Heimfocus #30 - 11/2017

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No 30 • 11 / 2017

© Dörte Volk, vivovolo

STIMME FÜR MENSCHEN

Ihr macht das schon! Wir machen das! weiter auf S.8 Ein Licht in der Wüste Ökodörfer im Perspektiven

Senegal

schaffen

Weiter auf S.34

Kuschelkurs schadet der Integration

Für Klartext in der Flüchtlingsarbeit

Heimfocus hört auf! Auf heimfocus-online.net geht´s weiter

Weiter auf S.18

w w w . h e i m f o c u s . n e t

Weiter auf S.7


contact@heimfocus.net

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Inhalt Editorial ..................................................................................................................................................................... 3 Gute Bleibeperspektive – wofür? .......................................................................................................................... 4 Lest endlich die Bücher afrikanischer Frauen!

Dazu lädt der ehem. Diplomat Volker Seitz auf seiner Seite <Achgut.com> ein ............................................................

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Und TSCHÜSS!

Liebe Leser*innen und Freund*innen von Heimfocus, Sie halten mit Nr. 30 die letzte Ausgabe unseres Magazins in den Händen. Wir danken Ihnen allen für Ihr Interesse und Ihre Unterstützung. ............................. 7

WIR MACHEN DAS ist ein Bündnis von Neuankommenden und Einheimischen ..................................................... 8 integrAIDE Die Brücke zwischen Geflüchteten und Unternehmen ........................................................................ 10 Gesundheit ist ein Menschenrecht MediNetz Würzburg e.V für Menschen ohne Krankenversicherung ........ 12 Anta btehki arabyie? Sprichst du arabisch? Do you speak Arabic?

Sprachen lernen auf Augenhöhe: das Sprachtandem .................................................................................................. 14

„Es geht mir besser, seit ich für andere etwas tun kann“

Ein Erfahrungsbericht aus dem „Kompetenzzentrum Integration“ .............................................................................

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Kuschelkurs und Weichspüler schaden der Integration ................................................................................... 18 Hotline für besorgte Bürger Angst vor der Islamisierung des Abendlandes? Rufen Sie am besten Ali Can an .. 21 Afrika wird zum Thema – auch in der Arbeit mit Geflüchteten

Was tut sich, wo stehen wir – und wo sollten wir hin? ..................................................................................................

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Afrika und Europa, Europa und Afrika – geht nur gemeinsam ..................................................................... 25 Flamingoo Foods gibt Gas

Es braucht den Willen, den Mehrwert für die Menschen vor Ort an erste Stelle zu setzen ............................................ 28

Wie Migranten Fluchtursachen bekämpfen

Sie überweisen Geld nach Hause und entwickeln ihre Heimat ..................................................................................... 32

Ein Licht in der Wüste Guédé Chantier – ein Ökodorf im Senegal ...................................................................... 34 Menschenrettung im Mittelmeer an Bord der Sea-Eye .................................................................................. 37 Vivovolo e.V. feiert 10-jährigen Geburtstag! Aus und für Würzburg und Mainfranken ............................... 40 Wann ist endlich Freitag? ................................................................................................................................... 42 Klartext 11/2017 ................................................................................................................................................... 44 Impressum und Infos .......................................................................................................................................... 47

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Editorial

Ein besonderes Projekt Abschließend möchten wir uns nicht nur bei unseren Lesern recht herzlich für ihr Vertrauen in unser Magazin als eine Informationsquelle bedanken, sondern auch bei unseren Autoren, Unterstützern und insbesondere bei der Druckerei Flyeralarm für ihre verlässliche Die Arbeit hat uns Freude bereitet und wir haben sehr viele Kontakte und Freunde durch das Förderung und Kooperation. Mein persönlicher Magazin gewonnen. Dafür sind wir dankbar und Dank geht an unseren Layouter Manias Arbab für auch stolz auf unsere Arbeit. Viele Autoren haben seine Arbeit, Anette Hainz für ihr abschließendes ehrenamtlich Artikel für uns geschrieben oder Layout und Gunnar Lorenz als Administrator der zur Verfügung gestellt. Das Magazin wurde in Heimfocus-Website. Ein herzliches Dankeschön den sieben Jahre zu einer geschätzten Plattform geht ferner an die Herausgeberin Eva Peteler für ihr Engagement, die Koordination, für Autoren und Leser zum Thema Flüchtlinge. Redaktionsarbeit, Planung und den Vertrieb des Wir haben gemeinsam viel erreicht und da und Magazins, für ihre unendliche Arbeit und Geduld, dort auch Pionierarbeit geleistet. Von Anfang an für ihre Investition an Zeit, Energie und Geld für war es unserem Projekt ein wichtigen Anliegen, mehr als sieben Jahre. Dankeschön, liebe Eva! auf aktuelle Probleme und wichtige Themen aufmerksam zu machen, die woanders zu wenig Aus Kapazitätsgründen ist es uns nicht mehr Beachtung fanden. Wir appellierten an die möglich, Heimfocus als Magazin weiter Politik und die Gesellschaft, beispielsweise in herauszugeben. Doch ganz aufzugeben, was wir Bereichen wie Essenspakete, Residenzpflicht, begonnen und entwickelt haben, kommt nicht Arbeitserlaubnis, Gesundheitsversorgung und in Frage. Bildungschancen für Flüchtlinge für deutliche Verbesserungen zu sorgen. Vieles davon hat Wir sagen daher auf Wiedersehen auf sich inzwischen zumindest teilweise positiv <www.heimfocus-online.net>, verändert, andere Forderungen bleiben jedoch siehe S.7 in diesem Heft! Selam! weiterhin ein Thema. Addis Mulugeta Seit 2010 haben wir zunehmend nicht nur regional, sondern bundesweit über Flüchtlingsund Integrationsarbeit berichtet. Das Magazin Heimfocus und sein kleines Team waren darüber hinaus in verschiedenen Tagungen, Vorträgen und Seminaren präsent, um auf die Situation der Flüchtlinge in Deutschland und auf ihre Fluchtgründe aufmerksam zu machen und auch über die Integration in Deutschland mit zu diskutieren.

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Gute Bleibeperspektive – wofür? Als wir vor sieben Jahren unser Projekt „Heimfocus“ aus der Taufe hoben, hieß es um uns herum: Flüchlinge? Wie? Sie waren irgendwo am Rande, fast unsichtbar – und dort wollte man sie auch gerne belassen. Das hat sich inzwischen gründlich geändert, in der Gesellschaft, in Medien und Politik. Das ist eine gute und eine schlechte Nachricht. Eine gute, weil wir uns 2015 als eine zupackende, solidarische Zivilgesellschaft erfahren konnten, die gemeinsam Berge versetzen kann, wenn es darauf ankommt. Das ist eine solide Grundlage gegen das, was sich nun zusammenbraut. Eine schlechte, weil die ‚Flüchtlingswelle‘ zu einer alles bestimmenden und verursachenden Bedrohung hysterisiert wurde. Die Geflüchteten sind jedoch nicht schuld am neoliberalem Sozialabbau, der Unsicherheit und Zukunftsangst erzeugt. Lösungen für die brennenden sozialen und ökologischen Fragen und die ‚Flüchtlingsfrage‘ müssen zusammen gedacht werden. Man hört es überall: Die Menschen fühlen sich nicht gehört und ernst genommen. „Heimfocus“ hat versucht, sich als „Stimme für Menschen“ genau dafür einzusetzen. Jetzt hören wir als Magazin auf – für einen Neustart, anders, aber weiter mit dem Anspruch, für eine gute Bleibeperspektive all dessen zu werben, was uns zu einer vielfältigen, gerechten Gesellschaft macht. Im August 2010 haben wir losgelegt, ohne Geld und Erfahrung, aber inspiriert von der Idee von Addis Mulugeta, jene zu Wort kommen lassen, die damals bestenfalls eine ungeliebte Randnotiz waren: Die ‚Asylanten‘, wie er einer war. „Heimfocus“ wollte daran etwas ändern – und hat sich auf dem Weg selbst verändert. Wir wurden kritischer, politischer und haben unseren Radius erweitert. Nicht nur an Lesern und Abonnenten, sondern vor allem mit Fragen nach politischen und ökonomischen Hintergründen von Flucht und Vertreibung, nach Menschenrechten und ihren Verletzungen, aber auch nach Geschichten, die Mut machen und aufzeigen, dass Menschen über sich hinauswachsen können, um Dinge zum Besseren zu verändern. Wenn wir unterwegs etwas für uns gelernt haben, dann ist es dies: Humanitäre Hilfe sollte sich stets hinterfragen, ob sie nicht ein System stützt, das reformiert oder ersetzt gehört. Ehrenamt ist kein Dienstleister, um institutionelle Defizite auszugleichen und kein Ausgleich für politische und staatliche Versäumnisse. Solidarität ist nicht gleich Gerechtigkeit. Ohne politisches Engagement für die Durchsetzung von Rechten und Werten und ohne Widerstand gegen Ungerechtigkeit und Ausbeutung verändert sich nichts. Gute Bleibeperspektive – für die Weltrettung? Für den Mut, sich endlich den komplexen und schwierigen Fragen zu stellen, die wir wider besseres Wissen noch immer verdrängen? Wir können nicht weglaufen vor der Verantwortung für das große Ganze, es holt uns ein, auch mit den Füßen derer, die jetzt schon von den Folgen unseres Tuns und Unterlassens betroffen sind. Niemandem, der sich auch nur halbwegs für das Weltgeschehen interessiert, wird entgangen sein, wir verspielen mit unserer kapitalistischen Weltordnung, mit ihrem Mantra von ewigem Wachstum und Wettbewerb unsere Lebensgrundlagen, den Weltfrieden und die Zukunft der kommenden Generationen. Alles bekannt, doch immer noch nicht heftig genug, um sich zur

Umkehr bewegen zu lassen? Selbst die Nachricht, dass sich der Erd-Erschöpfungstag, also der Tag im Jahr, bis zu dem wir die ganze Jahresration der regenerativen Biokapazität des Planeten bereits verfrühstückt haben, immer mehr nach vorn verschiebt, lässt uns kalt. Dieses Jahr lebt die Menschheit schon ab dem 02. August ökologisch auf Pump, 1987 war es noch der 19.12..¹ Der Preis wird bereits heute bezahlt, von den „anderen“. Wo sollen sie hin, die davon betroffen sind? Es ginge auch anders, wir wissen es. Mehr für alle durch weniger an Zuviel ist nur ein Ansatz von vielen.² Gute Bleibeperspektive für pragmatische und vernünftige Lösungen der „Integration“? Nur zwei Beispiele, die dazu auffordern, endlich keine Talente, Kompetenzen, Bildungsund Arbeitswillen der Geflüchteten zu vergeuden und diese stattdessen in passiven Leistungsbezug zu zwingen. ARD-Politmagazin FAKT vom 10.10.2017³: Ein Gastwirt aus Sachsen-Anhalt fliegt in höchster Personalnot für sich und Kollegen Azubis aus Indonesien ein. Der Bedarf ist riesig, auch in der Altenpflege: Allein in der Region harren noch über 400 offene Stellen der jungen Menschen aus Fernost. Flüchtlinge? Würde man gerne anstellen, geht aber nicht. Zu unsicher, ob sie überhaupt dürfen und ob sie bleiben können. Zu kompliziert. Kein Arbeitgeber könne sich auf so etwas einlassen, trotz der Bereitschaft und des Bedarfs. – Gebildete junge Geflüchtete haben die DSHSprachprüfung zum Hochschulstudium in der Tasche. Ein harter Weg war es bis dahin, aber sie haben es geschafft und auch eine Zulassung zum Studium erhalten. Nur BaFög bekommen sie keins, weil sie ganz pragmatisch ein Fach studieren wollen, das hier gebraucht wird und nicht ein sinnloses Masterstudium auf ihren Bachelorabschluss von daheim draufsatteln, das in der Heimat vielleicht etwas wert gewesen wäre, aber hier nicht. Ist in unserem Regelwerk so nicht vorgesehen, gibt‘s nicht. Also studieren in einer noch nicht ganz gefestigten Sprache und nebenbei


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seinen Lebensunterhalt vollständig durch Jobben sichern? Nicht für mehr soziale Sicherheit, mehr staatliche Jeder, der sich in der Unterstützung von Geflüchteten Daseinsvorsorge, für Würde im Alter, am Arbeitsplatz, in engagiert, könnte seine eigenen Kopfschüttel-Geschichten der Flüchtlingsunterkunft. „Ordnung“ muss wieder her, beisteuern. An dieser Stelle noch einmal: Gesetze, die Heimat soll geschützt werden vor den Fremden, vor Richtlinien und Vorgaben sind veränderbar und nicht in allem, was ‚links‘ verortet wird, aber auch vor zuviel an Stein gemeißelt. Es hängt nur am politischen Willen, sie zu bürgerlichen Freiheiten und Rechten, zuviel Daten- und ändern, an nichts sonst. Um ebenda anzusetzen, wie wäre Persönlichkeitsschutz. Es steht viel auf dem Spiel. es z.B. mit ständig tagenden Bürgerräten wie in Vorarlberg, deren Ergebnisse in die politische Arbeit einfließen? (Ute Gute Bleibeperspektive für ehrlichen Umgang mit uns Scheub: Demokratie, die Unvollendete, zu bestellen über und den Geflüchteten? Die Realität ist kein Abziehbild www.mehr-demokratie.de) des Ideals. Geflüchtete sind nicht immer edel und gut und strebsam und ehrlich. Wir auch nicht. Sie sind mündig und Amir wird mit seiner Familie bleiben, auch wenn tragen selbst Verantwortung für sich. Sie sind Individuen, Afghanistan gemäß der interessengeleiteten Fata verhalten und entscheiden sich so auch. Wie wir. Sie Morgana der Bundesregierung immer noch ein Land ist, müssen uns kennenlernen, wir müssen uns mitteilen, wie in das man abschieben kann. Amir und seine Geschwister wir als Gesellschaft ticken, was sie von uns erwarten gehen hier in die Schule, hier ist ihre neue Heimat, hier dürfen und wir von ihnen. Und umgekehrt. Die Perspektive könnten sie eine Ausbildung machen, einem Beruf des anderen einzunehmen und ihm zuzuhören, würde nachgehen. Doch nach der Schule ist Schluss, wegen ihrer helfen. Möglichkeiten aufzuzeigen und ebenso ehrlich ‚geringen Bleibeperspektive‘. Die Kumpels machen eine falsche Erwartungen, Probleme und Missverständnisse Ausbildung, schmieden Pläne. Amir hockt rum. Wie kommt anzusprechen, Rechte ebenso wie Pflichten klar zu ein junger Mensch mit dieser Kränkung klar, die er niemals benennen, auch. Die Geflüchteten treffen auf eine verstehen wird? Mit Depression, Wut, Radikalisierung? Gesellschaft, die mit sich selbst nicht im Reinen ist, in der es Mit Flucht in Alkohol oder Drogen, in Kleinkriminalität? Umbrüche, Spaltung und Spannungen gibt. In der es nicht Was hätten wir denn lieber, als Verantwortliche? Dass wenige Menschen gibt, die nicht weltgewandt sind, die sich schließlich in WhatsApp-Gruppen erfolgreicher Abgänger überfordert und verunsichert fühlen. Wundert es wirklich, von Hauptschul- oder Berufsvorbereitungsklassen oft dass es auch Ängste und Vorbehalte gegen einen weiteren das Wort „Scheiß-Deutschland“ auftaucht, nachdem Zuzug gibt, ohne weiter zu differenzieren? Der Einwurf sitzt, viele von ihnen nun ohne Ausbildungserlaubnis auf der Diejenigen, die am lautesten eine unbegrenzte Aufnahme Strecke bleiben, braucht niemanden zu wundern. Denn sie von Asylsuchenden befürworteten, lebten selten dort, wo sehen das Leben der Gleichaltrigen an sich vorbei ziehen sich die Konkurrenz um billigen Wohnraum gnadenlos und sie wollen es auch. Pech, wenn man halt aus einem verschärft, wo in Schulklassen die einheimischen Kinder die ‚falschen‘ Land stammt, nicht aus einem der aktuellen Ausnahme werden, wo Alteingesessene ihren Ortsteil nicht ‚Big five‘, der Herkunftsländer mit einer derzeit hohen mehr wiedererkennen und sich Parallelstrukturen bilden. Anerkennungsquote. Das kann morgen schon anders sein, Sie erleben nicht, wie es ist, mit immer mehr Migranten wenn es politisch opportun wird. Denn mit Fakten kann es um einen Helfer-Job zu konkurrieren, von dem gleichen kaum begründet werden: Die deutlich unterschiedlichen unsicheren Lebensgefühl besetzt zu sein wie diese. Anerkennungsquoten der Fluchtländer nicht nur im europäischen Vergleich, sondern selbst im Vergleich der Zur Wahrheit gehört allerdings auch, es ist nicht die Schuld einzelnen Bundesländer, entlarven die Absurdität und der Geflüchteten, dass in den vergangenen Jahrzehnten Willkür solcher Festlegungen. hunderttausende Wohnungen aus Volkseigentum an Privatinvestoren verscherbelt wurden. Es sind nicht die Gute Bleibeperspektive für die Würde des Menschen, für Geflüchteten, die an einem Bildungssystem schuld sind, Respekt? Es ist falsch, auf den rechten Rand im politischen das unterfinanziert ist, früh selektiert und Ungleichheit der Spektrum zu reagieren und sich von dort die Themen setzen Chancen von Kindesbeinen an produziert. Es sind nicht die zu lassen. Es geht um eigene glaubwürdige Alternativen Geflüchteten, die prekäre Arbeitsmodelle zulassen, welche zum Status quo, um soziale Gerechtigkeit und Sicherheit, Diejenigen untereinander ausspielen, die keine Wahl haben. um gute Infrastruktur, Gemeinwohl und Chancengleichheit Es sind nicht die Geflüchteten, die darüber entscheiden, für alle. Es geht darum, endlich dafür Sorge zu tragen, wie lange sie im Asylverfahren und in sozialer Sicherung dass sich Menschen wieder gehört, wertgeschätzt und verharren, anstatt so früh wie möglich, ungeachtet respektiert fühlen. Das könnte nicht nur das politische ihres Status, in Arbeit oder zumindest gemeinnützige Klima, sondern auch die Gesellschaft verändern, weil es Beschäftigung vermittelt zu werden. Es ist ihnen nicht wieder eine Hoffnung gäbe. anzulasten, dass sie, wie andere auch, nicht alle motiviert sind, eine Arbeit anzunehmen, die so niedrig entlohnt Gute Bleibeperspektive für Bürgerrechte? „Angst“ war wird, dass sie sich nicht rechnet. Und es ist wahrlich nicht das Motto des Wahlkampfes, „Sicherheit“ und „Ordnung“ ihre Schuld, dass Arbeit für viele würdelos und krank sind nun die vorlauten Schwestern, die Erlösung und Heil machend ist, dass viele Renten nicht zum Leben reichen bringen sollen. Sicherheit ist hier ein besonders trügerischer werden, dass an den ‚Tafeln‘ immer mehr Konkurrenten Begriff, steht er doch vor allem für mehr Überwachung, anstehen, hunderttausende Menschen hierzulande ohne mehr Beschneidung des Bürgerrechte, mehr Repression. Krankenversicherung sind und ebenso vielen der Strom


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6 abgedreht wird, weil sie ihren Zahlungsverpflichtungen nicht nachkommen. Die Verantwortung tragen schon wir als Wähler. Eine gute Bleibeperspektive für eine friedliche Vielfalt an Lebensentwürfen und Kulturen? Für das Recht auf Selbstbestimmung und für einen eigenen Lebensentwurf, solange man sein Leben mit oder neben den anderen gestaltet, aber nicht gegen sie? Solange man sich an die Gesetze hält, andere respektiert und für sich Verantwortung übernimmt? In den sieben Jahren „Heimfocus“ haben wir in Seminaren, Vorträgen, in politischen Diskussionen, im Heimcafe und auch in vielen interessanten Begegnungen wache, engagierte Menschen kennengelernt, die uns wichtig geworden sind, die uns beeindruckt und ermutigt haben, die uns die Gewissheit gaben, die ich hier

weitergeben möchte: Wir sind VIELE und es tut gut, sich auszutauschen und einander den Rücken zu stärken. Und es gibt auch außerhalb unseres Tellerrandes unglaublich gute Ideen, und Initiativen, die auch im neuen HeimfocusFormat ihren Platz finden werden, als Mutmacher. Gute Bleibeperspektive für eine Gesellschaft, in der „alle gut und gerne“ leben können? Es kommt auf uns an. Wir sind eine zupackende, solidarische Zivilgesellschaft, die gemeinsam Berge versetzen kann, wenn es darauf ankommt – und wenn sie mehr als ihre helfenden Hände einzusetzen bereit ist, weil es helfende Hände allein nicht richten werden. Es kommt jetzt gerade auf jeden von uns an, sich für das einzusetzen, was uns wichtig ist. Und aktiven Widerstand zu zeigen gegen Ideologien, die wir auf keinen Fall wollen. Eva Peteler

¹ http://worldday.de/erderschoepfungstag-welterschoepfungstag-earth-overshoot-day-kein-offizieller-welttag-aber/ ² http://www.ipg-journal.de/rubriken/nachhaltigkeit-energie-und-klimapolitik/artikel/windraedert-doch-wie-ihr-wollt-2335/ ³ARD-Magazin FAKT vom 10.10.2017: http://www.ardmediathek.de/tv/FAKT/Gesuchte-Hilfskr%C3%A4fteWarum-Fl%C3%BCchtlinge-/Das-Erste/Video?bcastId=310854&documentId=46852912

Lest endlich die Bücher afrikanischer Frauen! Dazu lädt der ehem. langjährige Diplomat in verschiedenen afrikanischen Ländern, Volker Seitz, auf seiner Seite <Achgut.com> ein. Er stellt dort viele afrikanische Schriftstellerinnen und ihre bemerkenswerten literarischen Werke vor, die hier noch weitgehend unbekannt sind. „Schriftsteller sind Zeitzeugen“, so werde ein anderer Zugang zu unserem Nachbarkontinent und seinen Menschen möglich als durch die verengte Wahrnehmung, die uns in der Regel die Medien bieten. „Vermutlich ist die Literatur der beste Weg, um den einzigartigen, widersprüchlichen und beeindruckenden Kontinent Afrika zu verstehen. Literatur fördert auf angenehme Weise interkulturelles Verständnis und Respekt vor anderen Kulturen. Als Diplomat habe ich mich vor jeder Versetzung mit der zeitgenössischen Literatur eines für mich neuen Landes auseinandergesetzt. Eine bessere Vorbereitung auf ein Land gibt es nicht. Ich möchte Ihnen mit diesem Stück Appetit auf die weiblichen Stimmen der Literatur Afrikas machen. Diese Bücher sind eines der schönsten Mittel, Afrika mit den Augen der Schriftsteller zu sehen. Die Texte machen Spaß, vermitteln Wissen und unterhalten auf intelligente Weise“, so Volker Seitz, der zum Initiativ-Kreis des Bonner Aufrufs zur Reform der Entwicklungshilfe gehört und Autor des sehr aufschlussreichen Buches „Afrika wird armregiert“ ist, das bereits in der siebten Auflage erschienen ist.

Flora-Nwapa, © buzznigeria.com

Chimamanda Ngozi Adichie © sahistory.org.za

http://www.achgut.com/artikel/herausragende_buecher_afrikanischer_frauen http://www.sahistory.org.za/article/women-african-literature-writing-and-representation https://strugglingbookworm.wordpress.com/2015/03/11/6-female-african-writers-to-look-up-to/


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D A UND TSCHÜSS! K Liebe Leser*innen und Freund*innen von Heimfocus, Sie halten mit Nr. 30 die letzte Ausgabe unseres Magazins in den Händen. E Wir danken Ihnen allen für Ihr Interesse und Ihre Unterstützung. Vor allem aber danken wir folgenden Menschen von ganzem Herzen, ohne die es Heimfocus nie gegeben hätte: Tanja Hammerl und Britta Balling von der Flyeralarm GmbH: Im Frühjahr 2010 standen wir da, drei Geflüchtete und eine deutsche Unterstützerin, mit einer Idee, doch ohne Ahnung, wie wir sie umsetzen und finanzieren könnten. Unser erster Vorstellungstermin war gleich ein Volltreffer: Die Flyeralarm GmbH hat Heimfocus überhaupt erst möglich gemacht, indem sie die Druckkosten von der ersten bis zur letzten Ausgabe übernommen und darüber hinaus unsere Arbeit auf vielerlei Art engagiert unterstützt hat. Hier auch ein großes Dankeschön an Claudia Hahn von Standpunkt e.V.! Maneis Arbab: Unser Gründungsmitglied, Chef-Designer und Layouter der ersten Stunde gab bis zur letzten Ausgabe mit seinem fachlichen Können und vielen Stunden Arbeit Heimfocus sein Gesicht. Anette Hainz: Unsere geduldige und kreative Medien-Designerin hat ehrenamtlich, mit Herzblut und mutigen Ideen dem Magazin den letzten Schliff gegeben und das Cover gestaltet. Gunnar Lorenz: Unser nervenstarker und hilfsbereiter IT-Experte für alle Fälle hat unseren bisherigen und auch künftigen Internet-Auftritt eingerichtet und betreut sie kompetent - und ehrenamtlich. Dörte Volk von Vivovolo e.V.: Unsere treue Unterstützerin der ersten Stunde und ‚Frau im Hintergrund‘ für die ebenso unerlässliche wie lästige Finanzverwaltung und die Bereitstellung der Spendenadresse. Danke, Vivovolo – und herzlichen Glückwunsch zum 10jährigen, siehe Artikel in diesem Heft! Allen Autor*innen, Initiativen, NGOs und Medien, die unser Magazin mit ihren Beiträgen zu dem vielseitigen Medium gemacht haben, zu dem es im Lauf der Jahre gereift ist. das Redaktionsteam von Heimfocus

das neue heimfocus-online.net will als Newsletter und Forum • informieren • kommentieren • kritisch hinterfragen • allen Raum zum Veröffentlichen bieten, die sich für Menschenrechte, Frieden, für eine offene und solidarische Zivilgesellschaft engagieren und sich mitteilen wollen Wenn Sie den Newsletter und aktuelle Beiträge von heimfocus-online abonnieren wollen, melden Sie sich entweder mit einer Mail an <contact@heimfocus.net> oder in Kürze über das Newsletter-Formular auf <www.heimfocus-online.net> an. Trauen Sie sich, Gastbeiträge zu schreiben, uns auf interessante Themen, Initiativen und Veranstaltungen aufmerksam zu machen oder selbst davon zu berichten. Wir freuen uns auf ein gemeinsames Forum und darauf, wie wir so alle zusammen beitragen können zu einer Gesellschaft, in der „alle gut und gerne“ leben können.


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Heimfocus stellt hier das Aktionsbündnis WIR MACHEN DAS vor – als Gegenentwurf zu den politischen Stimmen, von denen die Themen Flucht und Zuwanderung missbraucht werden, um Unsicherheit und Spaltung zu fördern und sie politisch zu verwerten. Das Aktionsbündnis stellt auf seiner Website eine Fülle von Ideen Projekten, Geschichten und Mitmach-Möglichkeiten vor sowie ein Diskussionsforum. Wir danken dem Aktionsbündnis für die Erlaubnis, Texte von der Website entnehmen und publizieren zu dürfen.

WIR MACHEN DAS „Wir sind viele und wir machen das. Neuangekommene und Alteingesessene gestalten unser Zusammenleben. Wir machen Initiativen sichtbar, die zeigen, was möglich ist“,so stellt sich das Aktionsbündnis WIR MACHEN DAS auf seiner Website vor: http://wirmachendas.jetzt/ Die Globalisierung hat die nächste Stufe erreicht. Bisher war sie getrieben von technischen Entwicklungen und wirtschaftlichen Möglichkeiten. Und plötzlich sind da Menschen. Sie treten hervor hinter Daten, Fakten, Strategien und Analysen – mitten in unser Leben, mitten hinein in unsere Gesellschaft. Politik, ihre Folgen und ihr Versagen werden körperlich erfahrbar, jetzt und hier. Dieser unumkehrbaren Entwicklung stellt sich das Aktionsbündnis WIR MACHEN DAS. WIR MACHEN DAS ist ein Bündnis von Neuankommenden und Einheimischen. „WIR“, das waren zunächst 100 Frauen* aus Kunst, Wissenschaft und öffentlichem Leben. „Wir“ sind inzwischen ein wachsendes Bündnis zahlreicher Initiativen, Personen und Institutionen, neuankommende und einheimische Menschen. Uns verbindet das gemeinsame Ziel, der Herausforderung weltweiter Migration mit Menschlichkeit und Sachverstand zu begegnen. „MACHEN“, das bedeutet: jede und jeder wie sie oder er kann. Vom Kleiderfalten bis zum Lobbyismus, von Sammelklage bis Seenotrettung, vom Beherbergen bis zum Bauvorhaben, von Rechtsberatung bis Sprachvermittlung, von kultureller Teilhabe bis Arbeitsplatzvermittlung vom persönlichen Statement bis zur breiten Medienkampagne. Wir machen das, um langfristige Perspektiven zu eröffnen. Wir nehmen die Hürden, die von staatlicher Seite oder vom Gesetzgeber aufgebaut werden, nicht hin. Wir finden einen realistischen und pragmatischen Umgang mit Zuwanderung, der sich den Herausforderungen stellt und Zuwanderung als Chance für unsere Gesellschaft versteht. Wir schaffen Teilhabe. Menschen Teilhabe zu eröffnen, ermöglicht ihnen, zu unserer Gesellschaft beizutragen; sie auszuschließen, ist ethisch und politisch nicht vertretbar – und verursacht zudem hohe soziale und ökonomische Kosten. Wir schaffen gemeinsam mit den Menschen, die zu uns kommen, ein Zusammenleben auf Augenhöhe. Wir machen es für eine offene, demokratische Gesellschaft. Es ist an der Zeit, einen realistischen Umgang mit Zuwanderung zu finden. Zuwanderung ist unausweichlich Teil einer politisch und ökonomisch

verflochtenen Welt. Es gilt, die vielfältigen Potentiale von Zuwanderung zu nutzen, statt beständig die Angst vor möglichen Gefahren und Risiken zu verstärken. Große Teile der Zivilgesellschaft, von Einzelpersonen über Nachbarschaftsinitiativen, religiösen Gemeinschaften bis hin zu den Industrie- und Handelskammern und Hochschulen, sind hier ihrer politischen Vertretung weit voraus. Vielfältige Initiativen und Projekte zeigen, was möglich ist. Langfristig geht es darum, die Möglichkeiten und Potentiale einer Einwanderungsgesellschaft aufzuzeigen, die zwar Herausforderungen stellt, aber keine Bedrohung bedeutet. „DAS“ ist die Bewegung weg von Mitleid und Meinung, Hilfe und Abwehr hin zu einer Kultur des Teilens und der selbstbestimmten Gestaltung unserer Welt. Ob ohne, mit oder gegen politische Institutionen, entscheidet sich in der Praxis täglich aufs Neue. Wir haben keine Angst, wir haben einen Plan. Und wir sind bereit, ihn jederzeit den sich verändernden Anforderungen anzupassen.


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11 / 2017 Migration ist Regel, nicht Ausnahme. Auch der Stoff, aus dem Deutschland gemacht ist, ist gewebt aus Bewegung und Wanderung, aus Aufbruch und Wandel. Akzeptieren wir die Tatsachen und fangen wir an, unsere Gesellschaft neu zu gestalten.

und migrierten nach Brasilien. Noch heute sprechen zwei Millionen Brasilianer_innen den Hunsrücker Dialekt, das so genannte Riograndenser Hunsrückisch. Sie flohen aus Armut und wirtschaftlicher Verelendung; sie waren: Wirtschaftsflüchtlinge. Seit der Wende wanderten jährlich mindestens 600.000 Menschen aus Deutschland aus. Allein In Europa gibt es seit vielen Jahrhunderten regen Handel und 2013 verließen fast 800.000 Menschen die Bundesrepublik, Migration (und eine lange, fast vergessene Tradition von Viel- fast so viele wie wir in diesem Jahr neu aufnehmen werden. völkerstaaten). Viele Einflüsse haben den Kontinent geprägt: Die Mauren siedelten über Jahrhunderte in Spanien, die Os- Es waren die Nationalsozialisten, die ein ethnisch homomanen in Bulgarien, die Einwanderer aus den Kolonien wie genes Reich propagierten und gewalttätig durchzusetzen die Algerier in Frankreich, die Inder in Großbritannien, die In- suchten. Dieses ethnisch und kulturell homogene Land hat donesier in den Niederlanden. Nach 1989 kam eine nicht un- es nie gegeben. Doch ihre Vorstellungen wirken bis heubeträchtliche Anzahl von US-Amerikaner_innen nach Prag, te nach, was an dem lange Zeit unhinterfragten Diktum derzeit haben sich mehr als 20.000 junge Israelis für ein Le- „Deutschland ist kein Einwanderungsland“ spürbar ist. Die ben in Berlin entschieden. Noch nicht berücksichtigt hierbei Kohl-Regierung verteidigte dieses Narrativ sechzehn Jahsind all die innereuropäischen Migrationsbewegungen von re lang entschlossen – entgegen der Fakten: Unter Helmut den Hugenotten bis zu den enormen Bevölkerungsverschie- Kohl lebten rund 14 Millionen Migrant_innen in Deutschland bungen während und in Folge der beiden Weltkriege, die Eu- (nun sind es 16,5 Millionen). Den Folgen dieser Realitätsverropa in seinem Binnengefüge verändert haben. Die Europäer leugnung begegnen wir jetzt auf psychosozialer Ebene in sind – wie der kürzlich verstorbene Soziologe Ulrich Beck Form von Ängsten und Abwehr und auf praktisch-operativer postulierte – Multikulturalistinnen und Kosmopoliten. Ebene in Form von absolut mangelhafter Vorbereitung auf die Neuangekommenen sowie fehlender Infrastruktur und Die Idee der Nation und des Nationalstaats ist vergleichs- rechtlicher Regelungen, um sie zu integrieren. So wird in weise jung: Sie fand erst seit dem 18. Jahrhundert langsam Deutschland erst jetzt (!) über ein vernünftiges EinwandeVerbreitung. Noch der Deutsche Bund um 1848 war ein mul- rungsgesetz nachgedacht. Ein unglaubliches Versäumnis. tikulturelles Gebilde, in dem viele Sprachen und Nationalitäten (oder wie man damals sagte: Völker) zuhause waren. Die Der stets genährten falschen Vorstellung, die Neuangedeutschen Lande waren eine höchst heterogene Region in kommenen seien „zu fremd“ für uns, setzen wir entgegen, einem vielfältigen, multiethnischen und multireligiösen Eu- dass Fremdheit und, ja, auch Unverständnis zu einer pluraropa. Später, in der Weimarer Republik, lebten hier so viele listischen, offenen Gesellschaft dazu gehört. Sie beginnt im russische Exilanten und Exilantinnen, dass über 80 russisch- eigenen Haus: Der Rapper wundert sich über die Religionssprachige Zeitungen und Zeitschriften gedruckt und gelesen lehrerin, die eine Etage über ihm wohnt, der allein lebende wurden. Seit den 1880er Jahren übersiedelten tausende aus Banker über die Großfamilie, mit der er um den Parkplatz dem polnischen Kulturkreis stammende Einwanderer (preu- streitet, der Wurstfabrikant schüttelt den Kopf über die ßischer bzw. deutscher und polnischer Nationalität) in das Veganerin und so weiter. Offene Gesellschaften setzen per Ruhrgebiet. Deren Zahl erreichte 1910 mit einer halben Milli- definitionem auf Unterschiedlichkeit und nicht auf Konforon den höchsten absoluten Wert und zugleich den höchsten mität. Es ist diese kreative Mischung, aus der sich die innovaAnteil an der dortigen Gesamtbevölkerung. Das viel geprie- tiven und erfolgreichen Gesellschaften entwickeln. Bislang sene westdeutsche Wirtschaftswunder wäre ohne die zahl- hat jede Einwanderungswelle Deutschland bereichert. Die reichen so genannten Gastarbeiter und Gastarbeiterinnen, neu Hinzugekommenen werden unsere Gesellschaft auch die ab den frühen 1960er Jahren nach Deutschland kamen, diesmal – und nicht nur aus ökonomisch-demographischen nicht möglich gewesen. Gründen – bereichern. Wir werden – endlich – das Land der Gartenzwerge und Geranien, das Land der Kohls und HoneDeutschland war immer auch Auswanderungsland. Namen ckers hinter uns lassen und eine Gesellschaft werden, in der brandenburgischer Dörfer wie Boston, Philadelphia zählt, was eine tut und sagt und nicht, woher sie kommt. oder schlicht Amerika zeugen von Wunsch und Wille, Deutschland auf der Suche nach einem besseren Leben zu Angela Merkels „Wir schaffen das“ war nur der Anfang. Die verlassen. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in der Neuangekommenen mögen noch terra incognita für uns nachnapoleonischen Zeit, verließen Tausende den Hunsrück sein und bewegen sich selbst auf für sie neuem und schwankenden Boden. Aber alle gemeinsam schöpfen wir aus einer reichen und vielfältigen Geschichte von Erfahrungen mit Aufbruch und Ankommen. Wir verschließen die Augen nicht vor den Herausforderungen, die damit verbunden sind, Deutschland als Einwanderungsgesellschaft neu zu erfinden, aber wir freuen uns auf das Leben mit den neu Hinzugekommenen. Wir öffnen uns dieser neuen Wirklichkeit. Wir schreiben dieses Kapitel gemeinsam. Wir schaffen das nicht nur; wir machen das!


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integrAIDE Die Brücke zwischen Geflüchteten und Unternehmen

Ammar Jlilati ist gelernter Metallbauassistent aus Syrien. das Konzept des ehrenamtlichen Job Coaches entwickelt, Im Zuge der Flüchtlingskrise kam er nach Deutschland, um welcher als „Brückenbauer“ zwischen Geflüchteten und die Ängste und Konflikte aus dem Alltag in seinem Heimat- Unternehmen fungiert. land hinter sich zu lassen. Das Besondere an integrAIDE ist eine ganzheitliche HeEin wichtiger Schritt für eine erfolgreiche gesellschaftliche rangehensweise und die regionale Anpassungsfähigkeit. Integration von Geflüchteten in Deutschland ist die berufli- Als spezialisiertes Unternehmen professionalisiert und che Eingliederung in den Arbeitsmarkt. Diese ist jedoch für begleitet integrAIDE die Arbeit Ehrenamtlicher, die die viele Geflüchtete eine Sisyphusaufgabe, da sie hier neben Arbeitssuche Geflüchteter persönlich betreuen. Dabei werdem Bürokratismus auf viele weitere Hürden stoßen, wie den alle Aspekte und Phasen der Arbeitsmarktintegration beispielsweise mangelnde Sprachkenntnisse, rechtliche betrachtet. So wird sichergestellt, dass die Job Coaches Einschränkungen, kulturelle Unterschiede oder benötigte Geflüchtete und Unternehmen bei allen HerausforderunQualifikationsanforderungen. Doch Geflüchtete bringen gen unterstützen können – sogar über die erfolgreiche Areine Vielzahl an Fähigkeiten mit, welche Unternehmen beitsvermittlung hinaus! Weiterhin lässt sich das Konzept neue Impulse geben können. Dazu gehören beispielsweise flexibel und unbürokratisch jeder Situation anpassen und spezielle handwerkliche Fähigkeiten, die in Deutschland ergänzt hauptamtliches Engagement ideal. Dies ermögnur noch wenige beherrschen. licht den deutschlandweiten Einsatz von Job Coaches. Dass die gesellschaftliche und wirtschaftliche Eingliederung von Geflüchteten große Potentiale birgt, erkannten auch zwei Professoren sowie Studierende der Universität Würzburg. Ende des Jahres 2015 gründeten Thomas Glaser, Bianca Heim und Joscha Riemann das Social Start-up integrAIDE, welches nachhaltig die berufliche Integration von Geflüchteten in Deutschland fördert. Hierzu haben die drei

Jana ist ein von integrAIDE professionell ausgebildeter Job Coach. Mithilfe der Kenntnisse aus den Job Coach Workshops sowie den dort zur Verfügung gestellten Werkzeugen verhalf Jana dem eingangs vorgestellten Ammar aus Syrien zu einer Anstellung als Hilfskraft in einem Metallbaubetrieb.


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Neben der Vermittlung von Ammar konnte integrAIDE inzwischen weitere handfeste Erfolge erzielen. So wurden bereits über 40 Geflüchtete binnen weniger Monate in den Pilotprojekten Alzenau, Schermbeck und Würzburg durch Job Coaches in Arbeit vermittelt. Weitere 50 Geflüchtete befinden sich aktuell in persönlicher Betreuung durch die ehrenamtlichen „Brückenbauer“. „Wir wollen Idealismus serienfähig machen”, so Joscha Riemann, einer der Visionäre von integrAIDE. „Wir freuen uns, die ersten Früchte unserer Arbeit zu sehen und arbeiten begeistert daran, weitere Workshops von Job Coaches anzubieten, das Konzept zu verfeinern und das Projekt flächendeckend in weiteren Kommunen Deutschlands zu starten, um die Situation der Geflüchteten zu verbessern.” Peter Kowalczyk - integrAIDE integrAIDE Joscha Riemann Stephanstraße 1 97070 Würzburg Tel.: 0931 - 31 - 84742 Mail: info@integrai.de www.integrai.de

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Gesundheit ist ein Menschenrecht Doch auch in Deutschland steht dieses Recht nicht jedem zu MediNetz Würzburg e.V für Menschen ohne Krankenversicherung

©freeemedicalcare

Antonia* ist 21 Jahre jung, Rumänin, seit einem Jahr in Deutschland und im viertem Monat schwanger. Seit einiger Zeit hat sie häufiger Unterleibsschmerzen und sie weiß, sie müsste sich dringend untersuchen lassen. Das Problem: Antonia hat keine Krankenversicherung und kein Geld, um eine Untersuchung selbst zu zahlen. Ihre Familie ist noch in Rumänien und kann sie finanziell nicht unterstützen. Zum Kindsvater besteht kein Kontakt mehr. Über die Sozialberatung erfährt Antonia vom MediNetz Würzburg. Sie besucht daraufhin die Sprechstunde des MediNetz und trifft dort auf zwei Freiwillige. Sie kümmern sich um Antonia, tauschen Kontaktdaten aus und vermitteln sie an eine Gynäkologin. Alles ganz anonym. Sie werden auch bis nach der Geburt für Antonia da sein. (Fall fiktiv, Name ausgedacht) Was ist das MediNetz? Nach der Sprechstunde sitzen 18 junge Freiwillige dicht gedrängt in einem kleinen Raum zusammen. Wie jede Woche treffen sich die aktiven Mitglieder des MediNetz Würzburg zur Besprechung. Das MediNetz ist eine Nichtregierungsorganisation und seit Januar 2016 ein eingetragener Verein, der für einen Zugang zur Gesundheitsversorgung für alle Menschen in Deutschland kämpft. Der Vereinsaktivisten haben dazu in der jeweiligen Kommune ein Netzwerk aus Fach- und Allgemeinärzten, Hebammen, Therapeuten und Apothekern aufgebaut, um ihren Klienten zu helfen.

geben. Denn Gesundheit ist ein Menschenrecht und daher ist es Aufgabe des Staates, allen Menschen eine adäquate Gesundheitsversorgung zu ermöglichen. Durch unseren Verein etablieren wir eine Parallelstruktur, um den Menschen zu helfen. Unser oberstes Ziel ist daher, uns selber abzuschaffen.“ Situation in Deutschland

©bangunrumahmas

Das MediNetz beruft sich dabei u.a. auf den UN-Sozialpakt, der 1976 auch von Deutschland unterzeichnet wurde. Hier ist in Artikel 12 festgehalten, dass jeder Vertragsstaat die Voraussetzungen für eine medizinische Versorgung bieten muss. Leider sieht es in Deutschland derzeit ganz anders aus. 2011 gab es etwa 137.000 Menschen ohne ausreichenden Krankenversicherungsschutz. Die Dunkelziffer ist schätzungsweise um das Dreifache höher; in diese Zahl werden nur deutsche Staatsbürger hinein „Wir haben das MediNetz gegründet, weil in Deutschland gerechnet. Gründe für die fehlende Krankenversicherung viele Menschen leben, die keinen oder nur einen schlechten können vielfältig sein, davon betroffen sind beispielsweise Zugang zur Gesundheitsversorgung haben,“ erzählt Johan- Obdachlose, Privatversicherte mit Beitragsschulden bzw. nes Ullrich, eines der Gründungsmitglieder von MediNetz ohne Wechselmöglichkeit zurück in die gesetzliche KV Würzburg. „Dabei sollte es uns als Verein eigentlich nicht oder Haftentlassene, die bis zur Annahme ihres Antrags


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11 / 2017 auf ALG II ohne Versicherungsschutz sind. Nicht in der Zahl inbegriffen sind EU-Bürger, Menschen ohne Papiere und Asylbewerber.

©MediNetz Würzburg

MediNetz Würzburg. Darüber hinaus können Betroffene auch die Sprechstunde aufsuchen. Immer zwei Mitglieder übernehmen gemeinsam die Fallverantwortung, setzen sich mit den Ärzten des Netzwerks in Verbindung und suchen Lösungen. Bei Problemfällen unterstützt das gesamte Team mit Ideen. Oberste Priorität für die Arbeit mit den Patienten ist die Anonymität. Es wird versucht, alle Kosten zu übernehmen, wenn keine eigene Finanzierung gewährleistet werden kann. Dabei ist das MediNetz auf die Solidarität der Gesellschaft und deren Spenden angewiesen. Ein Teil der benötigten finanziellen Mittel kommt von Fördermitgliedern, der andere von Privatspenden. Für die Arbeit im MediNetz werden interdisziplinäre Kompetenzen benötigt, neben Medizinstudenten auch Mitglieder aus anderen Disziplinen wie Psychologie, Soziale Arbeit oder Jura. Neben der direkten Arbeit mit den Menschen betreibt das MediNetz intensiv Öffentlichkeitsarbeit, um in der Gesellschaft ein Bewusstsein für die Problematik zu schaffen. Dem MediNetz ist es wichtig, partei- und kirchenunabhängig zu arbeiten. Ebenso werden alle Entscheidungen basisdemokratisch getroffen.

Die Gruppe der EU-Bürger, die zum Arbeiten über das Freizügigkeitsgesetz nach Deutschland kommen, aber keine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung finden und sich eine freiwillige Versicherung nicht leisten können, ist die bisher größte Gruppe, welche auf die Hilfe des MediNetz angewiesen ist - und sie wächst stetig. Ebenso sind Menschen ohne Papiere, also Menschen ohne legalen Aufenthaltsstatus, eine der Hauptpatientengruppen. Es wird geschätzt, dass sich derzeit zwischen 200.000 Ziele des MediNetz und 500.000 Menschen ohne Papiere in Deutschland Auf kurzfristige Sicht geht es MediNetz darum, den aufhalten. Diese Personengruppe hat keinen Zugang zur Menschen ohne Zugang zur Gesundheitsversorgung direkt, Gesundheitsversorgung. Nur über das Sozialamt könnte schnell und gezielt zu helfen. Darüber hinaus ist es jedoch man sich die Behandlungskosten zurückerstatten lassen, auch ein Ziel, die regionalen und kommunalen Strukturen dies scheitert jedoch daran, dass das Sozialamt eine zu ändern und die Politik und Bürger für diese Missstände Meldepflicht gegenüber der Ausländerbehörde hat und und Defizite zu sensibilisieren. Langfristig gesehen somit den Betroffenen der Zugriff der Behörden droht. möchte das MediNetz zusammen mit anderen Vereinen in Die medizinische Behandlung von Asylbewerbern ist Deutschland die Strukturen auf Bundesebene verändern nach dem Asylbewerberleistungsgesetz nur bei akuten und die Regierung zum Handeln bewegen. Hierbei geht es Erkrankungen und Schmerzzuständen gewährleistet, alle vor allem um bestimmte gesetzliche Veränderungen, die darüber gehenden Maßnahmen und Therapien liegen für viele Betroffene eine große Wirkung hätten. Leider ist im Ermessen des jeweiligen Sozialamtes, das heißt, der der Weg bis dahin noch sehr lang und auf das MediNetz dort tätigen Verwaltungsangestellten ohne medizinische kommt viel Arbeit zu. Jedoch ist allen Mitgliedern klar: Für Fachkompetenz. die betroffenen und teilweise verzweifelten Menschen, die sich ans MediNetz tagtäglich und an vielen Orten wenden Die Arbeit des MediNetz (müssen), lohnt es sich, diese Schritte zu gehen und die "Die meisten Klienten melden sich anonym über das Stimme für die Einhaltung der Menschenrechte zu erheben. Notfallhandy. Wenn es kein akuter Notfall ist, machen wir eine zeitnahen Treffpunkt aus und besprechen dort alles Fiona Hiery weitere mit dem Klienten," erzählt mir ein Mitglied des Studierende der Sozialen Arbeit an der Fachhochschule Würzburg-Schweinfurt, FHWS

Kontakt Tel. +49 160 91661078 Homepage: www.medinetz-wuerzburg.de Sprechstunde: jeden Dienstag von 17:00 bis 18:00 Uhr Eine Welt Laden, Plattnerstraße 14, 97070 Würzburg Für Interessierte: Mitgliedertreffen jeden Dienstag nach der Sprechstunde

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MediNetz Würzburg e.V. Sparkasse Mainfranken Würzburg IBAN: DE61 7905 0000 0048 0974 63 BIC: BYLADEM1SWU


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Anta btehki arabyie? Sprichst du arabisch? Do you speak Arabic? Sprachen lernen auf Augenhöhe: das Sprachtandem

Wie lernt man eine neue Sprache am effektivsten? Wie lerne ich eine neue Kultur, ihre Gebräuche und Verhaltensweisen am besten verstehen? Wie ist es möglich, eine internationale Gruppe an sprachinteressierten Menschen am besten zusammenzubringen? Wie kann man einen Beitrag zur Integration in ungezwungener Atmosphäre leisten? All diese Fragen stellten wir uns, als wir mit der Aufgabe konfrontiert wurden, innerhalb unseres Masterstudiengangs „International Social Work with refugees and migrants“ ein Projekt ins Leben zu rufen.

sondern müssen die deutsche Sprache zügig und auf einem soliden Niveau erlernen. Nur mit guten Sprachkenntnissen haben sie die Chance auf einen Arbeitsplatz, gar sehr gute Sprachkenntnisse fordern ihnen Ausbildung und Studium ab. Und nur so sind sie irgendwann in der Lage, ihren eigenen Lebensunterhalt in Deutschland dauerhaft zu sichern.

Aus dieser Herausforderung heraus entstand die Idee eines Sprachtandems, bei dem ein deutschsprachiger mit einem arabischsprachigen Teilnehmenden gekoppelt werden sollte, um sich gegenseitig die eigene Muttersprache beizuDas Erlernen neuer Sprachen gestaltet sich stets als große bringen. Da hier beide Parteien die jeweils andere Sprache Herausforderung, vor der nicht wenige zurückschrecken. erlernen wollen, vermeidet man hierarchische UnterschieVokabeln trainieren, Grammatik verstehen, eigene erste de und ermöglicht eine Begegnung auf Augenhöhe. Es gibt Sätze bilden und vor allem die Zeit, die eine solche Aufgabe kaum einen einfacheren und angenehmeren Weg, eine in Anspruch nimmt, das alles sind gute Gründe, sich beim Sprache zu lernen, als sie tatsächlich in direkter Begegnung Spracherwerb eher zurückzuhalten. Wir konnten all diese mit einem/einer Partner*in ohne Scheu üben zu können. Gründe bestens nachvollziehen, als wir die arabische Spra- ‚Learning by doing‘ war hier das Motto und somit erstellten che als Teil unseres Studiums erlernen sollten. Menschen, wir ein Konzept, um ein solches Projekt zu initiieren. die aus ihren Heimatländern flüchten mussten und nach Deutschland kommen, sind mit dieser Aufgabe ebenfalls- Das Projekt sollte darauf abzielen, dass die Teilnehmer*innen konfrontiert. Sie haben allerdings nicht die Wahl wie wir, ihre Rahmenbedingungen für das Lernen selbstständig set-


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zen können. Ob sie sich in einer ruhigen Lernatmosphäre treffen, sich in einem Cafe verabreden oder gemeinsame Aktivitäten wie Kochen bevorzugen, sollte ihnen überlassen bleiben. Auch die periodischen Abstände zwischen ihren Treffen sollten sie untereinander ausmachen. Unser Projekt sollte den Teilnehmer*innen kein weiteres Pflichtfach auferlegen, sondern ihnen lediglich eine Möglichkeit schaffen, ihre sprachlichen Fähigkeiten zu erweitern. Um Teilnehmer*innen zu finden, fragten wir Studierende in unserem Arabisch-Kurs an der Fachhochschule sowie innerhalb unserer privaten Netzwerke. Dabei schlossen wir auch englischsprachige Interessenten mit ein. Letztendlich setzte sich die Gruppe aus zahlreichen verschiedenen Kulturen zusammen, aus Deutschland, Kenia, Aserbaidschan, Iran, Ukraine, USA, Italien etc.. Auf der anderen Seite fanden wir schnell Interessierte aus Syrien, die ihr Deutsch verbessern und v.a. auch Kontakte zu deutsch-sprechenden Menschen knüpfen wollten. Diesen internationalen Kreis aus insgesamt ca. 30 Personen in direktem Kontakt und persönlichem Gespräch zu finden, empfanden wir als einen positiven und vertrauensbildenden Aspekt. Wir initiierten eine Facebook Gruppe, die zu unserer Plattform wurde, um miteinander zu kommunizieren und Treffen zu vereinbaren. Auf dieser Plattform ergab sich schließlich ein passender Termin für ein erstes Gruppentreffen, für das wir einen Raum, Snacks und Getränke organisierten. Hier erklärten wir unsere Idee und wie wir uns die Tandems vorgestellt hatten, dass diese offen, frei und selbstorganisiert arbeiten sollten und wir als Projektleiterinnen ihnen lediglich den Rahmen stellen würden. Die Tandems sollten im Anschluss ihre weiteren individuellen Treffen vereinbaren. Wir beschlossen, in regelmäßigen Abständen weitere freiwillige Gruppentreffen zu initiieren mit dem Ziel, dass sich auch Leute außerhalb ihrer Tandems vernetzen und sich besser kennen lernen können. Bei diesen weiteren Treffen verabredeten wir uns am Main für Lagerfeuer, BBQ und einige spielerische Aktivitäten, um das Kennenlernen in gemütlicher Atmosphäre anzukurbeln. Dabei war es unter anderem auch möglich, ungezwungen die Erfolge, Probleme oder Wünsche der Tandems zu diskutieren.

kenntnis, dass unser Sprach- und Integrationsprojekt ein offenes Angebot bleiben und in eigenständiger Motivation und Verantwortung der Teilnehmer*innen laufen sollte. Alle, die keine Motivation aufbringen, können das Projekt jederzeit verlassen, wodurch Platz für neue Interessierte geschaffen wird.

Am Ende konnten wir feststellen, dass es unser Projekt geschafft hat, verschiedene Kulturen miteinander zu verbinden und es den Teilnehmenden ermöglichte, voneinander zu lernen. Daher wollen auch wir das Projekt ab März 2018 fortführen und eventuell neue Teilnehmer*innen aufnehmen. Wir sind sicher, dass solche Projekte nachhaltig sein können und dass Sprache ein zentrales integrationsförderndes, alle Menschen in ihrer Verschiedenheit verbindendes Instrument ist. Unser Sprachtandem hat eine Brücke gebaut bzw. einen Weg geschaffen zum Erwerb einer neuIn einem Fragebogen am Ende unseres Projektes veren Sprache, zum Kennenlernen einer neuen Kultur und in suchten wir zu evaluieren, wie das Projekt für die manchen Fällen auch zu einer neuen Freundschaft. Tandempartner*innen ablief, ob sie Vorschläge, Wünsche oder neue Ideen haben und mit welchen Schwie„Jede neue Sprache ist wie ein offenes Fenster, rigkeiten sie zu kämpfen hatten. Viele Tandems hatten das einen neuen Ausblick auf die Welt eröffnet tatsächlich Probleme mit unserem Konzept der selbstund die Lebensauffassung weitet.“ organisierten und freiwilligen Treffen, so dass es bei einiFrank Harris gen Tandempartner*innen gar nicht erst zu individuellen Treffen kam oder die Tandempartner*innen unpünktlich Franziska Ott erschienen und unzuverlässig bei Vereinbarungen waren. Stefanie Witter Fast alle Beteiligten jedoch, die sich erfolgreich zusammengefunden haben, wollen ihr Tandem weiterführen. Studierende im Master-Studiengang International Social Work with refugees and migrants Trotz der offensichtlichen Tendenz mancher Teilnehmenan der Fachhochschule Würzburg-Schweinfurt, FHWS den, sich eher auf die von außen organisierten Events einzulassen als auf Selbstorganisation und Eigenverantwortung für ein eigenes Sprachtandem, kamen wir zur Er- Alle Bilder: Franziska Ott und Stefanie Witter


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„Es geht mir besser, seit ich für andere etwas tun kann“ Asif N. (dessen Namen wir während des Asylverfahrens aus Sicherheitsgründen nicht veröffentlichen) ist IT-Spezialist aus Kabul und lebt in Plauen. Er hat den Jesuiten-Flüchtlingsdienst beim Dreh des Videos zur JRS-„I Get You“-Kampagne über das ehrenamtlich gegründete „Kompetenzzentrum Integration“ in Plauen unterstützt. Hier berichtet er von seinen Erfahrungen in Deutschland. „Zuhause in Afghanistan waren wir eine große Familie. Jetzt sind wir überall auf der Welt verstreut: Meine Schwester hat bei einem privaten Radiosender gearbeitet und floh in die Türkei, mein Bruder hat für die NATO übersetzt, er lebt heute in den USA. Meine Mutter und eine Schwester sind noch immer in Kabul, mein Schwager wurde von den Taliban ermordet. Auch ich bekam viele Probleme und musste fliehen.

haben Afghan_innen während ihres Verfahrens kein Anrecht auf einen Deutschkurs.) Mein Leben bestand nur aus Sorgen, Schlafen und Lernen. Dann hat mein einziger afghanischer Bekannter in Plauen das Freitagsgebet besucht und mir erzählt, dass es einen Deutschkurs gibt. Wir konnten Menschen treffen! Zum ersten Mal habe ich hier nette Menschen kennengelernt. In den nächsten Wochen habe ich nur auf Dienstag und Freitag gewarAnkunft in einer feindseligen tet, auf unseren Deutschkurs. Mit Umgebung einigen der Leute, die ich dort Ich kam im September 2015 nach kennenlernen konnte, bin ich Deutschland, zunächst in eine heute eng befreundet. Manche kleine Stadt in Sachsen. Die Mensind wie Familie für mich. Ich habe schen in der Stadt haben uns so schnell Deutsch gelernt, und mit sehr gehasst, dass wir uns kaum der Zeit kamen mehr Afghanen in aus dem Haus getraut haben. Wir die Stadt. Weil ich Deutsch kann, wurden beschimpft, beleidigt und haben uns auf der Stra- begleite ich viele von ihnen – zum Arzt, zum Anwalt, zu Beße nicht sicher gefühlt. Zum Frühstück gab es in dieser hörden. Es geht mir viel besser, seit ich auch hier für andere Unterkunft jeden Morgen Brötchen und drei Radieschen. etwas tun kann. Keine Butter, keine Marmelade. Nur Brötchen und Radieschen. Eines abends kam es zum Streit zwischen einigen Sie wissen doch, dass Afghanistan nicht sicher ist Männern aus Afghanistan und aus Syrien. Plötzlich haben Die Anhörung beim BAMF (Bundesamt für Migration und die Syrer alle afghanischen Menschen mitten in der Nacht Flüchtlinge) war quälend, und nach zweieinhalb Monaten mit Gewalt aus den Zimmern vertrieben – es gab zu wenig bekam ich die Ablehnung. Meiner Familie habe ich nichts Security, die konnte nichts dagegen machen. Obwohl drau- davon erzählt. Ich kann auf keinen Fall zurück nach Afghaßen vor der Tür einige Verletzte standen und die Menschen nistan. Ich bin sofort zu einer Anwältin gegangen und warte teilweise mit nackten Füßen, ohne Schuhe, ohne Handys seither auf den Ausgang des Gerichtsverfahrens. Viele der im Winter vor der Tür standen, kam die Polizei erst nach afghanischen Mitbewohner kommen mit ihren Papieren mehreren Stunden. Erst am nächsten Tag konnten wir und Problemen zu mir. Sie haben wirklich große Probleme nochmal in die Unterkunft, um die Sachen zu holen, die – und trotzdem erhalten sie negative Bescheide vom BAMF. nicht zerstört worden waren. Dabei wissen die Menschen in Deutschland doch auch, dass Afghanistan nicht sicher ist. Ich verstehe das nicht. In Leipzig zum ersten Mal sicher gefühlt Dann wurden wir Afghanen mit Bussen weggebracht. Wir Uns nicht verurteilen, ohne uns zu kennen kamen nach Leipzig. Dort war alles ganz anders. Zum ers- Wenn ich unterwegs bin, merke ich, dass viele Menschen ten Mal, seit ich in Deutschland war, habe ich mich sicher Angst vor Flüchtlingen haben, sie setzen sich in der gefühlt. Aber in Leipzig war ich nicht lange, dann wurde Straßenbahn nicht neben uns oder antworten uns nicht, ich zusammen mit einem anderen Afghanen nach Plau- wenn wir etwas fragen. Das ist schmerzhaft und sehr traurig en gebracht. Es waren damals kaum Afghanen hier, es ist für uns, denn sie kennen uns doch gar nicht. Viele Mädchen schwierig, hier Menschen kennenzulernen, und ich war und Frauen kennen die negativen Schlagzeilen und lehnen einsam. Ich bin wieder kaum rausgegangen – nur zum Su- uns alle ab, ohne einen von uns zu kennen. Natürlich sind permarkt und dann schnell wieder nach Hause, um Deutsch nicht alle Flüchtlinge nett! Aber man sollte uns trotzdem zu lernen. (Anm.: Anders als z.B. Asylsuchende aus Syrien nicht pauschal verurteilen, ohne uns zu kennen. Eine ältere


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Dame kam neulich her, um uns ein Sofa zu spenden. Sie fühlte sich erst nicht wohl, aber dann habe ich mit ihr gesprochen, und sie war überrascht, dass ein Flüchtling so gut deutsch spricht und so freundlich ist. Es ist doch gut, Kontakt miteinander zu haben! Ich sehe hier viele alte Menschen, die ganz allein leben. Das finde ich traurig. Ich würde manchmal gern zu einem von ihnen hingehen und fragen, ob ich helfen kann. Aber dann befürchte ich, dass sie Angst haben könnten. Die Deutschen haben sehr viel Zeit zum Arbeiten und kaum Zeit für ihre Familie, für Freunde oder zum Kochen. Das ist in Afghanistan anders. Ich warte noch immer auf den Ausgang meines Asylverfahrens. Diese Anspannung ist immer da. Aber seit Der Artikel wurde zuerst veröffentlicht im JRS-Infobrief ein paar Monaten suche ich einen Ausbildungsplatz im IT- 02.2017 des Jesuiten-Flüchtlingsdienstes Bereich, in dem ich auch früher gearbeitet habe. Ich habe Wir danken für die Abdruckerlaubnis! unzählige Bewerbungen geschrieben und nur zwei positive Die Fotos zeigen Asif bei den Vorbereitungen zu einem Antworten bekommen. Anfang Oktober habe ich ein gemeinsamen Fest in der Initiative „Kompetenzzentrum Bewerbungsgespräch. Ich hoffe sehr, dass das klappt!“ Integration“ Plauen. © JRS / hsk. (Anmerkung: Asif hat gerade eine Ausbildung zum ITFachmann begonnen!) Die europaweite JRS-Kampagne „I Get You – Ich versteh‘dich“ widmet sich Willkommens-Initiativen. Ein Video stelltdas Kompetenzzentrum Integration Plauen vor - die Initiative, bei der Asif zum ersten Mal in Deutschland Freundschaften geschlossen hat: www.igetyou-jrs.org/germany.

Glücklich, wer wählen darf – nicht nur in der Wahlkabine, so leitet der Jesuitenflüchtlingsdienst in diesen Umbruchzeiten seinen Infobrief ein und appelliert an uns alle, unseren Wert und unsere „Macht“ als engagierte, menschenfreundliche Zivilgesellschaft zu schätzen und weiter selbstbewusst einzusetzen: „Nicht nur der Wahlkampf bietet Gelegenheit, Abgeordnete zu einer menschlichen und zukunftsorientierten Asylpolitik zu ermutigen. Flüchtende nicht auf mörderische Wege oder in libysche Folterlager zu zwingen, sondern sichere Zugangswege zum Asylverfahren zu ermöglichen, Familien zusammenzuführen und die Gefahrenlage in Afghanistan anzuerkennen: Das wären erste Schritte in der neuen Legislaturperiode. In der Flüchtlingsarbeit zeigt sich oft, wie ungerecht eine Politik sein kann, die keine Rücksicht auf die am stärksten Betroffenen nehmen muss. Um das Wahlrecht beneiden uns viele geflüchtete Demokratinnen und Demokraten, die weder in ihrer Heimat an fairen Wahlen teilnehmen konnten noch hier wählen dürfen. Aber Demokratie und offene Gesellschaft leben von mehr als einer Wahl alle vier Jahre: Lebendig gehalten und verteidigt werden sie durch das zivilgesellschaftliche Engagement im Alltag. Diese persönliche Entscheidung, die Millionen von Menschen zwischen den Bundestagswahlen Tag für Tag treffen, prägt das Land stärker als ein Kreuzchen auf dem Wahlzettel alle vier Jahre. Seit im Herbst und Winter 2015 für hiesige Verhältnisse viele Flüchtlinge angekommen sind, ist das sensationelle Engagement ungebrochen: Nach Angaben der Bundesregierung setzen sich mehr als sechs Millionen Menschen in Deutschland für Flüchtlinge ein! Darunter sind nach unserer Erfahrung viele, die selbst geflüchtet sind. Jede und jeder einzelne dieser Freiwilligen stärkt denjenigen Abgeordneten den Rücken, die sich von flüchtlingsfeindlichen Vorstößen mit klaren menschenrechtlichen Positionen absetzen. Auf Dauer werden sich deshalb nicht die durchsetzen, die lauthals Engherzigkeit und Angst schüren, sondern die oft stillen Engagierten für Menschenrechte und Mitmenschlichkeit.“ Mehr Informationen zum JRS: www.jesuiten-fluechtlingsdienst.de Twitter: @JRS_Germany Facebook: www.facebook.com/fluechtlinge


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Kuschelkurs und Weichspüler schaden der Integration

©Katharina Simpfendörfer

Anlass des Berichts In diesem Artikel möchte ich die Situation der Flüchtlinge in meinem Erfahrungsbereich beziehungsweise die unendlichen Integrationsbemühungen der Menschen vor Ort kritisch betrachten. Ich bitte um Nachsicht, dass ich die Worte „Flüchtlinge“, „Flüchtlingskinder“ und „Deutsche“ benutze. Mir ist durchaus bewusst, dass es dazwischen weit mehr Unterscheidungen gibt, aber der Einfachheit halber und um in gewisser Weise zu provozieren, verzichte ich auf diese Differenzierungen. Ich weiß auch, dass meine hier vertretene Meinung nicht repräsentativ ist und freue mich, wenn mir begründet und schlüssig widersprochen werden kann. Mir ist vollkommen bewusst, dass die Verantwortung für Integration auf verschiedene Schultern verteilt werden muss, hier gehe ich jedoch den einzelnen Akteuren nach und nicht der Politik.

Es gibt zahlreiche Projekte, Ideen und grenzenlos guten Willen, die Integration der Flüchtlinge zu erleichtern, aber leider bleibt es nicht selten bei letztlich vergeblichen Bemühungen, die langfristig wenig fruchten. "Besser als nichts!", "Wir versuchen es zumindest!", "Irgendwas muss man doch machen.“ Alles muss schön und gut werden: den ‚armen‘ Flüchtlingen werden Kleider, Möbel, Fahrräder und Spielsachen besorgt oder geschenkt. Engagierte Ehrenamtliche nehmen ihnen nach Kräften alle Lasten ab, bieten Deutschkurse an, erledigen Schriftverkehr und Behördengänge, suchen ihnen Wohnungen, fahren sie hin und her und tragen sogar ihre Koffer. Schön und gut? Eher mehr schön als gut und langfristig gesehen sogar schädlich. Die ‚Helfer‘ gehen in die Gemeinschaftsunterkünfte und versuchen die Integration hinein zu tragen, statt die Flüchtlinge anzuhalten,


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11 / 2017 herauszukommen und sich auf die Gesellschaft um sie herum einzulassen.

dig kommen. Sie sollen von den vielen Möglichkeiten und den Pädagogen profitieren können.

Über mich

Das klingt schön und gut, aber eine Idee bleibt oft eine Idee und in der Realität haben Menschen, so auch Flüchtlinge, manchmal andere Pläne, Vorstellungen, Ziele und Prioritäten.

Ich studiere Soziale Arbeit, habe einen Bundesfreiwilligendienst in einer Gemeinschaftsunterkunft abgeleistet und organisiere seit ein paar Jahren Kinderfreizeiten für Flüchtlinge und Deutsche. Derzeit arbeite ich in einem Kinderzentrum, dass sich vor allem für sozial schwache Kinder einsetzt. Man könnte also sagen, ich bin engagiert und tue etwas. Ich habe ein bisschen Ahnung von diesem Feld und irgendwie bedeutet es mir auch etwas, sonst würde ich es nicht tun. Wenn ich jedoch kritische Worte äußere, gibt es je nach Situation immer wieder zwei gegensätzliche Reaktionen. Entweder heißt es dann, ich verteidige die Flüchtlinge und verniedliche und verharmlose sie und ihr Verhalten, oder ich sei ein Rassist und diskriminiere sie, weil ich zu hart über manche Flüchtlinge und ihr Verhalten urteile und keinerlei Verständnis für deren Situation habe. Die Wahrheit liegt jedoch dazwischen. Ich bin ein Menschenfreund, der jedoch nicht jedes Verhalten, sei es von Deutschen oder Ausländern, Menschen mit Migrationshintergrund oder Flüchtlingen, gutheißt und hinnimmt. Ich setze mich ein, wenn ich dahinter einen Sinn entdecke und lasse es im Gegenzug, wenn ich es für unnötig oder schädlich halte. Und bisher habe ich so manche vergeblichen Maßnahmen und Bemühungen von Helfern nicht kommentiert oder Aussagen über kritikwürdiges Verhalten von Flüchtlingen unterlassen. Die Angst, abgestempelt zu werden, ist sehr groß. Das macht eine ehrliche Diskussion um entsprechende Lösungsansätze nicht leichter. Über meine Arbeit im Kinderspielzentrum Anlass zu meiner Kritik ist ein Integrationsprojekt zwischen dem Kinderspielzentrum, in dem ich tätig bin, und einer nahe gelegenen Gemeinschaftsunterkunft für Flüchtlinge. Das Kinderspielzentrum setzt sich schon seit über 40 Jahren erfolgreich für sozial schwache und ausgegrenzte Kinder ein. Die Kinder stammen meist aus ärmlichen Verhältnissen, müssen häufig Gewalterfahrungen und Wechsel von Bezugspersonen erleben. Viele der Kinder weisen Verhaltensstörungen und Defizite in ihrer Entwicklung auf. Die Mitarbeiter des Zentrums leisten Entwicklungs- und Erziehungsarbeit auf höchstem Niveau. Deswegen kam die Überlegung auf, auch Flüchtlingskinder in das Kinderspielzentrum zu ‚integrieren‘. Aber wie stellt man das an: ‚Integration‘? Das Integrationsprojekt zwischen Kinderspielzentrum und Gemeinschaftsunterkunft

Über die GU Die Verhältnisse in dieser GU sind weder familien- noch kindgerecht. Teilweise leben sechsköpfige Familien auf 40m², aufgeteilt auf drei Räume mit je zwei Doppelbetten. Die Hauseingänge sind nur über Stahlgittertreppen zu erreichen, an denen sich schon etliche Menschen verletzt haben. Es gibt einen Waschraum, der von allen 180 Bewohnern benutzt wird. Ein Raum von etwa 20m² dient als Konferenzraum. Die GU ist von Zäunen umgeben, mit einem großen Abstand zu den angrenzenden Nachbargebäuden. Aber wieso sollte man sich über die Wohnverhältnisse beklagen, denn sie seien doch „besser als das, was die Leute vorher hatten!“. In dieser Aussage liegt ein gravierender Fehler, denn egal, ob die Menschen vorher in Höhlen, auf der Straße oder in Ruinen gelebt haben, wieso sollte nicht allen Menschen hier der gleiche Mindeststandard zum Wohnen zustehen? Naja, aber immerhin: Die Flüchtlinge haben einfache neue Möbel und ein Dach über dem Kopf. Wir haben ja das Nötigste getan. Gute Absichten, ein ‚kluger‘ Plan - und was daraus geworden ist Manchen Menschen von außen fällt dieser gravierende Missstand auf und sie versuchen, ihn mit Hingabe zu lindern, etwas wieder gut zu machen. Sie gehen in die GUs mit Geschenken, Ideen, mit unendlicher und geduldiger Hilfsbereitschaft und gutem Willen. Sie versuchen, den ‚armen‘ Flüchtlingen alles abzunehmen, sie in Watte zu packen und sehen ihnen nahezu jedes Verhalten stillschweigend nach. Denn die Flüchtlinge wüssten es ja nicht besser. Sie könnten nicht anders. Aber hier steckt ein deutlicher Fehler. Es bringt leider gar nichts, für alles Verständnis zu haben und den Flüchtlingen alles abzunehmen. Sie wissen und können es vielleicht nicht besser, weil sich keiner traut, ihnen die Spielregen hier zu erklären und zu vermitteln, worauf es hierbei ankommt, für alle, für sie wie für alle anderen auch. Man kann ihnen durchaus zutrauen, zu verstehen und zu lernen. Einfach geschehen lassen und sich immerzu zu bemühen, sein eigenes Verhalten anzupassen, das kann nicht der richtige Weg sein.

So haben selbst wir als erfahrenes Team bei unserem Vorhaben, den Flüchtlingskindern in der GU ein Angebot Das Team des Kinderspielzentrums hatte sich ein Konzept in unserem Zentrum zu machen, wahrlich verstörende ausgedacht: Erst wird das Team in die GU fahren, nimmt Erfahrungen gemacht, die mich letztlich dazu bewogen Bastel- und Spielsachen mit und gestaltet dort einen haben, diesen Bericht zu verfassen und vielleicht eine schönen Spielenachmittag. Wenn nach einiger Zeit Regel- längst überfällige offene Diskussion anzustoßen. Wir mäßigkeit und Vertrauen geschaffen wurde, würden die gerieten an unsere Grenzen und wurden mit Situationen Kinder in der GU abgeholt und ins Kinderzentrum begleitet, konfrontiert, die selbst für uns grenzwertig waren. Als so lange und so oft, bis die Kinder freiwillig und selbststän- Mitarbeiter des Kinderspielzentrums sind wir einiges


20 gewohnt und gehen damit professionell um. Wir kennen verhaltensgestörte, dissoziale Kinder. Wir haben Erfahrung. Aber diese Flüchtlingskinder? Nicht wenige von denen, bei denen wir es mit Angeboten versucht haben, waren sehr wild und unkontrolliert. Sie zeigten ein deutliches Aggressionspotenzial und kaum Frustrationstoleranz. Wir erlebten Kinder, die leicht reizbar sind und nicht zögern, sich beim kleinsten Anlass zu prügeln. Uns blieb oft keine andere Wahl, als sie mit vollem Körpereinsatz festzuhalten, was bei unserer Arbeit im Zentrum nur im absoluten Extremfall nötig ist. Bei unseren Begegnungsnachmittagen in der GU haben wir erlebt, dass Flüchtlinge ‚wie die Geier‘ über Bastelmaterial, Spiele, Geschenke hergefallen sind, dass sie alles, was nicht niet- und nagelfest war, mitgenommen haben, Decken, Kuchen, Spielsachen, selbst Papierschnippsel und Wollreste. Unbeherrschbar und verstörend. Wir Sozialarbeiter standen daneben und dachten nur: „Die Armen… so traumatisiert und in ihrem früheren Leben gefangen.“ Am besten bringt man nächstes Mal noch mehr mit. Doch das haben wir bleiben lassen, im Gegenteil. Wir widersetzten uns allen Begehren, Material zu entwenden und unser Angebot zu missbrauchen. Wir rangen auch mit der Erfahrung, dass Eltern hier trotz sinnvoller Altersbeschränkungen einfach ihre Kinder, egal welchen Alters, abgaben und sich sonst null für uns und unser Angebot interessierten. Solange wir unseren Service direkt vor Ort anboten, konnte man dort seine Kinder abgeben und gut war‘s. Doch niemand war schließlich bereit, mit seinen Kindern den kurzen Spaziergang zu unserem Zentrum auf sich zu nehmen, um den Kindern das zu ermöglichen, was unser Projektziel war: Neue Umgebung, neue Kontakte mit deutschen Kindern, ein vielfältigen kreatives, pädagogisch begleitetes Programm, das, worunter wir uns einen guten Schritt zur Integration vorstellten, einen Schritt raus aus dem eingeschränkten Biotop der GU in die neue ‚Heimat‘ hinein. Elterliches Interesse an uns, die sich bemühen und förmlich die Hand ausstrecken, Interesse am eigenen Vorankommen und Anschluss an die neue Nachbarschaft. Und auch die Möglichkeit, als Eltern erste Kontakte mit anderen Eltern, mit unserer ‚Gesellschaft‘ außerhalb der GU zu knüpfen. Fazit Wir mussten zur Kenntnis nehmen, dass wir mit verständnisvoller Kuschelpädagogik, selbst mit Erklärung von Regeln und Konsequenzen nicht weit kommen. Und das liegt nicht an den fehlenden Sprachkenntnissen! Die Flüchtlingskinder sprechen manchmal besser Deutsch als manches deutsche Kind, das wir kennen. Aber was sich niemand traut, ist die Erziehung der Kinder deutlich und hörbar in Frage zu stellen, oder danach zu fragen, inwiefern konkrete Traumata und Fluchterfahrungen zu dem zügellosen Verhalten beitragen. Und vor allem fehlt es uns daran, um es ehrlich zu sagen, dass unsere pädagogischen Kenntnisse und Fähigkeiten nicht für diese Kinder ausreichen. Warum sollten wir das auch zugeben? Wir können doch eh nichts ändern. Stattdessen machen wir ein bisschen Kinderge-

contact@heimfocus.net burtstag und erleichtern unser Gewissen, weil wir immerhin etwas getan haben. Aber so erreichen wir nie eine ehrliche Diskussion und echte Veränderung. Indem wir versuchen, den Flüchtlingen alles aus dem Weg zu räumen, was nur geht, für alles wohlwollendes Verständnis zu haben und uns für alles annehmende Erklärungen zurecht zu legen, machen wir es ihnen nur schwerer. Wir entmündigen sie, nehmen ihnen die Eigenverantwortung und Selbstständigkeit mit allem, was dazu gehört, beziehungsweise fördern diese nicht. Wie soll Integration stattfinden, wenn jeder in seiner vertrauten Komfortzone bleibt und bleiben darf? Integration geht nur durch Lernen, Kommunikation, Konfrontation, Interaktion und natürlich Chancengleichheit. Wir trauen und muten diesen Menschen nichts zu, wir passen voller Verständnis für alles und jedes unser Tun und Hinnehmen ‚nach unten‘ an und fördern so (positive) Diskriminierung, Klassenbildung und Ungleichheit. Es gibt in allen Menschengruppen sehr unterschiedliche Menschen, aber jedem Menschen sollte es zuzutrauen und zuzumuten sein, Verantwortung für sein Leben zu übernehmen. Dies geht jedoch nur, sofern wir die Chance auf Verantwortungsübernahme auch geben, indem wir reflektieren und zugeben, dass wir überfordert und teilweise auch unfähig sind, auf vieles gute Antworten und klare Handlungsweisen zu finden. Es ist nicht unser Fehler, aber wenn wir endlich ehrlich und realistisch darauf hinschauen, was ist und was wir tun, können wir daraus lernen und diese Basis nutzen, um zielführende langfristige Projekte zu entwickeln und um auch gute Fortbildungen und Schulungen wahrzunehmen, die auf das spezielle Arbeitsfeld mit Flüchtlingen vorbereiten. Katharina Simpfendörfer Studentin der Sozialen Arbeit an der Fachhochschule Würzburg-Schweinfurt


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<Hotline für besorgte Bürger> Angst vor der Islamisierung des Abendlandes? Kein Problem. Dann rufen Sie am besten Ali Can, den Asylbewerber Ihres Vertrauens, an – auf der »Hotline für besorgte Bürger«. Seine Erfahrungen mit den Anrufern hat Can in einem gleichnamigen Buch aufgeschrieben, das im August 2017 deutschlandweit im Handel erschienen ist. Das interessante und inspirierende Interview dazu kann hier gelesen und unter diesem Link auch gerne geteilt werden: https://perspective-daily.de/article/329/ravXQRnT

© Hotline für besorgte Bürger, http://www.hotline-besorgte-buerger.de/

Perspective Daily ist nach eigener Aussage das erste

mitgliederfinanzierte Online-Medium in Deutschland für Konstruktiven Journalismus. Kritisch, gut lesbar und unverkennbar aus der Feder bzw. Tastatur junger, weltoffener Journalisten. Mitunter frech und witzig, aber immer sachlich und professionell.

lesen – geschrieben von Autoren mit Fachkenntnissen und Leidenschaft. Ermöglicht durch unsere Mitglieder, die über ihren Jahresbeitrag eine freie, unabhängige Arbeit finanzieren. Unser Credo: Weg vom Zynismus, hin zu »Wir packen es an«. Wir veröffentlichen jeden Tag (Mo-Fr) einen Beitrag mit Tiefgang : lösungsorientiert, konstruktiv und werbefrei. Wir berichten über Themen, die tatsächlich Einfluss auf unser Leben haben.“*

Das Team selbst beschreibt seine Mission so: „ Wir schreiben Artikel mit Blick nach vorn. Uns reicht es nicht, nur über Probleme zu berichten, sondern wir fragen Diesen Werbeblock schalten wir gerne. täglich: Wie könnte es besser laufen? Das bedeutet auch: Interesse? Hier lang: www.perspective-daily.de Mehr Fokus auf Hintergründe und Zusammenhänge unter Eva Peteler Einbezug der Leser. Als Medien-Start-up haben wir uns hohe Ziele gesetzt. Mit konstruktiven Diskussionen und der Auseinandersetzung mit Lösungen wollen wir einen *https://perspective-daily.de/static/common/resources/PerspecBeitrag zu aktuellen gesellschaftlichen Debatten liefern. tiveDaily_Kurzinfo.pdf Mit Artikeln, die in die Tiefe gehen und sich unterhaltsam


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Afrika wird zum Thema auch in der Arbeit mit Geflüchteten Was tut sich, wo stehen wir – und wo sollten wir hin? Jeden Tag werden HunDiese Zusammenstelderte oder gar Tausenlung von Facetten des de von Flüchtlingen Themas “Afrika” in aus Ländern der Subder aktuellen öffentsahara im Mittelmeer lichen Diskussion ist von Schiffen aufgeals Arbeitspapier für nommen und nach ItaGespräche und Initialien gebracht. Da endet tiven gedacht, für die meist ihr Traum von eiArbeit mit Geflüchtenem besseren Leben in ten aus der Subsahara Europa, am liebsten in und ihren Helfern. Was Deutschland. Das weiß tut sich bei uns und in die Politik, das weiß die Afrika, in politischen Presse und das wissen Programmen der Weltauch die vielen Afrikagemeinschaft und in ner, die in den letzten der Entwicklungshilfe? Jahren bei uns gestranWie sind ihre Ansätze ©TechTrends KE det sind. Oft vegetieren und Denkmuster? Und welsie in ihren Unterkünften dahin, ohne Perspektive und che Widerstände und Widersprüche werden sichtbar? Hoffnung. Sie verstricken sich im Dickicht von Bürokratie und Auflagen verschiedener Zuständigkeiten, die niemand Die Zusammenstellung erhebt weder einen Anspruch auf überblickt, auch die Helfer nicht. Ganz zu schweigen von Vollständigkeit noch ist sie eine objektivierbare Analyse. den Behörden und Institutionen mit ihren starren Abläufen, Sie ist eine Momentaufnahme, die unserer Arbeit in Linnich siehe “Ga Ga Land” im Heimfocus 06/2017. im Kreis Düren (NRW) zur Orientierung dienen soll. Aber vielleicht hilft sie auch anderen Initiativen bei der RückHeimweh, Frustration und Ausweglosigkeit herrschen un- schau und der zukunftsorientierten Betrachtung ihrer Arter den Geflüchteten aus den Ländern der Subsahara. Sie beit. können nicht zurück, weil es in ihren Heimatländern keine sichere Bleibe und/ oder keine berufliche Perspektive gibt und weil sie die geliehenen Summen für Schlepper und I. Der G 20 Gipfel mit (und ohne) Afrika und die Ansätze Fluchthelfer an die Familie oder das Dorf zurückzahlen deutscher und internationaler Entwicklungspolitik müssen. Sie können und wollen aber oft auch hier nicht bleiben, weil sie auch hier verloren und vergessen sind und die Sicher ist die Flüchtlingssituation in Europa und in Deutschvielen Hürden, die jahrelangen Wartezeiten im Status der land mit dafür verantwortlich, dass der afrikanische KonUngewissheit oder im ausweglosen Stillstand der Duldung tinent in den Fokus des G20 Gipfels gerückt ist. Kündigt nicht mehr aushalten können. Integration funktioniert hier sich vielleicht in Deutschland mit dem “Marshallplan mit weitgehend nicht und soll es aus der Sicht der Politik bei Afrika” des Bundesministeriums für wirtschaftliche ZusamGeflüchteten „ohne gute Bleibeperspektive“ auch nicht. menarbeit (BMZ) oder der Initiative “Pro!Afrika” des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie (BMWi) ein Aber sie leben dennoch bei uns, diese Geflüchteten aus der Paradigmenwechsel in der staatlichen Entwicklungshilfe Subsahara, mehr schlecht als recht, und wir sollten mit ih- an, hin zur Unterstützung einer neuen privatwirtschaftlinen diskutieren, wie es um Afrika steht, um Afrika als The- chen Investitionskultur? Wie auch mit dem „Compact with ma auf dem G20 Gipfel, aber auch um Initiativen in Afrika Africa“ als Ansatz der G20? Private Unternehmen sollen zu selbst, so wie es u. a. im Leitartikel “Das eigene Potenti- Investitionen in Afrika ermutigt und diese durch stattliche al ist Afrikas Chance” im Heimfocus 06/2017 thematisiert Zuschüsse und Investitionsbürgschaften unterfüttert werwird. den. Afrikanische Länder, die dabei berücksichtigt werden wollen, haben im Gegenzug für ein positives Investitions-


11 / 2017 klima zu sorgen. Dies alles für mehr Wachstum in Afrika, für mehr Beschäftigung und gegen Armut, Hunger, Ungleichheit, Mangel an Perspektiven und andere Fluchtursachen.

23 entwickelnden afrikanischen Gesellschaften nützlicher zu sein als für die gesättigten Märkte des Nordens. Solche Rückkehrer sind oft die treibende Kraft hinter vielen Investitionen und im politischen Aufbau ihres Landes.

II. Argumente und Widerstände gegen dieses Konzept

Doch es gibt auch die anderen, die Migrationsverlierer, ernüchterte Rückkehrer, die den Illusionen eines von reDas NGO-Bündnis “Gemeinsam für Afrika” von über 20 alitätsfernen Vorstellungen genährten Aufbruchs in den Mitgliedsorganisationen, die sich für bessere Lebensbedin- reichen Norden widersprechen. Sie berichten über die Ergungen in Afrika engagieren, ist skeptisch. Die NGOs mo- fahrungen ihres Scheiterns, um den Daheimgebliebenen nieren, dass an afrikanischen Vertretern nur der Präsident auf gepackten Koffern die Augen öffnen und ihnen die der Afrikanischen Union und der Präsident von Südafrika Schrecken der Konzentrationslager in Libyen und der Seeauf dem Gipfel vertreten waren, dass wichtige Fragen nicht not im Mittelmeer zu ersparen.² Gerade hier bräuchte es zur Sprache kamen und weitgehend Phrasen statt konkre- Unterstützung von (Mut-) Machern zum Bleiben und zum ter und verbindlicher Lösungsansätze das Resultat waren. Einsatz für den Aufbau ihres afrikanisches Heimatlandes. Sie mahnen an, Privatinvestitionen müssten politisch gestaltet und reguliert werden und zwar im Dialog mit den Viele der Geflüchteten, die bei uns in diversen WarteschleiMenschen (vor allem auch mit den Frauen) und Unterneh- fen verdursten, wollen nicht für immer bleiben. Sie würden men vor Ort. Die bekannten Irrwege von Entwicklungshilfe lieber heute als morgen heimkehren. Und dabei sollten sie aus westlicher Perspektive werden nach wie vor weiter ver- etwas mitbringen: Erfahrung, Entmythologisierung der folgt: dass stets die (Profit-)Interessen der Investoren im westlichen Lebensart, Wissen, Sprachkompetenz und BilVordergrund stehen und Einzelvereinbarungen zwischen dung, vielleicht auch finanzielle Unterstützung bei einer einzelnen afrikanischen Staaten und Investoren einen rui- freiwilligen Rückkehr und nach einer Ausbildung bei uns für nösen Wettbewerb um die Gunst der Investoren nach sich den Aufbau einer eigenen Existenz und der des Heimatlanziehen ohne Mehrwert für die lokalen Gesellschaften. des. Wir sollten nicht danach fragen, wie wir afrikanische Migranten in unsere Jobs integrieren, sondern wie wir sie Besonders kritische Stellung gegenüber einem Marshall- ertüchtigen könnten für ein Gesundheitswesen, für eine plan für Afrika beziehen die Autoren des “Kölner Memo- Agrarwirtschaft, einen einfachen Hausbau, eine energetirandums” für eine andere Entwicklungspolitik (Heimfocus sche Versorgung und Entsorgung von Abwässern und Müll 06/2017 S. 42f): in Afrika. Es müsse um Entwicklung in Afrika und von Afrikanern statt Entwicklungspolitik für Afrika gehen, welche in 50 Jahren Dazu fehlt bei uns weitgehend die Perspektive aus der Sicht Afrika nicht selbständiger, sondern abhängiger gemacht der Menschen und Länder Afrikas, die Wertschätzung für habe. “Nehmerländer” und “Geberländer” hätten als Denk- die besonderen Fähigkeiten der Menschen dort. Vielleicht und Sprechmuster ausgedient. Mehr staatliche Entwick- mangelt es auch immer noch an einer bewussten Distanlungshilfe, zumal wenn sie schlechte Regierungsführung zierung von unserer jahrhundertelangen Herabwürdigung mit Vetternwirtschaft und Korruption bestärke, potenziere und Entmündigung unseres Nachbarkontinents durch den Exodus, statt ihn zu reduzieren. Sie stärke Abhängig- Sklaverei, Kolonialisierung, Missionierung, Ausbeutung keiten und verhindere afrikanische Eigendynamik: Die Ent- und Bevormundung. wicklungshilfe der Industrieländer des Nordens habe sich als Droge entpuppt, die wirtschaftlichen Eigeninteressen der „Geber“ als Job-Killer vor allem für Teile heimischer IV. Das politische, gesellschaftliche und behördliche ToLandwirtschaft und Fischerei. huwabohu in der Flüchtlingspolitik – als Sprungbrett für einen Paradigmenwechsel? III. Initiativen in Afrika und ihre Chancen

Die Willkommenseuphorie bei uns ist weitgehend von einer bürokratischen Maschinerie aufgezehrt worden, die nieDer Leitartikel von Addis Mulugeta im Heimfocus 06/2017 mand mehr überblickt und die weder effektiv noch vorranweist auf das eigene Potenzial als Chance für Afrika hin. gig menschenorientiert ist. Drohende “Abschiebung” heißt Und einige weitere Beiträge wie der über rückkehrende das neue Trauma der Geflüchteten. Bei ihnen ist längst afrikanische Migranten im IPG-Journal spielen geglückte Ernüchterung und Desillusionierung eingetreten: Der ZuNeu-Anfänge ein¹ : Gut ausgebildete junge Afrikaner, die gang zum „gelobten Land” ist kompliziert und langwierig; in Großbritannien, Kanada, USA, Dubai oder Indien stu- ihre eigenen Träume und Vorstellungen haben sich längst diert und viel gelernt haben, ziehen aus den Ländern des als unrealistisch herausgestellt; das Erlernen der deutschen Nordens wieder in ihre Heimatländer zurück, weil sie dort Sprache ist viel schwerer und mühsamer als erwartet und Entwicklungen erkennen, die auf einen wirtschaftlichen der Elan des Anfangs hat sich längst in tiefe Ohnmacht, und gesellschaftlichen Aufbruch hindeuten, mit neuen Sprachlosigkeit und Hoffnungslosigkeit verwandelt. In all persönlichen Entwicklungsmöglichkeiten und Aufstiegs- dem starb oft genug auch der Hunger nach Bildung, aber chancen. Sie wollen an diesem afrikanischen Aufbruch mit- auch nach Arbeit und Geldverdienen. Und in der ständigen wirken aus der Überzeugung heraus, für die sich schnell passiven Versorgung und Abhängigkeit starb auch jede Ei-


24 geninitiative. Es ist schwer, die Lethargie aufzubrechen. Doch wie könnte den Geflüchteten das Heimweh und der Hunger nach den Lebensweisen Afrikas nicht als persönliches Versagen im Scheitern ihrer Migration, sondern als Ermutigung zum Aufbruch bewusst gemacht werden? Niemand wird ihre Heimat wieder lebensfähig und lebenswert machen, außer sie selbst, mag die Herausforderung des Weges auch noch so groß sein. Es kann doch für niemanden die Lösung sein, dass alle gehen, die es können! Brücken zur Wahrnehmung einheimischer Initiativen und Start-ups und ein reger Austausch zwischen Heimgekehrten und potenziellen Rückkehrern könnten da ein Anfang sein. Ein Perspektivwechsel unserer Politikmacher und Entscheidungsträger, aber auch in der Wirtschaft ist überfällig, um die althergebrachten Denk- und Handlungsmuster gegenüber Afrika radikal zu ändern und nach neuen Wegen des Miteinanders von Afrika und Europa zu suchen. Denkansätze gibt es genug. Es gibt Chancen.

contact@heimfocus.net 3.Am Import westlicher Werte und Lebensweise wird die Welt nicht genesen Wir Deutschen und Europäer müssen Afrikas Landkarte und die Vielfalt seiner Länder kennen lernen, deren politische und gesellschaftliche Situation und den weitgehend weißen Fleck auf der Landkarte mit Namen und Menschen und Hoffnungen besiedeln. Sicher mit einem anderen Blick als die Generationen vor uns und auch als manch ein im Traditionsdenken verhafteter Afrikaner, der kaum Erfahrung hat mit einem Rechtsstaat und seiner Gesamtverantwortung, mit demokratischen Spielregeln, aber auch mit den Kosten, die jeder Bürger bei uns durch Steuern aufzubringen hat zum Gelingen eines geregelten Staatswesens, für soziale Investitionen und auch für die Versorgung von Geflüchteten. Doch sollten wir die Hybris ablegen, anderen unsere westlichen Staats- und Wertemuster als alternativlos aufzuzwingen ohne Achtung lokalen Denk- und Handlungsweisen und Kulturen. Jede Nation hat ihre Vordenker und Hoffnungsträger, und wir sollten ihnen mit unseren Absichten und unseren Weltbildern nicht im Wege stehen.

V. Und wir? Was können und sollen wir jetzt tun?

4.Wer denkt um und macht mit? Welche Institutionen, Verbände, NGOs und Unternehmen? 1.Vor allem zuhören und offen miteinander nachdenken Firmen, die in Afrika angesiedelt sind und ausgebildete Afund reden rikaner als Mitarbeiter suchen? Afrikaner, die bei uns schon Der Traum von unseren Paradiesen ist uralt. Für die meis- länger Fuß gefasst und ihre Erfahrungen gemacht haben? ten ist der Traum noch nicht begraben, hier bei uns ihre Zu- Private und staatliche Investoren mit Mut zum Aufbruch, kunft zu suchen. Für diesen Traum haben sie ihr Leben in die bereit sind, dynamische afrikanische Start-ups und Inider Wüste und auf dem Meer riskiert. Für ihn haben sie ihr tiativen zu finanzieren und dabei nicht nur den eigenen GeWort gegeben, das Geld zurückzuschicken, das man ihnen winn, sondern auch den Mehrwert für die lokale Wirtschaft für die Flucht geliehen hat. Vielleicht ist nach einem hoff- und Gesellschaft im Blick haben? nungsvollen „Willkommen“ und der ersten Phase der Rundumversorgung der eine oder andere auch schon mit einem 5.Kompetenz und Erfahrung der Diaspora einbinden, Fuß in einer Betreuerfamilie, einer Ausbildung, einem Job Vielfalt der Austauschmöglichkeiten nutzen gelandet. Doch dann schlich sich die Ernüchterung ein. Es gibt nicht wenige Afrikaner, die hier bei uns ganz und gar Vielleicht hätte es frühzeitig die hier schon lang lebenden angekommen sind und nicht daran denken, in ihre HeimatLandsleute gebraucht, die unterstützen, einem aber auch länder zurückzugehen. Sie haben hier studiert, haben hier die Wahrheit erzählen über die wirklichen Chancen im Land ihre Familie, ihren Beruf und das Ziel ihrer Träume gefunund viel viel mehr… den. Sie sollten gehört werden, mitdenken, beraten und mitgestalten. Die Wege zwischen Afrika und Europa sind 2.Umdenk- und Umlenkprozess in der Politik in der deut- auf wenige Flugstunden geschrumpft. Man kann auch Brüschen und westlichen Afrikapolitik cken bauen zwischen beiden Kontinenten in Betrieben, im Beschlüsse über Privatinvestitionen und Konzepte ohne Bildungswesen, in befristeten Einsätzen, in Lehraufträgen kompetente und verantwortungsvolle lokale Gesprächs- in Afrikas Hochschulen, mittels Stipendien für Ausbildung, partner und Repräsentanten der direkt betroffenen Studium, Weiterbildung, mit Gastaufenthalten und befrisMenschen gehen an lokalen Bedürfnissen und Entwick- teten Arbeitsvisa usw. lungschancen vorbei und verfolgen wieder einseitig die Interessen der Investoren bzw. korrupter oder inkompetenter Wir stehen erst am Anfang dessen, was möglich ist und sein Regierungen. muss, um endlich eine Entwicklung mit den Menschen in Afrika, für sie – und damit auch für uns – auf den Weg zu bringen.

Dr. Margret Peek-Horn ¹ http://www.ipg-journal.de/regionen/afrika/artikel/detail/wie-migranten-fluchtursachen-bekaempfen-2141/ http://www.ipg-journal.de/regionen/afrika/artikel/detail/auf-wiedersehen-europa-war-schoen-mit-dir-1951/ ²http://www.daserste.de/information/politik-weltgeschehen/weltspiegel/sendung/senegal-die-freiwilligen-rueckkehrer-100.html


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Afrika und Europa, Europa und Afrika – geht nur gemeinsam Was sind die zielführenden Fragen und Antworten? Wer stellt die Fragen, wer sucht, entwirft und verantwortet Lösungswege? Werden die Menschen Afrikas überhaupt gefragt und gehört? Ob sie wollen oder nicht, die beiden Nachbarkontinente müssen die Antworten und Wege gemeinsam finden. Die Uhr tickt. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit, „von unten“ betrachtet: Annäherungen im Gespräch mit Emmanuel Ndahayo*, Forscher an der Uni Siegen und der Afrika-Gruppe Linnich 1. Was steht einem eigenen Weg afrikanischer Länder im Weg?

das Herkunftsland oder auch schädigende Einflüsse? 11. Was sind die schlimmsten Hindernisse für eigenständige Wege und zukunftsfähige Entwicklungen afrikanischer Länder?

12. Wie müsste man mit der 2. In welchem afrikanischen Land ©EthiopoSudanPower Bevölkerungsexplosion in Afmöchte ich gern angstfrei leben, meirika umgehen, welche aus und in den Ländern selbst entnen Job ausüben, eine Familie gründen, mir eine Existenz wickelten mittelund langfristigen Maßnahmen sollten erarbeiten können, alt werden, begraben werden? In welchem afrikanischen Land ganz bestimmt nicht und warum? umgehend konzipiert und auf den Weg gebracht werden? 3. Wo müssen wir Afrikaner neue Perspektiven und Lebens- 13. Welche politischen, gesellschaftlichen und sozialen Anmuster in Afrika selbst finden angesichts des Hungers, des sätze kenne ich in meinem oder einem Land Afrikas und Klimawandels, der Flüchtlingsströme, der Ungerechtigkei- welche halte ich für zukunftsträchtig? ten, der Bevölkerungsexplosion usw.? 14. Kann ich persönlich die Zukunft meines Landes beein4. Welche tragende Rolle sollen dabei unsere Frauen haben? flussen und wenn ja, wie kann und sollte ich mich einbringen? Wenn nein, von wem erwarte ich denn, dass er es für 5. Was fürchten wir am meisten in unseren Herkunftslän- mich tut, dass er mein Land um- und aufbaut? dern? 15. Welche Bündnisse, Bewegungen, Netzwerke, Einrich6. Was sind wir unseren Familien schuldig (als ältestes oder tungen etc. würde ich in meinem Heimatland aufsuchen? In welches Boot könnte ich vertrauensvoll mit einsteigen? jüngstes Kind z.B.)? 7. Welche Menschenrechtsverletzungen erkenne ich in mei- 16. Welche politischen und sozialen Verhältnisse und Gegebenheiten kann ich in meinem Land verantwortlich nem Land und im Vergleich dazu auch in Deutschland? machen für Missstände, Zustände von Elend, Angst, Hoff8. Wie könnte man aus einem schlecht regierten Land ein nungslosigkeit, Perspektivlosigkeit? (Wie) könnte auch ich selbst, ggf. gemeinsam mit anderen, aktiv werden, um dies gut regiertes Land machen? zu verändern? 9. Sehe ich in meinem Land Ansätze für einen Rechts- und Sozialstaat? Gibt es so etwas wie eine Arbeitslosenversi- 17. In welcher Reihenfolge (Prioritäten) würde ich Verändecherung, eine Krankenversicherung? Eine Altersversor- rungen in meinem Land konkret beginnen? 1.2.3. gung? Haben die 600 Milliarden Dollar Entwicklungshilfe der letzten Jahre für Afrika in der Beziehung geholfen? Hat 18. Welche Merkmale der Zivilisation würde ich anpacken und in welcher Reihenfolge? uns die bisherige Entwicklungshilfe weiter gebracht? - Daseinsvorsorge wie Strom, Wasser, Ernährungssicherheit, 10. Haben kirchliche Einrichtungen, Orden, Schulen, Mis- landesweites und gut ausgebautes Straßennetz, öffentsionierungen einen zukunftsweisenden Einfluss gehabt für liche Verkehrsmittel, Abwasser- und Fäkalienentsorgung,


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Müllentsorgung, gute Schulbildung für alle. Aufbau sozia- sie? Welche mediale Präsenz haben die tatsächliche Vielfalt ler Absicherung und flächendeckender medizinischer Ver- von Entwicklungen in Afrika und die Stimmen ihrer Mensorgung schen? - Jobs und die Ausbildung dazu. - Innere Sicherheit, soziale Gerechtigkeit, Versöhnung und 22. Welche Quellen und Dokumentationen der vielen AufGleichwertigkeit der Ethnien, Aufbau einer Solidarität un- brüche in Afrika, seiner Kulturträger und Literaten, Wissenter den Staatsbürgern, Bewusstsein für und Loyalität zum schaftler und Menschenrechtler der Bildung, Kompetenzen eigenen Staat und seinen Bedürfnissen… und real wirksamer Innovationskraft seiner Menschen er-

©agricandtech-ventures africa

- Aufbau unabhängiger Justiz , Rechtsprechung und Polizei, reichen Europa und Deutschland? Wie könnte man den Kampf gegen Korruption (siehe z.B. Ruanda und Nigeria), vielen positiven Stimmen Afrikas zu mehr Präsenz und GeTribalismus und Vetternwirtschaft, Aufbau eines Staatswe- wicht verhelfen? sens mit Kataster, effizientem Steuersystem, Finanzbehör23. Welchen Respekt auf Augenhöhe erwarte ich mir von den und Verwaltung - äußere Sicherheit ( Rolle und Ausrüstung Militär, Schutz- den Mächtigen der Welt wie auch meines Landes, seiner zölle für den Aufbau heimischer Produktion und Dienstleis- Wirtschaft und Politik? tung, Maßnahmen gegen Raubbau an Bodenschätzen, an der Natur), Widerstand gegen einseitige und ausbeuteri- 24. Welche Rolle spielen Afrikaner, die in westliche Länder emigrierten, für ihr Herkunftsland und für aktuell gesche Handelsabkommen und Handelsbeziehungen flüchtete Landsleute in Europa/Deutschland? Welche Rolle 19. Welche gesellschaftlichen Kräfte, Institutionen, Organi- könnten sie spielen, wo könnten sie mit eingeladen, gehört sationen … meines Landes sind für mich vertrauenswürdig, und mit einbezogen werden? gerecht, unbestechlich, zukunftsweisend? Von welchen 25. Was erwarte ich von diesen afrikanischen Landsleuten, Projekten habe ich schon gehört? In welchem Land? die im Ausland einen Job, Heimat, Beziehungen, Familie 20. Welche afrikanischen Länder gehen in meinen Augen fanden und sich aufbauten? Etwa Bereitschaft zur Heimrichtige Wege? Wie sehen diese aus? Welchen Beitrag leis- kehr und Einbringung ihrer Kompetenzen dort, Mithilfe ten sie damit für die Identitäten und die Perspektiven afri- am Aufbau des Heimatlandes? Bürger zweier Heimatländer und so Brücke zwischen den Ländern zu sein? Seh- und kanischer Länder? Handlungshilfen? Finanzielle und welche weitere Unter21. Die vielen Stimmen Afrikas und zukunftsweisende An- stützung? sätze in verschiedenen Ländern – wer kennt sie, wer hört Welche Bilder, Nachrichten und Schilderungen über das Le-


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ben meiner Landsleute in Europa haben mich dazu bewo- 33. Welche Bildungseinrichtungen (kostenlos und für alle gen, Schulden und Lebensgefahr auf mich zu nehmen, um Bürger) sollte es in meinem Land geben, die aus eigenem ihnen zu folgen? Antrieb, eigener Gestaltung und eigenen Mitteln errichtet und betrieben werden (Kindergarten, Grundschule, duale 26. Welche schlimmen Erlebnisse (daheim, auf der Flucht, Berufsausbildung, Starthilfen für eigenständige Kleinbein Europa) haben uns tief verwundet und verändert? triebe usw.) Und wie stelle ich mir eine Finanzierung vor? Wer sollte Verantwortung übernehmen und beitragen? 27. Wovor habe ich persönlich am meisten Angst? 34. Halte ich Auffanglager in Libyen für eine hilfreiche 28. Warum können wir Afrikaner in Europa so schlecht Lösung und für wen? Welche Optionen sollen von ihnen leben? Welche meiner Träume zerrinnen hier? ( Bildung, ausgehen, um die Auswanderung junger Afrikaner einzuSprache, Job, Zukunft, Geld für die Familie daheim…) Was dämmen? enttäuscht mich hier? War ich darauf nicht vorbereitet? 35. Welche neuen Rollen und Kompetenzen könnten Hilfs29. Welche Unterstützungen im Gastland haben uns wirk- organisationen bei europäischen Ländervertretungen in lich geholfen, wozu, woraufhin? Mit welchen Auswirkun- Afrika, so auch den deutschen Botschaften zugeteilt wergen auf unser Leben und unsere Perspektiven hier? den, um in den jeweiligen afrikanischen Ländern, z.B. auch in Eritrea, Südsudan usw., Organisationen, Initiativen und 30. Welche Hoffnungen habe ich persönlich? Worauf baue konkret Verfolgten Hilfestellungen bieten zu können bzw. ich für mein Land und seine Zukunft? Was möchte ich aus in der Migrationsfrage eine lokal relevante Position zu meinem Gastland in Europa mit heim nehmen? (welche übernehmen? Erfahrungen, Gelerntes, Abscheuliches…) Was sollte es für ein humanes Leben in meinem Heimatland ganz sicher 36. Was ist noch zu (hinter-)fragen, anzuklagen, einzufornicht geben? dern? Bei jedem von uns und bei den internationalen Institutionen, bei den Entscheidern in Wirtschaft und Politik 31. Welche Jobmöglichkeiten sehe ich für mich im eigenen in Afrika wie auch in Europa und Asien, die das Schicksal Land, die ich jetzt oder nach einer Ausbildung längerfristig des Kontinents maßgeblich verantworten? Was ist zu tun ergreifen könnte und möchte? und zu unterlassen, wer mahnt es an, erzwingt es, gestaltet Alternativen? 32. Welche Ausbildung, Vorbereitung, Ausstattung mit Werkzeug z.B. Schulung usw. wünsche ich mir von meinem Fragen über Fragen an alle, die auf Antworten drängen. Gastland in der Zeit meines Aufenthaltes dort und meines Duldungsstatus – damit ich, meine Familie und mein Land auch durch mein Zutun eine Zukunftsperspektive haben Dr. Margret Peek-Horn können? * Wie können Migranten freiwillig in ihre Heimatländer zurückkehren? Eine Forschergruppe der Universität Siegen möchte Konzepte entwickeln, damit die Re-Migration von Asylsuchenden ohne Bleiberecht freiwillig gelingt. http://www.uni-siegen.de/start/news/forschungsnews/779247.html

Warum erfahren wir so wenig über solche positiven Geschichten, Ideen und Ansätze? Und warum erhalten diese nicht mehr Aufmerksamkeit und Unterstützung?? Keine fünf Minuten Recheche im Netz und eine Fülle interessanter Links und Mut machender Beispiele afrikanischen Aufbruchs, Visionen und Projekte: https://www.zdf.de/dokumentation/zdfinfo-doku/smart-africa-geschichten-aus-silicon-savannah-100.html http://www.dw.com/de/klimaexperte-afrika-braucht-gr%C3%BCne-mauer/a-39213545 http://www.lonam.de/afrikas-gruene-mauer-vision-eines-weltwunders/ http://archiv.connection.de/index.php/gesellschaft-oekologie/1920-oekodoerfer-in-afrika http://www.oya-online.de/article/read/993.html https://afrika.info/newsroom/kamerun-nachhaltigkeit-durch-permakultur/ https://netzfrauen.org/2017/07/05/52954/ http://www.afrikaverein.de/kalender/ygabn/ -------------------------------------------------------------------------Und ja, das werden Manche wieder nicht hören wollen: internationale Politikanalyse der Friedrich-Ebert-Stiftung „Fluchtursachen »Made in Europe« Über europäische Politik und ihren Zusammenhang mit Migration und Flucht“ https://www.fes.de/de/themenportal-flucht-migration-integration/artikelseite-flucht-migration-integration/fluchtursachenmade-in-europe/


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Flamingoo Foods gibt Gas Kleine Schritte, große Wirkung: Ein Social Business junger Deutscher vertreibt in Ostafrika Grundnahrungsmittel kostengünstig und zu stabilen Preisen. Und jetzt optimiert mit einem effizienten digitalen Buchhaltungssystem. Der Erfolg gibt ihnen recht: Es braucht keine Megaprojekte, keine Großinvestitionen, aber gute Ideen, Fachwissen und soziales Unternehmertum, um Dinge positiv und nachhaltig zu verändern. Und es braucht den Willen, den Mehrwert für die Menschen vor Ort an erste Stelle zu setzen.

„Wir wollen erreichen, dass Unterernährung nicht mehr der Grund für jeden dritten Todesfall bei Kindern in Tansania ist, und halten eine erhebliche Verbesserung der Nahrungsmittelsituation für möglich, da grundsätzlich ausreichend Nahrungsmittel vorhanden sind,” so Andreas Schlüter und Adrian Weisensee, die jungen Gründer von „Flamingo foods Ltd“ mit dem Sitz in in Musoma, Tansania. Das Unternehmen, das seit Juli 2014 nationale und seit März 2015 internationale Nahrungsmitteltransporte fährt, bietet in seinen Läden und als Großhändler die Grundnahrungsmittel Mais, Bohnen und Reis an.

während des Studiums konnte er verbesserte Logistikkonzepte für den Nahrungsmittelhandel in Tansania erarbeiten. Lukas Dürrbeck schließlich, Masterabsolvent der Fakultät Gestaltung an der Fachhochschule Würzburg-Schweinfurt (FHWS), hat im Zuge seiner Masterarbeit, die sich kritisch mit den historischen Umständen der Entwicklungszusammenarbeit auseinandersetzt, ein digitales Buchhaltungssystem in Tansania entwickelt.

So kann es gehen, wenn Erfolgsgeschichten mit und von den Menschen vor Ort zu einem Mehrwert über die Region hinaus entwickelt werden: Man nehme unternehmerischesAndreas Schlüter studierte Tropische und Internationale Denken vor Ort, analysiere dessen Stärken und Schwächen Forstwissenschaft und beschäftigte sich in seiner Master- und bringe seine eigene Expertise ein, um es richtig zum arbeit mit der Vorhersage von Maisproduktion in Tansania. Laufen zu bringen. Es braucht gerade nicht große Projekte Adrian Weisensee lebte im Rahmen seines FSJs in Musoma, und Monokulturen für den Export, keine Marktöffnung für Tansania. Durch seine Vertiefung in Logistikfragestellungen Güter und Dienstleistungen des Nordens, es braucht wohl


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eher den Grundsatz: Unterstütze und stärke das, was die Menschen selbst an Geschäftsideen entwickeln und wovon möglichst viele vor Ort einen Vorteil haben. Was also ist die Geschäftsidee und die Vision von Flamingoo Foods? Auf https://flyingflamingoo.wordpress.com heißt es Das klingt nach einem sinnvollen und dringend angesagten dazu: Flying Flamingoo Ltd wurde 2014 in der Region der Plan in einer riesigen Region, die – wie gerade zur Zeit Großen Seen in Tansania gegründet. Als Großhändler und – immer wieder von Hungersnöten heimgesucht wird. Direktvertrieb handeln wir mit den Grundnahrungsmitteln Einerseits sind hier extreme Dürreperioden verantwortlich Reis, Mais und Bohnen, welche die Hauptnahrungsmittel in zu machen, andererseits jedoch eben Defizite, die zu Ostafrika sind. Wir versorgen Großabnehmer wie Schulen beseitigen die Regierungen bisher offensichtlich nicht und andere in Tansania und Kenia. Ferner bedienen wir auch willens oder fähig waren: Eine kluge, effiziente Logistik, um Endverbraucher in unserem Laden in Musoma, Tansania. die genügend vorhandenen, jedoch geografisch ungleich vorhandenen Lebensmittel nach Bedarf zu verteilen. Es ist Wie aktuelle Studien zeigen, belaufen sich in Tansania kaum erträglich, dass angesichts der Nahrungsmittelnot die Verluste nach der Ernte an Getreide auf 30%, bei vielerorts soviele Lebensmittel verderben, bevor sie die verderblichen Produkten gar auf mehr als 50%. (Affognon et Käufer erreichen, weil vielen Bauern der Marktzugang oder al., 2015) Andererseits weist das Welternährungsprogramm die benötigte Infrastruktur fehlen. darauf hin, dass beispielsweise 2013 über 30% der Bevölkerung schwer unterernährt war. Flying Flamingoo als ein Social Business will dem entgegenwirken, indem Nahrungsmittel zu niedrigen Preisen in ländlichen Überschussgebieten eingekauft und zu angemessenen Preisen in Defizitgebieten verkauft werden. Entscheidend ist die geschickte Wahl von Transportwegen, die den Nutzen sowohl der Bauern als auch der Konsumenten steigert und die Preisstabilität erhöht. Auch die Auswertung meteorologischer und agrarwissenschaftlicher Daten hilft, frühzeitig Handelsrouten in von Dürre oder Pest betroffene Gebiete aufzubauen. Eine intelligente und optimierte Auswahl der Transportrouten kann sowohl den Gewinn der Bauern in der Überschuss-Region als auch den Vorteil der Konsumenten in der Mangelregion vergrößern (Mkenda and Van Campenhout, 2011). Derzeit sind die Hauptabnehmer unserer Grundnahrungsmittel hauptsächlich Schulen; so können wir zu einer gesicherten Ernährung von Schulkindern beitragen. Wir arbeiten eng mit dem Ministerium für die Rettung von Waisenkindern (FORM) zusammen.

Doch die Geschäftsidee der beiden jungen Deutschen und erst recht ihre Expansionspläne brauchte noch einen Dritten im Bunde, um richtig Gas zu geben: Lukas Dürrbeck. In seiner Masterarbeit, für die er von der Fakultät Gestaltung an der FHWS mit dem „Bergkristall“-Preis ausgezeichnet wurde, hat er sich für die Optimierung des Konzept von Flamingoo Foods zunutze gemacht, dass in Tansania wie auch in Kenia das Smartphone intensiv zur Information, "Unsere Vision ist der Aufbau eines verlässlichen und robus- Kommunikation, Bildung und Geschäftsabwicklungen ten Handelsnetzwerks quer durch Ostafrika. Dies soll noch genutzt wird. (siehe auch „So könnte es gehen“ in mehr Bauern in weiteren ländlichen Gebieten den Absatz Heimfocus 06/2017) In einer Pressemitteilung seines ihrer Erträge und auf der anderen Seite mehr Kunden in Fachbereichs beschreibt er sein Vorgehen, um die erkannte Hochpreis-, weil Mangelgebieten Zugang zu bezahlbaren Lücke zu schließen. „Dafür habe ich mit der Organisation Grundnahrungsmitteln ermöglichen. Dies wird uns in die Lage versetzen, derzeit erst in Tansania, später aber auch in Uganda, Ruanda und Burundi schneller auf Nahrungsengpässe zu reagieren und die Regionen mit Über-und Mangelproduktion zu verbinden."


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Überträge regelmäßig entstanden.

erhebliche

Fehler

Zusammen mit den Angestellten habe er ein zentrales, flexibles OnlineBuchhaltungssystem für kleine und mittelständische Unternehmen in Ostafrika entwickelt incl. einer Kassenansicht. Ziel sei es gewesen, die Buchhaltung einfach wie effizient zu gestalten. Das dahinterstehende System sollte so konzipiert sein, dass alle wichtigen Daten sofort einsehbar seien und auf Basis dessen das Unternehmen nachhaltig verbessert werden könne. Die neu entwickelte Software werde seit Februar 2017 bei Flamingoo Foods genutzt. Von wegen ein deutscher „Marshallplan für Afrika“ oder ein „Compact with Africa“ der G20. Vielleicht gerade deswegen, von unten her und für die Menschen vor Ort, ermutigend und wegweisend: So könnte es gehen, damit die Lokalbevölkerung ein Auskommen, Aufstiegschancen und Perspektiven hat. Wetten, keiner der Beschäftigten bei Flamingoo Foods würde jemals an Migration denken. Die vielen, die durch Zusammenarbeit unserer staatlichen Entwicklungsfonds und Investoren mit Produzenten von Cash Crops u.ä. um ihre Existenz gebracht worden sind, schon eher.

`Flamingoo Foods` zusammengearbeitet, die sich zur Aufgabe gemacht hat, durch Transporte von Reis, Mais und Bohnen von Überschuss- in Krisengebiete ein robustes Netzwerk aufzubauen. Auf meiner dreiwöchigen Reise nach Tansania habe ich im September 2016 zusammen mit den Angestellten vor Ort deren Herausforderungen analysiert. Dabei haben wir festgestellt, dass die Buchhaltung als sehr aufwendig empfunden wurde.“ Diese sei größtenteils auf Quellen: losem Papier mit Excel-Listen an verschiedenen Orten ausgeführt worden. Darüber hinaus seien durch viele

Eva Peteler


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in Tanzania: Meshack Daudi Mahushi Musoma, Tanzania Tel: (+255) 0 768 069 412 (+255) 0 789 097 883 in Deutschland: Adrian Weisensee Andreas Schlueter Email: flyingflamingoo@t-online.de Wie können Sie Flamingoo Foods unterstützen? Mit Kontakten in Ostafrika, zinsgünstigen Darlehen oder Spenden, Beratung und freiwilliger Mitarbeit (z.B. Auslandspraktikum).

https://www.fhws.de/en/search-and-find/media/more-press-releases/?tx_ttnews%5Btt_news%5D=2398&cHash=e518c2fe75 7a10237293609ff61767c0 https://www.studienstiftung.de/pool/sdv/public/documents/STUDIENSTIFTUNG/Preisverleihung2015/Schlueter_Weisensee_ Flying_Flamingoo.pdf http://lukasduerrbeck.de/upload/FlamingooFeedback_V1_compressed.mp4

Fotos: © Lukas Dürrbeck Kontakt:


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Wie Migranten Fluchtursachen bekämpfen Sie überweisen Geld nach Hause und entwickeln ihre Heimat.

Auch die Markthallen in Koniakary wurden von Migranten finanziert.

„Fluchtursachenbekämpfung“ ist zu einem zentralen Schlagwort der deutschen Regierung geworden, wenn es um das Verhältnis zu Afrika geht. Der Nachbarkontinent ist einer der Schwerpunkte der deutschen G20-Präsidentschaft. Zur Vorbereitung des G20-Treffens hat Mitte Juni in Berlin bereits ein Afrika-Gipfel stattgefunden. Während früher von „Hilfe“ die Rede war, sprechen Regierung und Hilfsorganisationen heute verschämt von Partnerschaft, meinen aber im Wesentlichen dasselbe. Und was früher Entwicklungshilfe für und Armutsbekämpfung in Afrika hieß, nennt die Regierung heute die Bekämpfung von Fluchtursachen. Wobei die Unterschiede zu früheren Ansätzen schwer auszumachen sind.

@ Bettina Ruehl

sächlich viele Menschen von dort aufbrechen und anderswo versuchen, ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Außerdem sind sie wichtige Transitstaaten für diejenigen, die aus den Ländern südlich der Sahara kommen und durch die Wüste nach Norden wollen, zum Beispiel an die libysche Küste, um von dort nach Europa überzusetzen. Mali befindet sich außerdem seit 2012 in einer schweren politischen Krise, es ist inzwischen das wichtigste Einsatzland der Bundeswehr. Deutsche Soldaten versuchen dort, im Rahmen einer UNund EU-Mission, den Krisenstaat zu stabilisieren und gegen islamistische Terrorgruppen zu sichern. Das allein löst aber das entwicklungspolitische Ziel nicht.

Hört man sich in malischen Dörfern um, haben zwar viele Menschen im Radio und Fernsehen von den versprochenen Millionen zur Bekämpfung der Fluchtursachen gehört, aber noch keinen afrikanischen Franc davon gesehen. Das gilt auch für die Bewohner des Ortes Koniakary im äußersten Westen von Mali. Beim Besuch dort fallen jedoch die vielen öffentlichen Einrichtungen des Ortes auf. Das beginnt kurz hinter dem Ortseingang mit der großen Entbindungsstation. Daneben steht ein großes Gesundheitszentrum. Woher kamen die Gelder dafür? Eine Erklärung liefern die Werbetafeln für internationale Geldtransferanbieter. Sie ermöglichen Migranten Rücküberweisungen von Geld, das Eines der Länder, das bei der „Fluchtursachenbekämpfung“ sie im Ausland verdient haben. In der Tat wurde die Entbinim Mittelpunkt steht, ist das westafrikanische Mali. Jeden- dungsstation schon 1972 errichtet, bezahlt ausschließlich falls beim Reden darüber. Mali und das benachbarte Niger von Migranten. Ebenso wie das Gesundheitszentrum. Es gehören zu den ärmsten Ländern der Erde, weshalb tat- hat 120 Millionen westafrikanische Francs (CFA) gekostet,

Eines steht aber sicher außer Frage: Dass sich die Regierung große Mühe gibt, den deutschen Wählerinnen und Wählern den Eindruck zu vermitteln, sie tue alles dafür, die Ankunft von weiteren Flüchtlingen in Deutschland möglichst zu verhindern. Das lässt sie sich laut ihrer Internetseite einiges kosten: Allein 2016 habe das zuständige Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) mehr als drei Milliarden Euro in die weltweite Minderung von Fluchtursachen gesteckt, heißt es auf der Seite des BMZ.


11 / 2017 umgerechnet rund 183 000 Euro.

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1972 Kontakt mit denjenigen auf, die ihr Geld im Ausland verdienten. So begann eine Entwicklungszusammenarbeit, Das „centre de santé“ hat inzwischen den Rang eines „uni- die bis heute anhält: Die Migranten schicken das Geld, die versitären Gesundheitszentrums“ und bildet medizinisches Bevölkerung von Koniakary macht die Arbeit. Personal auch aus entfernten Regionen aus. In ganz Mali gibt es nur fünf solcher Zentren, obwohl der Staat flächen- Auf diese Weise wurde als erstes die bereits erwähnte mäßig drei Mal so groß ist wie Deutschland. Umso bemer- Entbindungsstation gebaut, ebenso das Gesundheitszenkenswerter ist, dass dieses nicht auf Initiative und durch die trum. Und dann im Laufe der Jahrzehnte: ein Kindergarten, Finanzierung der malischen Regierung entstand, sondern Markthallen, ein Radiosender, Gemüsegärten mit Brunnen von Migranten bezahlt und von der Bevölkerung gebaut für die Frauen, gemauerte Klassenräume. Während einige wurde. Bauten ausschließlich von den Migranten bezahlt wurden, überwiesen sie in anderen Fällen den Eigenbeitrag, den die Wer Bürgermeister Bassirou Bane im Rathaus besucht – Kommune leisten musste, um Geld von einer internationaauch das von Migranten bezahlt und von der Bevölkerung len Hilfsorganisation oder bisweilen auch staatliche Förerbaut – hört noch mehr Überraschendes. Natürlich ist der dermittel zu erhalten. Seit gut zehn Jahren spielt auch ihre Bürgermeister unbedingt mit allen Versuchen einverstan- französische Partnerstadt Villetaneuse eine wichtige Rolle. den, das Sterben der Arbeitssuchenden auf ihrem Weg Jahr für Jahr realisiert sie gemeinsam mit der Bevölkerung nach Norden zu verhindern. Aber das Ende der Migration von Koniakary ein Projekt. Unter anderem erweitert die wäre aus seiner Sicht „die reine Katastrophe“, für die Ge- Gemeinde derzeit die Wasserversorgung, weil die Bevölkemeinde Koniakary und für viele Familien des Ortes. Die Mi- rung stark gewachsen ist. Statt der bisher drei Brunnen gibt gration hat in der Region um Kayes eine lange Geschichte, es nun fünf. Außerdem stellt die Gemeinde die EnergieverWanderarbeit gehört hier seit Generationen zur Kultur. Sie sorgung vom Generatorbetrieb auf ein Hybrid-System um. war so etwas wie ein Ritual des Übergangs auf dem Weg In diesem Fall waren die Solarpanele keine Spende „ihrer“ zum Erwachsenwerden. Früher gingen die Männer nach Migranten, sondern ein Kredit, immerhin geht es bei dem dem Ende der Ernte für ein paar Monate in die Nachbarlän- Gesamtprojekt um rund zwanzigtausend Euro. Knapp die der und kamen mit der nächsten Regenzeit nach Hause zu- Hälfte davon spendierte ein interkommunaler Zusammenrück, um bei der Feldarbeit zu helfen. Anschließend zogen schluss in Frankreich namens „Pleine Commune“, den Rest sie wieder los, bis der nächste Regen kam. Mit dem Beginn strecken Migranten in Frankreich den Ortsansässigen vor. der Erdöl- und Mineralienförderung wurden auch zentralafrikanische Länder für die malischen Arbeitsmigranten Dank ihrer Überweisungen hat sich der Ort auf bemerkensattraktiv. werte Weise entwickelt, und wie es scheint mit relativ wenig veruntreuten Geldern. Vielleicht funktioniert das hier Von Europa habe damals kaum jemand geträumt, erzählt so gut, weil sich jeder für das Gesamte verantwortlich fühlt Bane. Das Glück lag näher und war einfacher zu haben, und alle einander kennen. Aber Vertrauen ist nicht alles: ohne mit einem Kulturschock bezahlen zu müssen. Es gibt in Koniakary durchaus ein verzweigtes System aus Daran hat sich bis heute nicht viel geändert. Nach Banes „Checks and Balances“ für die Verwendung und Verwaltung Schätzungen arbeiten von den rund 15 000 Bewohnern des der Gelder. Dafür haben sich kommunale Strukturen mit Ortes 15 Prozent im Ausland, nur fünf Prozent davon in Selbstverwaltungsorganen der Bürgerinnen und Bürger Europa. Illegale Migration dorthin ist ein Thema, denn mit vernetzt. So wird beispielsweise das Gesundheitszentrum dem Verfall der Erdölpreise haben auch Gabun, Angola und von einem Verein verwaltet, der mit der Kommune koopeandere afrikanische Staaten, die früher Wanderarbeiter riert. Viele Vereinsmitglieder sind Rückkehrer aus der Diaaufnahmen, ihre wirtschaftlichen Krisen. Aber immer noch spora, waren im Ausland in der „Schule des Lebens“, wie verdienen die Malier dort gutes Geld. Davon schicken sie sie das nennen. Auf ihre alten Tage geben sie statt Geld weiterhin einen großen Teil zurück an ihre Familien und ihre Erfahrung und ihr Organisationstalent an die Gemeininvestieren zusätzlich in die Entwicklung ihrer Gemeinde. schaft weiter. Etliche verdienen ihr Geld jetzt wieder als Bauern, viele waren nur wenige Jahre in der Schule. Aber Bei einem Rundgang durch den Ort zeigt der Bürgermeister, es scheint, als wären sie alle für ihre Gemeinde die besten was dank dieser Entwicklungszusammenarbeit zwischen Entwicklungshelfer. Migranten und Daheimgebliebenen alles entstand. Seine Tour beginnt noch vor dem Losgehen, nämlich im Rathaus. Bettina Rühl Das wurde schon 1978 gebaut, damals noch als Außenstelle des Standesamtes – die Bevölkerung war es leid, für jedes Artikel zuerst veröffentlicht im IPG-Journal vom 03.07.2017 Dokument stundenlang fahren zu müssen. Da die malische unter dem Link Regierung keinerlei Anstalten machte, sich um die Anlie- http://www.ipg-journal.de/regionen/afrika/artikel/detail/wiegen ihrer Bürger zu kümmern, nahm die Bevölkerung von migranten-fluchtursachen-bekaempfen-2141 / Koniakary ihre Geschicke Anfang der 1970er Jahre selbst in die Hand, durchaus enttäuscht von der jungen malischen Wir danken für die Abdruckgenehmigung! Demokratie: Die junge malische Regierung tat für ihre Bevölkerung nicht mehr als bis dahin die französische Kolonialmacht. Deshalb nahmen die Dorfältesten von Koniakary


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Ein Licht in der Wüste

©gaia.org

Solarzellen, Biogas, eigenes Saatgut – vor zehn Jahren entschieden sich die Einwohner von Guédé Chantier im Senegal, ihren Ort zum Ökodorf zu machen. Heute gilt die Gemeinde als Vorbild für das ganze Land

Mein Geburtsort, das Dorf Guédé Chantier, dessen Bürgermeister ich heute bin, liegt im Norden Senegals und an den Ufern des gleichnamigen Flusses. Auf den ersten Blick sieht es aus wie viele Dörfer der Sahelzone. An staubigen Sandstraßen tummeln sich kleine Verbünde hölzerner Hütten. Doch wer weiter in den 7000-Seelen-Ort vordringt, stellt bald fest: Guédé ist anders. Überall sprießen grüne Pflanzen, große Ackerfelder unterbrechen die Bebauung, auf Dächern blitzen Solarzellen im Licht, und hier und da werden deutsche, britische und amerikanische Studierende durch die Straßen geführt, halten Blöcke in den Händen und notieren fleißig alles, was sie sehen. Sie kommen, um sich eines der ersten senegalesischen »Ökodörfer« anzuschauen. In Guédé bestimmen die Dorfbewohner gemeinsam mit mir über das Schicksal der Gemeinde. Mit neuen Entwicklungskonzepten und innovativer Technologie wollen wir unseren Ort für die Zukunft wappnen. So nachhaltig wurde in Guédé nicht immer gedacht. Als die französischen Kolonialisten das Dorf in den 1930er-Jahren gründeten, brachten sie die künftigen Bewohner gleich gewaltsam mit. Die zur Arbeit gezwungenen Senegalesen

sollten das Land roden und Reisfelder anbauen, die Gesundheit des Bodens wurde aus Profitgier geopfert. Das änderte sich auch mit dem Ende der Kolonialherrschaft nicht. In den 1970er-Jahren kooperierte die senegalesische Regierung eng mit der chinesischen Wirtschaft. Um die Effizienz der landwirtschaftlichen Produktion in Guédé und vielen anderen Ortschaften im Land zu maximieren, setzte man billige Düngemittel und Pestizide ein, die von neu angesiedelten chinesischen Betrieben produziert wurden. Auf den hoch schädlichen Produkten fanden sich entweder gar keine Warnhinweise oder sie waren in Chinesisch gehalten. Die lokalen Bauern verwendeten sie, ohne sich zu schützen, trugen keine Handschuhe, keine Masken, keine Arbeitskleidung. Im Gegenzug versorgten die chinesischen Investoren das Dorf kostenlos mit Elektrizität. Guédé wurde zum ersten Ort der Region, in dem von 18:30 Uhr bis Mitternacht Licht leuchtete. Von den umliegenden Gemeinden aus sah Guédé wie eine leuchtende Sternschnuppe in der dunklen Wüste aus. Abends wurden Filme gezeigt. Sie handelten von Mao Zedong und der Herrlichkeit Chinas – für uns Ein-


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wohner, die weder den chinesischen Kommentar noch die englischen Untertitel verstanden, wirkte das wie Magie. Die meisten waren so gebannt von den Bildern, der neuen Technik, der Entwicklung des Dorfes, dass sie blind wurden für die Gefahren des vermeintlichen Fortschritts.

Mailing-Liste, die so viele ehemalige Einwohner von Guédé erreichen sollte wie möglich. Wir wollten alle in den Prozess einbinden und um Unterstützung werben. Wir gründeten auch eine Online-Zeitschrift, die an potenzielle Spender wie Universitäten und Botschaften gesendet wurde.

Ende der 1970er-Jahre kriselte es dann in den chinesisch-senegalesischen Beziehungen und die Investoren zogen ab. Gleichzeitig zwangen die neuen Auflagen des Internationalen Währungsfonds und der ©GEN_logo Weltbank die Regierung dazu, sich »strukturell anzupassen«. Die Finanzierung des Bildungssektors und die Subventionen für die Landwirtschaft wurden gekürzt. Guédé stand plötzlich allein da. 1994 setzte die erste Hungersnot ein. Die ausgelaugten Böden warfen keine Erträge mehr ab und viele meiner jungen Freunde und Bekannten zogen in die Städte oder flüchteten ins Ausland.

Unser erster Kooperationspartner war eine amerikanische NGO, die uns half, eine nachhaltige Fischereiwirtschaft zu etablieren, die sowohl unseren Fluss schützte, als auch die Gemeinde er-

Die Wende kam erst viel später, im Jahr 2007 unter einem Palaverbaum, an dem sich die Dorfgemeinde traditionell trifft, wenn es Entscheidungen zu fällen gilt. Ich kehrte damals von einer Konferenz zurück, bei der ich vom Konzept »Ökodorf« erfahren hatte. Das Global Ecovillage Network ©integral-sustainability (GEN), eine Vereinigung von Gemeinden rund um den Glo- nähren konnte. Mit Geldern von der Europäischen Union bus, stellte damals in Senegal ihr Konzept vor. Es ging da- finanzierten wir die erste Müllabfuhr und die Restauration rum, kleine Ortschaften nachhaltig zu entwickeln, unter eines alten Kolonialgebäudes, das in ein Gemeinde- und Teilhabe aller Einwohner umzustrukturieren und gleichzei- Umweltcenter verwandelt wurde. Mit senegalesischen tig die Landschaft und die Böden zu konservieren. Ich be- Regierungssubventionen und der Hilfe französischer Hilfsrichtete davon und warf die Idee in den Raum, unseren Ort organisationen wurde eine Schule gebaut. Außerdem als Ökodorf neu zu gründen. Vor dem Hintergrund unserer schufen wir ein Zentrum für Saatzucht, in dem wir lokales langen Leidenszeit waren die meisten sofort Feuer und Saatgut vervielfältigen wollten. Im Austausch mit universitären Forschungseinrichtungen arbeiteten wir die nachhalFlamme. tigsten Methoden heraus, um auf den strapazierten Böden von Guédé wieder Nutzpflanzen anbauen und organische Anfangs galt es vor allem, Investoren zu finden und politiLandwirtschaft betreiben zu können. Heute bauen wir sche Kontakte zu knüpfen. Dass Guédé 2009 von der Renicht mehr nur Reis an, sondern auch Okra, Tomaten und gierung offiziell als Gemeinde und nicht mehr nur als Dorf Mais und die Bauern im Ort bekommen regelmäßig Unteranerkannt wurde, half dabei. So konnten wir Gremien währicht in Sachen Kompostierung und organisches Düngen. len und erstmals einen politischen Vertreter benennen. Ich wurde Bürgermeister und konnte so viele Veränderungen selbst in die Hand nehmen. Wir traten dem GEN offiziell bei Noch wichtiger wurden die »Eco-Sentinelles«, die »Ökound erstellten eine Website, ein Facebook-Profil und eine Wächter«. Das sind junge Einwohner von Guédé, die be-


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gannen, sich für den lokalen Naturschutz starkzumachen. Sie räumten Straßen auf, kreierten Kampagnen gegen chemische Düngemittel und Plastikmüll und setzten sich gegen kulturelle Entfremdung ein. Denn damit ein Ökodorf floriert, müssen wirtschaftliche, kulturelle und ökologische Werte miteinander in Einklang gebracht werden. Gerade planen wir deshalb den Bau eines medizinischen Pflanzengartens. Es soll ein Ort werden, an dem traditionelle Heiler und Fachärzte ihre Kompetenzen austauschen können. ©scidev.net

©futurechallenges.org

© sunlabob

Dass heute amerikanische, europäische und senegalesische Schulklassen nach Guédé kommen, um sich die Umsetzung der verschiedenen ökologischen Initiativen anzusehen, liegt nicht nur daran, dass unser Dorf mittlerweile Strom aus Solarzellen und Biogas gewinnt. Das internationale Interesse an dem Projekt hat einen viel wichtigeren Grund. Genau wie Guédé Ende des 20. Jahrhunderts unter der Umweltzerstörung, der wirtschaftlichen Ausbeutung und der daraus resultierende Armut litt, so kämpfen auch heutzutage noch viele ländliche Gemeinden auf der Welt mit diesen Problemen. Das hat nicht nur lokale und nationale Konsequenzen, sondern auch globale: Die Strukturschwäche kleiner Gemeinden ist eine der Hauptursachen für Flucht und Migration. Immer mehr Politiker beginnen zu begreifen, dass sich das nur ändern lässt, wenn natürliche Ressourcen wiederhergestellt werden und man einkommensgenerierende Aktivitäten für Menschen auf dem Land schafft. Das hat nun auch die senegalesische Regierung begriffen: Geht es nach ihr, dann sollen in den nächsten Jahren 14.000 Ortschaften am Beispiel Guédés zu Ökodörfern gemacht werden. Auch wenn es den Politikern in Dakar dabei vorranging um den wirtschaftlichen Profit geht, wäre das für die Menschen auf dem Land ein riesiger Schritt nach vorn. Dr. Ousmane Pame²

Dr. Ousmane Aly Pame ist Präsident von GEN (Global Ecovillage Network) Africa Dieser Artikel ist zuerst erschienen in: KULTURAUSTAUSCH - Zeitschrift für internationale Perspektiven, Ausgabe 3/2017¹ Wir danken für die Zweitdruck-Erlaubnis!

© downtoearth.org

¹http://www.kulturaustausch.de/index.php?id=5&tx_ttnews%5Btt_news%5D=&tx_amkulturaustausch_ pi1%5Bview%5D=ARTICLE&tx_amkulturaustausch_pi1%5Bauid%5D=2633&cHash=38c6dc8d602d36044f14d0f86fad844d ²https://ecovillage.org/dr-ousmane-aly-pame-president-of-gen-africa-simplicity-and-sharing-are-the-roots-of-happiness/ https://ecovillage.org/region/gen-africa/


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Menschenrettung im Mittelmeer: an Bord der Sea-Eye Seit Mare Nostrum, die italienische Marineoperation zur Seenotrettung von Flüchtlingen im Mittelmeer, beendet wurde, haben dort einige Nichtregierungs-Organisationen diese Aufgabe übernommen. Eine davon ist Sea-Eye e.V.

Der Regensburger Verein Sea-Eye e.V. wurde im Herbst stemmt, so zum Beispiel Spendenakquise, Organisation 2015 von Michael Buschheuer sowie sechs Freunden und von Informationsveranstaltungen, Crewplanung und BeFamilienmitgliedern gegründet. Für Herrn Buschheuer, schaffung von Ersatzteilen für die Schiffe. Alle zwei Woselbst leidenschaftlicher Segler im Mittelmeer, war das chen findet in Regensburg ein Vereinstreffen statt, offen massenhafte Ertrinken von Flüchtlingen nicht mehr für alle Mitglieder und Interessierte. Für die See-Crew, auf tragbar. Daraufhin kaufte der Verein, der sich nur über deren Tätigkeit hier näher eingegangen wird, werden vor Spenden finanziert, ein altes Fischerboot, baute es zum allem Freiwillige gesucht, die im Idealfall Seeerfahrung und Zweck der Seenotrettung um und die „Sea-Eye“ konnte im Bootsführerscheine, eine medizinische Ausbildung haben April 2016 das erste Mal in See stechen. Als Unterstützung oder gelernte Maschinisten sind. Doch auch wenn man keifährt seit Mai 2017 ein weiterer ehemaliger Fischkutter, die ne Erfahrung in einem dieser Bereiche hat, kann man mit „Seefuchs“, Patrouille. Die beiden Schiffe sind immer im seinen Fähigkeiten an Bord mithelfen. Wechsel zwischen 24 und 36 Seemeilen (in etwa 44-66km) von der libyschen Küste entfernt. Heute hat der Verein ca. 700 Mitglieder aus fünf europäischen Ländern; einer Ablauf eines Einsatzes davon ist David Stahl, durch den wir unsere Informationen Zu Beginn eines Einsatzes trifft sich die Crew auf Malta und für diesen Artikel erhalten haben. Der studierte Ingenieur wird dort von einem Kriseninterventionsteam der Malteser beendete sein Studium im August 2016 und war zuletzt im vorbereitet. Gleichzeitig wird ihnen von der alten Crew die Mai 2017 14 Tage an Bord der Sea-Eye. Funktionsweise des Schiffes erklärt und dieses neu beladen mit allem, was die Mannschaft auf See benötigt. Land-Crew und See-Crew Ein großer Teil der Arbeit wird von der Land-Crew ge- Die kommenden zwei Wochen hält die Sea-Eye Ausschau


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contact@heimfocus.net Wird ein Flüchtlingsboot gesichtet oder die Sea-Eye durch das MRCC zu einem Seenotfall beordert, wird als Erstes das Mutterschiff im Sicherheitsabstand gestoppt und das Beiboot zu Wasser gelassen. Gleichzeitig wird das MRCC über die Lage vor Ort informiert. Die Flüchtlinge auf den Booten befinden sich in der Regel in Lebensgefahr, da sie meist Nichtschwimmmer sind, keine funktionsfähigen Schwimmwesten besitzen und die stark überladenen Boote in keinster Weise für das offene Meer geeignet sind. Die Freiwilligen auf dem Beiboot versuchen den Flüchtlingen zu verdeutlichen, wer sie sind und was ihre Aufgabe ist. Durch Umkreisen des Flüchtlingsbootes wird versucht folgende Informationen herauszubekommen: Ist auf dem Flüchtlingsboot jemand, der eine gleiche Sprache spricht wie einer der Freiwilligen auf dem Beiboot? Wie viele Menschen sind an Bord? Wie viele Schwimmwesten werden benötigt? Gibt es Verletzte oder medizinische Notfälle? Wie ist psychische Verfassung? Wie lange sind die Flüchtlinge schon auf See? Da nicht alle wichtigen Informationen durch bloßes Hinschauen zu erkennen sind, ist für die Helfer die Kommunikation mit dem einen Flüchtling, mit dem man sich am besten verständigen kann, hilfreich und wichtig. So haben Holzboote oft zwei Ebenen, wobei Frauen und Kinder meist am Boden in der Mitte untergebracht sind, wo ein Gemisch aus auslaufendem Benzin, Salzwasser und Urin ihre Haut verätzt. Diese Informationen sind wichtig, um dann die Aufgabe der Sea-Eye, die Erstversorgung, erfüllen zu können und die Zeit bis zur endgültigen Rettung sicher zu überbrücken, indem Schwimmwesten und eventuell Trinkwasser verteilt werden, gegebenenfalls medizinisch versorgt wird und gemeinsam auf ein größeres Schiff gewartet wird. Die SeaEye selbst ist nicht dafür ausgelegt, Flüchtlinge an Bord zu nehmen. Bei einem Seenotfall ist jedes geeignete Schiff in der Nähe verpflichtet, zu helfen. Für die Sea-Eye ist der Einsatz erst beendet, wenn jeder zu Rettende sicher auf einem Schiff untergebracht ist, sie ihre Schwimmwesten zurück bekommen haben, alles wieder verstaut und der Einsatz protokolliert wurde. Dann geben sie Bescheid an das MRCC, dass sie für einen nächsten Einsatz bereit sind.

nach Flüchtlingsbooten entlang der 24-Seemeilen-Grenze vor Libyen, dem Bereich, in dem die meisten Flüchtlingsboote in Gefahr geraten. Parallel reagiert die Sea-Eye auf Anweisungen des MRCC Rom, der Seenotrettungsleitstelle der italienischen Regierung. Dort gehen alle Notrufe ein und alle Helfereinsätze werden von dort koordiniert. Die Mitarbeiter der Sea-Eye schätzen die Kompetenz und Koordination des MRCC und sind froh über die gute Zusammenarbeit.

Welche Schwierigkeiten gibt es? Die Crew hat durch ihren Einsatz mit einigen Herausforderungen zu kämpfen: Der Wach- und Schlafrhythmus ist auf See komplett verändert, da immer ein Team drei bis vier Stunden Wache halten muss. Freizeit bedeutet nicht gleich Schlafen, dann sind auch Tätigkeiten wie kochen, essen, waschen und reparieren zu bewerkstelligen. Der Seegang kann in bestimmten Situationen zu Problemen führen. Auch wenn man sich auf das, was einen in einem solchen Einsatz erwartet, bestmöglich vorbereitet hat, kann einen das Erlebte vor Ort stark beschäftigen und belasten. Im „worst case“ kann man mit folgenden Situationen konfrontiert werden: dass man auf ein Leichenmeer trifft; dass für Einzelpersonen jede Hilfe zu spät kommt; dass auf dem Boot Massenpanik ausbricht oder bereits herrscht; dass man selbst in Seenot gerät oder mit der Unmenschlichkeit und Härte der Gesamtsituation überfordert ist. Diese kann bedeuten, dass die Flüchtlinge schon seit zehn Stunden


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11 / 2017 oder mehr in größter Hitze und größter Enge ohne Wasser und Rettungswesten auf sich allein gestellt sind und schon beim Start für die Schlepper klar ist, dass das Ziel Europa so nicht erreicht werden kann. Für den Verein ergeben sich mit seiner Mission auch andere Herausforderungen: Anfang 2017 wurde einigen NGOs, darunter auch der Sea-Eye e.V., zum Vorwurf gemacht, sie würden mit Schleppern zusammenarbeiten und durch ihre Arbeit mehr und mehr Flüchtlinge anziehen. Ein Untersuchungsausschuss des italienischen Parlaments erklärte daraufhin nach Abschluss der Untersuchungen, es seien keine Verbindungen zwischen den NGOs und den Schleppern erkennbar. Zwei Studien der Universitäten Oxford und London widerlegen den „Pull-Faktor“. Die Fluchtbewegung über die zentrale Mittelmeerroute steige unabhängig und kontinuierlich. Die Präsenz der NGOs habe nicht zu mehr Flüchtenden geführt, jedoch die Todesrate verringert. Trotzdem kommen weiterhin aus Deutschland, Österreich und Italien negative Stimmen zu der Arbeit der NGOs. SeaEye musste sich mit diesen Anschuldigungen auseinander setzen und verfasste auf ihrer Website dazu eine umfassende Stellungnahme.

Ein weiterer Stressfaktor: die selbsternannte libysche Küstenwache Diese besteht aus Mitgliedern zahlreicher Milizen, handelt unberechenbar und stellt sich immer wieder als Gefahr für die Helfer und die Flüchtlinge heraus. Manchmal beobachten sie die Rettungssituation nur, aber es gab auch schon Fälle, bei denen NGOs beschossen wurden, auf Flüchtlinge mit Stöcken eingeschlagen wurde oder Rettungen behindert wurden, was Tote zur Folge hatte. Daher stößt es beim Verein auf Kritik und Unverständnis, dass europäische Länder die selbsternannte libysche Laien die Rettung übernehmen müssen und dabei ihr Küstenwache anerkennen und unterstützen - zumal Sea- Leben riskieren, sondern die europäischen Regierungen Eye e.V. schon direkt Opfer dieser Küstenwache geworden Verantwortung übernehmen und ein staatliches ist: am 09. September 2016 wurde das Schnellboot des Seenotrettungsprogramm ins Leben rufen. Der größte Vereins, die „Speedy" mitsamt der Besatzung gekapert. Die Wunsch wäre, langfristig die Situation durch Bekämpfung Crew wurde nach Bemühungen der deutschen Botschaft der Fluchtursachen zu beenden, damit Menschen ihr Leben nach drei Tagen freigelassen, die Speedy jedoch bleibt von nicht weiter aufs Spiel setzen müssen und somit die Arbeit der NGOs nicht mehr nötig wäre. der libyschen Küstenwache eingezogen. Karolin Pscheidt und Noemi Pfeiffer Studierende der Sozialen Arbeit an der Fachhochschule Würzburg-Schweinfurt

Zukunftswünsche Ein großes Anliegen des Vereins ist, dass nicht freiwillige

© alle Bilder David Stahl

Der Verein freut sich immer über kleine und große Spenden! So kann beispielsweise schon mit 30€ eine neue Schwimmweste oder mit 1500€ ein Seenotrettungstag finanziert werden: Bankverbindung: Volksbank Regensburg, IBAN: DE60 7509 0000 0000 0798 98 BIC: GENODEF1R01 Kontakt:

www.sea-eye-org


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Aus und für Würzburg und Mainfranken:

Vivovolo e.V. feiert 10-jährigen Geburtstag!

Vivovolo damals und heute Im März 2007 trafen wir uns zur ersten Vereinssitzung. Wir waren genau sieben Leute, gerade mal so viele, wie man mindestens zu einer Vereinsgründung braucht.

jetzt bei Vivovolo Ferienaktionen durchführt. Dabei wird sie unter anderem unterstützt von Tatev Baghdasaryan, einer mittlerweile 17-jährigen, die als Vorschulkind den Lern- und Spieltreff besucht hat. Derzeit hat Vivovolo ca. 50 Mitglieder.

Unser Anliegen war und ist, den oftmals schwierigen und sehr belastenden Lebensumständen von Menschen mit Fluchterfahrung etwas entgegen zu setzen.

Neben der Einzelfallhilfe, die v.a. in vertraulicher Zusammenarbeit mit vielen anderen ehrenamtlichen Gruppen und hauptamtlichen Organisationen der Flüchtlingsarbeit Durch finanzielle und lebenspraktische Unterstützung so- ermöglicht wird, sind immer wieder neue Projekte entstanwie durch die Möglichkeit, die eigenen Ideen, Kompeten- den wie z.B. Ferienfreizeiten, Sprachtandems, Cafétreffs/ zen und Erfahrungen in Projekte einzubringen, wollen wir Kochabende, Schwimmkurse, Walking- und Jogginggrupeinen Beitrag leisten zur Verbesserung ihrer Lebens- und pen. Außerdem unterstützen wir den „Heimfocus“ und die Teilhabebedingungen und gleichzeitig aber auch Rahmen- Theatergruppe des Asyl-AK der KHG. bedingungen schaffen für interkulturelle Begegnungen auf Augenhöhe. Nicht zuletzt geht es uns dabei auch immer Mit unserer Arbeit unterstützen wir Menschen mit Fluchtdarum, die Zuversicht dieser Menschen zu stärken. Dies erfahrung und bieten ihnen zugleich die Möglichkeit, selbst kommt auch in unserem Vereinsnamen zum Ausdruck: Vi- aktiv zu werden. Dies geschieht innerhalb bestehender Projekte oder durch die Gründung neuer Projekte. vovolo heißt auf Esperanto „Lebenswille“. Über die Jahre kamen neue Mitglieder dazu, so z.B. Detlef Girke, der sich aktuell um die Homepage kümmert oder auch Leute, die schon seit Jahren haupt- oder ehrenamtlich mit geflüchteten Menschen zu tun hatten, wie z.B. Jella Weidlich, die 2003 für die Gründung des Lern- und Spieltreffs in der GU, den Würzburger Friedenspreis erhielt und

Auf diese Weise kommt es wie von selbst zu vielfältigen interkulturellen Begegnungen, wie zuletzt in unserer Ferienaktion: Sowohl unter den teilnehmenden Kindern bzw. Familien als auch unter den Helfer*innen waren Menschen aus verschiedenen Ländern, mit und ohne Fluchterfahrung dabei.


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Unsere Vereinssatzung sieht auch vor, dass für die Durchführung von bzw. die Mitarbeit in Projekten Honorarkosten gezahlt werden können. Viele unserer Aktiven verzichten jedoch darauf und arbeiten ausschließlich ehrenamtlich. Die meisten der damaligen Gründungsmitglieder und auch einige der späteren „Aktiven“ sind inzwischen weggezogen, weil sich ihre Lebenssituation komplett geändert hat. Einige wirken noch heute aus der Ferne mit und reisen - wie Julia Kirmaier und Tilman Dominka - extra an, um an einer Ferienaktion teilzunehmen. Initiatorin Dörte Volk, damals noch Studentin in Würzburg, lebt inzwischen mit ihrem Mann und ihren drei Kindern in Arnstein und kümmert sich weiterhin von dort aus um die Einzelfallhilfe und alle finanziellen Angelegenheiten von Vivovolo. Schon lange und immer noch dabei ist Renate Zimmermann, „unsere“ Schwimmlehrerin. Inzwischen ist das Thema Asyl und Flucht viel mehr in die Öffentlichkeit gerückt und es sind viele neue Gruppierungen und Helferkreise entstanden, die sich für Flüchtlinge engagieren. Trotzdem ist unsere Arbeit ähnlich wie damals: Es sind die Schicksale und Lebensgeschichten von einzelnen Menschen, die uns anvertraut werden und ihre Lebenswege, die wir ein Stück lang begleiten. Für uns ist es eine große Verantwortung, dass wir durch unseren Verein die Möglichkeit haben, Menschen in ihren besonderen Lebensumständen helfen zu können. Dabei erleben wir immer wieder, welche Erleichterung unsere vergleichsweise kleinen Hilfestellungen und welche Freude unsere Ferien- und Freizeitaktionen bedeuten können – und haben doch auch immer wieder das Gefühl, dass wir mehr und noch mehr und noch viel mehr machen sollten. Danke! Wir möchten uns ganz herzlich bedanken bei all denjenigen, - die uns finanziell oder ideell unterstützen - und bei denen, die mit uns zusammenarbeiten, wie z.B. der KHG Würzburg (darunter ganz besonders Elisabeth Wöhrle vom Asyl-AK), Wildwasser e.V., der Gruppe Fluchtperspektive der Jugendbildungsstätte, dem Jugendkulturhaus Cairo, bei den Mitarbeiter*innen der Caritas, dem Missionsärztliches Institut (darunter ganz besonders Sr. Juliana © alle Bilder Vivovolo Seelmann) und bei vielen anderen Menschen und Organisationen, die wir hier gar nicht alle aufzählen können. Ohne Euch wäre unser Engagement nicht möglich!

Dörte Volk, Jella Weidlich und Detlef Girke

Wir freuen uns jederzeit über neue Mitglieder, Ideen und Kooperationsmöglichkeiten! Infos und Kontakt über unsere Homepage http://vivovolo.de

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contact@heimfocus.net

Wann ist endlich Freitag?

@ apa.org

„Ich begann nun meine Lage und den Zustand, in den ich geraten war, ernsthaft zu überlegen und machte eine schriftliche Übersicht über die Sachlage, … um meine Gedanken, die sich täglich damit abquälten und mein Gemüt belasteten, zu befreien. Und da meine Vernunft langsam Herr über meinen Kleinmut wurde, tröstete ich mich selber, so gut ich konnte, und setzte das Gute dem Übel gegenüber, damit ich meinen gegenwärtigen Zustand von einem noch schlimmeren unterscheiden könnte; ich setzte also ganz unparteiisch, wie Soll und Haben, die Annehmlichkeiten meiner Lage den Leiden und Mühseligkeiten entgegen“, so lässt Daniel Defoe die Hauptperson in seinem bekanntesten Werk über seine Situation nachsinnen. Wer kennt noch den Klassiker „Robinson Crusoe“, den Daniel Defoe vor fast 300 Jahren geschrieben hat? Und was sollen wir 2017, in einer zusehends gespaltenen, unsicheren Gesellschaft und Welt damit anfangen? In Zeiten der Umbrüche, wo wir uns vielleicht zu sehr vom „Übel“ mit seinen vielen Gesichtern bedroht fühlen, anstatt dem „Guten“ in den Schlagzeilen und den Köpfen Raum und Beachtung zu schenken? Wie würden sich unser Alltag und unsere Wahrnehmung vielleicht verändern, wenn alle Medien auf der ganzen Welt überein kämen, jeden Freitag ausschließlich positive Nachrichten, Berichte und Dokus zu veröffentlichen. 24 Stunden lang kein „bad news is good news“, sondern die Weltsinne bewusst gerichtet auf das, was gut läuft, was an Positivem wächst, was Mut macht und von Gerechtigkeit erzählt. Das würde etwas verändern: Erkennen und sich gegenseitig darin bestärken, dass man mit Visionen nicht zum Arzt gehört, sondern ins Gespräch, in Berührung mit anderen. Zuversicht daraus schöpfen, dass im Entdecken von Gemeinsamkeiten Wege entstehen, die wir zusammen gehen wollen und auch gehen müssen. Warum nicht davon träumen und darauf vertrauen, dass uns dann die Kräfte und der Mut zuwachsen, die wir dazu brauchen? Robinson ist in einer objektiv fast hoffnungslosen Lage. Dennoch: “... ich setzte also ganz unparteiisch, wie Soll und Haben, die Annehmlichkeiten meiner Lage den Leiden und Mühseligkeiten entgegen, und zwar wie folgt: Übel: Ich bin auf eine einsame Insel verschlagen, ohne Hoffnung, je wieder fort zu kommen. Gut: Aber ich bin doch am Leben, und nicht ertrunken wie alle meine Kameraden. Übel: Ich bin ausgesondert, unter allen Menschen zu lauter Unglück ausgewählt. Gut: Aber ich wurde auch unter der ganzen Schiffsbesatzung ausgesondert, um dem Tod zu entgehen und Er, der mich auf wunderbare Weise vom Tod errettet hat, kann mir auch aus diesem Zustand helfen.


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@startupist

Übel: Ich bin von allen Menschen getrennt, ein Einsiedler, verbannt aus aller menschlichen Gesellschaft. Gut: Aber ich bin doch nicht Hungers gestorben und verdorben an einem unfruchtbaren Ort, der keine Nahrung bietet. Übel: Ich habe keine Kleider, mich zu bedecken. Gut: Aber ich bin in einem heißen Landstrich, wo ich kaum Kleider tragen könnte, auch wenn ich welche hätte.

Übel: Ich habe nichts, um mich gegen Überfälle von wilden Tieren oder Menschen zu beschützen. Gut: Aber ich bin auf eine Insel verschlagen worden, wo ich keine wilden Tiere erblicke, die mir schaden könnten, wie ich solche an der Küste von Afrika gesehen. Und wie wär‘s mir ergangen, wenn ich dort Schiffbruch erlitten hätte? Übel: Ich habe keine Menschenseele, zu der ich sprechen und bei der ich Trost finden könnte. Gut: Aber Gott sandte das Schiff auf wunderbare Weise so nahe an die Küste, dass ich mir viele nötige Dinge daraus holen konnte, durch die ich versorgt bin oder mit deren Hilfe ich mich werde versorgen können, solange ich lebe. Alles in allem war das ein unanzweifelbares Zeugnis dafür, dass es kaum einen Zustand auf der Welt gibt, und sei er noch so elend, der neben dem Üblen nicht auch etwas Gutes hat, dafür man dankbar sein kann; und lasst dies eine Mahnung sein aus der Erfahrung von einem, der in das größte Elend geraten, das es auf dieser Welt gibt: dass wir nämlich in jeder Lage noch etwas finden können, was uns Trost gibt und was wir bei der Aufzählung von Gut und Böse auf die Habenseite setzen dürfen.“ Kann Mensch auch 2017 damit etwas anfangen, übersetzt in seine Zeit, in seine Lebensumstände? Vielleicht wäre es den Versuch wert: Andere Prioritäten in der Wahrnehmung ‚der Welt‘ zuzulassen, einen anderen Blickwinkel einzunehmen auf das Andere, auf den Anderen, auf ‚die Anderen‘, wie auch immer wir sie definieren. Als Individuen, als Kollektiv, Ethnie oder Land. Dem Negativen etwas Positives gegenüber zu stellen, abzuwägen und vielleicht auch etwas zu wagen, was bis dahin tabu, undenkbar war? Eva Peteler

AMNESTY INTERNATIONAL ASYLBERATUNG IM BEZIRK WÜRZBURG Tel.: 0175 125 3224 | Mail: asylberatung@amnesty-wuerzburg.de www.amnesty-wuerzburg-asyl.de

Asylberatung in Würzburg


contact@heimfocus.net

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Klartext 11/2017 Klartext 11/2017 » Werteentsorgung - Die EU-Flüchtlingspolitik ist in jeder Beziehung besorgniserregend – Rechtsbrüche, Wortbrüche und die gebetsmühlenartige Wiederholung falscher Behauptungen und politischer Fehler prägen die derzeitige europäische Flüchtlingspolitik. Es ist inzwischen zum Allgemeinplatz geworden, dass sich Europa 2015 in einer Flüchtlingskrise befunden habe. […]In Europa gab und gibt es keine Flüchtlingskrise, sondern eine Krise der Solidarität der Mitgliedsstaaten untereinander bei der Verteilung der Flüchtlinge. […] Diese Politik ist in jeder Beziehung besorgniserregend. Sie schadet nicht nur den unmittelbar Betroffenen, sie greift auch das Fundament der EU selbst an: die Rechtsstaatlichkeit als politische und die Menschenrechtsbindung als ethische Grundlage. Sie wird nicht nur die Transit- und Herkunftsländer, die Teil der europäischen Abschottungsarchitektur werden, negativ verändern sondern auch Europa selbst. « (Barbara Lochbihler, Vizepräsidentin des EP-Menschenrechtsausschusses http://www.migazin.de/2017/09/01/werteentsorgung-die-eu-fluechtlingspolitik-beziehung/

A perfect storm - The failure of European policies in the Central Mediterranean

Der neue Amnesty-Bericht belegt: die 2017 wieder deutlich gestiegene Zahl der Todesopfer im Mittelmeer ist auch auf ein Versagen der EU zurückzuführen. Amnesty kritisiert, dass die EU ihre Verantwortung zur Seenotrettung auf NGOs abwälzt sowie verstärkt die für Menschenrechtsverletzungen bekannte libysche Küstenwache unterstützt. Die EU versucht durch ihre Kooperation mit der libyschen Küstenwache zu verhindern, dass Flüchtlinge und Migrant*Innen Italien erreichen. Doch ihre wichtigste Aufgabe ist es, Leben zu retten und Menschenrechte zu schützen. Die libysche Küstenwache kann Menschen vor dem Ertrinken bewahren, doch wenn sie diese Menschen zurück nach Libyen bringt, kann man das nur schwer als echte Rettung bezeichnen. Flüchtlinge und Migrant*innen werden in Libyen weiterhin inhaftiert, missbraucht, vergewaltigt und gefoltert. Viele werden Opfer von Erpressungen durch organisierte Banden und bewaffnete Gruppen. Dies ist ausreichend dokumentiert und den Staats- und Regierungschefs der EU-Mitgliedstaaten bekannt. Die geretteten Menschen müssen an einen sicheren Ort gebracht werden – und solche Orte gibt es in Libyen aktuell nicht. https://www.amnesty.org/en/documents/eur03/6655/2017/en/ https://www.amnesty.de/informieren/aktuell/libyen-eu-versagt-bei-seenotrettung-von-fluechtlingen Dass es sichere Orte in Libyen nicht gibt, bezeugt der nachfolgende Bericht:

You aren’t human any more - Horror in Libyen: Geflüchtete berichten von Folter, Vergewaltigung und Zwangsarbeit

OXFAM Deutschland hat Geflüchtete interviewt, die aus Libyen nach Sizilien entkommen sind. Die Aussagen zeichnen

ein Bild der erschreckenden Umstände, denen Flüchtlinge und andere Migranten in Libyen ausgesetzt sind. Folter, Vergewaltigung und Zwangsarbeit gehören zum Alltag vieler afrikanischer Geflüchteter in Libyen. Das zeigt der Bericht „You aren't human any more“, den Oxfam gemeinsam mit den italienischen Partnerorganisationen MEDU und Borderline Sicilia herausgegeben hat. Fazit der Organisationen: Die EU darf Menschen in Not nicht daran hindern, Libyen in Richtung Europa zu verlassen. https://www.oxfam.org/sites/www.oxfam.org/files/file_attachments/mb-migrants-libya-europe-090817-en.pdf Vor der Bundestagswahl in Zeiten des Wahlkampfes haben sich Vertreter_Innen aller jetzt in den Bundestag gewählten Parteien ausnahmslos nochmals mehr oder weniger populistisch zu Flüchtlingsfragen geäußert – allen voran der Bundesinnenminister, der unter anderem beklagte, in Deutschland seien die Asylbewerberleistungen viel zu hoch (http://www.rp-online.de/politik/deutschland/bundestagswahl/bundesinnenminister-thomas-de-maizierefuer-niedrigere-asylbewerberleistungen-aid-1.7070643), das anderslautende BVerfG-Urteil dabei schlicht und kühl kalkuliert ignorierend. Den Einzug der AfD konnten sie damit nicht verhindern, ganz im Gegenteil. Und während in Afghanistan, in Kabul Bewaffnete beim Freitagsgebet in eine Moschee eindrangen und Gläubige töteten und verletzten, kommt die Bundesregierung in Berlin aus wahltaktischen Gründen zu dem Schluss, man könne abgelehnte Asylbewerber wieder in das Land am Hindukusch abschieben. Andreas Schwarzkopf, Kommentator der Frankfurter Rundschau, nennt dies "tragisch und skandalös" (http://www.fr.de/politik/meinung/kommentare/abschiebung-nach-afghanistantragisch-und-skandaloes-a-1339316).


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©UNHCR, A.D'Amato

© UNHCR, F.Ellul

Warum Abschiebungen nach Afghanistan skandalös sind, zeigen einmal mehr die folgenden Berichte: asylos – research for asylum hat einen sehr informativen, umfangreichen und mit vielen Quellen ausgestatteten Bericht "Afghanistan: Situation of young male 'Westernised' returnees to Kabul" herausgegeben zur Lage junger männlicher "verwestlichter" Rückkehrer in Kabul mit den Themen: Rückkehrverfahren; staatliche Haltung gegenüber Rückkehrern; Unterstützung durch afghanischen Staat / NGOs; Zugang zu Gesundheitsversorgung, Wohnung, Beschäftigung, Nahrung und Grundversorgung. Für die Beratungspraxis afghanischer junger Männer eine sehr wichtige Handreichung. https://asylos.eu/wp-content/uploads/2017/08/AFG2017-05-Afghanistan-Situation-of-young-male-Westernisedreturnees-to-Kabul-1.pdf

"Zur Lagebeurteilung des Auswärtigen Amtes zu Afghanistan" Das Auswärtige Amt (AA) sollte nach dem

schweren Sprengstoffanschlag in Kabul Ende Mai die Sicherheitssituation in Afghanistan neu bewerten. Das Ergebnis: laut einer Beurteilung durch PRO ASYL eine herbe Enttäuschung. Das AA verfehlt das Thema, es liefert keine brauchbaren Informationen. Erwartet wurden z.B. Nachweise für die Behauptung, die in den BAMF-Bescheiden immer wieder zu finden ist – dass eine inländische Fluchtalternative, also eine Schutzmöglichkeit innerhalb Afghanistans zu finden sei. Diese Fluchtalternative muss »zumutbar« und »erreichbar« sein. Erwartet wurden Nachweise, dass das AA konkrete sichere Regionen für bestimmte Personengruppen beschreibt, wenn es sie denn geben sollte. Erwartet wurde, dass das AA sich dieser Verantwortung stellt. Diese berechtigten Erwartungen bleiben unerfüllt. Wo es dann aber konkret werden müsste, heißt es nur, eine Beurteilung hänge von den Umständen des Einzelfalles ab. Zu berücksichtigen seien neben den örtlich herrschenden Machtgefügen beispielsweise Ethnie, Stamm, Konfession und Herkunft. Ein guter Einleitungssatz – mehr aber auch nicht. Nach wie vor fehlen ausreichend konkrete Informationen zur Beurteilung der Bedrohungslagen, Sicherheitsrisiken und die Beschreibungen tatsächlicher Verhältnisse vor Ort, die für Entscheidungen über Asylanträge und über Abschiebungen besonders wichtig sind. https://www.proasyl.de/wp-content/uploads/2015/12/Stellungnahme-PA-zur-Lagebeurteilung-des-AA-zu-Afghanistan.pdf In ihrer "Schnellrecherche zu Afghanistan: Blutrache und Blutfehde" kommt die Schweizerische Flüchtlingshilfe zu dem Schluss, dass Ehre und Vergeltung bei Ehrverletzungen eine zentrale Rolle im paschtunischen Ehrenkodex spielen und überall in Afghanistan sowie von und zwischen allen Volksgruppen praktiziert wird. Urheber von Menschenrechtsverletzungen werden kaum bestraft, und Angehörige von staatlichen Institutionen wie der afghanischen nationalen und der afghanischen lokalen Polizei begehen selbst Menschenrechtsverletzungen, ohne dafür verurteilt zu werden. Staatliche Behörden und Institutionen einschließlich Polizei und Justiz sind auf allen Ebenen von Korruption betroffen. Staatliche Gerichte und die Polizei in Afghanistan können deshalb eine Blutrache nicht verhindern oder beenden und sind oft auch nicht willens, dies zu tun. Es sei sogar möglich, dass auch Richter und Polizeiangehörige «eine Blutrache als ein legitimes – weil «traditionelles» – Vorgehen betrachteten. https://www.fluechtlingshilfe.ch/assets/herkunftslaender/mittlerer-osten-zentralasien/afghanistan/170607-afgblutrache.pdf


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Die Flüchtlinge, die es hier in Deutschland geschafft haben, eine Schutzanerkennung zu bekommen, benötigen auch danach noch große Unterstützung in vielen Belangen – daher hier zwei Handreichungen:

"Handreichung für die Zusammenarbeit der Akteure im Bereich der Familienzusammenführung"

Diese Handreichung des Deutschen Vereins gibt Informationen zum rechtlichen Rahmen, zu Zuständigkeiten, formuliert Verfahrensabläufe und benennt Ansprechpartner*Innen bzgl. Familiennachzug nach dem Aufenthaltsgesetz; nach der Dublin III-Verordnung¸ innerhalb Deutschlands und zu unbegleiteten minderjährigen Kindern. Häufig werden Familien auf der Flucht auseinandergerissen. Neben politischen und rechtlichen Schwierigkeiten, z.B. beim Nachzug zu subsidiär Geschützten, gelingt selbst bei eindeutigen Fallkonstellationen – wie z.B. der Zusammenführung der Kernfamilie – und klaren rechtlichen Rahmenbedingungen die Familienzusammenführung von Geflüchteten häufig nicht oder nur stark verzögert. So vergeht oftmals wertvolle Zeit, bis die/der richtige Ansprechpartner*In gefunden ist. Auch gibt es Unsicherheiten über Kostentragungspflichten, insbesondere im Rahmen des Verfahrens zur Familienzusammenführung nach der Dublin III-VO. https://www.asyl-forum.de/t2806f161-Handreichung-zum-Thema-Familienzusammenfuehrung.html

"Arbeitmarktintegration von Geflüchteten"

Ziel dieser vom IQ Netzwerk herausgegebenen Broschüre ist es, Ehrenamtlichen einen Überblick zu folgenden arbeitsmarktrelevanten Themen zu geben: Anerkennung ausländischer Qualifikationen, Arbeitsmarktzugang für Geflüchtete, Teilnahme an Integrations- und berufsbezogenen Deutschkursen; Umgang mit Traumafolgestörungen. Die Notwendigkeit dieser Broschüre: Trotz öffentlicher Beratungsangebote ist die Gesellschaft zunehmend auch auf das freiwillige Engagement von Bürger*Innen angewiesen. Um die Zusammenarbeit von Haupt- und Ehrenamtlichen effektiv und zielorientiert zu gestalten, ist die Bereitstellung und Verbreitung von einschlägigen Informationsmaterialien für Freiwillige zu den Themen der Arbeitsmarktintegration wichtig. http://www.netzwerk-iq.de/angebote/ehrenamtliche.html

» Was ist Ihre Wunschregierung nach der Bundestagswahl? -- Ich wünsche mir eine Regierung, die den Menschen - bei allem politischen Streit im Detail - Heimat gibt. Für mich ist Heimat ein Gefühl der Geborgenheit. Wer sich in seiner Welt, in seinem Land heimisch und sicher fühlt, ist viel eher bereit, eine humane Politik gegenüber Menschen zu befürworten, die ihre Heimat und ihre Sicherheit verloren haben. Ich wünsche mir eine Regierung, die die Kraft hat, die praktische Nützlichkeit der rechtsstaatlichen Demokratie und ihrer Werte auch für diejenigen spürbar zu machen, die sich unnütz fühlen. Das ist das demokratische Gegenfeuer gegen den populistischen Extremismus. « Heribert Prantl https://www.rnz.de/nachrichten/heidelberg_artikel,-Heidelberg-Abschiebung-von-Fluechtlingen-Mit-derWillkommenskultur-ist-es-vorbei-_arid,260171.html Das sind ambitionierte Wünsche an eine neue Bundesregierung. Und es wäre so dringend notwendig, dass diese in diesem Sinne handelt und regiert. Die gerade wieder neu aufbrechende Debatte über Obergrenzen, Fragen der Familienzusammenführung und so weiter lassen nichts Gutes erahnen. Andreas Schwantner PRO ASYL – Vorstand AMNESTY INTERNATIONAL – Mitglied FK Asyl TheKo Polizei Mitglied Härtefallkommission Hessen Anmerkung der Redaktion: Wir danken Herrn Schwantner für sein außergewöhnliches Engagement für Geflüchtete und Menschenrechte und sind dankbar, dass er seine wichtigen Informationen Heimfocus stets zur Verfügung gestellt hat. Auch im Nachfolgeformat <heimfocus-online> freuen wir uns auf weitere gute Zusammenarbeit!


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Impressum

8.Jahrgang, 1.Ausgabe, 11 / 2017 Redaktion: Addis Mulugeta Redaktionskontakt: contact@heimfocus.net Erscheinungstermin: 01.11.2017 Erscheinungsweise: vierteljährlich Auflage: Exemplare 2500 Herausgeber: Eva Peteler c/o Ausländer-und Integrationsbeirat der Stadt Würzburg Rückermainstr.2 97070 Würzburg Fotos: Redaktion, Diverse Titelbild: © Dörte Volk, vivovolo Layout: Maneis Arbab, Anette Hainz Druck und Produktion: flyeralarm GmbH Die in der Zeitschrift veröffentlichten Beiträge sind urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil dieser Zeitschrift darf ohne schriftliche Genehmigung der Redaktion in irgendeiner Form reproduziert werden. Die Beiträge geben eine persönliche Meinung des Autors wieder, die nicht mit der der Herausgeber übereinstimmen muss. Die Verantwortung für den Inhalt der Beiträge liegt ausschließlich beim Verfasser.

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