die beiden diametral zueinander stehenden Haltungen der Selbstbehauptung und des «rücksichtsvollen Konfrontierens» eine Verbindung der positiven Elemente aus beiden Extremen anstreben. Dies befähigt dazu, mit Differenzen kreativ und konstruktiv umzugehen, sodass daraus keine Konflikte erwachsen. Nachdem schon einiges über Differenzen und Konflikte ausgeführt worden ist, stellt sich jetzt doch die Frage: Was sind eigentlich Differenzen? Was sind soziale Konflikte? Wobei mit «sozial» immer Konflikte zwischen wenigstens zwei Menschen gemeint sind, d.h. in Paaren, in Gruppen oder zwischen Gruppen, in größeren Gemeinschaften und großen sozialen Gebilden. Dies im Unterschied zu «intrapsychischen Konflikten» in einer einzigen Person, die z.B. mit sich selbst hadert.

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1.4. Was ist eigentlich mit sozialen Konflikten gemeint? Aus praktischen und theoretischen Gründen unterscheide ich «soziale Konflikte» und «Differenzen». Allen sozialen Konflikten liegen immer Differenzen zugrunde – aber nicht alle Differenzen sind schon Konflikte. Von Konflikten spreche ich erst, wenn noch mehr dazu kommt. Differenzen zu haben ist die natürlichste Sache der Welt. Wahrscheinlich lebe ich zum größten Teil der Menschheit – wenn nicht mit allen Menschen – in Differenzen (Figur 1.10): (1) Wir nehmen die meisten Dinge unterschiedlich wahr. (2) Unsere Begriffe, Vorstellungen, Erinnerungen und Gedanken sind verschieden. (3) Unsere Gefühle und Emotionen sind nicht gleich. (4) Unser Wollen geht in verschiedene Richtungen.

(2) Differenzen im Denken, Vorstellen

oder

(1) Differenzen

(3) Differenzen im Fühlen

im Wahrnehmen

oder

(4) Differenzen im Wollen

Figur 1.10: Die psychischen Funktionen in einem sozialen Konflikt: Differenzen auf drei Ebenen (Glasl 2004)

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Sie haben so gut wie mit allen Menschen Differenzen – noch dazu auf allen in Figur 1.10 angeführten seelischen Ebenen 1, 2 und 3 und 4! Und doch leben Sie nicht mit all diesen Menschen im (sozialen) Konflikt. Mit einem Menschen eine Differenz zu haben ist noch kein Konflikt mit diesem Menschen. Ein so weit gefasster Konfliktbegriff wäre völlig sinnlos, weil wir alle immer mit allen Menschen ständig einen Konflikt hätten. Außerdem sind in der Natur Unterschiede, Polaritäten, Gegensätze und Unvereinbarkeiten grundlegend notwendige Voraussetzungen für Leben und Entwicklung schlechthin: • Die weibliche Eizelle und männliche Samenzelle sind für Zeugung und Leben notwendig • Das Spannungsfeld von Säuren und Basen ist das Geheimnis der ­Verdauung • Einatmen und Ausatmen müssen sich ständig abwechseln • Geburt und Tod gehören beide notwendigermaßen zum Natur­ geschehen • Ruhe und Bewegung, Schlafen und Wachen, Sommer und Winter, Tag und Nacht, Wärme und Kälte usw. sind Lebensbedingungen in der organischen Natur • Minuspol und Pluspol in Magnetismus und Elektrizität, sowie Schwerkraft (Gravitation) und Aufrichtekraft (Levitation) sind elementare Kräfte in der physikalischen Welt • Auch im seelischen Bereich gelten die Polaritäten von Freude und Schmerz, von Spannung und Entspannung, von Sympathie und Antipathie, von Verbinden und Lösen usw. als Grundtatsachen, die Empfinden und Fühlen überhaupt bedingen. Das Bestehen von Differenzen ist also nicht das eigentliche Problem, denn Differenzen machen an sich noch keinen Konflikt zwischen Menschen aus. Es kommt einzig darauf an, wie die Menschen die Differenzen erleben und wie sie mit ihnen umgehen. Von einem sozialen Konflikt spreche ich dann, wenn wenigstens ein «Aktor» (eine Partei, d.h. eine Person, Gruppe usw.) den Umgang mit einer Differenz so erlebt, dass er als «Aktor» durch das Handeln eines anderen «Aktors» beeinträchtigt wird, selbst die eigenen Vorstellungen, Gefühle oder Absichten zu leben oder zu verwirklichen. Wie Figur 1.11 zeigt, kommen also zu den Differenzen im (1) Wahrnehmen auch 23


noch die Differenzen im (2) Vorstellen, Denken und Interpretieren, die ­Differenzen im (3) Fühlen, die Differenzen im (4) Wollen sowie bei den (5) Handlungen und den (6) erlebten Wirkungen hinzu.

(2) Differenzen im Denken, Vorstellen

Differenzen im

und

(5) Verhaltensweisen des Aktors A

(3) Differenzen im Fühlen

Wahrnehmen

führen zu

führen zu

und

(1)

(6) Folgen, die B als Beeinträchtigung erlebt

führen zu

und

(4) Differenzen im Wollen

Figur 1.11: Definitionselemente eines sozialen Konfliktes

Dieses Zusammenwirken von erlebten Differenzen mit den als be­ einträchtigend empfundenen Verhaltensweisen einer anderen Partei ist gemeint mit meiner Definition eines sozialen Konfliktes (Glasl 2020, S. 14 f.): «Sozialer Konflikt ist eine Interaktion – zwischen Aktoren (Individuen, Gruppen, Organisationen usw.), – wobei wenigstens ein Aktor – Differenzen (Unterschiede, Widersprüche, Unvereinbarkeiten) im Wahrnehmen und im Denken/Vorstellen/Interpretieren und im Fühlen und im Wollen – mit dem anderen Aktor (anderen Aktoren) in der Art erlebt, – dass beim Verwirklichen dessen, was der Aktor denkt, fühlt oder will, eine Beeinträchtigung – durch einen anderen Aktor (die anderen Aktoren) erfolge.» 24


Wenn es bei den Aktoren beispielsweise um zwei Kollegen Anton und Bernd geht, brauchen sie sich nicht erst darüber zu einigen, dass sie die Dinge anders sehen, fühlen oder wollen; es genügt, dass wenigstens einer der Kollegen die Differenzen und die Folgen des Handelns so erlebt. Sobald dies von Anton und/oder von Bernd so empfunden wird, kommt Verschiedenes ins Spiel, das sich auf das Verhalten der beiden zueinander störend auswirkt. Denn diese Elemente 1, 2, 3, 4 und 5, die oben zur Erläuterung meiner Konfliktdefinition angeführt sind (Figur 1.11), sind ja die wichtigsten psychischen Funktionen in jeder menschlichen Begegnung. Sobald der Lehrer Anton meint, sein Kollege Bernd hindere ihn daran, seine eigene Auffassung einer zeitgemäßen Pädagogik zu verwirklichen, ist ein Konflikt zwischen Bernd und ihm gegeben. Dadurch ändert sich schon in kurzer Zeit die Art und Weise, wie Anton und Bernd einander wahrnehmen (1), welche Bedeutung (2) sie dem geben, welche Gefühle (3) sie füreinander haben, was sie voneinander wollen (4) und was sie einander in Wort und Tat antun (5 und 6). Im folgenden Abschnitt werde ich nur die wichtigsten Veränderungen in diesen F ­ unktionen 1 bis 5 beschreiben (für eine Vertiefung siehe Ballreich/Held/Leschke 2009).

1.5. Veränderungen in den seelischen Funktionen: Ursachen und Wirkungen zugleich

(1) Veränderungen im Wahrnehmen Bei Stress und in Konflikten tritt mehr und mehr eine Beeinträchtigung der sinnlichen Wahrnehmungsfähigkeit auf, wodurch die am Konflikt beteiligten Personen zu unterschiedlichen Bildern der Wirklichkeit kommen. Jede Person meint aber, dass ihr Bild das richtige sei und dass die andere Partei die Wirklichkeit verfälsche. Diese Bilder sind sehr mächtig und steuern das Verhalten (Hüther 2006); sie führen ihrerseits wieder zu mehr Aggressionen; sie vergrößern die Wahrnehmungsunterschiede, verstärken erst recht den Ärger und sind der Antrieb zu weiteren Angriffen. Insgesamt treten bei den Beteiligten – von diesen kaum oder nicht bemerkt – in der Hauptsache noch die folgenden Veränderungen in diesem Bereich auf: 25


ISBN 978-3-7725-3119-4 ( Freies Geistesleben ) ISBN 978-3-258-08298-1 ( Haupt )

Glasl Selbsthilfe in Konflikten

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Freies Geistesleben

Selbsthilfe in Konflikten

Friedrich Glasl hat dieses Buch als Antwort auf zahlreiche Hilferufe geschrieben, mit denen er als Konfliktberater in Organisationen immer wieder konfrontiert wurde. In seiner Berufspraxis beobachtet er eine stetige Zunahme von Gegensätzen, Spannungen und Reibungen unter den in Organisationen tätigen Mitarbeitern. Dabei stellt er immer wieder fest, dass viele Menschen solchen Situationen hilflos gegenüberstehen und dass Organisationen in den meisten Fällen für das konstruktive Bearbeiten von Konflikten unzureichend ausgestattet sind. In vielen Auseinandersetzungen muss es aber nicht so weit kommen, dass Hilfe nur noch von außen möglich ist. Das vorliegende Buch vermittelt Konzepte, Übungen und praktische Methoden, mit deren Hilfe Konflikte selbst gelöst werden können. Das Buch wendet sich daher an alle Menschen, die innerhalb von selbstverwalteten Organisationen verantwortlich tätig sind.

Friedrich Glasl

Praktische Methoden

9., aktualisierte und erweiterte Auflage

Freies Geistesleben


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