Cassée, Kompetenzorientierte Methodiken, 4.A.

Page 1


Kompetenzorientierte Methodiken

Handlungsmodelle für «Gute Praxis» in der Jugendhilfe

Haupt Verlag

Kitty Cassée, Prof. Dr. phil., in Holland geboren, studierte in Holland und in der Schweiz Medizin, Soziologie, Sozialpsychologie und Sozialpädagogik. Sie lehrte und forschte an der Universität Zürich und leitete verschiedene Forschungsprojekte im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe. Von 19812010 arbeitete sie als Dozentin an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften, Departement Soziale Arbeit, mit folgenden Schwerpunkten: Kinder- und Jugendhilfe, Sozialisationstheorien, Theorien sozialer Probleme, Professionalisierung, Handeln in sozialen Organisationen, Konzeptentwicklung und Methoden, Sozialarbeitsforschung. Sie entwickelte und leitete den Masterstudiengang Kinder- und Jugendhilfe bis zur Gründung des Instituts kompetenzhoch3 im Jahr 2010. Das Institut mit Sitz in Zürich (Schweiz) entwickelt, implementiert und evaluiert Handlungsmodelle/Methodiken für die Arbeit mit Kindern, Jugendlichen und Familien.

www.kompetenzhoch3.ch

Diese Publikation ist in der Deutschen Nationalbibliografie verzeichnet. Mehr Informationen dazu finden Sie unter http://dnb.dnb.de

ISBN

Alle Rechte vorbehalten.

Copyright © 20 Haupt Bern

Jede Art der Vervielfältigung ohne Zustimmung des Verlages ist unzulässig. Umschlaggestaltung: PoolDesign, Zürich

Layout und Satz: Die Werkstatt Medien-Produktion GmbH, Göttingen

www.haupt.ch

Teil IV Anwendungen

Geleitwort

Prof. Dr. Ursula Hochuli Freund

Institut Professionsforschung und -entwicklung

Hochschule für Soziale Arbeit FHNW

«Gute Praxis in der Jugendhilfe» – diesem Anliegen ist Kitty Cassée seit vielen Jahren verpflichtet. Wie aber kann eine Wissenschaftlerin professionelles Handeln im beruflichen Alltag der Sozialen Arbeit unterstützen? Cassées Beitrag für eine «Gute Praxis» sind theoretisch begründete Handlungsmodelle – Methodiken – mit dem Fokus auf Kompetenzen. Nun legt sie eine neue, deutlich erweiterte und überarbeitete, teilweise aber auch gestraffte dritte Auflage des 2004 erstmals erschienen Buches vor.

Die Überarbeitung zeugt von der intensiven Weiterarbeit am Thema und vom ungebrochen großen Engagement der Autorin für ihr Anliegen. So sind Handlungsmodelle für eine beeindruckende Bandbreite unterschiedlicher Handlungsfelder entwickelt worden. Nach der Methodik für stationäre Settings liegen nun auch ebensolche für die aufsuchende Arbeit mit Familien, die fachliche Begleitung von Platzierungen in Pflegefamilien, die Jugendstrafrechtspflege und den Kindesschutz vor. Dahinter steht die Vision, dass nicht jedes Hilfesystem mit eigenen Handlungsmodellen und Instrumenten operiert, sondern sich alle auf ein gemeinsames theoretisches Modell stützen, gleiche oder zumindest ähnliche Instrumente verwenden. Das schafft Synergien bei der fachlichen Zusammenarbeit und erspart Wiederholungen in der Zusammenarbeit mit Kindern, Jugendlichen und Familien. Es bedeutet in der Konsequenz aber auch, dass Praxisorganisationen, die mit kompetenzorientierten Methodiken arbeiten und das Label «Kompetenzorientierung» führen möchten, sich verbindlich auf die Einhaltung bestimmter Vorgehensweisen und Standards verpflichten. Cassée liefert damit auch eine mögliche Antwort, wie Implementierungsprozesse organisational zu gestalten und von Seiten der Wissenschaft – sei es nun in einem privaten Institut oder einer Hochschule für Soziale Arbeit – zu begleiten sind.

Kitty Cassée stellt im vorliegenden Buch eine Vielzahl von Materialien zur Verfügung und formuliert gleichzeitig auch Arbeitsprinzipien für deren Nutzung. Diagnostik, Intervention und Monitoring sind bei ihr aufs Engste miteinander verknüpft. Indem sie dem Prinzip der Partizipation einen hohen Stellenwert einräumt, greift sie Forderungen aus dem aktuellen Diskurs um Soziale Diagnostik und Prozessgestaltung auf.

Professionalität in der Sozialen Arbeit entwickelt sich nicht von selbst. «Gute Praxis» braucht eine theoretische Basis, gut aufbereitetes methodisches Wissen – Bücher wie «Kompetenz-

orientierte Methodiken» tragen dazu bei! Möge diese umfassend überarbeitete Neuauflage viele Leserinnen und Leser finden und dazu beitragen, dass die Begleitung und Unterstützung von belasteten Familien, Kindern und Jugendlichen in schwierigen Lebenssituationen gelingt und positive Veränderungen möglich werden.

Olten/Freiburg i.Br., Januar 2019

Vorwort zur dritten Auflage

Der nun in dritter Auflage vorliegende Einführungstext in die Arbeit mit kompetenzorientierten Methodiken wurde grundlegend überarbeitet, aktualisiert und erweitert. Der fachliche Anspruch, für verschiedene Aufgabenfelder der Jugendhilfe theoretisch gut fundierte Handlungsmodelle zur Verfügung zu stellen, steht auch in dieser Auflage im Zentrum.

Das Basisbuch zur Kompetenzorientierung fand seine Leserinnen und Leser, und in Lehrveranstaltungen, in Trainings und Coachings, in Vorträgen und Diskussionen mit Kolleginnen und Kollegen konnten zentrale Inhalte und das innovative Potenzial kompetenzorientierter Methodiken diskutiert werden. Die anfängliche Skepsis ist inzwischen einem breiten Interesse gewichen. Im Prozess der Implementierung in einer Vielzahl von Praxisorganisationen gelang es, im persönlichen Austausch und dank wertvollen Erfahrungen in der Klientenarbeit die Grundlagen der kompetenzorientierten Arbeitsweise zu erweitern. Ganz wichtig ist, dass wir nach Abschluss der Erstimplementierungen mit unseren Praxispartnern in Kontakt bleiben und so die Erfahrungen in der konkreten Klientenarbeit im Sinne eines Monitorings begleiten können. Dank dieser Zusammenarbeit entstanden z. B. verbesserte Versionen für eine Reihe von Instrumenten sowie neue Methodikvarianten für weitere Handlungsfelder (z. B. Jugendstrafrechtspflege, Platzierung in Pflegefamilien, Kinder- und Jugendpsychiatrie).

Erste Evaluationen in der Jugendstrafrechtspflege (jährlich), in der aufsuchenden Familienarbeit sowie in stationären Einrichtungen zeigen, dass komplexe Handlungsmodelle gelernt und von einer Vielzahl von Fachpersonen vergleichbar genutzt werden können.

Im Fachdiskurs zum Thema Diagnostik in der Sozialen Arbeit können wir für die dritte Auflage auf erfreuliche Entwicklungen Bezug nehmen. Wurde die Bedeutung einer eigenständigen sozialen Diagnostik lange Zeit kritisch diskutiert, so sehen wir heute eine breite Akzeptanz für die Notwendigkeit einer guten Diagnostik und eines vertieften Fallverstehens (Buttner et al., 2018). In diesem Diagnostikdiskurs haben wir bereits in der ersten Auflage klar Position bezogen für eine eigenständige soziale Diagnostik und haben die Diagnostikprozesse für die Arbeit mit kompetenzorientierten Methodiken fachlich unterlegt. Die kompetenzorientierte Diagnostik konnte seit der ersten Ausarbeitung 2004 (im Rahmen der Kompetenzorientierten Arbeit mit Familien KOFA) erprobt und auf andere Handlungsfelder übertragen werden.

Für diese Auflage haben wir in Teil II die theoretische Fundierung um die Themen Bindung und Traumatisierung erweitert und weitere Grundlagen aus Entwicklungstheorien eingearbeitet. Auch die multisystemische Perspektive, die handlungsleitend ist für die Soziale Arbeit, wird umfassender dargestellt.

Aus unserem transparenten und partizipativen Diagnostikverständnis heraus entwickelten wir 2017 einen kompetenzorientierten Werkzeugkoffer mit einer Fülle von didaktischen Materialien zur Gestaltung eines aktivierenden Diagnostik- und Interventionsprozesses. Mit diesen Materialien können die Herausforderungen sozialer Diagnostik und Interventionsgestaltung partizipativ mit Klientinnen und Klienten auf vielversprechende Art eingelöst werden.

Bei den Interventionen präsentieren wir eine Reihe lerntheoretisch begründeter Handlungsoptionen, die sich in der praktischen Erprobung als flexibel einsetzbar, hilfreich und machbar erwiesen haben. Aktuelle Publikationen im Wirksamkeitsdiskurs haben auf die Gefahr aufmerksam gemacht haben, dass die Zahl der gut begründeten Interventionen und Programme stark zugenommen hat, dass aber der Nachweis, welche Elemente in den beschriebenen Interventionsprogrammen tatsächlich wirksam sind, in den meisten Fällen fehlt. Auch die mangelnde Trennschärfe zwischen den verschiedenen Programmen wird beanstandet. In einer Überblickspublikation (Spanjaard et al., 2015) wird deshalb empfohlen, flexiblere und modularisierte Interventionen zu entwickeln, die vermehrt maßgeschneidert und weniger als in allen Teilen verbindliche Programme ausformuliert sind. Genau diesen Weg sind wir in den letzten Jahren gegangen. In der Zeit nach der zweiten Auflage konnten neue Interventionen entwickelt und erprobt werden, die dank einer interventionsorientierten Diagnostik genauer auf die Klientenbedürfnisse zugeschnitten sind und flexibler mit ausgewählten Methodikbausteinen arbeiten. Dabei handelt es sich z. B. um neue Modulvarianten für die Arbeit mit Familien, um die Arbeit in der Kinder- und Jugendpsychiatrie sowie um weitere Varianten für die kompetenzorientierte Arbeit in Gruppen.

Die vielen positiven Rückmeldungen haben mich und das Team vom Institut kompetenzhoch3 ermutigt, auf dem eingeschlagenen Weg weiterzufahren. Im Herbst 2015 erschien das KOFA-Manual für die kompetenzorientierte Arbeit mit Familien in der dritten Auflage, in welcher das Thema Risikoorientierung neu aufgenommen wurde. Im Frühjahr 2018 folgte die dritte Auflage des KOSS-Manuals für die Arbeit in stationären Settings. Die Zahl der Praxisorganisationen, die mit kompetenzorientierten Methodiken arbeiten, nimmt stetig zu. Weitere Modulvarianten sind in Vorbereitung, z. B. für die Arbeit mit Familien nach hochstrittiger Trennung oder Scheidung oder für kompetenzorientierte Arbeit im Schulfeld.

Wir hoffen, dass diese dritte Auflage des Basisbuchs unter dem neuen Titel «Kompetenzorientierte Methodiken» zur kritischen Auseinandersetzung mit dem von uns entwickelten Weg zur guten Praxis in der Jugendhilfe anregt und dass es in der praktischen Arbeit positive Entwicklungsprozesse auslöst.

Zürich, Januar 2019

Kitty Cassée

Einleitung

Dieses Buch präsentiert für eine Vielzahl von Angeboten der Jugendhilfe theoretisch begründete Handlungsmodelle – sogenannte Methodiken –, die kompetenzorientiert ausgestaltet sind. Methodiken ordnen theoretische Grundlagen und stellen Instrumente und Methoden bereit, um die Chancen gelingender Alltagsbewältigung von Kindern, Jugendlichen und deren Eltern zu verbessern. Von speziellem Interesse ist dabei, wie Kompetenzen in der Bewältigung von Alltagssituationen und Entwicklungsbedarf erfasst (Diagnostik) werden und wie kompetenzfördernde Lernprozesse durch gezielte Interventionen gestaltet werden können. Gerade in der lernsensiblen Entwicklungsphase von Kindern und Jugendlichen ist dieser Fokus von herausragender Bedeutung sowohl für die Verhinderung, Linderung oder Lösung individuellen und familialen Leidens als auch zur Verminderung sozialer und ökonomischer Schäden, die mit einer Chronifizierung von Kompetenzdefiziten im Entwicklungsverlauf einhergehen.

Hintergrund

Den entscheidenden Anstoß für diese Arbeit erhielt ich anlässlich zweier längerer Aufenthalte in den Niederlanden in den Jahren 2003 und 2004. Dort lernte ich das Kompetenzmodell kennen, wie es in Holland vor allem von PI Research, einem Institut für die Entwicklung, Implementierung und Evaluation von Praxiskonzepten für die Jugendhilfe, die Schule sowie für die Kinder- und Jugendpsychiatrie entwickelt und als Grundlage für eine Vielzahl von Methodiken eingeführt wurde. Seither bestehen die Kontakte zu Personen, Universitäten, Fachhochschulen und privaten Instituten in den Niederlanden weiter – die Kontakte haben mich über all die Jahre angeregt und ermutigt.

Bei meinem ersten Besuch in den Niederlanden im Jahre 2003 untersuchte ich Konzepte für die geschlossene Unterbringung straffällig gewordener Jugendlicher und stellte zu meinem Erstaunen fest, dass die besuchten Jugendgefängnisse alle mit einem vergleichbaren Handlungsmodell arbeiteten und dass die Interventionsverläufe und die Wirkungen der geschlossenen Unterbringung sehr vergleichbar dokumentiert und sorgfältig evaluiert wurden. Meine Recherchen führten mich dann im nächsten Jahr nach Duivendrecht in der Nähe von Amsterdam, wo ich im Institut PI Research die Entwicklungsgeschichte des sogenannten «Kompetenzmodells» und aktuelle Weiterentwicklungen, Projekte und Forschungsvorhaben kennenlernte. Die weite Verbreitung und die positiven Evaluationsergebnisse in den Niederlanden waren wichtige Beweggründe, die Arbeit mit kompetenzorientierten Methodiken in einer Überblickspublikation einem breiteren Fachpublikum zugänglich zu machen. Als niederländisch-schweizerische Doppelbürgerin waren mir die Quellen in der Originalsprache zugänglich, und so kehrte ich mit einem Koffer voll niederländischer Texte zurück nach

Zürich. Dort hatte ich Gelegenheit, die begonnenen Kontakte und die fachlichen Erkenntnisse für das Konzept eines neuen Masterstudiums Jugendhilfe an der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften zu nutzen.

Das Kompetenzmodell lässt sich nahtlos in das von mir mit- und weiterentwickelte sozialisationstheoretisch-interaktionistische Modell SIM integrieren (Cassée et al., 2003). Die Kompetenzorientierung liefert jene theoretischen und handlungsbezogenen Vertiefungen für das SIM, nach denen ich so lange gesucht hatte. Der Bezug zu entwicklungs- und lerntheoretischen Konzepten war überzeugend, weil sich gerade diese Ansätze als sehr wirksam erwiesen haben für die Hilfe an Kindern, Jugendlichen und deren Familien. Beelmann & Raabe (2007) kommen nach der Sichtung einer Vielzahl englisch- und deutschsprachiger Forschungsstudien zu folgender Schlussfolgerung:

«Mit dieser allgemeinen Ausrichtung (auf Veränderung menschlichen Verhaltens und Erlebens, Einf. der Verf.) können Interventionsmaßnahmen von allgemeinen entwicklungspsychologischen Theorien in großem Maße profitieren. Denn diese Theorien vermitteln ein grundlegendes Verständnis dafür, nach welchen Prinzipien sich Entwicklungen (oder intraindividuelle Veränderungen) vollziehen. Mit anderen Worten: Entwicklungstheorien beschreiben und erklären genau jene Prozesse, die in Interventionen eingeleitet werden sollen.»

(Beelmann & Raabe, 2007, S. 135)

Auf diesem Hintergrund sind die in diesem Buch vorgestellten Methodiken entwicklungstheoretisch fundiert (siehe Teil II). Das eine ist, den Entwicklungsstand und den Entwicklungsbedarf diagnostisch zu ermitteln. Das andere ist, über geeignete theoretische Grundlagen zu verfügen, auf welche Weise entwicklungsfördernde Interventionen ausgestaltet werden können. Dafür bieten sich verschiedene Lerntheorien an, die wir in Teil II ausführlich darstellen werden.

Schulsystem und Jugendhilfe

Die Orientierung an Kompetenzen ist neu als Lehrplan 21 auch für die Gestaltung schulischer Lernsettings in der deutschsprachigen Schweiz handlungsleitend. Es werden für alle Fachbereiche sowie für die überfachlichen Themen Kompetenzen ausformuliert, für die im Unterricht die nötigen Fähigkeiten erworben werden.

Mit dieser Entwicklung im Bereich schulischen Lernens erhält die von uns entwickelte Kompetenzorientierung für die Jugendhilfe eine neue Bedeutung. Das kompetenzorientiert ausgestaltete Schulsystem und die kompetenzorientierten Angebote in der Jugendhilfe sprechen nun eine gleiche resp. vergleichbare Sprache, was die Kommunikation zwischen

Lehrpersonen und Fachpersonen der Jugendhilfe erleichtert. Zumindest haben sich die Voraussetzungen für eine Kooperation auf Augenhöhe zwischen den beiden zentralen Systemen für gelingendes Aufwachsen und Lernen deutlich verbessert. Mit der Didaktisierung der Kompetenzorientierung mithilfe eines kompetenzorientierten Werkzeugkoffers ist ein weiterer Annäherungsschritt getan.

Aufbau

Der Text gliedert sich in vier Teile, die in der Folge skizziert werden. Die neue Struktur unterscheidet sich stark von den ersten beiden Auflagen: Themen wurden neu geordnet, erweitert und aktualisiert.

Teil I: Grundlagen

Der Text stellt in Teil I die Grundlagen für kompetenzorientierte Handlungsmodelle vor und klärt einige zentrale Begriffe. Zuerst wird der schillernde Begriff Kompetenz und damit zusammenhängend der Begriff Kompetenzorientierung definiert. Kompetenz wird dann eingeordnet in ein sozialisationstheoretisches Modell, um die situativ-interaktionsbezogene Bedeutung von Kompetenz zu verdeutlichen. Dieses Modell bildet den Rahmen für die PIU-Perspektive (Person in der Umwelt resp. Person in Systemen), was im weiteren Text vertieft und für die Diagnostik und die Interventionsgestaltung genutzt wird.

Neu wird neben der Kompetenzorientierung der Risikodiskurs aufgenommen und als Risikoorientierung eingeführt. Die Fokussierung auf mögliche Risiken wurde in zwei Methodikvarianten (für die Jugendstrafrechtspflege sowie im Kindesschutz) in Form einer strukturierten Risikoeinschätzung integriert.

Der Begriff Methodik ist vieldeutig, weshalb wir formulieren, was wir unter einer Methodik verstehen wollen und was der Nutzen einer Methodik für die Praxis der Jugendhilfe sein kann. Es folgen einige Präzisierungen zu den im Theoriediskurs und in der Praxis ungenau verwendeten Begriffen Ressourcen, Fähigkeiten und Kompetenzen.

Ein Zyklusmodell mit sieben Schritten für die Prozessgestaltung bildet den Rahmen für die Prozessschritte, die in Teil III vertieft dargestellt und mit Instrumenten ergänzt werden. Nach einigen Ausführungen zur Diagnostik im Rahmen von Methodiken schließt Teil I mit Ausführungen zum Thema Evaluation als notwendigem Bestandteil von Methodiken ab.

Teil II: Theoretische Fundierung

In diesem Teil folgt ein Überblick über die theoretischen Bausteine, die sich als Fundierung für kompetenzorientierte Methodiken bewährt haben. Dieser Teil ist unterteilt in drei Abschnitte: rechtliche Grundlagen, Beschreibungs- und Erklärungstheorien sowie Handlungs-

theorien. Wir stellen in Abschnitt A internationale Rechtsgrundlagen dar, die bedeutsam sind für die Jugendhilfe – unabhängig von nationalen Rechtsgrundlagen. Es sind dies die Kinderrechte und die Beijing-Rules für die Jugendstrafrechtspflege.

In Abschnitt B folgen Beschreibungs- und Erklärungstheorien. Nach Einführung in eine multisystemische Perspektive werden entwicklungs- und lerntheoretische Grundlagen präsentiert. Das Konzept der Entwicklungs- und Erziehungsaufgaben ist ausführlicher dargestellt, und in einem Anhang werden die Entwicklungsaufgaben von Kindern und Jugendlichen sowie die Erziehungsaufgaben von Eltern einzeln aufgeführt und kurz beschrieben. Die Beschreibungen, die in diesem Anhang präsentiert werden, wurden möglich dank der intensiven fachlichen Arbeit, die das Institut kompetenzhoch3 in den letzten Jahren und speziell für die Entwicklung eines kompetenzorientierten Werkzeugkoffers geleistet hat. Praxisbeispiele helfen, diesen Teil für Praktikerinnen und Praktiker gut nachvollziehbar zu machen. Sie werden jeweils hellblau hervorgehoben oder als Übung gekennzeichnet

Gegenüber den beiden ersten Auflagen werden die theoretische Grundlagen erweitert um die Themen Bindung und Trauma, die bei Kindern und Jugendlichen aus belasteten Familien im Blick auf eine gute Diagnostik und passgenaue Interventionen bedeutsam sind. Auch die neurowissenschaftlichen Grundlagen für Entwicklung und Lernen sind im Lichte neuer Erkenntnisse aktualisiert. Weil die Arbeit mit Gruppen (von Kindern, Jugendlichen und Eltern) eine neue Aktualität erfahren hat (z. B. in verschiedenen Trainingskonzepten), folgen in diesem Abschnitt neu einige Ausführungen zur Arbeit mit Gruppen.

Im Abschnitt zu den Handlungstheorien geht es um die Basisfähigkeiten von Professionellen, die mit Kindern, Jugendlichen und deren Eltern arbeiten. Der Umgang mit Informationen aus Vorakten und von anderen Fachpersonen wird mit Blick auf den Datenschutz und die Handlungsmaxime der Transparenz beleuchtet. Einige Ausführungen zum Thema «gute Daten» leiten über zu den Kernmethoden der Sozialen Arbeit: Beobachten und Kommunikation gestalten. Hier werden verschiedene Gesprächstechniken eingeführt und mit Beispielen illustriert.

Teil III: Instrumente und Methoden

Seit 2004 wurden verschiedene Instrumente (Erfassungsraster, Gesprächsleitfäden, Berichtsvorlagen sowie hilfreiche Methoden und Techniken) aus den theoretischen Grundlagen abgeleitet und in vielen Praxisorganisationen erprobt. Dieser Teil ist vor allem für die erste Phase – die Diagnostikphase – recht ausführlich, weil vor allem hier der innovative Beitrag von kompetenzorientierten Methodiken sehr deutlich zutage tritt. Neben qualitativen Methoden für die Datengewinnung mittels Gesprächen und Beobachtungen wird auch auf quantitative Verfahren (Tests) hingewiesen, die in der deutschsprachigen Jugendhilfe noch wenig verbreitet sind, in einigen Methodiken aber als Standard vorgesehen sind. Die Ein-

führung in die Instrumente wird begleitet von Praxisbeispielen und kleinen Übungen für den Praxistransfer.

Für das Fallverstehen am Ende der Diagnostikphase wird das Verfahren mit einem Instrument für die diagnostische Kompetenzanalyse (DKA) unterlegt, das sich in vielen Kontakten mit Kolleginnen und Kollegen bewährt hat.

Für die Interventionsphase stehen lern- und verhaltenstheoretische Erkenntnisse im Zentrum, um Lern- und Veränderungsprozesse bei Kindern, Jugendlichen und Eltern zu gestalten. Auch dieser Teil ist mit Beispielen praxisnah gestaltet.

Teil IV: Anwendungen

Teil IV präsentiert Angebote der Jugendhilfe, die kompetenzorientiert ausgestaltet sind. Seit 2004 sind eine Vielzahl von Programmen und Trainings für verschiedene Handlungsfelder der Jugendhilfe entwickelt worden, die teilweise Eingang in den deutschen Sprachraum gefunden haben oder die es verdienen würden, weiterentwickelt und genutzt zu werden. In Abschnitt A werden Methodikvarianten für die Arbeit mit Familien konkretisiert. Für die aufsuchende Familienarbeit stellen wir die unter der Bezeichnung KOFA (Kompetenzorientierte Familienarbeit) entwickelten Methodikvarianten vor. Die ursprüngliche KOFA-Modulpalette wurde seit 2004 erweitert, und es liegen vielfältige Erfahrungen vor. Abschnitt B zeigt die Möglichkeiten des Modells in der ambulanten Arbeit mit Jugendlichen, welche unter der Bezeichnung «Ambulante Intensive Begleitung (AIB)» in Deutschland und als KO4JU (Kompetenzorientiertes Programm für Jugendliche) in der Schweiz eingeführt wurden. Wie die Kompetenzorientierung in stationären Settings (KOSS) umgesetzt werden kann, wird in Abschnitt C dargestellt. Abschnitt D erläutert abschließend einige Schritte und Verfahren, die für die Implementierung einer Methodik in Einrichtungen der Jugendhilfe von Bedeutung sind. Dort werden auch Überlegungen zur Qualifikation und Begleitung von Mitarbeitenden präsentiert. Dabei kann auf eine Vielzahl von Implementierungsprojekten in der Schweiz in verschiedenen Handlungsfeldern zurückgegriffen werden. In diesem Abschnitt wird erläutert, wie die Arbeit mit Methodiken die Anforderungen an die Organisations- und Qualitätsentwicklung effizient und effektiv einlösen hilft.

Zielpublikum

Dieser Text ist als Basisbuch für die Praxis der Jugendhilfe gedacht. Es stellt aktuelle theoretische Bezüge dar und legt ein Schwergewicht auf die praktischen Anwendungen. In meiner über 30-jährigen Tätigkeit an der Hochschule für Soziale Arbeit in Zürich – sowohl im berufsbegleitenden Bachelorstudium als auch im Masterstudium Jugendhilfe – habe ich immer wieder feststellen müssen, dass die Studentinnen und Studenten im Verlaufe des Studiums zwar anspruchsvolle und aktuelle Wissensinhalte erwerben, dass ihr fachliches Können

sowie ihre Handlungskompetenzen aber noch in der praktischen Arbeit weiterentwickelt werden müssen. Mir war und ist es ein Anliegen, Kolleginnen und Kollegen in der Praxis theoretisch gut begründete und hilfreiche Vorgehensweisen für die konkrete Arbeit mit Kindern, Jugendlichen und deren Eltern zur Verfügung zu stellen. Fachpersonen im direkten Klientenkontakt können mithilfe dieses Buches ihr Wissen und Können erweitern und gezielt Einfluss nehmen auf die Entwicklung von Diagnostikprozessen, Interventionsplanungen und Evaluationsprojekten in ihrem Praxisbereich.

Mithilfe dieses Buchs sollte es auch dem Management in Praxisorganisationen der Jugendhilfe möglich sein, einen Implementierungsentscheid für die hier vorgestellten Methodiken zu fällen sowie Bausteine der Methodik schrittweise einzuführen und für ihren Auftrag zu adaptieren. Dass Methodiken offen sind für Weiterentwicklungen und Verbesserungen, kommt darin zum Ausdruck, dass Methodiken zusammen mit Praxisorganisationen auf die Spezifika der jeweiligen Leistungserbringer angepasst und «maßgeschneidert» werden (siehe www. kompetenzhoch3.ch).

Seit 2017 stehen in Form eines Werkzeugkoffers didaktische Materialien für die Arbeit mit Methodiken zur Verfügung, auf die im Text immer wieder Bezug genommen wird . Fachpersonen in der Schweiz und im deutschen Sprachraum können diesen Koffer zusammen mit einem Einführungstraining erwerben (1 Tag Inhouse oder in Zürich).

Konventionen für den Sprachgebrauch

In der Sozialen Arbeit sind viele Begriffe vieldeutig und wenig klar definiert. Dort, wo dies für das Textverstehen wichtig ist, nehmen wir Begriffsklärungen vor.

Für die Leserlichkeit des Textes sprechen wir als Haupt- und Oberbegriff von Sozialer Arbeit (mit dem Adjektiv sozialarbeiterisch). Die Begriffe Sozialarbeit/Sozialpädagogik benutzen wir nur in Originalzitaten. Wenn wir von Fachpersonen oder Professionellen sprechen, meinen wir jene der Sozialen Arbeit. Wir verwenden in der Regel die männliche und die weibliche Form.

Mit dem Begriff «Kinder» sind Heranwachsende von 0 bis 18 Jahren gemeint. Wenn wir uns ausdrücklich auf die Altersgruppe über 12 Jahren beziehen, sprechen wir von Jugendlichen. Wir sprechen in der Regel von Jugendhilfe, weil sich dieser Begriff (neben Kinder- und Jugendhilfe) im deutschen Sprachraum durchgesetzt hat.

Lesehinweise

Das Buch ist so gestaltet, dass die Inhalte einfach erschlossen und von den Leserinnen und Lesern gezielt verarbeitet werden können. Nicht nummerierte Abschnitte sind mit einem

blauen Titel versehen. Im fortlaufenden Text sind Kurzzitate kursiv eingefügt, und jeweils in einem Textkasten mit kursiver Schrift finden sich längere Zitate. Weiterführende Erläuterungen und Vertiefungshinweise, die für das Verständnis der Kernaussagen hilfreich sind und Anregungen für vertieftes Studium bereitstellen, finden sich in einem hellblau unterlegten Textkasten. In einem hellblau unterlegten Textkasten werden auch praktische Beispiele resp. Hinweise angeführt, die das Verstehen und den Transfer in das praktische Handeln erleichtern sollen. Der Text enthält zudem Beispiele für Instrumente der kompetenzorientierten Arbeitsweise sowie kleine Übungen und Vertiefungsfragen, damit die Leserinnen und Leser überprüfen können, wie gut sie über die Kerninhalte Bescheid wissen. Diese Teile sind jeweils mit dem entsprechenden Icon versehen .

Auf der Website des Instituts (www.kompetenzhoch3.ch) können aktuelle Texte und Berichte für Vertiefungen heruntergeladen werden. Dort finden sich auch Hinweise auf Weiterbildungsmöglichkeiten.

Dank

Der Text ist angeregt durch die Arbeiten von Kolleginnen und Kollegen aus den Niederlanden, speziell von PI Research in Duivendrecht NL. Ich danke ihnen für ihre Kollegialität, ihre Fachlichkeit und ihre Offenheit. Die Entwicklungen in den Niederlanden gaben mir innovative Impulse, die dank unkomplizierten Formen des Wissenstransfers in diesen Text eingeflossen sind. Studierende der berufsbegleitenden Ausbildung (BSA) und des Bachelorstudiums in Sozialer Arbeit und jene des Masterstudiums Kinder- und Jugendhilfe an der Zürcher Hochschule haben mich mit ihren anregenden, konkreten und kritischen Fragen und Beiträgen ermutigt, das Modell weiter auszuarbeiten. Auch ihnen bin ich zu Dank verpflichtet.

Ohne die intensive Zusammenarbeit mit ca. 60 Partnerorganisationen in der deutschsprachigen Schweiz hätten die in diesem Buch präsentierten Methodiken nicht entwickelt und immer wieder aktualisiert werden können. In Evaluationen, Praxisforen, Arbeitsgruppen, Kader- und Teamcoachings haben wir die Grundlagen gefestigt und erweitert sowie praktikable und hilfreiche Instrumente entwickelt. Deshalb gebührt den Praxiskolleginnen mein aufrichtiger Dank.

Die Weiterentwicklung der Arbeit mit Methodiken war nur im Team des Instituts kompetenzhoch3 möglich. Das Institut für wirksame Jugendhilfe setzt sich zum Ziel, Methodiken für die Jugendhilfe zu entwickeln, zu implementieren und zu evaluieren. Das Institut setzt sich ein für «gute Praxis», die wir gemeinsam mit unseren Partnerorganisationen auf einer fachlich fundierten Basis möglichst wirksam gestalten möchten. Speziell danken möchte ich meinem Stellvertreter Donat Ruckstuhl, der die Erstentwicklung der Methodikvariante für die Jugendstrafrechtspflege (KORJUS) maßgebend mitgeprägt hat und die Weiterentwicklung mit großem Gestaltungswillen weiter prägt. Er initiiert und verantwortet weitere Methodik-

projekte mit seiner hartnäckigen Fachlichkeit und führt das Institut in die Zukunft. Lukas Bruderer (KOFA-Verantwortlicher) und Martina Rufer (KOSS-Verantwortliche) sind für die Weiterentwicklung der jeweiligen Methodikvarianten verantwortlich. Sie gestalten diverse Trainings und Coachings, sind Kontaktpersonen zu den jeweiligen Praxisorganisationen und den Fachpersonen in der täglichen Arbeit. Sie tun dies mit großer Sorgfalt und fachlichem Können. Meinem Team danke ich ganz herzlich für die spannenden Fachdiskurse, die Kaffeegespräche, das Gegenlesen von Entwürfen sowie für aufbauend kritische Feedbacks. Frühere Mitarbeiterinnen schließe ich in meinen Dank ein – sie haben in den Anfangszeiten des Instituts wichtige Aufbauarbeit geleistet.

Beim Haupt Verlag bedanke ich mich für die professionelle Unterstützung beim Zustandekommen dieser dritten Auflage. Speziell gefreut hat mich, dass wir das Layout für diese dritte Auflage grundlegend neu gestalten konnten.

Mein ganz spezieller Dank geht an meinen Mann, Felix Karrer, der das Manuskript durchgesehen hat. Er war an meiner Seite, nährte mich und sorgte dafür, dass ich auf Kurs blieb. Ihm ist diese dritte Auflage gewidmet.

Teil I Grundlagen

1 Kompetenzorientierung als Rahmen, Methodiken als Handlungsmodelle

In diesem Teil I geht es um eine erste Klärung jener Begriffe, die in diesem Text im Zentrum stehen: Kompetenz/Kompetenzorientierung und Methodiken. Wir leiten zuerst mit einigen klärenden Überlegungen und einem Fallbeispiel in das Thema ein und vertiefen in Kapitel 2 den Kompetenzbegriff. In Kapitel 3 zeigen wir auf, wie mithilfe von Methodiken dem Anspruch an «gute Praxis» in der Jugendhilfe Genüge getan werden kann.

Kompetenz: Ein schillernder Begriff

Kompetenz ist ein unklar bestimmter Begriff, der in der Fach- und in der Alltagssprache in verschiedenen Bedeutungen genutzt wird. Wir definieren diesen schillernden Begriff wie folgt: Kompetenz bedeutet, dass Personen in der Lage sind, die an sie gerichteten Erwartungen und die anfallenden Aufgaben des Alltags gelingend zu bewältigen. In dieser Bedeutung verhält sich eine Person dann kompetent, wenn sie über die Fähigkeiten verfügt, die sie für die Bewältigung der anfallenden Aufgaben braucht, und wenn sie entsprechend den vorhandenen Fähigkeiten handelt. Sowohl die Fachpersonen in der Jugendhilfe als auch die Kinder, Jugendlichen und deren Eltern, die in der Jugendhilfe gerne als Fall resp. als Klientsystem bezeichnet werden, können kompetent oder weniger kompetent handeln.

Die nachfolgende Fallgeschichte illustriert den Kompetenzbegriff auf der Ebene der Familie Krause und als professionelle Kompetenz der handelnden Fachpersonen.

Aus der Praxis: Familie Krause

Sarah Krause wird im Alter von 20 Jahren schwanger von einem Zufallsbekannten. Sie entscheidet sich, das Kind ohne Vater allein zu erziehen. Sie hat keinen Beruf erlernt und kündigt zwei Monate vor der Geburt ihre Stelle als Serviceangestellte in einer Bar. Sie erlebt nach der Geburt ihrer Tochter Claudia eine depressive Phase, die für Außenstehende unbemerkt bleibt und die sie mit Cannabiskonsum und Alkohol zu überdecken versucht. Sie bezieht Sozialhilfe und wohnt in einer bescheidenen 2-Zimmer-Wohnung an einer stark befahrenen Straße in einer Großstadt. Zu ihrer Mutter, die etwa eine Stunde entfernt wohnt, besteht ein loser und eher belasteter Kontakt. Zu weiteren Angehörigen – dem Bruder und der Großmutter – hat sie kaum Kontakt. Gelegentlich hat sie einen Freund – zu einer länger dauernden Beziehung kommt es in den ersten Lebensjahren ihrer Tochter nicht.

Als Claudia zweieinhalbjährig ist, nimmt Frau Krause eine Teilzeitstelle (40 %) in einem Restaurant an. Sie arbeitet dreimal pro Woche von 11 bis ca. 15 Uhr. Claudia besucht in dieser Zeit, manchmal auch schon ab 9 Uhr, eine Tagesstätte. Unregelmäßig geht Frau Krause abends arbeiten (19–21h). Claudia bleibt dann alleine. In der Tagesstätte fällt auf, dass Claudia stark übergewichtig und für ihr Alter motorisch ungeschickt ist. Sie ist tags-

über nicht trocken, kotet ein und isst mit beiden Händen. Sie vermeidet Blickkontakt mit den erwachsenen Betreuungspersonen und den Kindern der Gruppe und zeigt mangelndes Sprachverständnis. Immer wieder kommt es zu Wutausbrüchen, bei denen Claudia andere Kinder und auch sich selbst verletzt.

Frau Krause übernimmt als Mutter eine Vielzahl von Aufgaben, um die Entwicklung von Claudia zu gewährleisten. Das professionelle System (hier die Tagesstätte) hat die fachliche Aufgabe, die Entwicklung von Claudia sicherzustellen und eine allfällige Entwicklungsgefährdung zu erkennen. Wo steht Claudia in der Entwicklung, wo gibt es kritische Entwicklungsbereiche? Wie versteht Frau Krause ihre Mutterrolle, und über welche Fähigkeiten verfügt sie, um als Mutter «gut genug» (Winnicot, 1960) für ihre Tochter zu sorgen. Wenn sich herausstellt, dass die Entwicklung von Claudia gefährdet ist, stellen sich weitere Fragen. Wer kann auf welcher rechtlichen Grundlage intervenieren? Ganz bestimmt ist es ein Fall für die Jugendhilfe! Aber: Welche Instanz, welche Fachpersonen, welche Maßnahmen, welche Mittel und Methoden sind notwendig und geeignet, die gelingende Entwicklung von Claudia sicherzustellen? Je nach involvierter Fachstelle und je nach Perspektive kann die Hilfe sehr unterschiedlich aussehen (Hochuli Freund & Müller, 2017). Dazu kommt: Weil Claudia in Basel (CH) geboren ist statt in München (D) oder Amsterdam (NL), ist die Ausgangslage noch etwas komplexer. Die Jugendhilfe in der Schweiz ist föderalistisch und subsidiär aufgebaut. Gemeinden, Kantone und Bund sind als strategische Akteure auf unterschiedlichen Rechtsgrundlagen, in verschiedenen Direktionen und Ämtern und mit unterschiedlichen Verfahren zuständig für die Ausgestaltung und Finanzierung von Teilbereichen der Jugendhilfe. Ein übergeordnetes Jugendhilfegesetz mit klar bezeichneten Leistungen und einem Rechtsanspruch, wie es z. B. in Deutschland und in den Niederlanden existiert, fehlt in der Schweiz auf Bundesebene, und die kantonalen Gesetzgebungen unterscheiden sich stark in Aufbau und Inhalt (Piller & Schnurr, 2013). Das Problem der politisch-administrativen Vielfalt wird noch potenziert durch die – im Vergleich zu Deutschland und Holland – geringe Größe der vorwiegend privaten Leistungserbringer (Beratungsstellen, Krippen, Horte, Heime etc.). Hier stellt sich die Frage: Wer darf, soll resp. muss im Fall der Familie Krause etwas unternehmen?

Mindestens so bedeutsam ist die Frage, wer kompetent (fachlich fähig und zuständig) ist, die im Fall von Claudia und ihrer Mutter angedeuteten Themen zu bearbeiten: Wer ist in der Lage, eine fundierte Abklärung durchzuführen und wirksame Maßnahmen abzuleiten, wie sieht die Prozessgestaltung für notwendige Interventionen aus, wer entscheidet und wie wird mit anderen Fachpersonen zusammengearbeitet? Die Jugendhilfe kennt eine bunte Palette von Anbietern mit einer Vielzahl von Konzepten, die sich vor allem im Rahmen einzelner Trägerschaften und Einrichtungen entwickelt haben. Die Jugendhilfe präsentiert sich dementsprechend als – zumindest in der Schweiz – recht unübersichtliches System vieler

kleiner bis mittelgroßer Anbieter, die in der Ausgestaltung ihrer Angebote über einen großen Spielraum verfügen. Im Falle von Frau Krause mit ihrer Tochter bedeutet dies: Je nachdem, wo sie wohnt, je nach Wissen und Können der zuständigen Fachperson und Rollenvorgaben der konkreten Fachorganisation kann die Hilfe für die Familie Krause recht unterschiedlich ausgestaltet werden.

Kompetenzorientierung

Nun kann auch der Begriff Kompetenzorientierung fürs Erste geklärt werden. Die Orientierung an Kompetenzen begründet eine fachliche Haltung, die Personen und Systeme befähigt, vorhandene Fähigkeiten und Ressourcen zu erkennen und für gelingendes Tun im Alltag zu nutzen. Um nicht ausreichende Fähigkeiten zu erweitern und zu nutzen, regt die Kompetenzorientierung strukturierte Lernprozesse für Kinder, Jugendliche und deren Eltern an. Auch in Organisationen der Jugendhilfe geht es darum, die Mitarbeitenden zu gelingendem Handeln in ihrem professionellen Alltag zu befähigen.

Fachliche Vielfalt in der Kritik

Die oben erwähnte fachliche Vielfalt oder auch Beliebigkeit in den fachlichen Angeboten und Vorgehensweisen, wurde in den letzten Jahren zunehmend infrage gestellt. In der Schweiz stießen z. B. Entscheide im Kindesschutz teilweise auf heftige Kritik von Seiten der betroffenen Familien, aber auch bei den finanzierenden Behörden und auf der politischen Bühne. Die Entscheide seien nicht nachvollziehbar, durch unzureichende Kenntnis der Situation in der Familie zustande gekommen und häufig zu eingreifend und zu teuer. Ähnliche Stimmen wurden im Bereich der Jugendstrafrechtspflege laut. Als logische Folge nahm der politische Druck auf die Leistungserbringer der zivil- und strafrechtlichen Jugendhilfe zu, die fachliche Qualität ihrer Angebote zu belegen und ihre Existenzberechtigung zu legitimieren (Finis Siegler, 1997; Galuske, 2002a). Aus dem ökonomischen Kontext stammende Begriffe wie Leistungen, Effektivität, Effizienz und Wirkung fanden Eingang in die Soziale Arbeit. Die Jugendhilfe war und ist herausgefordert, zur richtigen Zeit nachfragegerechte und maßgeschneiderte Leistungen in genügender Menge und in guter Qualität zu einem transparenten und angemessenen Preis zur Verfügung zu stellen.

Standards für die Leistungserbringung als Antwort

Der Druck von außen, aber auch zunehmend kritische Praxisstimmen können eine Entwicklung begünstigen, die sich aus fachlicher Sicht bereits seit Längerem anbietet, um nicht zu sagen aufdrängt. Die politisch-wirtschaftliche Legitimation einerseits und die professionelle Weiterentwicklung der Jugendhilfe andererseits verlangen nach Handlungsmodellen, die für verschiedene Leistungserbringer und Kliententhemen Standards für die fachlichen Grundlagen und die Prozessgestaltung formulieren. Bezogen auf Kindesschutzfälle, bedeutet dies z. B., dass Abklärungen theoretisch plausibel begründet sind und die Prozessgestaltung

ISBN 978-3-258-08382-7

Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.