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Samstag, 17. Mai 2008
Das Ross am Kirchturm. Provokation?
Kunst und Kirche Seit Ende April hängt am Turm der Kirche St. Michael ein Ross. Gemeindeleiter Hubert Kössler über Kirche, Kunst und Lügen. Zweite Seite „Unter uns“
Freiwillige unterstützen Ohne sie geht nichts. An der nächsten Synode sind einmal mehr auch die Freiwilligen Thema. Seite Region Teil eines faszinierenden Kunstwegs. Das Ross am Kirchturm. Foto: jm
Männer Ist Religiöses „Frauensache“? Diakon Bernhard Waldmüller über Männer, Spiritualität und Vorbilder. Zweitletzte Seite „Brennpunkt“
17. Mai 2008
Wochenzeitung der röm.-kath. Pfarreien des Kantons Bern, alter Kantonsteil
AZA 2500 Biel Postfach 624
Am Kirchturm der römisch-katholi- nach längerem Suchen entdeckt: Es schen Kirche St. Michael in Wabern hing wiehernd am Kirchturm. Als guhängt seit Ende April ein Ross. Hilflos ter Schütze schoss er das Halfter ent ist das arme Tier am Turmkreuz 30 m zwei und ritt seines Weges. So der über dem Kirchenplatz angebunden und Baron. Als Zweites: Die Installation strampelt in die Wolken. Hubert Köss ist ein Teil des Kunstweges «artpicler, Gemeindeleiter der nic», der vom Eichholz Pfarrei, über Kunst, Kir auf den Gurten führt che, Lügen und ratlose und während der Euro Jogger: 08 zu begehen ist. Wir «pfarrblatt»: Hubert sind dank dem Ross Kössler, ein Pferd eine Station dieses We am Kirchturm, das ges. ist doch ein starkes Wollen Sie also als Stück Irritation. Gemeindeleiter der Interview und Fotos: Hubert Kössler: Letzt Lüge ein Denkmal Jürg Meienberg hin hat ein Jogger an setzen? Pfarrblatt, der Pfarrhaustür geläu Wenn der US-ameriWochenzeitung der tet und gefragt, ob ich kanische Präsident Un röm.– kath. Pfarreien des Kantons Bern, wisse, was da an unse wahrheiten behauptet, alter Kantonsteil, rem Kirchturm hänge. um seinen Irak-Krieg 17.5.2008 Ich habe ihm die Geführen zu können, ist schichte von Münch das eine Lüge. Im Gehausen erzählt. Er hat gelacht und ge gensatz dazu funktionieren die Münch sagt, das müsse er morgen seiner Frau hausen-Geschichten dadurch, dass und den Kindern zeigen. jeder, der sie hört, weiss: Das ist so Was in aller Welt haben denn die nicht geschehen. Bevor der Baron Lügengeschichten des Barons seine Geschichte erzählt, hat man von Münchhausen mit Kirche zu sich gegenseitig über dieses Setting tun? verständigt. Es ist deshalb eigentlich Als Erstes: Hintergrund ist eines sei- keine Lügengeschichte, sondern eine ner berühmten Abenteuer. Erinnern Geschichte darüber, wie Phantasie Sie sich? Münchhausen ist über ein die Grenzen der Realität überwinden schneebedecktes Feld geritten; hat kann. Die Phantasie will unterhalten, sein Pferd an einem aus dem Schnee den Geist beflügeln, Grenzen über ragenden Stab festgebunden und schreiten. «Die ursprüngliche Funktion sich schlafen gelegt. Am nächsten des Geistes ist das Fabulieren» wie Morgen – als der Schnee wegge- das der Schriftsteller Bruno Schulz schmolzen war – hat er das Ross erst einmal treffend geschrieben hat. Die
DER RATLOSE JOGGER
Bibel kennt diese Tradition übrigens auch. Die Bibel? Manchmal liegt das Eigentliche nicht unmittelbar vor Augen. Nehmen Sie die Geschichte des Sehers Bileam im Buch Numeri. Er erkennt den Engel nicht, der ihm mit seinem Flammenschwert den Weg versperrt. Sein Esel wohl. Theologisch gesehen geht es um Distanz und Kontrast. Diese dienen der Existenzbewältigung. Das Lachen ist eine subversive Kraft gegen über allen politisch-gesellschaftlichkirchlichen Engführungen. Denken Sie an den Brauch des «risus paschalis», des Osterlachens. Die Relativierung der Wirklichkeit verbindet Humor und Glaube; beide befähigen dazu, in Dis tanz zur Welt und doch in ihr zu leben. Dann hätten Sie ja einen Esel an den Kirchturm hängen können oder einen Engel. Das wären we nigstens biblische Figuren gewe sen. Vergessen Sie nicht: Das renommier te Künstlerpaar «Haus am Gern» trat von aussen mit der Idee an uns heran, wir haben den Kirchturm zur Verfü gung gestellt. Ich finde: Dem Kirchgemeinderat ist es hoch anzurechnen, dass er sich auf ein Kunstprojekt einliess, das neben dem Witz auch Anregungen für vertiefte Gespräche ermöglicht. Dieses Interview und der Jogger zeigen ja, dass es funktioniert. Dabei geht es auch um die Kommunikation mit der Moderne, mit Kultur und Welt, die unsere Kirche immer
geprägt hat, wie sie selber immer auch prägend in der Welt mitwirkt. Es gab allerdings auch Reaktio nen, die meinten, das Ross ent weihe die Kirche, weil sie zum blossen Kunstobjekt werde. Auf religiöse Gefühle achten ist etwas ganz Wichtiges, ohne Zweifel. Aber das darf nicht zu einem Argument werden, das alle Energie lähmt. Es gibt auch religiöse Werte, die ver letzt worden wären, hätte man die Installation abgelehnt, etwa: Toleranz, Humor, Dialog, Weltoffenheit, innere Freiheit. Das Künstlerpaar und der zu ständige Gemeinderat von Köniz zwei felten zunächst an der Realisierbarkeit. Warum? Weil sie Kirche eher als übervorsichtig und weltabgewandt in terpretierten. Sie haben sie nun anders erlebt. Die Installation ermöglicht einen verblüffenden Kontakt zu einer uralten Bewegung mit einer aktuellen Botschaft. Immerhin müssen alle himmelwärts schauen. Und erleben damit, als ein Beispiel, die Schöpfung und unsere Verantwortung dafür neu. Wie das? Wir werden kaum mehr so viel Schnee haben, dass Münchhausen je wieder sein Pferd an der Kirchturmspitze an binden kann. Aktueller kann eine Mah nung doch gar nicht sein. Meinen Sie nicht auch? Hubert Kössler, danke für das Ge spräch.
1 : 1 Im Rahmen der Freiluftaus stellung Artpicnic in Wabern, in der Berner Vorortgemeinde Köniz, hat Haus am Gern eine lebensgrosse Pferdeskulptur an die Turmspitze der katho
2008, Installation; aus Weide geflochtenes Pferd, Zurrgurte; Artpicnic, Kunstweg in Wabern bei Bern
lischen Kirche gehängt. Das
er durch das winterliche Po len nach St. Petersburg reitet. Müde geworden bindet er sein Pferd an einen Pfahl im Schnee und legt sich schla fen. Am nächsten Morgen er wacht Münchhausen auf ei
Pferd hat Haus am Gern von
nem Friedhof liegend, der
Korbflechter Jan Rospek in Polen aus Weide
Schnee ist in der Nacht geschmolzen, und sein
flechten lassen – nach einem Stich von Gustav
Pferd hängt mit dem Halfter an der Kirchturm
Doré aus dem Jahre 1862. Der Stich illustriert die
spitze. Das Pferd am Turm löste heftige Reak
Geschichte des Lügenbarons Münchhausen, wie
tionen bei Kirchgemeinde und Bevölkerung aus.
Abb. 1
Abb. 3
Abb. 2 Abb. 1 Abb. 2 Abb. 3 Abb. 4 Abb. 5
Meister der Flechtkunst: Jan Rospek und Sohn, Odolanów, Polen Verlad auf den Anhänger von Zbyszek Marszałek. Im Pferdeanhänger von Ruedi Häberli. Ankunft in Wabern. Montage am Kirchturm.
Abb. 4
Abb. 5
Gustave DorĂŠ, Pferd am Kirchturm, Holzstich, 1862
DES FREYHERRN VON MÜNCHHAUSEN EIGENE ERZÄHLUNG. Ich trat meine Reise nach Rußland von Haus heit mich überfielen. Nirgends war ein Dorf zu ab mitten im Winter an, weil ich ganz richtig hören, noch zu sehen. Das ganze Land lag schloß, daß Frost und Schnee die Wege durch unter Schnee; und ich wußte weder Weg noch die nördlichen Gegenden von Deutschland, Steg. Pohlen, Kur- und Liefland, welche, nach der Des Reitens müde, stieg ich endlich ab, und Beschreibung aller Reisenden, fast noch elenband mein Pferd an eine Art von spitzem der sind als die Wege nach dem Tempel der Baumstaken, der über dem Schnee hervorTugend, endlich, ohne besondere Kosten ragte. Zur Sicherheit nahm ich meine Pistolen hochpreislicher, wohlfürsorgender Landesunter den Arm, legte mich nicht weit davon in Regierungen, ausbessern müßte. Ich reisete den Schnee nieder, und that ein so gesundes zu Pferde, welches, wenn es sonst nur gut um Schläfchen, daß mir die Augen nicht eher wieGaul und Reiter steht, die bequemste Art zu der aufgingen, als bis es heller lichter Tag war. reisen ist. Denn man riskiert alsdann weder Wie groß war aber mein Erstaunen, als ich mit irgendeinem höflichen deutschen Postfand, daß ich mitten in einem Dorfe auf dem meister eine Affaire d‘honneur zu bekommen, Kirchhofe lag! Mein Pferd war anfänglich nirnoch von seinem durstigen Postillion vor jede gends zu sehen; doch hörte ichs bald darauf Schenke geschleppt zu werden. Ich war nur irgend wo über mir wiehern. Als ich nun empor leicht bekleidet, welches ich ziemlich übel sah, so wurde ich gewahr, daß es an den Wetempfand, je weiter ich gegen Nordost hin kam. terhahn des Kirchthurms gebunden war, und Nun kann man sich einbilden, wie bey so strenvon da herunter hing. Nun wußte ich sogleich gem Wetter, unter dem rauhesten Himmelswie ich dran war. Das Dorf war nähmlich die striche, einem armen, alten Manne zu Muthe Nacht über ganz zugeschneyet gewesen; das seyn mußte, der in Pohlen auf einem öden Wetter hatte sich auf einmahl umgesetzt; ich Anger, über den der Nordost hinschnitt, hilflos war im Schlafe nach und nach, so wie der und schaudernd da lag, und kaum hatte, womit Schnee zusammen geschmolzen war, ganz er seine Schaamblöße bedecken konnte. sanft herabgesunken; und was ich in der DunDer arme Teufel dauerte mich von ganzer Seekelheit für den Stummel eines Bäumchens, le. Ob mir gleich selbst das Herz im Leibe fror, der über dem Schnee hervorragte, gehalten, so warf ich dennoch meinen Reisemantel über und daran mein Pferd gebunden hatte, das ihn her. Plötzlich erscholl eine war das Kreuz oder der WetAnonym [Gottfried August Bürger]. Stimme vom Himmel, die dieterhahn des Kirchthurmes Wunderbare Reisen zu Wasser und Lan ses Liebeswerk ganz ausnehgewesen. de, Feldzüge und lustige Abentheuer des Freyherrn von Münchhausen, wie er die mend herausstrich, und mir Ohne mich nun lange zu beselben bey der Flasche im Zirkel seiner zurief: Hohl mich der Teufel, denken, nahm ich eine von Freunde selbst zu erzählen pflegt. – Aus mein Sohn, das soll dir nicht meinen Pistolen, schoß nach dem Englischen nach der neuesten Aus gabe übersetzt, hier und da erweitert unvergolten bleiben! dem Halfter, kam glücklich auf und mit noch mehr Kupfern gezieret. Ich ließ das gut sein und ritt die Art wieder an mein Pferd, Zweyte vermehrte Ausgabe. weiter, bis Nacht und Dunkelund verfolgte meine Reise. London [d.i. Göttingen] 1786. – S. 13 –16
AUCH ABSTRUSE SZENEN KÖNNEN ZUM NACHDENKEN BRINGEN Das Pferd hat
am Kirchturm nichts verloren, ob tot oder lebendig. Die Kirchturmspitze gehört dem Hahn, der Generationen von Christen und Christinnen zur Wachsamkeit mahnte und daran erinnerte, dass der Hahnenschrei den Verrat des Petrus begleitete. Wenn Münch hausen mit seinen irren Angebergeschichten nicht wäre, käme also niemand auf die Idee, einen Pferdekadaver an einem Kirchturm aufzuhängen. Das Pferd ist nämlich – im Ge gensatz zum Hahn – in der christlichen Tradition nicht recht verankert. Ausser dem heiligen Martin, der als Soldat vom Pferd herab dem Bettler die Hälfte seines Mantels gab und bis heute am Martinsumzug zu Pferde einherzieht, hat keiner von den grossen Heiligen der Kirche sich das Pferd als Begleiter ausgewählt. Wie kommt es, dass die stattlichen Tiere nicht recht ins Christentum zu passen scheinen? Die Antwort finden wir in den Schriften des Alten Testaments, die auf Schritt und Tritt bezeugen, wie ambivalent das Ansehen der Pferde im alten Israel war. Das Pferd war kulturgeschichtlich ein Neuling, der das viel ältere Haustier, den Esel, nie zu ersetzen vermochte. Der genügsame Esel trug schwere Lasten, und in Palästina ist man mit Stolz auch auf ihm geritten. Man achtete seine Arbeitsleistung und hielt ihn für ziemlich gescheit, ja beinahe hellsichtig, wie die Erzählung von Bileams störrischer Eselin beweist, die dem Propheten das Leben rettet, weil sie den gefährlichen Engel auf dem Weg stehen sieht (Buch Numeri 22). Das Pferd hingegen war ein teurer Kostgänger, den sich praktisch nur der Königshof leisten konnte. Geritten wurden Pferde damals noch selten und ohne Sat tel, viel öfter kamen sie als Zugtiere vor Streitwagen zum Einsatz. Weil das kleine Israel schlechte Erfahrungen mit den hochgerüsteten Armeen der imperialen Nachbarn, der Ägypter, Assyrer, Babylonier, machte, geriet das Pferd, der Tank der Antike, bei ihnen in schlechtes Licht. Der ungestüme Charakter und Todesmut der Tiere, die sich in das Kampfgetümmel stürzen statt zu fliehen, weckte Faszination und zugleich Abneigung, ebenso der Prunk, der mit Pferden getrieben wurde. Die Tiere wurden nicht nur gepanzert, sondern oft auch als Statussymbole herausgeputzt. Das Ross stand symbolisch für das Militär und den Glauben an die Rüstungskräfte – und wird in den Psalmen und anderen Texten sogar manchmal direkt dem Gott Israels und dem wahren Glauben gegenüber gestellt: «Durch Wagen sind jene, durch Rosse stark, wir durch den Namen JHWHs, unseres Gottes.» (Psalm 20,8). Auf diesem Hintergrund versteht es sich beinahe von selbst, warum die Evangelisten in Anlehnung an eine Prophezeiung von Sacharja (9,9f ) Jesus auf einem Esel und nicht auf einem Pferd als König und Friedensfürst in Jerusalem einziehen lassen. Die apokalyptischen Reiter im Buch der Offenbarung bewahren auf der anderen Seite das abschreckende und bedrohliche Image, das dem Pferd anhaftete. Das Pferd ist, obwohl es in unseren Breiten ebenso wie der Esel in Palästina lange Zeit als Arbeitstier eingesetzt wurde und man die Leistung von Automobilen bis heute in Pferde stärken bemisst, zurzeit vor allem ein Luxustier, und ein Pferd, das sich an einem Kirchturm den Hals bricht, wird so, weitab von Münchhausens dummen Geschichten, zu einer Er innerung an die biblischen Vorzeichen. Prof. Dr. Silvia Schroer Prof. Dr. Silvia Schroer, Professorin für Altes Testament und Biblische Umwelt an der Theologischen Fakultät Bern Buchhinweis: Silvia Schroer, Die Tiere in der Bibel. Eine kulturgeschichtliche Reise, Herder Verlag 2010
englischen Parlament machte. Das ergab das erste An einem Kirchturm hängt ein zappelndes Pferd. Buch unter dem Namen des Freiherrn von Münch Die Installation spielt auf eines der bekanntesten hausen. Autoren und Verleger haben die Geschichten Abenteuer des Freiherrn von Münchhausen an. immer wieder ergänzt, erneuert, gekürzt, bearbeitet Schätzungsweise 400 verschiedene Buchillustratio nen sind dazu in 220 Jahren entstanden. Die erste oder übersetzt. Heute kennt man ihn in mindestens ist 1786 in England erschienen (vgl. Abb. letzte Seite); sie 65 Sprachen. wirkt noch heute konzeptionell für die künstlerische Zurück zum Pferd am Kirchturm und zum Spiel mit Gestaltung der Szene nach, auch für das Pferd aus den zwei Existenzweisen von Baron Münchhausen Weidenruten am Kirchturm in Wabern. Fraglich ist bzw. zum Oszillieren zwischen Tatsache und Fik aber, ob die Variante von Wa tion. In Wabern war etwas bern auch eine Illustration nicht zu sehen, was in den ist. In ein Buch jedenfalls Buchillustrationen fast im passt sie nicht. Die Bedeu mer vorkommt: Die Haupt tung dieses Abenteuers und person fehlte – mit Absicht des Ereignisses in Wabern und mit Recht. Sonst aber kann man ermessen, wenn steht Münchhausen unten man sich die Besonderheit vor dem Turm und zielt auf der Münchhausen’schen das Halfter. Er richtet seine Geschichten und deren Ge Waff e gegen die Kirche, ge schichte vergegenwärtigt. gen den Turm, wohlgemerkt Bernhard Wiebel Einzigartig ist der Sachver vom Friedhof aus. Wenn halt, dass es sowohl eine das keine Blasphemie ist! literarische Figur namens Münchhausen gibt, als Die Bildformel dieser Situation ist so bekannt und auch eine historische Persönlichkeit gleichen Na erscheint heute so «normal», dass die Irritation, die mens, die mit der literarischen Figur auch tatsäch von ihr ausgehen müsste, ausbleibt. Wenn man lich gemeint war. Das verhält sich folgendermassen: jedoch als Passant in Wabern das Pferd sieht, und Der in England lebende deutsche Gelehrte Rudolf wenn man das Abenteuer kennt, stellt sich Irrita Erich Raspe (1736 – 1794) machte im Herbst 1785 tion ein. Der Betrachter wirkt physisch unmittel durch die Publikation eines Buches aus seinem bar mit. Er schlüpft ungewollt und zwingend in Zeitgenossen Hieronymus Carl Friedrich Freiherr die Rolle des Münchhausen, der verwundert sein von Münchhausen (1720 – 1797) die literarische Figur Pferd in der Höhe entdeckt. des Icherzählers Baron von Münchhausen, der Deutlicher als der Text zeigt das erste Bild, das übri seinerseits Geschichten erzählt, die teilweise Be gens von Raspes Hand stammt, dass Münchhausens zug zur Biographie der historischen Person haben. Schuss eine gewisse Brisanz hat. Während Münch So war der historische Münchhausen berühmt für hausen im Text «nach dem Halfter» und damit nur sein Fabuliertalent. Ein literarisches Ich erzählt von implizit gegen den Kirchturm schiesst, und das unmöglichen oder unwahrscheinlichen Abenteu von einer Stelle aus, die man als Leser nicht mehr ern als selbst erlebten, der Icherzähler entspricht unbedingt mit dem Friedhof in Verbindung bringt, einer bekannten zeitgenössischen Persönlichkeit; steht Münchhausen auf dem Kupferstich zwischen dass die beiden in gewisser Hinsicht identisch, in den Grabsteinen; er hat soeben auf das Halfter an anderer Hinsicht aber nicht gleich sind, ist uns der Turmspitze geschossen, die Pistole raucht noch; meistens nicht bewusst, die wir den Münchhausen die zweite zielt wie zufällig gegen den Eingang der wohl am ehesten aus Kinderbüchern kennen. Kirche. Um die Tragweite dieses Frevels zu ermes Ein Kinderbuch war der Münchhausen ursprüng sen, muss man sich die gesellschaftliche Position lich nicht, wobei es auch keinen anderen «eigent der Kirche am Ende des 18. Jahrhunderts, vier Jah lichen» Ursprung des Buches gibt. Die Stoffe der re vor der Französischen Revolution, vor Augen einzelnen Erzählungen sind vielfältigster Herkunft, halten. Der regelmässige Kirchgang war eine Selbst stammen aus der Antike, der frühen Neuzeit und verständlichkeit. Die Bevölkerung praktizierte die der Literatur des 18. Jahrhunderts, wurden teils Religion ihrer Konfession nach den Regeln ihrer mündlich, teils schriftlich tradiert, bis Raspe dar Kirche. Es war undenkbar, dass auf dem Fried(sic!) aus eine politische Satire auf die Vielschwätzer im hof geschossen wurde.
DAS PFERD AM KIRCHTURM
Die These der blasphemischen Bedeutung des Tex tes wie auch der Illustration mag etwas gewagt erscheinen. Doch überprüft man das Buch, in wel chem die erste Illustration publiziert wurde, stellt man fest, dass es einige Passagen gibt, die antikirch lichen oder gar gotteslästerlichen Charakter haben. Ganz eindeutig sind die Kopfstücke des Buches, nämlich das erste und das letzte Kapitel in diesem Sinne zu verstehen. Als Abschluss des ersten Aben teuers lässt der Autor den lieben Gott aus dem Himmel herab fluchen: «Hol’ mich der Teufel …»; und das letzte Kapitel erzählt von dem Liebes abenteuer eines Papstes. Über die Skepsis des Autors und Zeichners Raspe gegenüber der Kir che, insbesondere die Verbindung von weltlicher Macht und kirchlichem Amt besteht kein Zweifel. Liest man die Erzählung unvoreingenommen, vermittelt sie den Eindruck eines lustigen Gags oder absurden Witzes. Stellt man sich aber den Kontext von Autor und Buch vor, eröffnet sich ein weitergehendes Verständnis dieser Szene, nämlich als eine Formel zur Darstellung einer dezidiert aufklärerischen Haltung. Raspe ist in mancher Hinsicht der Aufklärung zuzuordnen. Vehement wettert er in Publikationen und Briefen gegen das Gottesgnadentum der eu ropäischen wie der asiatischen Monarchen und wendet sich in seinen geologischen Schriften da gegen, die Bibel weiterhin als Quelle für die Er klärung der Erdgeschichte anzuerkennen. Im Wissen um diese Haltung des Autors und Künst lers und um die politische Dimension des Münch hausen sei nun eine etwas kühne Lesart der Ge schichte vorgeschlagen. Man könnte den Verlauf vom Anbinden des Pfer des bis zu seiner Loslösung als eine einzige Me tapher auffassen, welche die Unausweichlichkeit der gewaltsamen Befreiung aus den Fesseln der bevormundenden Kirche illustriert: Der Orientie rung an einer Instanz sowie der Ruhe und des Schutzes bedürftig begeben sich Ross und Reiter unwissentlich in die Obhut der Kirche, indem Münchhausen sein Pferd an dem rettenden «Ste cken» fixiert – im blinden Vertrauen – notabene auf die Kirche. Der verdunkelnde und verdecken de Schnee schmilzt schnell an der aufgehenden Sonne, so dass sich schon am frühen Morgen die Aufklärung, das Enlightenment, durchsetzt. Das blinde Vertrauen auf den «Stecken» hat allerdings zur Folge, dass die Einheit von Reiter und Pferd auseinandergerissen wurde. Münchhausen kommt
nur zu seinem Pferd, indem er die blasphemische Handlung vollzieht, auf den Kirchturm zu schies sen. – Wie steht es nun mit dem Pferd von Wabern? Die Buchillustration ist ein konservatives künst lerisches Ausdrucksmittel: Die Bindung der Illus tratoren an den Text führt zu den oft über grosse Zeiträume hinweg ähnlichen Bildern. Das beginnt bei der Auswahl der illustrablen Szenen aus den beschriebenen Ereignissen und endet mit der An sicht, die Illustration habe als ein Fachgebiet der bildenden Kunst eine dienende, eine subalterne Funktion gegenüber der Sprachkunst. Von 1786 an herrscht fast 80 Jahre lang die Bildkonzeption von Raspe; da klammert sich auf allen Bildern zu dieser Szene das Pferd anthropomorph an den Turmhelm. 1862 erfolgt ein konzeptioneller Schnitt: Gustav Doré kehrt das Tier um, lässt es am Rücken auf dem Turmhelm liegen und mit den Beinen ins Leere zappeln. Das ist kein Heldenross, sondern die geschundene Kreatur. Und Dorés Holzstich war das Vorbild für die Variante von Wabern. Wenn also in Wabern das geplagte Tier gemeint war, ist es keine Blasphemie, den Kirchturm mit dem Modell zu schmücken; vielmehr knüpft solch ein Verständnis an das caritative Selbstverständnis der Kirche an. Auch wenn mit der Skulptur aus Weidengeflecht das Pferd Münchhausens gemeint war, hat das nichts Gotteslästerliches. Denn was wäre an ihm böse? Wenn es, wie oben vermutet, so ist, dass der staunende Passant notwendig den fehlenden Münchhausen ersetzt, dann müsste er schiessen – allerdings nur, wenn man das Werk von Haus am Gern als Illustration aufassen würde. Wenn die Passanten tatsächlich Münchhausens wären und schössen, wäre es eine Performance. Die Installation bildet nicht ab, und sie tut nichts. Sie ist reine Irritation.
Bernhard Wiebel (*1950) lic.phil.I, lebt als freischaffender Kunsthistoriker in Zürich. Ausbildung als Restaurator für Skulptur und Malerei am Schweizerischen Landesmuseum Zürich. Studium der Kunstgeschichte, Publizistik und Philosophie an der Universität Zürich. Ausstellungen und Pu blikationen zur Schweizer Kunst des 19. und 20. Jahrhun derts (1976 –1980). Organisationsberatung als Partner eines Beratungsunternehmens (1983 –2002). Seit 1993 Aufbau der Münchhausenbibliothek Zürich, Forschung zum Phäno men Münchhausen, Vorträge, Ausstellungen, Publikationen. www.munchausen.org
Credits: Veranstalter Gemeinde Köniz / Kurator Beat Gugger / Ort Kirche St. Michael, Röm.- kath. Pfarrei Wabern / Organisation + Support Ueli Studer, Martha Häberli, Vreni Jost, Pierre Pestalozzi, Hubert Kössler, Heinrich Röthlin / Pferdeskulptur Jan Rospek, Kepsor, Odolanów (PL) / Produktionsmanagement PL Rafał Rózga (PL) / Transport Zbyszek Marszałek, Ruedi Häberli, René Steiner / Montage maltech.ch AG, Bern
Rudolf Erich Raspe, Pferd am Kirchturm, Kupferstich, 1786