Peter Boerboom und Tim Proetel
Linien Ăźberall entdecken und zeichnen
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Über Linien – Linien überall
Wer hat nicht schon einmal mit den Zehen lustvoll Linien in den Sand gezogen, sie betrachtet und dabei zugesehen, wie sie im nächsten Augenblick unter einer Welle verschwinden? Menschen werden das bereits getan haben, lange bevor sie auf Wänden, Tafeln, Vasen oder Fellen Zeichen angebracht haben, die überdauerten: eine Lebensspanne, eine Epoche, bis heute. Verschiedene Mythen und Erklärungen ranken sich um die Erfindung der Zeichenkunst. Da ist die junge Frau aus Korinth, Tochter des Töpfers Butades, die das Schattenbild ihres Geliebten mit einem Stück Kohle an der Wand festhält. So behält sie immerhin ein Bild von ihm, auch wenn er fort sein wird. Da sind außerdem die überdauerten Zeugnisse vom Gestaltungswillen früher Menschen, die mit Werkzeugen Linien in Knochen, Felsen oder Ton ritzten. In der Wüste Perus haben sie einst kilometerlange, schnurgerade Linien und riesige Symbole in den Wüstenboden gezeichnet, die NazcaLinien, indem sie die oberste Schicht des Bodens abtrugen. Die Beweggründe dafür, eine Zeichnung anzufertigen, sind unterschiedlich: das Erinnern und Festhalten, das Gestalten-Wollen, das Symbolisieren und Bezeichnen. Sie sind zeitlos geblieben. Es ist eine grundlegende Kulturtechnik daraus geworden, ähnlich dem Schreiben. Nicht umsonst gehen die beiden Wörter auf dasselbe griechische Verb zurück: gráphein. In der Kalligrafie oder im Piktogramm haben Schreiben und Zeichnen ihre Nähe bewahrt. Der elementare Ausdrucksträger der Zeichnung ist die Linie. Das sagt sich so leicht, ihren Reichtum erfasst das nicht. Der zeigt sich in Formen und Materialien, in Verdichtungen, im individuellen Charakter und darin, was sie bezeichnet. Sie kann etwas mimetisch abbilden, einen Gedanken formulieren, einer Emotion Form geben und sie kann auf sich selbst verweisen. 6
Wandlungen der Form verändern die Bedeutung. Dabei vermag sich die bildhafte Linie der inhaltlichen Festlegung entziehen, sie ist weniger eindeutig als das Wort. Deswegen verlangen Bilder häufig nach Interpretation. Alle Arten von zufälligen Spuren, ob auf dem Straßenbelag oder auf Wirtshaustischen, können zur Zeichnung erklärt werden, ebenso wie die Kondensstreifen am Himmel. Diese Zeichnungen besitzen gegenüber den absichtsvoll von versierter Hand entworfenen Linien Unmittelbarkeit und Echtheit, sie sind einfach unbekümmert schön, eben weil ihnen keine gestalterische Absicht zugrunde liegt. Die Wahrnehmung von zufällig oder organisch entstandenen Strukturen und Formen hat viele Zeichnerinnen und Zeichner inspiriert und die Frage nach Absicht und Beliebigkeit im künstlerischen Handeln und Denken gestellt. Die Ausweitung des Zeichnungsbegriffs macht es nicht einfacher, zu erfassen, was für eine gute Zeichnung gehalten werden darf. Das Absichtsvolle gerät schnell in Verdacht, der Echtheit im Wege zu stehen, das Zufällige ist schön. In diesem Buch lassen wir uns von Linien leiten, experimentieren mit Möglichkeiten ihres Entstehens, erproben, wie sie zur Form werden und zum Zeichen – oder sich selbst genügen. Wir begreifen die Linie hier als einen Ausgangspunkt für das Bildermachen, nicht als Endpunkt. Nicht um Definitionen von Linie soll es gehen, sondern um die aus ihr erwachsenden Möglichkeiten. In diesem Sinne forschen wir, mit unseren Mitteln, in aller Einfachheit. Mal geplant, mal mit ungewissem Ausgang. Es braucht beides, die Offenheit für das Zufällige und die absichtsvollen Entscheidungen. Wir konzentrieren uns weitgehend auf die Linie auf dem Träger Papier, weil wir fasziniert sind von den unendlichen Varianten in der zweidimensionalen Fläche. Aber an einigen Stellen geht die Linie auch darüber hinaus, um anzudeuten, wie sie im Raum agieren kann. Viele Kunstschaffende und über Kunst Nachdenkende haben sich mit der Linie auseinandergesetzt und sich zu ihrer Funktion, ihrer Wirkung und ihrer Bedeutung für ihr Werk Gedanken gemacht. Eine kleine Auswahl an Äußerungen, die uns auf unserer Expedition entlang der Linien begegnet sind, haben wir in die Episoden dieses Buchs eingebaut. Sie zeigen, dass jedes bildnerische Handeln in Kontexten steht und sich durch diese verändert: „If you touch something you leave a charge on it, and anybody else touching it connects with you, in a way.“ El Anatsui 7
„Die Linie ist ein Punkt, der spazieren geht“, so Paul Klee über das Zeichnen. Das Schöne an seiner Formulierung ist, wie zweckfrei und leicht das Zeichnen dabei bleibt. Man sieht einen Punkt, ganz unbedarft und heiter vom Flussufer über Feldränder zwischen Hummeln und Sonnenstrahlen umherwandern, eine zarte Spur hinterlassend. Der schweifende Blick in die Landschaft, die Muße, das begleitende Gespräch, eine Berührung – durchaus beneidenswert. Doch Zeichnungen bleiben nicht immer sanfte Spaziergänge. Manchmal sind sie hastig, stolpernd, irren umher. Regen zieht auf, man rennt und ist viel zu früh erschöpft. Viele dieser Spuren verlieren sich rasch wieder. Aber einige erzählen von aufregenden Momenten: Die mentale Energie findet zur überraschenden, spannenden Form.
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[Punkt in Bewegung] 10
Eine Kugel durch flüssige Farbe losrollen lassen: Dabei nimmt sie Farbe auf und verteilt sie über das Papier. Ein Konzept, um mit dem Zufall geplant zu arbeiten. 11
[Punkt in Bewegung] 12
Der Stift als Kreisel zeichnet Bewegungen auf. Um das untere Ende eines Filzstifts herum werden gleichmäßig Gewichte befestigt, z. B. dicke Beilagscheiben. So rotiert der Stift wie ein Kreisel und hinterlässt dabei die Spur seiner Bewegung auf dem Papier. Zum blütenartigen Muster werden die Linien erst dadurch, dass die deutende Wahrnehmung sie mit bekannten Formen abgleicht. 13
[Punkt in Bewegung] 14
Die zunehmende Perfektionierung in der Gestaltung der Dinge führte in der Moderne zu einer Gegenbewegung: der Lust am Krakeligen und Unbestimmten. Absichtslose Linien finden sich fast überall, etwa die Spuren von Katzenkrallen auf dem Leder (links). Um absichtlich Zufälliges zu zeichnen, muss man ein bestimmtes Setting schaffen, etwa mit Tinte getränkte Fäden über das Papier ziehen (rechts). 15
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„Sie [die Linie] ist die Spur des sich bewegenden Punktes, also sein Erzeugnis. […] Hier wird der Sprung aus dem Statischen in das Dynamische gemacht.“ Wassily Kandinsky 17
[Punkt in Bewegung] 18
Die, die aus der Reihe tanzen, brauchen mehr Platz. 19
Bisher erschienene BĂźcher von Tim Proetel und Peter Boerboom im Haupt Verlag:
Peter Boerboom und Tim Proetel
Raum
Illusion mit Methode Ideen zum räumlichen Zeichnen
Peter Boerboom und Tim Proetel
Licht
Illusion aus Hell und Dunkel Wie kommt das Licht in die Zeichnung?
Peter Boerboom und Tim Proetel
Bewegung Illusion auf Papier Methoden zum Zeichnen von Geschwindigkeit
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Peter Boerboom und Tim Proetel
Figur Menschen zeichnen entdecken, e tdecke , sk skizzieren, e experimentieren
Peter Boerboom Tim Proetel
Farbe Material & Wirkung wahrnehmen und experimentieren
Tim Proetel und Peter Boerboom studierten zwischen 1991 und 1998 an der Akademie der Bildenden Künste München bei Prof. Sauerbruch. Es verbindet sie eine lange Freundschaft, die immer wieder zu gemeinsamen Arbeiten führt. Das vorliegende Buch ist das jüngste Ergebnis ihrer Zusammenarbeit, vieler Zeichnungen und Diskussionen darüber. Fünf Bände zu Raum, Licht, Bewegung, Figur und Farbe sind bereits erschienen, weitere Bände zu neuen Themen sind im Entstehen. Tim Proetel ist Seminarlehrer für Kunst am Wittelsbacher Gymnasium in München. Peter Boerboom studierte außerdem Kommunikationsdesign an der Fachhochschule für Gestaltung in München. Er ist Gründungsmitglied der Künstlergruppe Department für öffentliche Erscheinungen und realisiert gemeinsam mit Carola Vogt Kunst- und Fotografieprojekte. www.zeichenbuecher.de 191
Zeichnungen, Bilder, Gestaltung und Satz: Tim Proetel, D-München und Peter Boerboom, D-Münsing Lektorat: Heidi Müller, Haupt Verlag, CH-Bern Diese Publikation ist in der Deutschen Nationalbibliografie verzeichnet. Mehr Informationen dazu finden Sie unter http://dnb.dnb.de ISBN: 978-3-258-60216-5 Alle Rechte vorbehalten. Copyright © 2020 Haupt Bern Jede Art der Vervielfältigung ohne Genehmigung des Verlages ist unzulässig. www.haupt.ch Der Haupt Verlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2016–2020 unterstützt. Wünschen Sie regelmäßig Informationen über unsere neuen Titel zum Gestalten? Möchten Sie uns zu einem Buch ein Feedback geben? Haben Sie Anregungen für unser Programm? Dann besuchen Sie uns im Internet auf www.haupt.ch. Dort finden Sie aktuelle Informationen zu unseren Neuerscheinungen und können unseren Newsletter abonnieren. Papier Innenteil, Vor- und Nachsatz: Fly 05 Papier Überzug: Surbalin Seda Gedruckt in Deutschland