Wildnis erleben –Eine umweltpsycho logische Perspektive
Eike von Lindern
Schriftenreihe der Paul Schiller Stiftung für Natur und Landschaft
Weiterführung der Bristol-Schriftenreihe
Band 65
Herausgeber:
Paul Schiller Stiftung, Zürich www.paul-schiller-stiftung.ch
Wildnis erleben –
Eine umweltpsychologische Perspektive
Eike von LindernVerantwortlich für die Herausgabe: Paul Schiller Stiftung, Zürich.
Stiftungsrat
Herbert Bühl (Präsident), Feuerthalen; Irène Inderbitzin, Uster; Maja Nagel-Dettling, Stäfa
Schriftenleitung
Dr. Mario F. Broggi, Triesen, Fachgutachter
Dr. Manuela Di Giulio, Natur Umwelt Wissen GmbH, Zürich, Redaktionsleitung
Adresse des Autors
Dr. Eike von Lindern, Dialog N GmbH, Riedtlistrasse 9, 8006 Zürich, E-Mail: eike.von.lindern@dialog-n.ch
Layout: Jacqueline Annen, Maschwanden
Umschlag und Illustration: Atelier Silvia Ruppen, Vaduz
Fotos
Der Bildautor sämtlicher Abbildungen ist der Autor Eike von Lindern. Ausnahmen sind in den Bildlegenden mit den entsprechenden Quellen ausgewiesen. Urheberrechte und Copyright sind bei den Bildautorinnen und -autoren.
Zitierung
VON LINDERN, E., 2024: Wildnis erleben – Eine umweltpsychologische Perspektive. Zürich, Paul Schiller Stiftung; Bern, Haupt, 139 S.
1.Auflage: 2024
ISBN Print: 978-3-258-08386-5
ISBN E-Book: 978-3-258-48386-3
Alle Rechte vorbehalten.
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Gedruckt in Slowenien
Diese Publikation ist in der Deutschen Nationalbibliografie verzeichnet. Mehr Informationen dazu finden Sie unter http://dnb.dnb.de.
Der Haupt Verlag wird vom Bundesamt für Kultur für die Jahre 2021–2024 unterstützt.
www.haupt.ch
Abstract
Wilderness areas are in decline not only in Switzerland, but worldwide and are often endangered by civilization pressure. The debate on the protection and promotion of wilderness areas has so far been strongly dominated by the natural sciences, focusing on the function of wilderness areas for the conservation and promotion of biodiversity, but also on the biological significance of wilderness for entire ecosystems and the associated ecosystem services for us humans. The significance and potential of wilderness (experiences) at the societal level, on the other hand, are still underrepresented in the wilderness debate and, although they are considered at the natural science level, they are only rudimentarily integrated into the wilderness paradigm, in that the function and benefits for people and society are pointed out but not dealt with in depth. From a societal perspective, wilderness offers enormous, as yet untapped potential for environmental education and education for sustainable development (ESD), for promoting physical and mental health, and for strengthening acceptance of environmental protection and nature conservation.
Reasons for the fact that the natural and social perspectives have so far developed rather parallel and independently of each other include a supposed conceptual contradiction between the natural science and the humanities understanding of wilderness: While the natural science understanding defines wilderness as an area without any human influence, where nature is left to nature, a minimum of human use (namely being able to actively experience wilderness) is an integrative and necessary component of the humanities understanding of wilderness. This is not only a theoretical-conceptual dilemma, but also a very practical problem, for example for protected areas and national parks, which are supposed to promote nature and process conservation as well as wilderness (at least in the core zones) and at the same time offer recreation and nature experience as well as serve as places for environmental education or education for sustainable development. Against this background, it becomes clear that both the wilderness debate and the conservation, protection and promotion of wilderness will benefit from a combined consideration of the natural science and humanities perspectives on wilderness. In this sense, the environmental and health psychological perspective on recreation and wilderness experience is integrated into the human-wilderness nexus on the one hand as a possible bridge between the natural sciences and the humanities, but also as a supplement and extension of the existing argumentation for wilderness.
In order to anchor the psychological perspective in the wilderness debate, the most prominent theories in the field of research on restorative environments (the attentionrestoration theory and the psycho-physiological stress reduction theory as well as the concept of behaviour settings and research findings on stress and health promotion) were interwoven with the recreational function of nature and wilderness. This theoretical perspective was supplemented by a case study in the Black Forest National Park, in which first a document analysis was carried out on the use of the concept of wilderness, a scale for ascertaining wilderness experience («wildernessness») was constructed and then empirically tested in the analysis of three exemplary hiking trails.
The data showed that the newly developed scale is well suited to capture wilderness experience and to complement the repertoire of methods in the field of environments conducive to restoration and recreation. In addition, it was shown that the three hiking trails studied had different levels of wilderness experiences and that experiencing wilder-
ness can contribute positively to health promotion. The psychological perspective focused on here also opens up a variety of future research fields in the wilderness context, such as bringing wilderness and self-efficacy promotion or environmental education and education for sustainable development together.
Keywords: Erholung, Nationalpark, Gesundheitsförderung, Feldstudie, Parkforschung, Natur, Bildung für nachhaltige Entwicklung BNE
Vorwort
Wildnis oder zukünftige Wildnis, auch Zielwildnis genannt, basieren auf dem Konzept «Natur Natur sein zu lassen». Dieses Schutzkonzept hat es als Naturschutzziel schwerer als «Schützen durch Nutzen» oder «Schützen durch Pflegen». Mit unserer bäuerlichen kulturellen Vergangenheit scheint es uns näher zu liegen, der Natur auf die Sprünge helfen zu wollen als nichts zu tun. Die in der Wildnis bedeutsame biologische Vielfalt mit den zahlreicheren Flechten, Moosen, Pilzen und einer reichhaltigen Insektenwelt steht häufig weniger im Fokus als Gefässpflanzen und Wirbeltiere. Dabei spielt auch die Zeitachse eine Rolle, geht es beim Wildnisansatz doch darum, langfristige Entwicklungen zu ermöglichen. Diese verlaufen langsam und müssen erdauert werden, was mit unseren Zeitvorstellungen kollidieren kann. Beispielweise läuft die Lebensuhr im Wald rund sechs Mal langsamer als die menschliche. Darum nutzen wir das Holz oft schon nach dem ersten Drittel des Baumlebens, deshalb sind alte Bäume so selten.
In den Biodiversitätsstrategien gewinnen die freie Dynamik der geomorphologischen Prozesse und die Lebensraumentwicklung als wichtige Faktoren für den Erhalt der biologischen Vielfalt an Bedeutung und es werden dafür auch entsprechende Ziele festgehalten. So wollte man in der Bundesrepublik Deutschland bis 2020 zwei Prozent des Staatsgebietes der freien Entwicklung überlassen, was allerdings noch nicht gelungen ist. Die Europäische Union wünscht sich ihrerseits bis 2030 die Ausweisung von 30 Prozent Schutzgebieten, davon 10 Prozent mit strengem Schutz. Das wird zur ambitiösen Aufgabe, fehlt doch bis heute eine breite Anerkennung der Notwendigkeit des Erhalts der Biodiversität. Bis die Tragweite der vom Menschen verursachten Klimaerwärmung als global und regional wirkendes Problem breit akzeptiert wurde, dauerte es ebenfalls Jahrzehnte. Diese Behäbigkeit können wir uns bei der Biodiversität nicht mehr leisten.
Die Wildnisdebatte findet spät nun auch in der Schweiz Beachtung. Jetzt gilt es diese auch gesellschaftspolitisch aufzuarbeiten. Die Bristol-Stiftung hat mit ihrer Schriftenreihe hierzu Vorarbeit geleistet. So wissen wir beispielsweise, aus einer dort veröffentlichen Studie, dass das Wildnispotenzial in der Schweiz immerhin noch 17 Prozent der Landesfläche beträgt. Die Paul Schiller Stiftung, welche die Bristol-Reihe fortsetzt, führt die Wildnisdebatte weiter. Mit einer gesellschaftspolitischen Betrachtung soll die Brücke von den Natur- zu den Geisteswissenschaften geschlagen werden. Dr. Eike von Lindern hat diese Aufgabe übernommen und erarbeitete entsprechende Grundlagen am Beispiel des Nationalparks Schwarzwald. In den Kernzonen von Nationalparks soll die freie Entwicklung ermöglicht werden. Die Schweiz ist auf dem Weg zu einem zweiten und dritten Nationalpark mit Wildnisgebieten stecken geblieben. Es ist heute dringender als je zu wünschen, dass die Kernidee der freien Entwicklung der Natur ihre Fortsetzung findet. Wir danken den Promotoren des Wildnisgedankens in der Schweiz, insbesondere Mountain Wilderness Schweiz, Pro Natura und dem Wildnispark Sihlwald, wie auch dem Autor Dr. Eike von Lindern für die Aufbereitung entsprechender Grundlagen.
Herbert Bühl
Präsident Paul Schiller Stiftung, Zürich
Mario F. Broggi
Fachgutachter Schriftleitung
Zum Geleit
Seit ein paar Jahren diskutieren Naturschutzorganisationen, interessierte Privatpersonen sowie die Wissenschaft in der Schweiz und in ganz Europa verstärkt über das Thema Wildnis. Bisher ist Wildnis vor allem aus einer naturwissenschaftlichen Perspektive betrachtet worden. Das vorliegende Buch ist eine wichtige umweltpsychologische Ergänzung. Es zeigt auf: Wildnis ist nicht nur gut für die Biodiversität, sondern fördert Erholung und tut der Gesundheit gut! Nicht ohne Grund fahren viele Menschen in wilde Gebiete, zum Beispiel in Nordamerika. Dieses Buch lädt dazu ein, Wildnis in unseren nahen und fernen Alltagwelten zu entdecken. Ich plädiere dafür, die Widersprüchlichkeiten des Konzepts «Wildnis» auszuhalten und offen anzusprechen. Naturwissenschaftlich gesehen besteht mehr oder weniger Konsens über die Definition von Wildnis als grossflächige Räume, in denen sich die Natur frei entwickelt. Wie das Buch darlegt, gibt es ein schier unendliches Spektrum persönlicher Definitionen und individueller Wahrnehmungen von Wildnis. Diese Offenheit ist eine Stärke von Wildnis. Wir brauchen ein Sowohl-als-Auch von grossen Wildnisgebieten und kleiner persönlicher Wildnishaftigkeit. Alleine das Wissen, dass es die grossen, unerschlossenen Gebiete mit hoher Wildnisqualität in der Schweiz noch gibt, kann guttun und ein Gefühl von Raum und Freiheit geben.
Gleichzeitig sollten wir unsere Sinne für die kleinen Zeichen der Wildheit in unseren Alltags- und Lebenswelten wieder schärfen. Dies kann mit der Beobachtung von Pflanzen und Tieren in unserer nächsten Umgebung gelingen und Wohlbefinden und Gesundheit fördern. Wen berührt es nicht, tagsüber im Wäldchen um die Ecke einem Eichhörnchen oder nachts im Garten einem Dachs zu begegnen? Diese Alltagsbegegnungen sind kein Ersatz für die grossflächige, unerschlossene und kaum vom Menschen geprägte Wildnis. Sie ergänzen und bedingen sich gegenseitig. Was die Studie bestätigt: Sowohl in den grossen Wildnisgebieten als auch in kleineren, wildnishaften Räumen stören ausgebaute Wege, unbedacht platzierte Infotafeln oder andere Infrastruktur die Wildnis-Erfahrung und damit die Erholungsfunktion.
Die vorliegende Studie zeigt auch die Grenzen von Wildnis und Erholung auf, wenn die Herausforderung zu gross, die Landschaft zu schwierig zu lesen wird. Wir dürfen Natur respektive Wildnis nicht zur Kulisse für unsere Gesundheit verkommen lassen. Es geht beim «Rausgehen», oder wie es der französische Philosoph Baptiste Morizot ausdrückt: beim «sich einwalden» um viel mehr, nämlich darum, die Verbundenheit von allem mit allem und die Bescheidenheit menschlicher Existenz zu spüren. Ich bin überzeugt: Langfristig kann sich ein herausfordernder Aufenthalt in wilder Natur positiv auf die Gesundheit auswirken, selbst wenn er im ersten Moment an den Kräften zehrt. Neben der Erholung stossen WildnisErfahrungen persönliche Entwicklungen an.
Es brennen mir viele umweltpsychologische Fragen zu Wildnis unter den Nägeln. So hat sich die vorliegende Studie relativ einfache und kurze Wege im Nationalpark Schwarzwald angeschaut. Mich interessiert: Wie wirken sich lange, anspruchsvolle Wege in den Alpen oder alpinistische Herausforderungen auf Erholung und Gesundheit aus? Wie wichtig ist das Wissen um die Existenz von Wildnis grundsätzlich für unser Wohlbefinden? Wie verändert sich die Erholungsqualität mit zunehmenden Fertigkeiten der Menschen, die sich in wilde Räume begeben?
Ich bin dankbar dafür, dass das vorliegende Buch diese Fragen und Diskussionen angestossen hat. Ich wünsche viel Vergnügen beim Lesen des Buchs und beim nächsten Wildniserleben!
Sebastian Moos Projektleiter Wildnis, Mountain WildernessSchweiz
2.2.3
3.2.5
5.1 Wildnishaftigkeit, Selbstwirksamkeitsförderung und psychologische Grundbedürfnisse
5.2 Wildnishaftigkeit und psychologische Grundbedürfnisse
5.3 Wildnishaftigkeit und Nachhaltigkeitsförderung
Dank
Dieses Buch und die Studie zum Wildniserleben wären nicht ohne die Unterstützung einer Vielzahl von Kolleg:innen, Freund:innen und Institutionen möglich gewesen. Mein besonderer Dank gilt dem Nationalpark Schwarzwald, meinem Projektteam bei Dialog N und der Paul Schiller Stiftung.
Insbesondere danke ich Susanne Blech, die die Co-Leitung der Feldstudie innehatte und die mit ihrem Outdoor-Fachwissen und grossartigem persönlichen Engagement massgeblich zur erfolgreichen Durchführung der Wildniserleben-Studie beigetragen hat.
Eike von Lindern
1 Perspektiven
Wer Wildnis sucht, wird schnell fündig, zumindest in der virtuellen Welt: Internet-Suchmaschinen geben in unter einer Sekunde über 19 Millionen Ergebnisse für das Schlagwort «Wildnis» für die Schweiz und 16 Millionen Ergebnisse für Deutschland aus. Es gibt eine schier unüberschaubare Anzahl von Websites zum Suchbegriff «Wildnis» und eine Vielzahl von Projekten, Literatur und Forschungsarbeiten im Zusammenhang mit Themen wie Naturschutz, Biodiversität, Tourismus, Pädagogik, Kultur und Landschaft sowie literarische und philosophische Auseinandersetzungen mit Wildnis.
Aufgrund dieser ersten, oberflächlichen Recherche kann schnell der Gedanke aufkommen, dass bereits alles zum Thema Wildnis gesagt wurde, was dazu gesagt werden kann. Ein zweiter, tiefergehender Blick offenbart allerdings, wie vielschichtig und kontrovers Wildnis und Wildnisgebiete in Forschung und Gesellschaft diskutiert werden. Die aktuelle Wildnisdebatte thematisiert einerseits den ökologisch-biologischen Wert von Wildnis und andererseits den Aspekt der menschlichen Sehnsucht nach Wildnis sowie die Bedeutung von Wildnis und Wildnisgebieten für die menschliche Zivilisation und Kultur. Insbesondere unter dem Aspekt der globalen Klimakrise und dem rapide voranschreitenden Biodiversitätsverlust rückt das Thema Wildnis immer wieder in den Fokus gesellschaftlicher und wissenschaftlicher Aufmerksamkeit. Über die möglichen Ökosystemfunktionen von Wildnis hinaus zeigt sich die Vielschichtigkeit des Themas darin, dass es unterschiedliche Sichtweisen auf und Definitionen von Wildnis gibt, die sich teilweise überlappen, ergänzen oder sogar gegenseitig ausschliessen.
Was ist denn Wildnis eigentlich? Viele Definitionen charakterisieren Wildnis im Sinne einer naturwissenschaftlichen Perspektive aufgrund der Beschaffenheit eines geografisch abgrenzbaren Gebiets und dessen Nutzung bzw. Nicht-Nutzung durch den Menschen und durch eine gewisse Ungestörtheit natürlicher Abläufe. Andere Definitionen aus dem Bereich der Gesellschaftswissenschaften betonen eher die gesellschaftliche Funktion von Wildnis und nehmen eine philosophische und anthropologische Perspektive zum Wildnisbegriff ein.
Im vorliegenden Buch wird Wildnis weder primär aus einer naturwissenschaftlichen noch einer gesellschaftswissenschaftlichen, sondern aus der psychologischen Perspektive betrachtet. Ob etwas Wildnis ist und wie sehr etwas Wildnis ist, wird dabei durch die Wahrnehmung und Interpretation eines Individuums bestimmt. Wildnis wird entsprechend als psychologisches Konstrukt definiert, das sich aus unterschiedlichen Eindrücken zusammensetzen kann und damit auch unterschiedliche Erlebensqualitäten aufweist. Wildnis wird also durch ein Individuum konstruiert. Wie diese konstruktivistische, psychologische Sichtweise auf Wildnis das natur- und geisteswissenschaftliche Verständnis von Wildnis erweitert und vertieft, wird im Folgenden näher beleuchtet.
In der Wildnisdebatte wird argumentiert, dass Wildnis als Erholungsort für Menschen dienen kann. Dabei wird in der Regel auf die wahrgenommene Ästhetik und die im Vergleich zum urbanen Lebensraum grössere Ruhe sowie auf eine Förderung der Verbundenheit mit der Natur fokussiert. Wie aber genau und unter welchen Umständen Wildnis jenseits von einem ästhetisch angenehmen Erleben zu Erholung und Gesundheitsförderung beitragen kann, wird meist nicht vertiefend behandelt. Erklärungen und Ansätze dafür, wie ein möglichst gesundheitsförderliches Erleben von Wildnis ermöglicht werden kann, bietet die umweltpsychologische Forschung zu erholungsförderlichen Umwelten und zur Gesundheitsförderung. Durch diesen Ansatz werden letztendlich auch die natur-
und geisteswissenschaftlichen Perspektiven auf Wildnis bereichert. Somit soll die bisher eher oberflächig behandelte Erholungsfunktion von Wildnis stärker in der Wildnisdebatte verankert und greifbarer gemacht werden.
Die theoretischen Inhalte zur Wildnis aus psychologischer Sicht und Wildnis als potenziellem Ort für Erholung werden in dem vorliegenden Buch durch die Vorstellung einer umweltpsychologischen Feldstudie ergänzt, die im Spätsommer 2018 im Nationalpark Schwarzwald durchgeführt wurde. Ziel der Feldstudie war es, das Wildniserleben für drei ausgewählte Wandertouren im Nationalpark Schwarzwald zu erfassen und mit Gesundheit und Wohlbefinden in Beziehung zu setzen. Mit anderen Worten: In der Feldstudie werden die hier diskutierten theoretischen Überlegungen zum Wildniserleben exemplarisch in der Praxis umgesetzt und getestet.
2 Wildnis
Wildnisgebiete sind nicht nur in der Schweiz, sondern weltweit rückläufig und oftmals durch zivilisatorischen Druck gefährdet ( R ADFORD et al. 2019; WATSON et al. 2016). Die Debatte zu Schutz und Förderung von Wildnisgebieten ist bisher stark naturwissenschaftlich dominiert, indem auf die Funktion von Wildnisgebieten für Erhalt und Förderung der Biodiversität fokussiert wird, aber auch auf die biologische Bedeutung von Wildnis für gesamte Ökosysteme und die damit verbundenen Ökosystemleistungen für den Menschen ( LUICK und REIF 2013; N ELSON und C ALLICOTT 2008).
Die Bedeutung und Potenziale von Wildnisgebieten aus gesellschaftlicher Perspektive sind in der Wildnisdebatte hingegen oft noch unterrepräsentiert und werden in der naturwissenschaftlichen Perspektive zwar angedacht und als vorhanden akzeptiert, aber nur ansatzweise in das Wildnis-Verständnis integriert. Dabei wird zwar auf die Funktion und den Nutzen für Mensch und Gesellschaft hingewiesen, dies wird aber bisher vergleichsweise selten vertiefend behandelt ( BROGGI 2015; C ARVER und FRITZ , 2016; KUITERS et al. 2013; S TARKE -O TTICH und ZIZKA 2022; Wild Europe Initiative 2013; WILSON S MITH et al. 2012). BROGGI und HINDENLANG CLERC (2022) stellen zudem fest, dass das Thema Wildnis in Österreich, Deutschland und in der Schweiz gefördert und ausgebaut werden sollte, wobei in der Schweiz im Vergleich zu Österreich oder Deutschland der grösste Rückstand besteht.
Gründe dafür, dass sich die natur- und gesellschaftswissenschaftliche Sichtweisen bisher eher parallel und unabhängig voneinander entwickelt haben, sind unter anderem ein konzeptioneller Widerspruch zwischen natur- und geisteswissenschaftlicher Auffassung von Wildnis: Während das naturwissenschaftliche Verständnis Wildnis als ein Gebiet ohne jegliche menschliche Einflüsse definiert, in der die Natur der Natur überlassen wird (Wild Europe Initiative 2013), ist im geisteswissenschaftlichen Verständnis ein Mindestmass an menschlicher Nutzung im weitesten Sinne (nämlich das prinzipielle, aktive Erleben können von Wildnis) integrativer und notwendiger Bestandteil von Wildnis (z. B. H ASS et al. 2012; S TROH und M EGERLE 2017). Dies ist nicht nur ein theoretisch-konzeptionelles Dilemma, sondern auch ein ganz praktisches Problem, etwa für Grossschutzgebiete und Nationalparks, die Natur- und Prozessschutz sowie (zumindest in den Kernzonen) Wildnis fördern sollen und gleichzeitig Erholung und Natur-Erleben bieten sowie als Orte für Umweltbildung beziehungsweise für Bildung für Nachhaltige Entwicklung dienen sollen (BERZBORN und J OHN 2018; Europäische Union 2013; S TROH und M EGERLE 2017; Wild Europe Initiative 2013; Gesetz zur Errichtung des Nationalparks Schwarzwald [§3, Ziffer 2.4]).
Eine einheitliche, allgemeingültige Definition des Begriffs «Wildnis» zu finden, ist herausfordernd (BAUER 2005). Seit Jahrzenten wird eine Debatte unter Vertretern und Vertreterinnen unterschiedlicher wissenschaftlicher Disziplinen, Praktikern und auch der Politik geführt, was unter dem Wildnisbegriff zu verstehen sei. Dabei kristallisieren sich zwei grundsätzliche Sichtweisen heraus: zum einen ein eher naturwissenschaftlich geprägtes Verständnis von Wildnis und zum anderen eine eher geisteswissenschaftliche Wildnisperspektive (siehe auch M EGERLE 2019).
Insbesondere im Forschungsbereich der (Human-) Geographie, Biologie und in den Naturwissenschaften wurden bisher mehr oder weniger objektive und messbare Indikatoren und Kriterien für Wildnis definiert. Diese Indikatoren und Kriterien werden häufig innerhalb Geographischer Informations-Systeme (GIS) operationalisiert und mit diesen erfasst, etwa indem minimale Gebietsgrössen und Mindestabstände zu Siedlungen, Strassen oder
anderen anthropogenen Einflüssen sowie Wildtiervorkommen und physikalische Geländeeigenschaften (z. B. Rauheit) miteinander in Beziehung gesetzt werden (CARVER und FRITZ 2016; KUITERS et al. 2013; R ADFORD et al. 2019). CARVER und FRITZ (2016) und CARVER et al. (2013) beschreiben ausführlich, nach welchen Kriterien Wildnis modelliert und mit GIS erfasst und visualisiert werden kann. Dabei beziehen sie sich auf den US-amerikanischen Wilderness Act aus dem Jahr 1964 und arbeiten die Wildnis-Dimensionen «Abgeschiedenheit», «Naturnähe Flora und Fauna», «Geländebeschaffenheit» und «Infrastruktur/ menschlicher Einfluss» als wichtige Aspekte für die Kartierung von Wildnis heraus (R ADFORD et al. 2019). Damit existiert für die geographisch-naturwissenschaftliche Perspektive ein Konzept von Wildnis, das sich inhaltlich definieren und gleichzeitig auch operationalisieren lässt, um für eine Landschaft einschätzen zu können, ob und wie sehr diese einer Wildnis entspricht: Unterschiedliche Landschaften lassen sich also auf einem «WildnisKontinuum» einordnen und es können Verzeichnisse angelegt werden, wo diese Landschaften zu finden und wie sie beschaffen sind. Die aus den Wildnis-Verzeichnissen erstellten Kartierungen suggerieren, dass es (zumindest in Europa) kaum Bereiche ausserhalb des nördlichen Skandinaviens, Islands, der Alpen und einiger Regionen in Osteuropa gibt, die die Kriterien für Wildnis erfüllen und daher als «(echte) Wildnis» im geografisch-naturwissenschaftlichen Sinne bezeichnet werden können (Abb. 1).
Wilderness Quality Index in Europe
Abb. 1. Darstellung einer Karte auf Grundlage der Wildnis-Verzeichnisse für Europa. Unterschiedliche Kriterien für Wildnis wurden zu einem Index zusammengerechnet, der die Qualität von Wildnis in Europa widerspiegeln soll. Je dunkler die Grüntöne sind, desto höher die Wildnisqualität. Je dunkler die Rottöne, desto geringer ist die Wildnisqualität. Quelle: www.eea.europa.eu/data-and-maps/figures/wildernessquality-index. Copyright holder: University of Leeds.
Die European Wilderness Working Group schlägt in der Wild Europe Initiative (2013) eine Definition für Wildnis vor, die auch von der Europäischen Union mitgetragen wird, aber den Menschen grösstenteils ausschliesst:
«Der Begriff Wildnis bezeichnet ein Gebiet, das natürlichen Prozessen unterliegt. Es besteht aus ursprünglichen Lebensräumen und heimischen Arten und ist so gross, dass natürliche Prozesse ökologisch wirkungsvoll ablaufen können. Es ist vom Menschen unverändert oder nur geringfügig verändert, unterliegt keinerlei menschlichen Eingriffen oder extraktiver Nutzung und beinhaltet keine Siedlungen, Zivilisationseinrichtungen oder visuelle Störungen.» (Europäische Union 2013; Wild Europe Initiative 2013).
Diese Definition wird von einem umfangreichen Leitfaden begleitet, der im Sinne eines technischen Berichts unterschiedliche Definitionen von Wildnis gegenüberstellt und Kriterien auflistet, die für und gegen das Vorhandensein von Wildnis sprechen.
Für Deutschland stellt das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, Bau- und Reaktorsicherheit (BMUV 2007) in der Nationalen Strategie zur Biologischen Vielfalt heraus, dass bis zum Jahr 2020 mindestens 2 Prozent der Landesfläche Deutschlands Wildnisgebiete sein sollen, in denen sich Natur ungestört entwickeln können soll. Laut Bundesamt für Naturschutz (Bundesamt für Naturschutz (BfN) 2023) wurden im Jahr 2022 allerdings erst 0,6 Prozent erreicht. BMUV und BfN beziehen sich bei der Definition von Wildnis ebenfalls auf die Wild Europe Initiative (2013). Allerdings legen sie für die Auswahl von Wildnisgebieten nicht direkt die Dimensionen des Wildnis-Kontinuums zugrunde, sondern definieren Eigenschaften, die sich nach vier Handlungsfeldern mit jeweils dazugehörigen KriterienSets unterteilen lassen. Darunter fallen beispielsweise rechtliche Rahmenbedingungen, Eigentumsverhältnisse, minimale Gebietsgrössen, Managementpläne und Ähnliches (für Details siehe BMUV/BfN 2018). Auch wenn BMUV und BfN nicht ausschliesslich naturwissenschaftliche Kriterien für die Auswahl von Wildnisgebieten nutzen, wird in den Handlungsfeldern und Kriterien deutlich, dass eine sehr «technische» Perspektive auf Wildnis vorherrscht – wie auch bei den zuvor genannten Definitionen und Dimensionen von Wildnis. Ein etwas anderer Wildnis-Ansatz wird bei S TARKE -O TTICH und ZIZKA (2022) im Buch «Wildnis in Frankfurt» beschrieben: Da in städtischen Räumen keine Wildnis im Sinne der oben vorgestellten Definitionen und Sichtweisen vorhanden sein kann, beziehen sich Starke-Ottich und Zizka bei Wildnis hauptsächlich auf das «Zulassen natürlicher Prozesse – zumindest für einen gewissen Zeitraum» ( S TARKE -O TTICH und ZIZKA 2022, S. 10). Dabei ist ihnen bewusst, dass es sich um keine Wildnis wie in Schutzgebieten der IUCN-Kategorie 1b oder in Kernzonen von Nationalparks handelt. Sie argumentieren, dass auch kleinflächig im städtischen Raum Elemente von Wildnis entstehen können, die ähnliche Funktionen erfüllen wie «echte» Wildnisgebiete und beispielsweise zur Förderung der Artenvielfalt beitragen können. Des Weiteren unterscheiden sie zwischen «alter» und «neuer Wildnis» (KOWARIK 2013; zit. nach S TARKE -O TTICH und ZIZKA 2022). Während alte Wildnis ursprüngliche, seit Jahrhunderten existierende Naturelemente enthält (z. B. sogenannte «Reliktwälder»), zeichnet sich die neue Wildnis durch eine entstehende und sich sukzessiv entwickelnde Wildnis aus, etwa auf brachliegenden oder renaturierten Flächen. Entsprechend verändert sich die neue Wildnis stärker und schneller als die alte Wildnis, da die Artenzusammensetzung je nach Entwicklungsstadium variiert. Im Gegensatz zu den rein naturwissenschaftlich geprägten Wildnisdefinitionen stellen S TARKE -O TTICH und ZIZKA (2022) die Überlegung an, dass der Mensch auch zu den «natürlichen Bewohnern»
erleben einer Umwelt gehört und somit zumindest im urbanen Kontext als Bestandteil von Wildnis eine Nutzungsberechtigung haben sollte.
Der WWF Österreich formulierte einen Vorschlag, der gängige Wildnisdefinitionen um die oft vernachlässigte gesellschaftliche Komponente ergänzt, so wie es die European Wilderness Working Group 2011 ebenfalls vorgeschlagen hat ( KOHLER 2013): «Wildnisgebiete sind grosse, unveränderte oder nur leicht veränderte Naturgebiete, die von natürlichen Prozessen beherrscht werden und in denen es keine menschlichen Eingriffe, keine Infrastruktur und keine Dauersiedlungen gibt. Sie werden dergestalt geschützt und betreut, dass ihr natürlicher Zustand erhalten bleibt und sie Menschen die Möglichkeit zu besonderen geistig-seelischen Naturerfahrungen bieten».
Auch wenn diese Definition eine Annäherung an das Thema Wildnis darstellt, die die gesellschaftliche Perspektive einschliesst und der Definition der European Wilderness Working Group von 2011 entspricht (Europäische Union 2013; KOHLER 2013), enthält sie begriffliche Unschärfen: Es bleibt zum Beispiel unklar, ab wann ein Naturgebiet als «gross» gilt, was «leichte Veränderungen» sind, wie «menschliche Eingriffe» definiert werden können, was «der natürliche Zustand» überhaupt ist und in welcher Form bei Einhalten all dieser Forderungen überhaupt eine Möglichkeit für Menschen zu «besonderen geistigseelischen Naturerfahrungen» umgesetzt werden kann. Insbesondere der letzte Punkt impliziert, dass Menschen Zugang zu den Wildnisgebieten haben müssen, was aber im Widerspruch zu der Forderung nach Absenz jeglicher menschlichen Eingriffe steht ( M EGERLE 2019). Die unscharf definierten Begriffe («gross», «natürlicher Zustand», «leichte Veränderungen» usw.) erlauben einen Spielraum zur Interpretation. Hier werden beispielsweise Ökologen und Ökologinnen ein anderes Verständnis als die Tourismusbranche oder Besucher und Besucherinnen von Nationalparks haben. Ob und von wem eine Landschaft also als Wildnis erlebt wird, ist eine Frage der Perspektive. Es ist leicht vorstellbar, dass ein Wildnisgebiet aus ökologischer Sichtweise nicht dem entspricht, was sich potentielle Besucher und Besucherinnen, je nach persönlicher Erfahrung und Erwartung, unter Wildnis vorstellen: Schliesslich können Merkmale einer sich selbst überlassenen Natur schnell Herausforderungen für Individuen darstellen, die eher zu Stress als zu Erholung führen. Dies soll an einem kleinen Beispiel verdeutlicht werden:
Eine im engeren Sinne gefasste Wildnis würde bedeuten, dass es viel Unterholz gibt und auch Totholz nicht von den Wegen entfernt wird bzw. dass Wege und Pfade ebenfalls «verwildern» und sich selbst überlassen werden oder gar verschwinden. Aus Sicht der Besucher und Besucherinnen geht damit allerdings einher, dass der Besuch einer solchen Wildnis hohe Ansprüche an die eigene Beweglichkeit, Trittsicherheit und Orientierungsfähigkeit stellt, so dass der Aufenthalt in der Wildnis als Herausforderung erlebt werden kann und die Besucher und Besucherinnen über die Grenzen ihrer Fähigkeiten hinaus beanspruchen kann, zum Beispiel, weil sie Hindernisse wie umgestürzte Bäume und Flussläufe überwinden müssen (Abb. 2).
Dies verdeutlicht, dass Wildnis also nicht nur ein naturwissenschaftliches und geographisches, sondern auch ein gesellschaftliches Konstrukt ist ( M EGERLE 2019). Kirchhoff (2012, S. 4) definiert den konstruktivistischen Ansatz von Wildnis folgendermassen:
«Nicht die Tatsache, dass ein Gebiet frei von Einflüssen des Menschen ist, macht es zu einer Wildnis, sondern dass es als Gegenwelt zur kulturellen und zivilisatorischen Ordnung empfunden wird. Dafür genügt es, dass das Gebiet zumindest in einer für den Betrachter relevanten Hinsicht nicht vom Menschen gemacht ist.»
Abb. 2. Sichere Wege und Pfade in der Wildnis zu finden und sich orientieren zu können, lassen Besucher und Besucherinnen schnell an ihre Grenzen kommen: Dies kann insbesondere der Fall sein, wenn mit der Wegfindung Gefahren verbunden sind, wie einen Weg durch ein Schnee- und Sumpffeld zu finden, ohne dabei auf brüchiges Eis zu gelangen.
H ASS et al. (2012) argumentieren vergleichbar mit K IRCHHOFF (2012), dass «Wildnis keine objektive, naturwissenschaftlich beschreibbare Natur bezeichnet», sondern dass die Bedeutung von Wildnis weitgehend kulturell geprägt ist und nicht nur ökologische, sondern auch gesellschaftliche Funktionen erfüllt. In diesem Sinne betonen H ASS et al. (2012), M EGERLE (2019) und S TARKE -O TTICH und ZIZKA (2022), dass auch Stadtbrachen ein Wildniserleben ermöglichen können, da diese oftmals «regelfreie Zonen» sind, die in der öffentlichen Wahrnehmung «verwildern», es aber insbesondere Kindern und Jugendlichen ermöglichen, sich «zu erproben» und der Bevölkerung ein Rückzugsgebiet vom Alltäglichen bieten (Abb. 3 und 4).
S TINSON (2017) geht noch einen Schritt weiter und setzt den Wildnisbegriff in den Kontext moderner Technologien und sozialer Medien. «Wildnis 2.0» wird nicht als etwas Statisches gesehen, mit dem Menschen sich verbunden oder nicht verbunden fühlen können, sondern Wildnis wird stattdessen als ein sich kontinuierlich änderndes, je nach kulturellem Kontext neu erschaffenes Konstruk t gesehen, so dass Wildniserleben letztendlich auch durch neue Technologien oder per Virtual oder Augmented Reality möglich wäre. Darüber hinaus unterliegt der Wildnisbegriff nicht nur einem ständigen gesellschaftlichen Wandel, sondern auch das Konzept an sich verschiebt sich: Dadurch, dass Wildniserleben auch über virtuelle Formen und soziale Medien prinzipiell möglich wird, verlagert
Abb. 3. Stadtbrachen wie in der Nähe des Weavers Field im Londoner East End bieten potentiell Raum für kulturelle Entfaltung und ein sich-ausprobieren-können.
Abb. 4. Verlassene Industrieanlagen und brachliegende Gewerbeflächen können aus gesellschaftswissenschaftlicher Perspektive durchaus Wildniselemente enthalten und Freiräume von gesellschaftlichen Regeln bieten.
sich ein Teil der «Wildniserfahrung» in virtuelle Welten und ist damit nicht mehr Bestandteil einer ausschliesslich natürlichen Welt.
S MITH und K IRBY (2015) untersuchten Wildnis ebenfalls aus einer gesellschaftlichen Perspektive: Sie organisierten einen Wettbewerb, bei dem Millennials (Personen, die in den frühen 1980er bis in den späten 1990er Jahren geboren wurden) beschreiben sollten, was Wildnis für sie und ihre Generation bedeute. Dabei zeigte sich, dass die Teilnehmenden sich darüber bewusst waren, dass Wildnis im Sinne einer völlig unberührten und grossflächigen Natur kaum mehr existiert. Aber es kristallisierte sich auch heraus, dass Landschaften, die sich nach Wildnis anfühlen, einzigartige Erfahrungen und Werte bieten, die gleichzeitig bewahrt, aber auch im Sinne einer sozialen Gerechtigkeit möglichst vielen Menschen zugänglich gemacht werden sollten. Das Argument der sozialen Gerechtigkeit wird auch bei S TARKE -O TTICH und ZIZKA (2022) aufgenommen, indem Wildniselemente im urbanen Raum mehr Menschen zugänglich sind als in weiter entfernt liegenden Gebieten. Der bisher dargestellte Hintergrund zu sowohl eher natur- als auch eher geisteswissenschaftlichen Perspektiven auf Wildnis soll lediglich die Komplexität und Vielschichtigkeit des Themas veranschaulichen. Eine sehr gute Zusammenfassung zur Wildnisdebatte und zu Wildniskonzeptionen ist bei M EGERLE (2019) zu finden, wobei auch die historische Perspektive auf Wildnis besprochen wird. Zudem ist bei Megerle weiterführende Literatur zu finden, auf die an dieser Stelle nicht weiter eingegangen wird.
Während die Sichtweisen auf Wildnis und Kriterien für Wildnis durchaus vielschichtig und komplex sind, herrscht relativ grosse Übereinstimmung im Sinn und Zweck von Wildnis bzw. dem Bedarf nach mehr Wildnisgebieten und -elementen. Das von der Zoologischen Gesellschaft Frankfurt koordinierte und durch BMUV und BfN geförderte Projekt «Wildnis in Deutschland» nennt auf der Projekthomepage (Initiative «Wildnis in Deutschland» 2023) mehrere Gründe für mehr Wildnis in Deutschland. Primär erfüllen Wildnisgebiete demnach die Sicherung biologischer Vielfalt, da viele (bedrohte) Lebewesen auf Lebensbedingungen in zusammenhängenden und vernetzten Wildnisgebieten angewiesen sind. Ebenfalls wird der Klimaschutz genannt, da Wälder, Moore und Auen Kohlendioxid binden können und damit helfen, den Klimawandel abzuschwächen. Auch der Schutz vor Naturgefahren wie Überschwemmungen wird betont, da in Wildnisgebieten ausreichend Flächen und Flussauen vorhanden sind, um Hochwasser abzufangen. Des Weiteren wird Wildnis als Naturkapital dargestellt, indem auf diverse Ökosystemleistungen wie beispielsweise Trinkwasser, Pflanzenbestäubung oder Sauerstoffproduktion hingewiesen wird. Forschung und Erkenntnisgewinn zu natürlichen Prozessen und Zusammenhängen in der Natur betreiben zu können, werden ebenfalls als Argumente für Wildnis angeführt (Initiative «Wildnis in Deutschland» 2023).
Eine weitere Funktion von Wildnis und Wildnisgebieten wurde im Zuge der COVID-19 Pandemie stärker in den Fokus gerückt. Im Oktober 2022 veröffentlichte die Intergovernmental Science-Policy Plattform on Biodiversity and Ecosystem Services (IPBES) einen Bericht über den Zusammenhang zwischen Biodiversität und Pandemien (IPBES 2022). Darin wird ein starker Zusammenhang zwischen der Zerstörung natürlicher Lebensräume und der Auftretenswahrscheinlichkeit von Pandemien wie COVID-19 hergestellt (Abb. 5). Durch den Verlust natürlicher Lebensräume und Wildnisgebieten sind Wildtiere dazu gezwungen, vermehrt in Gebieten zu leben, die von Menschen geprägt sind. Der zwangsläufig engere Kontakt zwischen Wildtieren und Menschen erhöht das Risiko für sogenannte Zoonosen (= Krankheiten, die von Tieren auf den Menschen übertragen werden können) deutlich (M ORAND und L AJAUNIE 2021a; M ORAND und L AJAUNIE 2021b). Daraus folgt, dass die Förderung von Wildnisgebieten, in denen wild lebende Tiere genug Rückzugs-
räume finden, zur Prävention von Pandemien beiträgt, was letztendlich der menschlichen Gesundheit Zugute kommt. Diese Argumentation wird auch von der WHO in der «One Health Initiative» aufgenommen, in der der Zusammenhang und die wechselseitigen Abhängigkeiten zwischen menschlicher Gesundheit, Tieren und Tierhaltung, Pflanzen und dem Zustand bzw. der Intaktheit von Ökosystemen thematisiert wird (WHO 2022).
Während das Argument der «One Health Initiative» der Prävention von Zoonosen und Pandemien eher eine von Menschen ungestörte Wildnis befürwortet, wird allerdings in
Abb. 5. Tweet der ipbes zum Zusammenhang zwischen Naturschutz und der präventiven Funktion einer intakten Natur (inkl. das Vorhandensein von Wildnisgebieten) vor (zukünftigen) Pandemien. Quelle: IPBES 2020.
der gesellschaftswissenschaftlichen Perspektive auf Wildnis immer wieder betont, dass gerade das Erleben von Wildnis mehrere wichtige Funktionen für Menschen erfüllt. Von der Initiative «Wildnis in Deutschland» (2023) wird die Erholungsfunktion wilder Natur für den Menschen als Kontrast zur stark genutzten Kulturlandschaft als ein Grund für die Förderung von Wildnisgebieten genannt, was gleichzeitig ländliche Regionen mit Wildnischarakter ökonomisch stützen soll. S TARKE -O TTICH und ZIZKA (2022) führen an, dass das Erleben von Wildnis(elementen) eine gute Möglichkeit darstellt, die Naturverbundenheit und das Verständnis für Zusammenhänge in der Natur zu stärken. Eine ähnliche Begründung für Wildnis lässt sich auch auf der Homepage von Mountain Wilderness Schweiz finden. Dort wird Wildnis als «[…] von unschätzbarem Wert: für Forschung und Lehre, für Biodiversität aber auch für uns Menschen […]» bezeichnet, da Wildnis «[…] Glück, Ruhe und Erholung [bietet]» und Menschen «[…] Einsamkeit und Stille, Rhythmen und Dimensionen weitläufiger Landschaften erfahren» lässt (Mountain Wilderness Schweiz 2023).
Die geisteswissenschaftliche Perspektive betont die gesellschaftlichen Funktionen von Wildnis: Mehrere Forschungsarbeiten zu Wildnis (z. B. H ASS et al. 2012; S TARKE -O TTICH und ZIZKA 2022; M EGERLE 2019; S TINSON 2017; S MITH und K IRBY 2015) stellen dar, dass Wildnis für Menschen ein Raum zum sich erproben und ausprobieren ist, da es sich bei Wildnis um ein Gebiet handelt, das frei von menschlich-zivilisatorischen Regeln ist. G EBHARD (2020) beschreibt, dass Kinder und Jugendliche häufig Wald als ursprüngliche Natur wahrnehmen und mit Wildnis verbinden. Wildnis-ähnliche Umwelten sprechen gemäss G EBHARD (2020) bei Kindern und Jugendlichen (und auch Erwachsenen) Bedürfnisse nach
Abb. 6. Wildniserleben, wie hier am Bass Lake in der nordamerikanischen Ansel Adams Wilderness, bietet Freizügigkeit, befriedigt Bedürfnisse nach Abenteuer, Autonomie, Freiheit und sich-erproben-können.
Abb. 7. Wildniserleben kann aber auch mit Angst und Gefahr verbunden sein, da beispielsweise beim Überqueren eines reissenden Wildbachs ohne Brücke ein Abrutschen durchaus tödlich enden kann.
Abenteuer, Freizügigkeit, Autonomie und Freiheit an – wobei Gebhard ebenfalls herausstellt, dass mit dem Wildnisgedanken auch Ängste verbunden sein können (Abb. 6 und 7).
Der Aspekt der Angst und Gefahr in Bezug auf Wildnis spiegelt sich auch in den Arbeiten von H ASS et al. (2012) und M EGERLE (2019) wider: beispielsweise berichten sie, dass in der Wildnisliteratur lebensbedrohliche Situationen während Wildnisaufenthalten geschildert werden oder (alpine) Wildnis in historischen Aufzeichnungen als «Un-Ort des Schreckens und Grauens» (LUGER und REST 2002; zit. nach M EGERLE 2019) bezeichnet wurde.
An dieser Stelle wird deutlich, dass das häufig angeführte Argument, Wildnis diene auch der Erholung des Menschen, kritisch reflektiert werden sollte. Da, wie in diesem Kapitel dargestellt, Wildnis nicht gleich Wildnis ist und mit der Vorstellung von Wildnis durchaus ambivalente Vorstellungen und Gefühle von Freiheit, Autonomie, Ruhe aber auch Herausforderung, Angst und Gefahr einhergehen können, wird im Folgenden thematisiert, unter welchen Umständen eine Umwelt förderlich für menschliche Gesundheit und Wohlbefinden ist. Die umweltpsychologische Forschung zu sogenannten erholungsförderlichen Umwelten ergänzt die Perspektive auf Wildnis als Erholungsort, indem der Erholungsbegriff klarer gefasst und auch Prozesse beschrieben werden, die Erholung initiieren, moderieren oder verhindern. Durch dieses vertiefte Verständnis von Umwelt und Erholung wird der Forderung nach mehr Wildnis eine umweltpsychologisch begründete Perspektive hinzugefügt.
2.1 Die (umwelt-)psychologische Perspektive
Die Umweltpsychologie ist eine Fachdisziplin innerhalb der wissenschaftlichen Psychologie. Grundsätzlich beschäftigt sie sich mit dem Erleben, Verhalten und Bewusstsein des Menschen über die gesamte Lebensspanne hinweg und fokussiert dabei auf MenschUmwelt-Interaktionen. Das heisst, in der Umweltpsychologie interessiert einerseits, wie Menschen die Umwelt (im weitesten Sinne, also soziale, räumlich-materielle und physische Umwelt) beeinflussen, und wie wiederum die Umwelt menschliches Erleben, Verhalten und Bewusstsein beeinflusst. Es stehen also die Wechselwirkungen zwischen Menschen und Umwelt im Vordergrund. Diese Wechselwirkungen können am Funktionskreismodell (von UEXKÜLL 1921) veranschaulicht werden (Abb. 8).
In der Bedeutungs- und Funktionskreislehre stellt VON UEXKÜLL (1921) heraus, dass Individuen über Sinnessysteme verfügen, mit denen sie (für sie wahrnehmbare) Merkmale einer Umwelt erfassen. Je nachdem, welche Information sie der Umwelt entnehmen und wie ihre jeweiligen Motive und Bedürfnisse sind, zeigen Individuen entsprechendes Verhalten, mit dem sie (durch sog. Effektoren) auf die Umwelt einwirken. Diese Einwirkung verändert die Umwelt, so dass in der Folge auch die wahrnehmbaren Merkmale eine veränderte Information über Beschaffenheit und Charakteristika der Umwelt vermitteln. Diese etwas abstrakte Beschreibung soll an einem kurzen Beispiel verdeutlicht werden: Angenommen, ein Mensch geht einen Weg einer naturnahen und ungemähten Wiese entlang und sucht einen Platz, um Rast zu machen. Die Person sieht eine schöne Stelle mitten auf der Wiese und beschliesst, dorthin zu gehen. Auf dem Weg zum Rastplatz tritt die Person Gräser nieder und hinterlässt einen sichtbaren Abdruck auf der Wiese, wo sie die Pause gemacht hat. Eine halbe Stunde später kommt eine andere Person an derselben Stelle vorbei, sieht die Spuren und die zu Boden gedrückten Gräser, wo die andere Person zuvor Rast gemacht hat, und beschliesst ebenfalls den Platz zu nutzen – da sich dieser
Innenwelt / Individuum
Aussenwelt / Gegengefüge Sinnessysteme Effektoren Merkmale Wirkmale
Abb. 8. Das Funktionskreismodell nach VON UEXKÜLL (1921) macht deutlich, dass der Mensch nicht losgelöst, unabhängig von der Umwelt existieren und handeln kann, denn alles Handeln beeinflusst die Umwelt, während die (wahrgenommene) Umwelt wiederum das menschliche Handeln und Verhalten beeinflusst.
Abb. 9. Trampelpfad im Frankfurter Rosengarten mit Hinweisschild, den Trampelpfad nicht zu benutzen, sondern auf den offiziellen Wegen zu bleiben.
scheinbar für eine Rast eignet. So hat das Verhalten von Person Eins die Umwelt (die Wiese) so verändert, dass die Wahrnehmung der veränderten Umwelt das Verhalten von Person Zwei beeinflusst. Dies kann so weiter gehen, bis ein regelrechter Trampelpfad entsteht – oder jemand von der Gebietsverwaltung einen Zaun oder ein Schild aufstellt, um das Verhalten zu unterbinden (Abb. 9).
Das Funktionskreismodell von VON UEXKÜLL (1921) lässt sich auf die Wildnisdebatte übertragen: Durch den Fokus auf wechselseitige Einflüsse zwischen Umwelt und Mensch, wird der konzeptionelle Widerspruch zwischen naturwissenschaftlicher («Natur Natur sein lassen») und geisteswissenschaftlicher Perspektive («Wildnis erleben können ist notwendig und wünschenswert») an sich thematisiert. Damit kann die umweltpsychologische Perspektive als ein bereicherndes und vermittelndes Bindeglied in der Wildnisdebatte verstanden werden.
2.2 Erholungsförderliche Umwelten
Die Umweltpsychologie kann insbesondere in Bezug auf die «besonderen geistig-seelischen Naturerfahrungen» (KOHLER 2013) und die Erholungsfunktion von Wildnis für den Menschen ein umfassenderes und vielschichtigeres Bild zeichnen, als dies üblicherweise aus natur- oder geisteswissenschaftlicher Perspektive getan wird. Der Forschungsbereich zu sogenannten «erholungsförderlichen Umwelten» fokussiert auf die Frage, welche Umwelten unter welchen Bedingungen förderlich sind für menschliches Wohlbefinden
und Gesundheit. Bevor näher auf den Forschungsbereich eingegangen wird, steht die grosse Frage im Raum, wozu Erholung eigentlich gut sein soll, was Erholung ist und warum wir Menschen überhaupt Erholung benötigen. Erst durch ein Beschäftigen mit Erholung erschliesst sich, inwiefern und auf welche Art und Weise Wildnis zur Erholungsförderung beitragen kann.
2.2.1 Erholung
Der Begriff «Erholung» wird oft sehr unspezifisch verwendet und es bleibt häufig recht diffus, was genau damit gemeint ist. Eine computergenerierte Wortwolke zum Begriff Erholung umfasst die Substantive «Reise», «Entspannung», «Regeneration», «Sport», «Ruhe», «Freizeitgestaltung», «Freizeit», und «Spass». Im alltäglichen Sprachgebrauch wird Erholung hingegen als «das Zurückgewinnen von Gesundheit und Leistungsfähigkeit» ( D UDEN 2023) bezeichnet. Diese erste Annäherung an den Erholungsbegriff stimmt in Grundzügen mit der psychologischen Definition von Erholung überein: Das Lexikon der Psychologie beschreibt Erholung als «Prozess des Wiedererlangens von psychischer und physischer Aktiviertheit und dem entsprechenden Verhaltensrepertoire» (Dorsch Psychologisches Wörterbuch 1994). Damit wird der eher allgemeine Bezug auf Gesundheit und Leistungsfähigkeit noch weiter spezifiziert, indem sowohl physische als auch psychische Aspekte sowie Verhalten angesprochen werden. N IELSEN und N ILSSON (2007) sehen Erholung als eine Ressource zur Förderung von Gesundheit und Wohlbefinden sowie zum Abbau von Stress. Damit wird der Erholungsbegriff bzw. der Prozess der Erholung in den Kontext der Stressbewältigung gesetzt, wodurch deutlicher wird, wovon erholt werden muss: von Stress und (psychischen) Belastungen. Der Erholungsbegriff im Wildniskontext wird durch diese Begriffsbestimmungen klarer: Ein Wildniserleben soll demnach ein Individuum dabei unterstützen, Stress durch das Wiedererlangen von psychischer und physischer Aktiviertheit sowie dem damit verbundenen Verhaltensrepertoire abzubauen und auf diese Art Gesundheit, Wohlbefinden und Leistungsfähigkeit zurückzuerlangen. Es geht bei der Erholungsfunktion durch Wildniserleben also darum, einen Kontrapunkt zu den Aspekten im Leben zu finden, die als Stressoren erlebt werden, sich negativ auf Gesundheit auswirken und Leistungsfähigkeit verringern.
Dass der Erholungsfunktion sowohl für Individuen, aber auch aus gesellschaftlicher und ökonomischer Sicht, eine bedeutsame Rolle zukommt, zeigen diverse Forschungsstudien und Praxisberichte eindrücklich: Nicht nur in Deutschland, sondern in vielen Ländern der Welt nehmen Arbeitslast, Bewegungsarmut und Stress zu (z. B. A LLENSPACH und BRECHBÜHLER 2005; BROWNSON et al. 2005; H ANSMANN et al. 2007; KOMPIER et al. 2000; M ARTIN et al. 2000; P RENTICE und J EBB 1995; WHO 1986). Damit verbunden sind eine steigende Anzahl von Herz- und Gefässerkrankungen sowie eine insgesamt zunehmende Mortalität (z. B. KOPP und RETHELYI 2004; K RANTZ und M C CENEY 2002; K RANTZ et al. 2005), eine erhöhte Wahrscheinlichkeit für das Entstehen und Wachsen von Tumoren ( FISHER et al. 2011), eingeschränktes Wohlbefinden und eine verringerte Leistungsfähigkeit (z. B. BAKER et al. 1994; LORIST et al. 2000; S ANDERS 1998; VAN DER L INDEN et al. 2003). Auf Deutschland bezogen nimmt der subjektive Gesundheitszustand der Bevölkerung ab und Stress sowie psychische Störungen führen zu etwa 53 Millionen Krankheitstagen pro Jahr und sind ursächlich für 41 Prozent der Frühberentungen bei einem Durchschnittsalter von 48 Jahren (Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin [BAuA] 2020). Für die Schweiz zeichnet sich ein ähnliches Bild ab: Rund 70 Prozent der berufstätigen Bevölkerung befinden sich laut Gesundheitsförderung Schweiz (2020) in einem sensitiven Bereich
des sogenannten Job-Stress-Index, mit steigender Tendenz. Der Job-Stress-Index ist ein Mass, das die verfügbaren Ressourcen zur Bewältigung von berufs- und arbeitsbezogenen Herausforderungen den erlebten Belastungen (z. B. Zeitdruck, Überforderung usw.) gegenüberstellt. Im Jahr 2014 hatten noch 29,8 Prozent der Erwerbstätigen in der Schweiz mehr Ressourcen als Belastungen (vorteilhafter Bereich) und 24,8 Prozent mehr Belastungen als Ressourcen zur Verfügung (kritischer Bereich). Bis 2020 ist der Anteil der Personen im kritischen Bereich auf 29,6 Prozent gestiegen und der Anteil im vorteilhaften Bereich auf 25 Prozent gesunken (Gesundheitsförderung Schweiz 2020). Der durchschnittliche Anstieg im Job-Stress-Index ist statistisch signifikant, sodass von einem Trend zu mehr Belastungen und weniger zur Verfügung stehenden Ressourcen zur Arbeitsbewältigung gesprochen werden kann, was sich in steigendem Stress niederschlägt – mit den bereits geschilderten negativen Konsequenzen für Wohlbefinden und Gesundheit.
Zusätzlich zu eingeschränktem Wohlbefinden und negativen Auswirkungen auf die individuelle Gesundheit haben Stress und stressbedingte Erkrankungen auch starke wirtschaftliche Konsequenzen: Der Stressreport Deutschland geht von mehr als 50 Milliarden Euro (rund 49 Milliarden Franken) Kosten für Wirtschaft und Krankenkassen pro Jahr durch stressbedingte psychische und körperliche Erkrankungen aus (Bundesanstalt für Arbeit und Arbeitsmedizin 2020). Und das Schweizerische Staatssekretariat für Wirtschaft SECO
Abb. 10. Forschungsergebnisse aus dem Bereich der Umweltpsychologie zeigen, dass Wälder ein grosses Potenzial für die Erholung und Gesundheitsförderung haben. Der Forschungsbereich der «Erholungsförderlichen Umwelten» geht der Frage nach, warum und unter welchen Umständen manche Umwelten und Landschaften stärker zu Gesundheit und Wohlbefinden beitragen als andere Landschaften.
bezifferte bereits für das Jahr 2003 die Kosten durch Stress in der Schweiz mit 7,8 Milliarden Franken pro Jahr (R AMACIOTTI und P ERRIARD 2003).
Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass die Erholungsfunktion nicht einfach nur ein unspezifisches Erholen meint, sondern eine für Individuum, Gesellschaft und Wirtschaft notwendige Funktion darstellt. Ohne adäquate Erholung von Stress und Beanspruchung nehmen Gesundheitszustand, Wohlbefinden und Leistungsfähigkeit ab, die Häufigkeit von Erkrankungen in der Gesellschaft (Morbidität) und die Sterblichkeit auf Grund von Erkrankungen (Mortalität) steigen. Der Gesellschaft und Wirtschaft entstehen jährliche Kosten in Milliardenhöhe. Soweit sollte deutlich werden, dass Erholung eine absolut notwendige gesellschaftliche Funktion erfüllt. Doch warum wird die Erholungsfunktion häufig mit Natur- und Wildniserleben gekoppelt? Erholung könnte doch auch an anderen Orten stattfinden, zum Beispiel in der Stadt, in Fitnessstudios, Cafés, Kinos, im Theater, im Museum oder in den eigenen vier Wänden? Dann könnte die Natur sich in Wildnisgebieten ungestört selber überlassen werden. Grundsätzlich ist das der Fall. Doch sprechen mehrere Gründe für die Wichtigkeit, Erholung in Natur und Wildnis erleben zu können: Hier müssen einerseits die bereits zuvor genannten gesellschaftlichen Funktionen von Wildnis berücksichtigt werden. Andererseits zeigt die Forschung aus dem Bereich der «erholungsförderlichen Umwelten», dass es zu einer vollständigeren und besseren Erholung kommt, wenn die Natur zu Erholungszwecken genutzt wird (Abb. 10). Um diese zu verdeutlichen werden im Folgenden Ansätze vorgestellt, mit denen Erholung und Natur zusammengebracht werden.
2.2.2 Ein Blick durch das Fenster ins Grüne
Im Jahr 1984 veröffentlichte Roger Ulrich den Artikel «View through a window may influence recovery from surgery» («Der Ausblick aus einem Fenster beeinflusst die Erholung nach einer Operation»; Abb. 11). In dem Artikel beschreibt Ulrich, dass sich eine Gruppe von Patient:innen nach einem operativen Eingriff schneller erholte, weniger Schmerzmittel benötigte und weniger negative Verlaufsbeurteilungen durch das Pflegepersonal erhielt im Vergleich zu einer anderen Patient:innengruppe. Der einzige Unterschied war, dass die Gruppe, die sich besser erholte, aus ihrem Krankenzimmer Ausblick auf Grünflächen und Natur hatte, während die Gruppe mit der schlechteren Erholung Ausblick auf eine Ziegelsteinmauer hatte (ULRICH 1984). Aus diesem Befund entwickelte Ulrich die Theorie, dass allein der Anblick von «Grün» und Natur eine entspannende, erholungsförderliche Wirkung entfaltet. Die sogenannte psycho-physiologische Stressbewältigungstheorie (ULRICH 1986; ULRICH et al. 1991) konzentriert sich auf die körperliche und psychische Reaktion, die durch bestimmte visuelle Reizmuster und optische Inhalte ausgelöst wird. Die Theorie geht davon aus, dass bestimmte visuelle Merkmale den Stressabbau unterstützen und dadurch die Erholung fördern, wie bei den Patient:innengruppen in der Studie beschrieben. Ulrich geht davon aus, dass diese körperliche und psychische Reaktion angeboren und in der Entwicklungsgeschichte des Menschen begründet ist. Stress und der Abbau von Stress spielen hierbei eine zentrale Rolle, da Stress dem Körper Anspannung, Wachsamkeit und Handlungsbereitschaft signalisiert, während Stressabbau mit einer körperlichen Entspannung einhergeht und den Organismus zur Ruhe kommen lässt. In der psycho-physiologischen Stressreduktionstheorie wird angenommen, dass ein visueller Eindruck einer Gelegenheit zu Ruhe und Entspannung positive Gefühle auslöst. Insbesondere lösen Landschaften einen Eindruck von Entspannung und positive Gefühle aus, wenn sie als leicht bis mässig interessant, angenehm und ruhig empfunden werden,
Abb. 11. Der Blick auf Natur und Grün kann Erholungs- und Entspannungsprozesse hervorrufen und laut ULRICH (1984) die Genesung fördern.
Abb. 12. Landschaften, die Merkmale einer Savanne aufweisen, lösen laut psycho-physiologischer Stressreduktionstheorie positive Gefühle und Entspannung aus (ULRICH 1984).
Porträt des Autors
Eike von Lindern, Jahrgang 1977, aufgewachsen in Norddeutschland, studierte Psychologie mit den Schwerpunkten Umwelt und Gesundheit und fertigte seine Doktorarbeit im Bereich der Förderung nachhaltigen Ökosystemmanagements an. Seit 2010 beschäftigt er sich intensiv mit MenschUmwelt Interaktionen, insbesondere im Bereich Naturerleben und Gesundheitsförderung, Förderung nachhaltigen Verhaltens und Kommunikation im Umweltbereich.
Was Wildnis ist und ob und wie wir Wildnis erhalten und fördern wollen, ist eine anhaltende, interdisziplinär geführte Debatte. Aus naturwissenschaftlicher Sicht geht es bei Wildnis um grosse Areale ohne menschliche Einflüsse, in denen die Natur sich selbst überlassen ist. Die geistes- und gesellschaftswissenschaftliche Sicht hingegen betont die Notwendigkeit und den Nutzen von Wildnis für den Menschen, zum Beispiel um die Verbundenheit mit der Natur zu stärken, Umweltschutz und Nachhaltigkeit zu fördern oder zu Erholung und Gesundheit beizutragen.
Um diesen konzeptionellen Widerspruch aufzulösen, wird Wildnis als psychologisches Konstrukt der wahrgenommenen «Wildnishaftigkeit» definiert. Am Beispiel der Erholungsfunktion wird dieser Ansatz sowohl theoretisch hergeleitet als auch in einer Feldstudie im Nationalpark Schwarzwald empirisch untersucht. Dabei werden Empfehlungen formuliert, wie das Erleben von Wildnis gefördert werden kann, und aufgezeigt, welche Forschungslücken geschlossen werden sollten, um ein ganzheitlicheres Wildnisverständnis aufzubauen.
ISBN 978-3-258-08386-5