Louise M. Pryke Wind Eine Kultur- und Naturgeschichte
Louise M. Pryke
WIND
Eine Kultur- und Naturgeschichte
Aus dem Englischen übersetzt von Claudia Huber
HAUPT VERLAG
FÜR MEINEN VATER GRAHAME
INHALT
Einführung 7
1 Naturgeschichte 11
2 Wind in der ältesten Literatur der Welt 45
3 Mythen, Folklore und Religion 65
4 Zerstörerische Winde 85
5 Handel und Technologie 114
6 Kunst, Literatur und Populärkultur 143
7 Wind, die Umwelt und die Zukun 183
ZEITTAFEL 207
ENDNOTEN 209
ORGANISATIONEN UND WEBSEITEN 222
AUSGEWÄHLTE LITERATUR 224
DANKSAGUNG 224
BILDQUELLEN 226
REGISTER 228
EINFÜHRUNG
Wind ist ein faszinierendes Naturphänomen, dessen Flüchtigkeit nur von seiner ungeheuren Kra übertroffen wird. Im Gegensatz zu anderen Phänomenen wie Niederschlägen und Feuer kann Wind nicht mit dem bloßen Auge beobachtet werden. Stattdessen muss man ihn fühlen oder hören oder an seinen Auswirkungen auf die Umgebung erkennen. Wind, der Lu strom aus Gebieten mit höherem Lu druck in solche mit geringerem Druck, ist per definitionem eine immerwährende Bewegung: Er ist so alt wie wechselha , so allgegenwärtig wie unfassbar.
Von den frühesten Anfängen der Erde an hat Wind unseren Planeten geformt – er hat die Umwelt verändert und den Kurs der menschlichen Zivilisationen bestimmt. Wind hat die Entstehung unserer heutigen Lebenswelt und der Atmosphäre der Erde entscheidend geprägt. Neuere Studien haben sogar Auswirkungen einer durch den Wind verstärkten Tektonik auf die Bewegungen der Erdplatten gezeigt.
In der Menschheitsgeschichte haben die wechselnden Windverhältnisse Evolution und Kultur beeinflusst. Vielleicht wird aus diesem Grund Wind im menschlichen Denken stark mit Veränderung assoziiert, mit wechselnden Schicksalen, die in unzähligen Werken der Poesie, Musik, Literatur und Mythologie mit der Bewegung der Lu verbunden sind. Die Rolle des Windes in der Geschichte der Menschheit ist heute selbst im Wandel begriffen. Die Nutzung von Wind für die Erzeugung sauberer Energie und den Kampf gegen den Klimawandel ist zu einem dominierenden, zeitweise polarisierenden Thema geworden.
Mal schöpferisch, mal destruktiv breitet Wind Samen aus, füllt Segel und verteilt die Energie der Sonne, sodass eine bewohnbare Biosphäre entsteht. Sein prägender Einfluss auf die Umwelt unseres Planeten spiegelt sich in der herausragenden Rolle wider, die dieses Phänomen in den Mythen und Religionen
LINKS Utagawa Hiroshige, Glänzendes Tanabata-Fest in der Stadt, Nr. 73 aus der Serie «100 berühmte Ansichten von Edo», 1857, Farbholzschnitt 7
OBEN Thomas Birch, Verlust des Schoners «John S. Spence» in Norfolk, Virginia, USA (Rettung der Überlebenden), 1833, Öl auf Leinwand
LINKS Claude Monet, Steigende Flut bei Pourville, 1882, Öl auf Leinwand
OBEN Frühjahrsstürme über einer Windenergieanlage in Indiana, USA
der Antike spielt. Die Kra des Windes hat in verschiedenen kulturellen und historischen Umgebungen vielfältige menschliche Reaktionen hervorgebracht. Ein gemeinsames Thema in Kultur und Religion war das Potenzial des Windes, Leben auf der Erde zu unterstützen und zu verbreiten – und bisweilen auch zu zerstören. Wind hat bahnbrechende wissenscha liche Neuerungen inspiriert und tauchte in so unterschiedlichen Werken wie dem Tanach, der Poesie von John Keats und dem Katastrophenfilm Twister auf.
Im 21. Jahrhundert ist deutlich geworden, wie wichtig es ist, die Natur zu verstehen und wertzuschätzen. Dies lädt auch zur Erkundung der Verbindung zwischen Natur und Kultur ein. Wer in die Welt des Windes eintaucht, begegnet einem flüchtigen Spiegelbild der Komplexität der Natur.
Dieses Buch erkundet das Thema Wind und gibt einen Einblick in seinen ungeahnt mannigfaltigen Einfluss auf Natur und Kultur. Sein Ziel ist es, ein größeres Bewusstsein für dieses unsichtbare und dennoch so kra volle Naturphänomen zu schaffen.
Naturgeschichte
WIND UND WASSER
Um wieder in heimischere Gefilde zu kommen: Der Einfluss des Windes zeigt sich auch in der Bewegung der Wasserströme auf der Erde. Der antarktische Zirkumpolarstrom ist die stärkste Meeresströmung der Welt. Er erstreckt sich vom Meeresboden bis zur Meeresoberfläche und umspült Antarktika. Angetrieben wird er durch starke westliche Winde, die über das Südpolarmeer wehen, und durch die wechselnden Oberflächentemperaturen zwischen dem Äquator und den Polen. Indem er dafür sorgt, dass die Antarktis kalt und eisbedeckt bleibt, spielt der windinduzierte antarktische Zirkumpolarstrom eine entscheidende Rolle für den globalen Wasserkreislauf und die Gesundheit des Planeten.27
In den letzten Jahren ist der enorme Einfluss des Windes auf die Meere immer mehr ins Bewusstsein gerückt. Wind beeinflusst nicht nur die Wasseroberfläche in Form von Gezeiten und Wellen, sondern ist auch unter der Ober-
UNTEN Antarktis
OBEN Satellitenbild der Erde mit Winden, Gezeiten und Dichteunterschieden, die die Meere aufwühlen. Der tropische Wirbelsturm Joulane, der sich im April 2015 entwickelte, ist über dem Indischen Ozean zu erkennen.
fläche wirksam. Er übt einen starken Einfluss auf die Strömungen im Wasser und auf die Zusammensetzung der globalen Atmosphäre aus. Die Untersuchung fossiler Korallen hat kürzlich gezeigt, dass die Meereszirkulation selbst in großen Tiefen bemerkenswert sensibel auf Windveränderungen reagiert. Es wurde festgestellt, dass der Kohlenstoffgehalt von Tiefwasserfossilien aus dem Südpolarmeer in der Nähe von Antarktika dem ihrer Gegenstücke aus dem Pazifik ähnlich ist. Den Unterschied zwischen den Bewegungen der Wassermassen und
den erwarteten Zirkulationsmustern führten die Forscher:innen auf den Einfluss von Winden an der Oberfläche zurück.28 Zur dynamischen Wirkung von Wind auf Meeresströmungen gehört auch, dass er sich auf die Freisetzung von Kohlendioxid, das in tiefen Meeresschichten gespeichert ist, in die Atmosphäre auswirkt. Kün ige Studien werden sich der Frage widmen, wie sich die Auswirkungen von Wind auf Meeresströmungen auf die Prognosen zum Klimawandel auswirken.
ÄOLISCHE PROZESSE
Äolische Prozesse sind Vorgänge, bei denen Wind die Oberfläche des Planeten formt. «Äolisch» leitet sich von dem griechischen Gott Äolus ab, dem Herrscher über die Winde, der in Homers Epos Odyssee vorkommt. Oberflächenformende Krä e des Windes werden meistens mit Erosion in Verbindung gebracht, zu den äolischen Prozessen gehören aber auch Transport und Ablagerung von Material: Wind trägt die Erdoberfläche nicht nur ab, sondern er baut sie auch auf. Winderosion erfolgt durch Deflation, bei der loses Material vom Wind weggetragen wird, durch Abrasion, bei der Oberflächen durch Windeinwirkung abgeschliffen werden, und durch die sandstrahlende Wirkung vom Wind verfrachteter Partikel. Die Bewegungen von Gletschern und Wasser gelten traditionell als die wirkmächtigsten landformenden Krä e auf der Erde, aber neuere Forschungen haben gezeigt, dass der Wind einen ebenso großen Einfluss auf die physische Form der Erde hat. Wissenscha ler der University of Arizona untersuchten gigantische, windgeformte Gesteinsrücken, die Yardangs oder Windhöcker genannt werden, und entdeckten, dass die erodierende Wirkung von Wind ausreicht, um Berge am Wachsen zu hindern.29
Winderosion ist nicht nur an der Erdoberfläche wirksam, sondern auch an der Tektonik beteiligt – den Krä en, die die Bewegung und die Faltung der Erdplatten verursachen. Durch den Transport von Sedimenten durch den Wind kann sich die Geschwindigkeit, mit der sich das Gestein ablagert, verändern, was sich letztlich auf die Entwicklung der tektonischen Platten auswirkt.30 Das Zusammenspiel zwischen Windbewegung und tektonischen Krä en wurde auch von Forscher:innen beobachtet, die sich mit der Entstehung der Anden in Argentinien beschä igten.31 Es wird vermutet, dass ähnliche Zusammenhänge zwischen Winderosion und Tektonik auch auf unserem windigen Nachbarplaneten Mars zu finden sind.
Auf der Erde hängen viele der Winderosionsmuster mit saisonalen Wetterschwankungen zusammen, sie wandern von einer Seite des Globus zur anderen.
Ein Beispiel ist Staub aus der Sahara, der bis ins Amazonasbecken und zu den Inseln der Karibik getragen wird. Wissenscha ler:innen der NASA haben nachgewiesen, dass der Phosphor aus dem Saharastaub Nährstoffe für die Pflanzen im Amazonas-Regenwald liefert.32 Es hat sich gezeigt, dass die Staubmenge, die mit dem Wind transportiert wird, sehr unterschiedlich ist und die Schwankungen mit Klimafaktoren wie den Niederschlägen in der Wüste zusammenhängen. Äolische Prozesse wurden in jüngerer Zeit auch auf dem Titan, dem größten Saturnmond, und dem Mars beobachtet. Dort wurden Yardangs gefunden, die denen in den Wüsten von Arizona ähneln.
Winderosion formt nach und nach neue Landscha en. So entstehen aus felsigem Gelände Naturwunder, die Teil der unverwechselbaren Identität eines Orts werden. Ein berühmtes Beispiel ist «The Wave» in den Navajo-Sandsteinformationen des Vermilion Cliffs National Monument in Arizona, USA. Die wirbelnden Streifenmuster und die wellenförmige Form sind das Resultat von 190 Millionen Jahren Winderosion und haben das Gebiet zu einem beliebten Ziel für den Ökotourismus gemacht. Obwohl Winderosion normalerweise Hunderte Millionen Jahre benötigt, um neue und bisweilen wundersame Landformen zu schaffen, kann der Prozess manchmal bemerkenswert schnell verlaufen. Mehrere berühmte Felsen, die aus dem Meer rund um die Isle of Wight im Ärmelkanal ragen, wurden in den letzten Jahren durch kra volle Winde abgebrochen, was die Landscha dramatisch veränderte. Der Transport von Nährstoffen durch Wind über riesige Entfernungen versorgt die Ökosysteme in den Gebieten, in denen diese Ressourcen abgelagert werden – aber dieser Prozess kann gleichzeitig die Gebiete, aus denen die Nährstoffe stammen, schädigen und deren Nährstoffvorrat erschöpfen. Winderosion wird im Allgemeinen in drei Kategorien eingeteilt: Reptation (Rollen und Kriechen), Saltation (Springen) und Suspension (Schweben). Die Kategorien unterscheiden sich durch die Größe der Partikel, die transportiert werden, und den Bewegungstyp. Durch Reptation werden besonders große Partikel an der Oberfläche «kriechend» transportiert. Der Begriff Saltation beschreibt den springenden Transport bis in Höhen von 50 cm. Kleine Bodenteilchen werden durch die Suspension zum Teil über weite Strecken von mehreren Hundert Kilometer transportiert. Menschliche Aktivitäten können die schädlichen Auswirkungen von Winderosion verschlimmern oder abschwächen. Das Pflanzen von Bäumen und Sträuchern und der Schutz des Oberbodens behindern den Abtrag von Nährstoffen durch Wind. Im Gegensatz dazu können beispielsweise Entwaldung und Überweidung die Auswirkungen der Erosion verstärken.
und den Verlust von mehr als 1800 Menschenleben. Der Sachschaden soll über 125 Milliarden US-Dollar betragen haben, wobei es einige Schätzungen gibt, die die Schadenssumme deutlich höher ansetzen. Es verloren besonders viele ältere Menschen ihr Leben, die weniger leicht fliehen konnten. Außerdem wurden 600 000 Haustiere getötet oder vertrieben.
Manche Auswirkungen extremer Wetterereignisse lassen sich kaum quantifizieren, sind aber dennoch bedeutsam. Die große Medienpräsenz des Hurrikans Katrina löste einen medialen Sturm zum Thema Klimawandel aus. Die Folgen von Katrina veranlassten Klimawissenscha ler:innen und Atmosphärenforscher:innen zu neuen Anstrengungen, um herauszufinden, wie sich das Klima auf die Häufigkeit und Intensität von Wirbelstürmen auswirkt und wie ein sich wandelndes Klima zukün ige Stürme beeinflussen könnte.28
TORNADOS
Die Drehbewegung der Lu ist nirgends so gut sichtbar wie bei Tornados. Ein Tornado ist eine schnell rotierende Lu säule, die an ihrem unteren Ende mit dem Boden und an ihrem oberen Ende mit einer Wolke in Kontakt steht. Weitere Bezeichnungen sind «Windhose», «Großtrombe» und «Wirbelsturm», bei einem Tornado über Wasser spricht man auch von einer «Wasserhose». Während Wind in der Regel mit bloßem Auge nicht sichtbar ist, kann man die Bewegungen eines Tornados an der Trichterwolke erkennen, die durch Kondensation entsteht und wie ein Rüssel aus einer Wolke entspringt.
Tornados kommen auf allen Kontinenten außer der Antarktis vor. In den Vereinigten Staaten ereignen sich im Durchschnitt mehr als 1200 Tornados jährlich;
UNTEN Künstlerische Darstellung eines Tornados, der Infrastruktur zerstört
sie sind damit noch vor Kanada das Land mit der höchsten Zahl der pro Jahr registrierten Tornados weltweit. Die Tornados treten häufig in einer zentralen Region des Landes auf, die als «Tornado Alley» bekannt ist. Über die genauen Grenzen der Tornado Alley herrscht zwar wenig Einigkeit, aber man kann davon ausgehen, dass sie ganz allgemein Gebiete in Texas, Oklahoma, Kansas, Louisiana, South Dakota, Iowa und Nebraska umfasst. In den 1920er-Jahren kamen in den Vereinigten Staaten jährlich mehr als 300 Menschen durch Tornados ums Leben; dank verbesserter Warnsysteme ist diese Zahl jedoch auf etwa 50 Tote pro Jahr gesunken.
Tornados werden mit extrem hohen Windgeschwindigkeiten in Verbindung gebracht, aber eine genaue Messung ist schwierig. Weil ihre Bewegungen unvorhersehbar sind und sie häufig Wetterinstrumente vollständig zerstören, werden die Windgeschwindigkeiten von Tornados (auch als «Twister» bekannt) selten quantifiziert.
Seit den 1970er-Jahren wird die Stärke von Tornados anhand der Fujita-Skala ermittelt. Sie teilt die Wirbel je nach Windgeschwindigkeit und damit verbundener Schadenswirkung in sechs Klassen ein. Entwickelt wurde das System 1971 von Ted Fujita, einem Sturmforscher an der Universität von Chicago. Der 1920 in Kitakyushu, Japan, geborene Fujita unterrichtete im August 1945 Physik in Tobata im Südwesten Japans, als die Atombombe auf Nagasaki abgeworfen wurde. Ursprünglich sollte die Stadt Tobata selbst das Ziel dieses zweiten Atombombenabwurfs sein, doch da sich am 9. August 1945 Wolken über der Stadt befanden, wich der Pilot auf das Ausweichziel Nagasaki aus.
Im September desselben Jahres reiste Fujita mit einer Gruppe von Studierenden nach Hiroshima und Nagasaki, um die durch die Atomschläge verursachten Verwüstungen zu besichtigen. Was er auf dieser Reise sah, begründete seine lebenslange Beschä igung mit zerstörerischen Ereignissen und Katastrophen. Am Ort des Bombenabwurfs fielen Fujita die «Starburst-Muster» der durch die Explosion entwurzelten Bäume auf. Später verwendete er die von Wirbelstürmen hinterlassenen Muster der Verwüstung, um sie zu messen und in die Fujita-Skala einzuordnen. Da die Intensität von Tornados während ihrer Entste-
RECHTS Tornado über einem Feld, Wyoming, USA
6 KUNST, LITERATUR UND POPULÄRKULTUR
Dass Wind nicht sichtbar ist, stellt für Künstler:innen, die visuelle Medien gestalten, eine Herausforderung dar. Dennoch taucht Wind in vielen bekannten Kunstwerken auf, wobei seine flüchtige Präsenz zuweilen durch religiöse Symbolik signalisiert wird. Äolus, der griechische Windgott, wird manchmal dargestellt, wie er Blüten anbläst und sie bestäubt. Die vier Engel, die die vier Winde halten, sind ein beliebtes, biblisch inspiriertes Motiv in der Kunst der Renaissance, zum Beispiel in den Werken Albrecht Dürers. Wind spielt nicht nur in der bildenden Kunst, sondern auch in der Musik eine wichtige Rolle, da Wind als Überträger der Töne gilt oder sogar selbst Instrumente «spielt». Und Blasinstrumente gibt es schon seit etwa 43 000 Jahren.1 Das Läuten von Glocken und Glockenspielen, die teilweise von Wind bewegt werden, hat in zahlreichen alten Kulturen eine religiöse Schutzfunktion.
Ein weiterer Bereich der Populärkultur, der in diesem Kapitel erkundet werden soll, ist die Bedeutung von Wind im Sport, etwa beim Segeln, und seine überraschenden Auswirkungen in der Welt der modernen Leichtathletik. Die Olympischen Winterspiele 2018 in Südkorea (eine Veranstaltung, bei der ironischerweise Strom aus Windenergieanlagen genutzt wurde) wurden von Wind «dominiert», der mehrere wichtige Veranstaltungen wie das Ski Alpin störte.2 Weiterhin wird die Rolle, die Windeinfluss bei Sportrekorden spielt, diskutiert. In der Freizeitgestaltung und im künstlerischen Ausdruck hat Wind die menschlichen Aktivitäten schon immer begleitet und die Kultur geprägt.
WIND IN DER KUNST
Die frühesten mittelalterlichen Seekarten enthielten Windrosen – geometrische Zeichnungen mit farbkodierten Linien, die verschiedene Winde und Richtungen darstellten. Windrosen waren auch auf frühen Magnetkompassen zu finden, ein
LINKS Ein Töpfer läu auf einen großen Krug zu, den ein Windstoß eines Cherubs zerschmettert hat. Illustration der Fabel The wind and the jug («Der Wind und der Krug») von John Ogilby, 1600–1676
In der Disney-Verfilmung von 1964 werden vor dem Eintreffen von Mary Poppins zahlreiche konventionelle Kindermädchen vor dem Haus vom Wind davongejagt. Die Ankun von Mary Poppins signalisiert eine Veränderung, die darin besteht, dass sie mithilfe von Wind in das Leben der Banks-Kinder eintritt und es so auch wieder verlässt. Wie das Kindermädchen sagt, wird sie nur bei ihnen bleiben, «bis der Wind sich dreht»,19 was im letzten Kapitel des Buchs («Westwind») umgesetzt wird, in dem Poppins ihren Regenschirm öffnet und vom wilden Westwind fortgetragen wird.
Der Druck des gesellscha lichen Wandels nach dem Ersten Weltkrieg schlägt sich im Buch in einem Gefühl der Instabilität nieder. Die unkonventionellen Aspekte des Charakters von Mary Poppins spiegeln die Unabhängigkeit der Mutter der Kinder, Mrs. Banks, deren Verbindungen zur Suffragetten-Bewegung den patriarchalischen Status quo infrage stellen.20 Die Darstellung der beiden Frauen und ihre Verbindung mit Wandel und Ungewissheit – ein thematischer Schwerpunkt des Buchs – greifen die historischen sozialen Veränderungen der damaligen Zeit auf. Die Windmetapher steht hierbei für den Wandel der Nachkriegszeit.
In Charles Dickens’ Roman Bleak House spielt Ostwind eine Schlüsselrolle bei der Charakterisierung des freundlichen Vormunds Mr. John Jarndyce. Jarndyce ist bekanntlich zurückhaltend, wenn es darum geht, seine Gefühle auszudrücken. Stattdessen kommentiert er Vorhandensein und Auswirkungen von Ostwind, um einen Hinweis auf seine Gefühlslage zu geben:
«‹Es ist Ostwind.›
‹Auf der Fahrt hatten wir Nordwind, Sir›, bemerkte Richard.
‹Lieber Rick› – Mr. Jarndyce schürte das Feuer – ‹ich möchte einen Eid ablegen, daß wir entweder Ostwind haben oder daß er gleich einsetzen wird. Ich verspüre immer ein unbehagliches Gefühl, wenn der Wind aus Osten weht.›»21
Richard, das junge Mündel, vermutet, dass es sich bei dem Unbehagen, das Jarndyce verspürt, um Rheumatismus handelt, was mit der im 19. Jahrhundert verbreiteten medizinischen Überzeugung übereinstimmt, dass Ostwinde Gelenkschmerzen verschlimmern können, wie es in einem medizinischen Text von 1879 heißt: «Die Hauptursache für akuten Gelenkrheumatismus ist Kälte, besonders wenn der Körper schwitzt; daher ist Rheumatismus dort weit verbreitet, wo Ostwinde vorherrschen.»22 Wie in Seine Abschiedsvorstellung kündigt die Vorhersage eines Ostwindes in Bleak House Gefahr, aber auch Veränderung
Kunst, Literatur und Populärkultur
an, die schließlich das Schicksal verbessert, da Geheimnisse aufgedeckt und Hindernisse überwunden werden. Die bittere Kälte des Ostwindes wird auch in Dickens’ David Copperfield betrachtet.
In den Werken von Conan Doyle, Travers und Dickens setzt sich die alte Vorstellung von der Verbindung des Ostwindes mit Änderungen des Schicksals und zwischenmenschlichen Konflikten fort. In den Sherlock-Holmes-Geschichten und der Mary-Poppins-Reihe sagt Wind ebenso unvermeidliche wie unvorhersehbare gesellscha liche Veränderungen voraus, die die bestehende Ordnung ins Wanken bringen.
UNTEN H. K. Browne, «Anwalt und Klient, Tapferkeit und Ungeduld», Illustration aus Charles Dickens, Bleak House (1853)
Der Wind prägt nicht nur die Identität der Menschen, sondern charakterisiert in der Literatur auch Schauplätze und scha Atmosphäre. Die legendäre Kra der Santa Anas, unberechenbares Verhalten hervorzurufen, hat die künstlerische Fantasie beflügelt und sie in zahlreichen filmischen und literarischen Werken au auchen lassen. Das wohl berühmteste Beispiel ist ihr Au reten in einer Kurzgeschichte des amerikanisch-britischen Schri stellers Raymond Chandler, der den beunruhigenden Einfluss der Santa-Ana-Winde in der Erzählung Blutiger Wind schildert:
«Es blies ein heißer Wüstenwind an diesem Abend. Einer jener heißen, trockenen Santa Anas, die von den Gebirgspässen herunterkommen und einem an den Nerven zerren und auf der Haut jucken. An Abenden wie diesem endet jede Saufrunde mit einer Keilerei. San mütige Hausfrauen tasten prüfend über die Schneide des Tranchiermessers und studieren die Hälse ihrer Männer. Schlechthin alles ist möglich.»23
Die Beschreibung der Santa-Ana-Winde zu Beginn der Geschichte deutet die Bedeutung von Wind im Verlauf der Erzählung an. Die Santa Anas sind ständig präsent und bedrohliche Gegenwart. Sie begleiten den Helden Philip Marlowe bei seinen Nachforschungen über die seltsamen Ereignisse im Zusammenhang mit einem Mord. Die Winde haben eine besonders beunruhigende Wirkung auf die Figuren der Geschichte. Der unerschrockene Privatdetektiv bemerkte das Dröhnen des Windes in mehreren wichtigen Momenten, etwa während des Attentats auf ihn durch einen Mörder. Schließlich lösen sich die miteinander verbundenen Winde und die Spannung in den Schlussszenen der Geschichte auf, und es bleibt ein «angenehmer» Himmel zurück.24 Chandlers Beschreibung der Santa-Ana-Winde in den ersten Sätzen der Kurzgeschichte ist wegen ihrer Genauigkeit und Kürze bemerkenswert. In seinem knappen Stil fasst Chandler sowohl die charakteristischen Merkmale – heiß, trocken, bergab wehend – als auch die Auswirkungen auf die menschliche Physiologie und das Verhalten zusammen.
Die Darstellung der Santa Anas durch Chandler ist typisch. Sie sind in künstlerischen Werken häufig negativ besetzt und werden umgangssprachlich manchmal als «Teufelswind» oder «Mordwind» bezeichnet.25 Joan Didion beschreibt in Slouching towards Bethlehem (1968) das Unbehagen, das die Kalifornier aufgrund dieser Winde empfinden:
REGISTER
Kursive Seitenzahlen beziehen sich auf Abbildungen.
100-Meter-Lauf 179–180, 181
Adapa und der Südwind 42, 52–55
Affen 149, 186–187, 187
Ägypten, altes 45, 46, 60–63, 121, 137–138, 153, 173
Ägyptisches Totenbuch 45, 61–62, 62
Aktienmärkte 193
Alkan, Charles-Henri-Valentin 157
Amazonas 12–13, 12, 13, 33
Anemometer 19–21, 20, 21, 22, 23, 180
Äolische Klänge 40, 167–168
Äolische Prozesse 32–34
Äolus 32, 66–69, 67, 68
Aristoteles 15–17, 19, 73
Atem 15, 46, 61–62, 65, 70, 73, 76, 77–78, 80–82, 90, 147, 148–151, 192
Bacon, Francis 11, 17–19, 18
Beaufort, Francis 24, 56–57, 104–105
Beaufortskala 11, 40, 85, 104–105, 105
Bestäubung 37–40, 73–75, 82, 143
Bibel 45, 55–57, 57, 161, 173
Boreas 71–72, 72
Botticelli, Sandro 147–148
– Geburt der Venus 147
– Primavera 148
Brueghel, Jan der Ältere, Allegorie der Lu
204–205
Brush, Charles 127–128
Chandler, Raymond 164–165
Chopin, Frédéric 158
Chronische Schmerzen 195
Civil Rights Movement (USA) 158–159
Coleridge, Samuel Taylor, Der Alte Seemann 66
Conan Doyle, Arthur 161–163
Corioliseffekt 102–103, 117
Debussy, Claude 157
Defoe, Daniel 85, 103–104
Dickens, Charles 162–164, 164
Dickinson, Emily 167
Didion, Joan 165
«Doktor»-Winde 201–202
Drachen 120–124, 126, 144–145, 160, 177–178
Dylan, Bob 158–159
Echsen 187–188
Engel 56–58, 56, 57
Enlil 44, 45–47, 47, 49
Enuma elisch 45, 48, 51
Evolution 7, 11, 14, 149, 151, 186–188, 205
Fledermäuse 129, 131, 134–135
Fliegen
– Fledermäuse 134–135
– Insekten 40
– Lu fahrt 19–20, 120, 124–125, 127, 203–204
– Vögel 35–36, 61, 134, 185–186
Flora (Nymphe) 74, 75, 147–148
Föhnwinde 183, 195–198, 199–200
Franklin, Benjamin 124
Fujita, Ted 110–112
Fujita-Skala 110–112, 176, 177
Gebrüder Wright 124–125
Geisterreiter 75–76, 81
Gesundheit 135–137, 183, 192–198, 201–202, 205
Gilgamesch-Epos 46–48, 51, 59
Global stilling 202–203
Glooskap 53–55
Haie 173–177, 174, 190–91
Hannibal 89–90
Hauptwinde 48, 51, 57–58, 61, 71–72, 82, 83
Hokusai, Katsushika 144–145, 144, 145
Huracán 76–77, 101–102
Hurrikan Katrina 106–108, 108, 172
Hurrikane 76, 95, 99–103, 102, 106–108, 108
Ištar 49–50, 50
Jachten und Jachtclubs 179
Kamikaze -Winde 85, 90–93
Kardinalwinde siehe Hauptwinde
Katastrophenfilme, Wind in 167–168
Keats, John 9, 99, 160
Kernwaffen siehe Nuklearwaffen
Klimawandel 7, 14, 32, 40, 43, 80, 108, 128, 131, 138, 174–175, 177, 188, 202–204
Leonardo da Vinci 19, 21
Lincoln, Abraham 127
Liszt, Franz 158
Magie 45, 51, 61–62, 67–68, 79, 137–138, 153
Māori-Kultur 83–84
Marduk 48–49, 49
Mary Poppins 161–163, 163
Mendelssohn, Felix 157–158
Mesopotamien 45–55, 115–116, 137, 173
Musik 7, 65, 69–70, 70, 121, 138, 143, 148–152, 149, 150, 151, 157–159, 158
Neandertaler 14, 151
Nordlicht 26–28, 26, 27
Nordwind 48, 52–53, 57–58, 61–62, 72, 82, 83, 157, 162, 168, 190
Nuklearwaffen 87, 88, 97–98, 110–112, 139
Odyssee, Die 32, 65–67, 65, 67, 69–70
Olympische Spiele
– Bolt, Usain 180
– Griffith-Joyner, Florence 180
– Olympische Winterspiele (Südkorea, 2018) 143, 181–182
– Segeln und Windsurfen als olympische Sportarten 179
– Siehe auch 100-Meter-Lauf
Ostwind 52, 58, 61, 82, 116, 161–163
Pan 65, 70, 70
Parker, Eugene 25–26
Passatwinde 17, 82–83, 114, 116–118, 143
Paxton, Bill 171–173, 171
Pferde 71–73, 116
Poesie 9, 49, 55, 58, 70–71, 90, 159–160, 167, 182
Prädation 188–190
Quetzalcoátl 77–78
Quetzalcoatlus 35, 36
Regen 7, 12–14, 16, 33, 46, 52, 59, 76, 78–79, 80, 82, 100, 139, 159, 167, 173–174, 193, 203
Rosenkriege 93–94
Rossbreiten 116–17
Santa-Ana-Winde 164–165, 166, 199
Schicksal 7, 55, 66, 152, 163
Segeln 7, 34–35, 54–55, 65–69, 82–83, 84, 87, 94–97, 104, 115–116, 177–179, 201–202
– siehe auch Jacht und Jachtclubs
– siehe auch Windsurfen
Sharknado – Genug gesagt! 173–177, 174
Shelley, Percy Bysshe 160, 161
Spanische Armada 94–95, 95
Stevenson, Robert Louis 160
Südwind 10, 42, 48, 50, 51, 52–55, 57–58, 61, 66, 71, 73, 81, 83, 168, 196,
Thunderbird 55, 197–198
Tornados 87, 97, 109–112, 109, 111, 169–170, 170, 171–173, 175–177, 183
Travers, P. L. 161, 163
Turbulenz 112, 147, 203–204
Twister 168, 171–173, 171
van Gogh, Vincent 145–147, 145, 146
Verbrechen 194, 195
Vivaldi, Antonio 157
Vögel
–Einfluss von Wind auf das Verhalten 186
–Flug 35, 185–186, 185
–Gesang 150
–Windparks 131–135, 132–133, 190
Wald- und Buschbrände 203
Washington, George 96–97
Westwind 117, 147, 157, 159, 160–162, 203
Wetterbeeinflussung 114, 137–141
Windenergie 7, 9, 23, 114, 127–137, 143, 190, 203
Windmühlen 118–120, 127, 143
Windsurfen 178, 179
Wright, Gebrüder 124–125
Zauberer von Oz, Der (Buch) 168, 169, 170
Zauberer von Oz, Der (Film) 168–170
Zephyr 37, 72, 73–75, 74, 75, 147–148, 147, 148, 195
Zyklone 24–25, 31, 41, 48, 99–103, 101, 105–106, 109, 168–170, 170
1. Auflage: 2024
ISBN 978-3-258-08367-4
Alle Rechte vorbehalten.
Copyright © 2024 für die deutschsprachige Ausgabe: Haupt Verlag, Bern
Jede Art der Vervielfältigung ohne Genehmigung des Verlages ist unzulässig.
Aus dem Englischen übersetzt von Claudia Huber, DE-Erfurt Satz der deutschsprachigen Ausgabe: Die Werkstatt Medien-Produktion GmbH, DE-Göttingen
Die englischsprachige Originalausgabe erschien 2023 unter dem Titel Wind: Nature and Culture als Teil der Earth-Reihe bei Reaktion Books, London, UK
Copyright © Louise M. Pryke 2023
Gedruckt in der Tschechischen Republik
Wir drucken mit mineralölfreien Farben und verwenden FSC®-zertifiziertes Papier. FSC® sichert die Nutzung der Wälder gemäß sozialen, ökonomischen und ökologischen Kriterien.
Diese Publikation ist in der Deutschen Nationalbibliografie verzeichnet. Mehr Informationen dazu finden Sie unter http://dnb.dnb.de.
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Die Kulturgeschichte des Windes – von den antiken Mythen bis zum Klimawandel
Mal schöpferisch, mal zerstörerisch – der Wind beeinflusst die Welt auf eine meist unsichtbare, aber kraftvolle Weise: Er verbreitet Samen, füllt Segel und spielt eine entscheidende Rolle im Wasserkreislauf der Erde. Seit der Antike verehrt, hat der Wind Planeten geformt, den Ausgang historischer Schlachten entschieden und die Evolution des Lebens geprägt. Obwohl er in vielerlei Hinsicht genutzt werden kann, bleibt er letztendlich unberechenbar.
Louise M. Pryke erläutert nicht nur den Einfluss des Naturphänomens Wind auf verschiedenste Lebensbereiche, sondern auch, wie er in Mythen, Religion, Kunst und Literatur dargestellt wird und bis heute wissenschaftliche Innovationen inspiriert.
ISBN 978-3-258-08367-4