Dominik Siegrist
Pyrenäen wanderer
Eine dokumentarische Fußreise vom Atlantik zum Mittelmeer
Dominik Siegrist
Pyrenäenwanderer
Eine dokumentarische Fußreise vom Atlantik zum Mittelmeer
Haupt Verlag
Der Autor bedankt sich bei Urs Schori für das sorgfältige Überprüfen des Manuskripts und die Unterstützung bei Recherche, Übersetzungen und Fotoauswahl. Ein großer Dank für das kritische Gegenlesen des Manuskripts geht an Anke Biedenkapp, Michael Fahlbusch, Wolfgang Glaeser, Gabi Lerch, François Meienberg, Barbara Siegrist und Verena Siegrist-Messikommer.
Für weitere vielfältige vielfältige Unterstützung dankt der Autor Hansueli Alig, Daniel Anker, Werner Bätzing, Daniela Beigel, Lambert Colás, Barbara Ehringhaus, Annette Fluri, Sylvia Hamberger, Werner Hochrein, Markus Keller, Christoph Küffer, Karin Meier, Rolf Meier, Martina Munz, Mechtild Rössler, Julia-C. Sanz, Harry Spiess und Andreas Voth.
Die Schilderungen in diesem Buch beziehen sich im Wesentlichen auf den Stand von Sommer/Herbst 2023.
Das vielseitige Angebot des kleinen Refugi Ernest Mallafré im Aiguestortes-Nationalpark
Von den Alpen in die Pyrenäen
Die Alpen kennen wir seit vielen Jahren sehr gut. Nun wagten wir einen Blick über unsere Hausberge hinaus und fuhren in die Pyrenäen, deren südeuropäisches Schwestergebirge. Sie sind ein sehr vielfältiger Faszinationsraum voller großartiger Natur- und Kulturlandschaften und reichen von den grünen Vorgebirgen des Baskenlandes über die Dreitausender Aragóns und Kataloniens bis zu den östlichen Ausläufern am Mittelmeer. Die Pyrenäen sind ein bezauberndes, in Natur, Kultur und Geschichte einzigartiges Gebirge. Anders als die Alpen sind sie bis heute zu großen Teilen durch wilde und einsame Gegenden geprägt, ihre Wege sind zuweilen rau und manchmal weit.
Zwischen den Alpen und den Pyrenäen gibt es einige Unterschiede. Die Pyrenäen sind viel kleiner. Mit 430 Kilometern sind sie ein Drittel so lang wie die Alpen, und ihre höchsten Gipfel sind mit 3 400 Metern etwas kleiner. An den Pyrenäen haben drei statt acht Staaten Anteil. Sie sind weniger dicht besiedelt als die Alpen. Besonders in höheren Lagen über 1 500 Metern gibt es kaum mehr Dauersiedlungen. Punktuell stößt man immer wieder auf touristisch intensiv genutzte Orte, seien es Skistationen, Urlaubsresorts oder auch National- und Naturparks.
Gemeinsam mit den Alpen ist den Pyrenäen der Charakter als einer der großen Naturräume und eines der wichtigsten Rückzugsgebiete für Tiere und Pflanzen in Europa. Wie die Alpen verfügen die Pyrenäen über eine lange Tradition der Berglandwirtschaft. Sie ist jedoch extensiv geprägt, vergleichbar mit den Seealpen in Frankreich und Italien. Die Alpen wie die Pyrenäen sind Grenzgebirge, die verbindend wie auch trennend wirken. Und sie sind ein beliebtes Urlaubsziel für Touristinnen und Touristen aus dem In- und Ausland.
Mit PirPedes wollten wir einige spanische und französische Pyrenäenregionen wandernd kennenlernen. Dabei ging es uns darum, unterwegs Erlebtes und Erfahrenes mit Erkenntnissen zu verbinden. Wir dokumentierten, was wir sahen, hörten zu, knüpften Kontakte und führten viele Gespräche mit Menschen, die wir unterwegs trafen. Eine wichtige thematische Grundlage war für uns der zweiteilige Pyrenäen-Wanderführer von François Meienberg, der im Zürcher Rotpunktverlag erschienen ist. In seinen Bänden vermittelt Meienberg neben den Wanderbeschreibungen viele interessante Informationen zu den Pyrenäen.
Wir folgten der geografischen Methode, mit der früher Reisende, Gelehrte, Literatinnen und Literaten ihnen unbekannte Gegenden wandernd erforschten und dazu Reiseberichte verfassten. In diesem Sinn will das vorliegende Buch als Lesebuch über die Erkenntnisse unserer Pyrenäenwanderung berichten und dazu interessante Geschichten erzählen. Damit sollen die Pyrenäen auch Sofawandernden, die keine Wanderung in den Pyrenäen planen, nähergebracht werden.
Der «Pyrenäenwanderer» geht den Themen nach, denen wir auf unserer Wanderung begegnet sind. Er berichtet von den höchsten Gipfeln, letzten Gletschern und schönsten Tälern der Pyrenäen, von der Vielfalt der Pflanzen- und Tierwelt, von den vielen Großschutzgebieten über den Bergbau und die Berglandwirtschaft bis hin zum Tourismus und zu den Folgen der Klimaerwärmung. Der parallel zum Alpinismus entstandene «Pyrenäismus», die ältere und jüngere Geschichte der französischen und spanischen Pyrenäenregionen und die Franco-Zeit und ihre Folgen sind ebenso Thema wie die Autonomiebestrebungen im Baskenland und in Katalonien.
Donastia, Euskal Herria und Kantauri
Von Pasaia nach Bera
Unsere Wanderung vom Atlantik ans Mittelmeer starten wir auf dem Monte Urgull, dem kleinen Felsbuckel mitten im Zentrum von San Sebastián. Von hier aus hat man den besten Blick auf die Altstadt, die von den gelblich schimmernden Sandstränden La Concha im Westen und La Zurriola im Osten eingerahmt ist. Im Süden ragen die ersten Pyrenäenberge in den Himmel, im Norden leuchtet tiefblau die Kantauri – das ist der baskische Name für die Biskaya.
Der Monte Urgull hat große Bedeutung für die Einheimischen, nicht nur wegen der weithin sichtbaren Christusstatue und der wundervollen Aussicht, sondern auch wegen seiner bewegten Geschichte. Von hier aus eroberten 1813 portugiesisch-englische Truppen die von Napoleon besetzte Stadt zurück, plünderten und brannten sie bis auf die Grundmauern nieder. Unten in der Altstadt erinnert die «Straße des 31. August» an die Brandkatastrophe. Großzügige Sandsteinbauten mit gedeckten Balkonen säumen die Straße, in der schon am späten Nachmittag reges Treiben herrscht. Die Bars bereiten sich auf den Abend vor, wenn Einheimische, Touristinnen und Touristen kommen, um bei «Sagardoa», dem traditionellen Apfelwein, und «Pintxos», der baskischen Art von Tapas, den Abend einzuläuten. Wir machen in der Bar Etxeberria halt. Nach diesem Apéro sind wir satt und verzichten sehr gern auf das Abendessen.
San Sebastián, das auf Baskisch Donostia heißt, ist traditionell ein begehrter Aufenthaltsort der wohlhabenden Eliten aus Zentralspanien. Seine jüngere Geschichte ist eng mit dem Franquismus verknüpft. Von 1941 bis 1975 residierte der spanische Diktator Francisco Franco hier jedes Jahr im August in seiner Sommerresidenz Aiete im Zentrum der Stadt. Das weiß getünchte Herrenhaus, das im klassizistischen Stil erbaut wurde, beherbergt heute die «Casa de la Paz y los Derechos Humanos», das Haus des Friedens und der Menschenrechte. Ihren baskischen Namen durfte die Stadt erst nach Francos Tod wieder tragen.
Das Baskenland wurde wie andere spanische Regionen 1975 teilautonom und bekam weitergehende Rechte zurück. Wie das Galicische und das Katalanische erhielt das Baskische damals den Status einer offiziellen Amtssprache. Seither wird es gezielt gefördert. Eine zentrale Rolle spielten in der ersten Zeit die «Ikastolas»,
Ein Meeresarm trennt den ehemaligen Fischerort Pasaia Donibane vom Großraum Donastia – San Sebastián
die baskischen Schulen, die noch unter der Franco-Diktatur gegründet worden waren. Lehrerinnen und Lehrer unterrichteten die Kinder freiwillig in ihren eigenen Wohnungen und wandten dabei fortschrittliche Konzepte an.
Der Streit um die eigene Sprache und Kultur prägt die Geschichte Euskal Herrias, des Baskenlandes, bis heute. Keine andere Sprache der Welt hat Ähnlichkeiten mit ihr, ihre Herkunft ist nicht geklärt. Die ersten schriftlichen Zeugnisse stammen aus der Zeit der Iberer vor über zweitausend Jahren. Das Baskische ist ein Symbol für die Unabhängigkeit der Region. Es wurde über die Jahrhunderte immer wieder unterdrückt, von den Römern über die spanischen Könige bis hin zur FrancoDiktatur.
Am ersten Tag unserer Wanderung nehmen wir zunächst einmal den Stadtbus. Er bringt uns von der Okendo Kalea im Zentrum Donostias hinüber zum Hafen Pasaia. Dort setzen wir mit einem kleinen Boot ins malerische Fischerdorf Pasai Donibane auf der anderen Seite des Meeresarms über. Der Fährmann weist uns extra auf die kleine Gedenkstätte «Humilladero de la Piedad» hin, sie erinnert an den Sieg der Basken über den Invasor Karl den Großen bei Roncesvalles. Das ist kein Zufall. Der lange Kampf um Eigenständigkeit hat die Geschichte des Baskenlandes geprägt. Er mündete in den 1970er-Jahren in einen regionalen Nationalismus, der bis heute das politische Leben der Region dominiert.
Die Nationalpartei des Baskenlandes Eusko Alderdi Jeltzalea wurde 1895 gegründet. Sie vereinte von Anbeginn zwei gegensätzliche Lager: die auf Unabhängigkeit der Baskinnen und Basken fixierten radikalen Nationalistinnen und Nationalisten und die bürgerlichen Liberalen, die auf eine weitgehende baskische Autonomie innerhalb Spaniens setzten. Während der Zweiten Spanischen Republik hatte das Baskenland 1936 für wenige Monate ein Autonomiestatut erhalten, das Franco nach seiner Machtübernahme strich.
Die Küste mit ihren Werften und großen Gebäuden erinnert immer auch an die andere Geschichte des Baskenlandes. Mit seinen Rohstoffen, dem Meereszugang und seiner Schwerindustrie erlangte es schon früh eine Sonderstellung. Seit dem Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts zogen die baskischen Fabriken viele Arbeitskräfte aus ganz Spanien an. Diese brachten sozialistische Ideen mit. Bis in die 1970er-Jahre war das Baskenland eines der wichtigsten Zentren der spanischen Gewerkschaften. Noch heute findet ein erheblicher Teil der Streiks in Spanien im Baskenland statt, die baskischen Tarifverträge sind im Schnitt besser als im restlichen Spanien.
Wir schultern unsere Rucksäcke und spazieren auf der gepflasterten Gasse durch den Ort Pasai Donibane zwischen den alten, bunt gestrichenen Steinhäusern hindurch, die dicht aneinandergedrängt am Hang zu kleben scheinen. Auf der Plaza Santiago gibt es noch einen Café con leche, dann wandern wir los. Nicht weit vom Dorfkern entfernt liegt unterhalb des Weges eine Felsplatte knapp über dem Wasser. Sie ist mit mannsgroßen weißen Figuren bemalt. Eine Hinweistafel erinnert daran, dass hier am 22. März 1984 vier Mitglieder des baskischen «Komando Autonomo Mendeku» von der spanischen Nationalpolizei erschossen wurden. Einen knappen Monat zuvor hatten Mitglieder dieser Gruppierung den baskischen Senator Enrique Casas ermordet. Er war als führender sozialistischer Politiker des Baskenlandes zur Zielscheibe der Untergrundkämpfer geworden.
Das «Komando Autonomo Mendeku» war eines jener marxistisch, teils anarchistisch geprägten antikapitalistischen Kommandos, die ohne zentrale Führung operierten. Auf ihr Konto gingen zahlreiche politische Morde, die vom spanischen Zentralstaat postwendend gerächt wurden. Nach der Tötung des baskischen Sozialistenführers liquidierten Auftragsmörder mehrere Basken, darunter den im französischen Exil lebenden ETA-Politiker Herri Batasuna. Er war gewähltes Mitglied des baskischen Parlaments und Bürgermeisterkandidat in Bilbao. ETA steht für «Euskadi ta Askatasuna», Baskenland und Freiheit. Verdeckt agierende Kommandos gingen von 1983 bis 1987 in Spanien und Frankreich aktiv gegen die ETA und den baskischen Separatismus vor. Diese Todesschwadronen brachten Dutzende ETA-Mitglieder und auch Unbeteiligte um. Sie wurden von der Regierung des sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Felipe González geduldet. Verschiedene hohe Beamte wurden später zu langjährigen Haftstrafen verurteilt.
Für mich ist es noch heute eine offene Frage: Wie nur konnte es so weit kommen, dass selbst Jahre nach dem Ende der Diktatur spanische Politiker und Polizisten und auch Unabhängigkeitskämpfer auf helllichter Straße erschossen wurden? Ein Schlüssel dafür liegt vielleicht in den Jahren nach dem Bürgerkrieg, als das Baskenland besonders stark unter dem Terror des Franco-Regimes litt. Zehntausende Basken und Baskinnen wurden damals in Konzentrationslager gesteckt, Tausende ohne Gerichtsurteil hingerichtet. 1959 wurde die Unabhängigkeitsbewegung ETA gegründet. Ab der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre verübte sie Banküberfälle, Bombenanschläge und Attentate.
Am aufsehenerregendsten war der Mord am designierten Franco-Nachfolger Luis Carrero Blanco. Er wurde 1973 mitten in Madrid mit seinem Auto in die Luft gesprengt. Im Gegenzug ließ Franco noch kurz vor seinem Tod fünf Widerstands-
Höhenwanderung über den Jaikibel und Abstieg nach Hondarribia
kämpfer hinrichten. Knapp zwanzig Jahre später erklärte König Juan Carlos einem Historiker gegenüber, dass der Tod von Blanco der Entwicklung in Spanien einen mächtigen Schub verliehen habe. Selbstverständlich lehne er Attentate entschieden ab, aber ohne die Ermordung Blancos würde Spanien nicht dort sein, wo es heute steht. Zwischen 1960 und 2010 wurden von der ETA über achthundert Menschen umgebracht, der spanische und der französische Staat töteten in der gleichen Zeit mehrere Hundert Menschen, Tausende wurden in Gefängnissen brutal gefoltert. 2011 stellte die ETA den bewaffneten Kampf ein, 2018 gab sie ihre Auflösung bekannt.
Wir gehen bis zum äußeren Ende der Bucht und steigen auf einem Wanderweg steil bergauf. Der Weg führt über den Pyrenäenausläufer Jaizkibel, der sich über gut zehn Kilometer Länge hoch über der Atlantikküste von Pasaia nach Hondarribia zieht. Schon bald wandern wir den Gratweg entlang. Es ist ein klarer Tag und die Aussicht wundervoll. Unter uns breitet sich die Weite des Atlantiks aus. Weiter nördlich reicht der Blick auf die französische Atlantikküste mit Biarritz und seinen Dünen. Unser erster Gipfel liegt exakt 545 Meter über der schimmernden Meeresoberfläche.
Während der Gipfelrast erreicht meine Partnerin Annette und mich eine wunderbare Überraschung per Whatsapp: Unsere dritte Enkelin Teresa ist zur Welt gekommen. Voller Freude nehmen wir an diesem schönen Ort die Gratulationen der Mitwandernden entgegen. So wie es auf diesem Berg Tradition ist, schreibe ich für die kleine Teresa meine guten Wünsche auf ein Stück Papier und stecke es in die Metallbüchse, die hier das Gipfelbuch ersetzt. Dann geht es weiter. Einige Kilometer später wird unter uns das baskische Küstenstädtchen Hondarribia sichtbar. Es schmiegt sich an den breiten Mündungsarm des Grenzflusses Bidassoa, auf der anderen Seite liegt Hendaye, der bekannte Badeort im französischen Teil des Baskenlandes.
In Hondarribia empfängt uns Tomas, der Bruder eines Arbeitskollegen, beide sind Basken. Mit seinen Shorts, seinen offenen Sandalen und seinem freundlichen Lachen im Gesicht ist er an diesem sommerlichen Ort genau richtig. Am Abend führt uns Tomas durch die gut erhaltene Altstadt mit ihren historischen Herrenhäusern. In der Portua, dem Marina-Viertel, prägen Riegelbauten mit bunten Holzbalkonen die Szenerie. Es gibt viele kleine Bars, in denen sich früher die Einheimischen trafen. In den letzten Jahren seien die Altstadt und die Uferpromenade aber mehr und mehr von Auswärtigen eingenommen worden, erzählt uns Tomas. Erst seien zahlungskräftige Madrileninnen und Madrilenen gekommen,
zuletzt immer öfter auch gut verdienende Mittelschichtler aus der Provinz. Sie hätten für teures Geld Häuser und Wohnungen gekauft, um hier im Sommer ein paar Wochen zu verbringen. Das habe die Wohnungspreise stark in die Höhe getrieben, viele Einheimische könnten sich die Mieten nicht mehr leisten und müssten wegziehen. Während unseres Spaziergangs grüßt Tomas immer wieder Bekannte, darunter auch den neuen «Alcalde» Igor Enparan Araneta. Dieser hat vor seiner Wahl zum Bürgermeister versprochen, sich gegen die Wohnungsspekulation und für bezahlbaren Wohnraum zu engagieren.
Die Sommer hier seien wunderbar, erzählt Tomas. Doch am besten gefalle ihm seine Heimatstadt jeweils im Winter, wenn Stürme über die Biskaya peitschten und hohe Wellen gegen das Ufer schlügen. Das wecke in ihm Erinnerungen an die alten Basken, die zum Walfang in den Nordatlantik aufbrachen. Eine gefährliche Arbeit sei das gewesen, viele seien nicht mehr zurückgekehrt. Er denke dann auch an die Bevölkerung, die unter den Kriegen zwischen den Königreichen von Navarra, Kastilien und Frankreich so stark gelitten hat. Im Winter danach wird mir Tomas ein kurzes Video von der stürmischen Biskaya senden und dazu schreiben: «Das ist das Meer, wie wir es lieben!» Und mich bei dieser Gelegenheit darauf hinweisen, dass die Biskaya auf Baskisch «Kantauri Itsasoa» heißt.
An einigen Häusern hängen Fahnen mit der Aufschrift «Euskal Preso eta Iheslariak Etxera», Etxera – baskische Gefangene und Flüchtlinge. Sie weisen auf die vielen Basken und Baskinnen hin, die wegen ihrer Unterstützung für die baskische Widerstandsbewegung ETA lange Jahre inhaftiert worden sind. Die meisten weit weg vom Baskenland, um den Angehörigen den Besuch zu erschweren. Die Organisation Extera forderte die spanische Regierung immer wieder auf, die Gefangenen zu amnestieren oder wenigstens in baskische Gefängnisse zu verlegen. Letzteres sei unterdessen weitgehend geschehen, berichtet Tomas.
Die Auseinandersetzungen zwischen der Autonomiebewegung und dem spanischen Zentralstaat erlebte Tomas in Hondarribia hautnah mit. In den 1970er-Jahren habe er als Vierzehnjähriger gesehen, wie die spanische Polizei auf demonstrierende Arbeiterinnen und Arbeiter eingeprügelt habe. Streiks, AKW-Widerstand und Demos für die baskische Sache seien damals an der Tagesordnung gewesen. Tomas erzählt vom Terror der Behörden, vom Verbot von politischen Parteien und sozialen Organisationen bis hin zur Schließung von Tageszeitungen. Bis heute ist für Tomas das Engagement für die Autonomie des Baskenlandes nicht von der sozialen Frage zu trennen.
Am nächsten Morgen wandern wir weiter, quer durch die grenzüberschreitende Agglomeration von Irún und Hendaye. Die spanisch-französische Grenze überqueren wir auf einer breiten Brücke, wir verlassen damit das spanische Baskenland. Früher befand sich hier ein streng bewachter Zoll, heute ist weit und breit kein Grenzwächter mehr zu sehen. Davon lässt man sich aber besser nicht täuschen, immer wieder führt die Grenzpolizei scharfe Kontrollen durch, um außereuropäische Migrantinnen und Migranten abzufangen. In den letzten Jahren sind hier immer wieder Flüchtende beim Versuch, den Bidasoa-Fluss zu überqueren, im Wasser ertrunken. In Hendaye fällt uns als Erstes die von baskischen Aktivistinnen und Aktivisten schwarz übermalte Ortstafel auf: Hendaye heißt auf Baskisch Hendaia.
Wir wandern auf der nördlichen Seite den Grenzfluss entlang und schauen auf die Fasaneninsel hinüber, wo Spanien und Frankreich vor bald vierhundert Jahren den legendären Pyrenäenfrieden geschlossen haben. Darin wurde der Grenzverlauf durch die Pyrenäen festgelegt, der bis heute weitgehend gültig ist. Am Ortseingang von Biriatou treffen wir auf eine Tafel mit dem Hinweis auf den Partnerort Portbou, das Ziel unserer Reise am Mittelmeer. Die Autobahn, unter der wir hier durchgehen, ist die letzte bis knapp vor der Mittelmeerküste.
Dann folgt der Aufstieg auf unseren zweiten Pyrenäenberg, den Grenzgipfel Manttale, der mit knapp 600 Metern noch eine bescheidene Höhe aufweist. Es ist eine einsame Gegend, durch die wir wandern. Auf den grasigen Halden wachsen Sträucher und Büsche. Wir begegnen keiner Menschenseele. Das Wetter verschlechtert sich, im diesigen Nachmittagslicht sind die Bergkuppen kaum noch zu erkennen. Plötzlich umgibt uns dichter Nebel, und wir wissen nicht mehr, wo wir sind. Geht es auf dem Grat links oder rechts weiter? Mit Karte und Kompass können wir uns zum Glück orientieren. Schließlich gelangen wir hinunter ins baskische Dorf Bera, nun wieder auf der spanischen Seite der Grenze. Wir gehen zuerst ins Dorfrestaurant und löschen mit einem «Sagardoa» unseren Durst, bevor wir unser Hotel aufsuchen.
La Rhune, Zugarramurdi und Bertzeak
Von Bera nach Puerto de Urquiaga
In seinem Buch «Auf versunkenen Wegen» schreibt der französische Schriftsteller und Weitwanderer Sylvain Tesson von der «dritten Form des Landlebens». Er meint damit die Stadtflüchtigen. Sie hätten festgestellt, dass ein Leben im Hamsterrad schlimmer sei als ein Leben ohne Heizung, sie seien deshalb aufs Land gekommen – mit dem Wissen, wie viel es sie koste, das ewige Einerlei aufzugeben. Ihr Drehbuch sei das von der Rückkehr gewesen, sie hätten ein Traumgebilde bedient. Sylvain Tesson kommt mir auf dem Weg durch die abgelegenen westlichen Pyrenäen immer wieder in den Sinn.
In Bera liegt unser Hotel am Rand eines Gewerbeparks mit Fabriken, Lagerhallen und großen Camions. Dort werden wir um neun Uhr abends zu einem opulenten Abendessen erwartet. Ich bin noch am nächsten Morgen satt davon, deshalb macht es mir nichts aus, dass es kein Frühstück gibt. Am Ortsende geht es auf einer Wegspur durch Wald und Unterholz hinauf in Richtung des Larrun. Es windet heftig, und beim Aufstieg durch die abschüssigen Halden habe ich das erste Mal richtig das Gefühl, in den Bergen zu sein. Dann tauchen wir auch noch in den Nebel ein. Auf dem Gipfel angekommen, setzen wir uns ins Bergrestaurant, denn von dem viel gerühmten weiten Blick auf Meer und Pyrenäen ist nichts zu sehen.
Der Larrun-Gipfel liegt auf der französisch-spanischen Grenze. Larrun ist der baskische Name, La Rhune der französische, er bedeutet so viel wie reichhaltige Weide. Mit seinen 900 Metern über Meer ist er einer der beliebtesten Ausflugsberge der Region. Von Sare hinauf führt eine Zahnradbahn, die kürzlich renoviert wurde. Mit ihren alten Kompositionen erinnert sie an die Gründungszeit vor hundert Jahren. Bei einer Höchstgeschwindigkeit von neun Kilometern pro Stunde sind die Züge auch heute noch sehr gemächlich unterwegs. Am Kiosk erstehe ich einen Aufnäher, der für den Rest der Wanderung meinen Rucksack zieren wird. Darauf sind der Berggipfel samt Berghaus und der Schriftzug «La Runhe» gestickt. Dass der Name des Berges falsch geschrieben ist, macht den Aufnäher für mich einzigartig.
Vom La Rhune wandern wir ins französische Sare hinunter, ein Dorf in Iparralde, wie das Baskenland in Frankreich auf Baskisch heißt. Der Weg ist steil
und steinig – nicht ganz ohne für die vielen Ausflüglerinnen und Ausflügler, die mit der Bahn hochgefahren sind. In Sare prägen weiß getünchte Sandstein- und Riegelhäuser in traditioneller baskischer Architektur das Ortsbild. Zu Recht trägt das Dorf mit 176 weiteren Gemeinden die Auszeichnung der «schönsten Dörfer» Frankreichs. Wegen seiner Nähe zu den Seebädern der Atlantikküste ist es ein traditioneller Freizeitort. Wir übernachten im Hotel Pikassaria etwas außerhalb und bekommen so vom abendlichen Treiben im Dorfzentrum nur wenig mit.
Eine einheitliche Entwicklung in den Pyrenäen gibt es nicht. Entsprechend vielfältig sind die Muster ländlicher Entwicklung. Den meisten Bergregionen gemeinsam ist, dass sie strukturschwach sind und viele Junge abwandern. Es gibt auch große Unterschiede zwischen den spanischen und den französischen Pyrenäen und Andorra. Die spanischen Täler an den Hauptverkehrsachsen profitieren vom Einkaufstourismus. An einigen Orten hat sich ein intensiver Sommer- und Wintertourismus etabliert. Umgekehrt sind viele Berggebiete des Baskenlandes und von Navarra teilweise noch heute stark von der Landwirtschaft geprägt. Entsprechend gering sind dort die Verdienstmöglichkeiten. Der Tourismus entlang der Weitwanderwege bietet der lokalen Bevölkerung punktuell Einkommen. In Orten wie Roncesvalles oder Núria bildet der Pilgertourismus eine wichtige Basis der regionalen Wirtschaft. Die Gebiete ganz im Westen und ganz im Osten wiederum profitieren vom Küstentourismus.
Die Umweltschutzorganisation Mountain Wilderness Catalunya kritisiert, dass die Diskrepanz zwischen ländlichen Gebieten und touristischen Ballungsräumen in den Pyrenäen immer größer werde. Vor allem den Jungen fehle die Perspektive, viele seien zur Abwanderung gezwungen – entweder weil sie keine Arbeit fänden oder weil in den Tourismuszentren die Wohnungen unerschwinglich geworden seien. Auf einen touristischen Hotspot stoßen wir gleich zu Beginn dieser Etappe. Nach kurzer Wanderung durch die Hügellandschaft erreichen wir die Kalkgrotten von Sare. In diesen Grotten hätten vor Tausenden von Jahren Höhlenbären und später Steinzeitmenschen gehaust, erzählt uns eine Höhlenführerin. Heute werden die Grotten von Touristen heimgesucht.
Eine Wegstunde weiter sind wir im spanischen Navarra. Dort zieht uns die Hexenhöhle von Zugarramurdi in ihren Bann. Um sie ranken sich zahlreiche Mythen, die im Zusammenhang mit der Inquisition und den Hexenverfolgungen stehen. Vor über vierhundert Jahren kam es hier zu einem dramatischen Hexenprozess, bei dem fast das ganze Dorf vor dem Inquisitor stand. Am Schluss wurden
Auf dem Gipfel des Ausflugsberges Larrun
Die Pyrenäengämse ist eine geschickte Kletterin, die sich je nach Jahreszeit von Kräutern, Gräsern, Moosen, Flechten und anderen Pflanzen ernährt
Autor
Seit seiner Emeritierung ist der Geograf und Landschaftsplaner Dominik Siegrist als Alpen- und Klimawanderer unterwegs. Zuvor arbeitete er 25 Jahre als Lehrer und Forscher an der Ostschweizer Fachhochschule in Rapperswil. Von 2004 bis 2014 war er Präsident der Internationalen Alpenschutzkommission CIPRA und 2018 bis 2023 Co-Präsident des Vereins Klimaschutz Schweiz. 2017 war er Mitinitiant der thematischen Alpendurchquerung «whatsalp», 2021 der thematischen Weitwanderung «Klimaspuren» quer durch die ganze Schweiz. Im Jahr 2020 ist das Buch «Alpenwanderer – Eine dokumentarische Fußreise von Wien nach Nizza» erschienen, 2022 das Buch «Auf Klimaspuren – Eine Expedition von Ilanz nach Genf» (gemeinsam mit Köbi Gantenbein und Zoe Stadler).
Dominik Siegrist Alpenwanderer
Eine dokumentarische Fußreise von Wien nach Nizza
232 Seiten, durchgehend farbige Fotos
Flexobroschur, Format 14,5 × 21,5 cm
ISBN 978-3-258-08122-9
800 Kilometer, 119 Tage und zwei Paar Wanderschuhe – Alpenforscher Dominik Siegrist wanderte im Sommer 2017 mit Freunden von Wien nach Nizza. Whatsalp, so der Name des Projekts, war aber deutlich mehr als eine Weitwanderung. So ging es bei der Reise darum, den Zustand der Alpen zu erkunden. Siegrist und seine Mitwandernden sprachen mit Alpenbewohnern, sie diskutierten mit Umweltaktivisten, trafen Tourismusmanager und befragten Forscherkollegen. Immer wieder ging es um die Fragen: Müssen Natur und Tourismus Gegensätze sein? Wie lässt sich die Zerstörung des Alpenraums durch Verkehr und Klimawandel aufhalten? Haben junge Menschen noch eine Zukunft in ihrer Heimat? «Alpenwanderer» ist Ausdruck einer großen Liebe, ein stilles Manifest für den Lebens- und Naturraum Alpen.
1. Auflage: 2024
ISBN 978-3-258-08398-8
Lektorat: Martin Vetterli
Gestaltung und Satz: Die Werkstatt Medien-Produktion GmbH, D-Göttingen
Korrektorat: Monika Paff, D-Langenfeld
Fotonachweis: Karte © www.thunderforest.com, Daten © www.osm.org/copyright: Vor- und Nachsatz; Hansueli Alig: 48/49; Wolfgang Glaeser: 88; Mountain Wilderness Catalunya: 72; PirPedes: 194/195; Urs Schori: 10/11, 26/27, 46/47, 52, 58/59, 60/61, 63, 68/69, 108/109,120/121, 132/133, 140/141, 142/143, 179, 184/185, 212/213; Harry Spiess: 38/39, 154/155; Alle anderen Fotos stammen vom Autor.
Alle Rechte vorbehalten.
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Jede Art der Vervielfältigung ohne Genehmigung des Verlags ist unzulässig.
Wir drucken mit mineralölfreien Farben und verwenden FSC®-zertifiziertes Papier. FSC® sichert die Nutzung der Wälder gemäß sozialen, ökonomischen und ökologischen Kriterien. Gedruckt in der Tschechischen Republik
Diese Publikation ist in der Deutschen Nationalbibliografie verzeichnet. Mehr Informationen dazu finden Sie unter http://dnb.dnb.de.
Der Haupt Verlag wird vom Bundesamt für Kultur für die Jahre 2021–2024 unterstützt.
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Wir verlegen mit Freude und großem Engagement unsere Bücher. Daher freuen wir uns immer über Anregungen zum Programm und schätzen Hinweise auf Fehler im Buch, sollten uns welche unterlaufen sein.
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Im Sommer 2023 wanderte Dominik Siegrist mit Freunden während achtzig Tagen rund 1000 Kilometer durch die Pyrenäen – vom Atlantik bis zum Mittelmeer. In diesem Buch dokumentiert er seine einzigartige Tour. Zwischen dem baskischen Donostia und dem katalanischen Portbou erkundeten die Pyrenäenwandernden die vielfältigen Natur- und Kulturlandschaften dieses einzigartigen südeuropäischen Schwestergebirges der Alpen.
Die Pyrenäen sind zu großen Teilen eine wilde und einsame Gegend, die Wege sind rau, steil und lang. Sie sind aber auch ein wunderschönes, ökologisch, kulturell und historisch äußerst interessantes Gebirge mit vielfältigen Gegenden – von den grünen Vorgebirgen des Baskenlandes im Westen über die Dreitausender Aragóns und Kataloniens bis hin zu ihren östlichen Ausläufern am Mittelmeer.
Seit seiner Emeritierung ist der Geograf und Landschaftsplaner Dominik Siegrist als Alpen- und Klimawanderer unterwegs. Zuvor arbeitete er 25 Jahre als Lehrer und Forscher an der Ostschweizer Fachhochschule in Rapperswil. Von 2004 bis 2014 war er Präsident der Internationalen Alpenschutzkommission CIPRA und von 2018 bis 2023 Co-Präsident des Vereins Klimaschutz Schweiz. 2017 war er Mitinitiant der thematischen Alpendurchquerung «whatsalp», 2021 der thematischen Weitwanderung «Klimaspuren» quer durch die ganze Schweiz.
ISBN 978-3-258-08398-8