Heimfocus #26 - 09/2016

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No 26 • 09 / 2016

© Hans Schwab

STIMME FÜR MENSCHEN

Mut zu Mut – für ein vielfältiges WIR weiter auf S.22

REDEN. Diese Integration ist Migrantische Expertise eine große Lüge! Von der Expertise der GeflüchtetenCommunities lernen Weiter auf S.8

Haben wir ein falsches Verständnis von Integration?

Ausbildung statt Abschiebung

Wir brauchen differenzierte Aufenthalts- und Integrationstitel

Weiter auf S.18

w w w . h e i m f o c u s . n e t

Weiter auf S.26


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Inhalt Editorial ..................................................................................................................................................................... 3 Zur „Integration“ geht‘s da lang … oder da … oder doch nicht ... ........................................................................... 4 Stimmen zu: Leitkultur ist… .................................................................................................................................... 6 Unterwegs mit den Werten unserer Kultur Über die Liebe zu allem, was ist .................................................. 7 REDEN. Migrantische Expertise ............................................................................................................................... 8 Haben Sie sich integriert? Sie müssen sich integrieren! .................................................................................... 11 Gerichte mit Geschichte Ein Kochbuch-Projekt des Würzburger Vereins „Da sind wir“ ...................................... 12 Making Heimat. Germany, Arrival Country

Deutscher Pavillon auf der 15. Internationalen Architekturausstellung 2016 ................................................................ 14

HAPPY WELCOME Der Kinofilm mit den Clowns… ............................................................................................... 17 Diese Integration ist eine große Lüge! Kontroverse Diskussion zu einem kontroversen Thema .................. 18 Das Mädchen mit der Perlenkette Eine Geschichte für Kinder zur Förderung von Empathie und Toleranz .... 21 Mut zu Mut Für ein vielfältiges WIR ....................................................................................................................... 22 Sollten Burkinis verboten werden? Wer maßt sich hier schon wieder die Deutungshose an? .......................... 24 Was glauben wir denn eigentlich? Migration ist Fakt und sie wird es bleiben .................................................... 25 Ausbildung statt Abschiebung Differenzierte Aufenhalts- und Integrationstitel ............................................. 26 Flucht Was Afrikaner außer Landes treibt ................................................................................................................ 30 Afrikanische Weltliteraten Zeugen, Mahner, Hoffnungsträger ........................................................................ 33 Mein Partner, der Diktator Um Fluchtursachen anzugehen, kooperieren Deutschland und die EU mit Despoten .................................................

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Sichere Drittstaaten? Wie beschönigendes Gerede von eigenen Versäumnissen ablenkt .................................. 38 Geplante Reform des Dublin-Systems Verschärfungen stellen Flüchtlinge schutzlos .................................. 40 Klartext 09/2016 .................................................................................................................................................. 44 Impressum und Infos .......................................................................................................................................... 47

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Editorial

Die Sprache lernen ist das Eine, die Gesellschaft verstehen das Andere! Eines der Kernprobleme für das Gelingen der Integration ist die Sprachbarriere zwischen den Einheimischen und den Geflüchteten, das Unvermögen, sich zu verständigen und kennenzulernen. Egal, ob man in der neuen Gesellschaft als Gebildeter oder als Analphabet ankommt, die Sprache zu lernen ist die einzige Gelegenheit, diese neue Gesellschaft überhaupt zu verstehen und sich auf einen Weg zueinander einzulassen, an dessen Ende hoffentlich eine echte Integration stehen wird. Eine gemeinsame Sprache erzeugt ein Vertrauensverhältnis und Bewusstsein füreinander von beiden Seiten. Außerdem hilft sie, an einem Tisch zusammen zu kommen, friedlich miteinander umzugehen und an einer Gesellschaft zu bauen, die allen gerecht wird, seien sie auch noch so verschieden. Die Sprache ist der Türöffner bei der Suche nach einem Arbeitsplatz, nach Ausbildung und Studium, im Alltag. Sie ist der Schlüssel zu einem selbstbestimmten Leben. Viele Geflüchtete bemühen sich ernsthaft, die deutsche Sprache zu lernen. Das ist aus den besagten Gründen wichtig, seit jedoch das neue Integrationsgesetz in Kraft getreten ist, kommt noch ein wesentlicher Aspekt dazu: Für die Gewährung einer dauerhaften Niederlassungserlaubnis von anerkannten Flüchtlingen nach drei Jahren muss man nun neben anderen verschärften Kriterien das hohe C1-Sprachniveau nachweisen. Selbst nach fünf Jahren braucht man ein A2-Niveau - und in beiden Fällen gilt, dass die Antragsteller ihren Lebensunterhalt weit überwiegend bzw. überwiegend selbst sichern müssen.* Das Bemühen um Arbeitsaufnahme ist hier also angesagt. Um die Geflüchteten besser zu integrieren, so die Bundesregierung, stünden die beschlossenen Maßnahmen unter dem Motto „Fordern und Fördern“. Jedoch äußern Migrationsforscher Kritik an dem Missverständnis, mit ‚Fordern und Fördern‘ und mit Integrationsgesetzen ließe sich eine Integration erreichen. Sie weisen auf wesentliche Mechanismen hin, die weder Verordnungen noch Vorschriften anbieten können. Das Gesetz betont, dass die Geflüchteten verpflichtet seien, sich selbst aktiv um ihre Integration zu bemühen. Es sieht eine ganze Reihe von Neuerungen vor, die Ausbildung und Arbeitsaufnahme erleichtern sollen. So erhalten Auszubildende eine Duldung für die Gesamtdauer der Ausbildung. Wer danach eine Beschäftigung aufnimmt, erhält ein Aufenthaltsrecht für zwei Jahre. Ganz wichtig, weil davon viele Geflüchtete betroffen sind: Die bisherige Altersbegrenzung für Geduldete von 21 Jahren für den Beginn der Ausbildung wird aufgehoben. Nach erfolgreichem Abschluss der Ausbildung ist eine Duldung für weitere sechs Monate vorgesehen, um einen Arbeitsplatz zu suchen. Wird die Ausbildung abgebrochen, wird eine Duldung für sechs Monate zur Suche eines neuen Ausbildungsplatzes erteilt. Einen Haken hat die Sache doch: Eine Berufsausbildung dürfen Asylbewerber zwar nach drei Monaten und Geduldete ab dem Tag der Duldung beginnen - jedoch nur mit

der Genehmigung der Ausländerbehörde. Die Arbeitsagentur muss nicht zustimmen. Das gilt auch für bestimmte Praktika, Einstiegsqualifizierungen und Berufsvorbereitungen. Ein neues Arbeitsmarktprogramm aus Bundesmitteln soll für Geflüchtete „100.000 Arbeitsgelegenheiten in Flüchtlingsintegrationsmaßnahmen (FIM)“* schaffen. Es solle verpflichtend sein und habe nach den Worten des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales „eine doppelte Funktion: Bereits vor Abschluss des Asylverfahrens können Flüchtlinge damit niedrigschwellig an den deutschen Arbeitsmarkt herangeführt werden und erste Erfahrungen sammeln. Gleichzeitig werden dabei sinnvolle und gemeinnützige Beschäftigungen in und um Aufnahmeeinrichtungen geschaffen, ohne dass es sich um ein Arbeits- oder Beschäftigungsverhältnis handelt. Dies trägt auch konkret zur Teilhabe und zur Akzeptanz von Schutzsuchenden vor Ort bei.“ Die so konzipierte und begründete Maßnahme ist heftig umstritten, ebenso wie die von vielen Seiten scharf kritisierte Wohnsitzauflage für anerkannte Flüchtlinge. Mit ihr können die Bundesländer für eine gewisse Zeit selbst anerkannten Flüchtlingen noch den Wohnsitz zuweisen. Dies solle die Integration erleichtern, so die Begründung. Und eben dieser Effekt wird von vielen Migrationsforschern bestritten. Ein wichtiger Teil im ganzen Integrationsprozess wäre eine schnelle Anerkennung der Qualifikationen und Begabungen von Geflüchteten. Davon profitierten die Neuankömmlinge, die Gesellschaft und die Wirtschaft gleichermaßen. Insofern wären vielfältige und vor allem zügige Bildungsangebote für Geflüchtete und deren Kinder ein wichtiger Beitrag zu schneller Eigenständigkeit. Eine win-win-Erfolgsstory, die eine echte Integration sein soll, muss als Gemeinschaftsaufgabe von beiden Seiten verstanden werden. Insbesondere müssen die Geflüchteten am Integrationsprozess aktiv beteiligt werden und diesen auch selbst anstreben, um die Werte, Kultur, Politik und Gesellschaft des Landes zu verstehen. Noch einmal: Integration ist weit mehr als Sprache lernen. Sie ist vielmehr ein vielschichtiger langfristiger Prozess; in einer komplizierten Gesellschaft wie Deutschland braucht man viel Zeit, Geduld und aktives Interesse, um alles zu verstehen.

Addis Mulugeta

*https://www.bmas.de/SharedDocs/Downloads/DE/PDF-Meldungen/2016/hintergrundpapier-zum-integrationsgesetz.pdf?__blob=publicationFile&v=6


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Zur „Integration“ geht‘s da lang … „Eine Integrationspflicht für Flüchtlinge ist falsch“¹ - mit dieser These rüttelt Michael Hüther, der Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft in Köln, an den Grundfesten der Debatte und der neuen Gesetze rund um – ja , um was denn eigentlich? Und Hüther legt nach: „Pflicht zur Integration gehört zur Debatte um ein Einwanderungsrecht. Flüchtlinge aber kommen erst einmal aus Angst um ihr Leben und nicht, um unsere Probleme zu lösen. Sie haben das Recht, ihre Identität zu wahren.“ Er zitiert Hannah Arendt, die 1943 in ihrem Aufsatz „Wir Flüchtlinge“ argumentiert habe, „dass dem Verlust der Heimat und der Sprache nicht der Verlust der Identität folgen dürfe. Flüchtlinge hätten ihr geschundenes Selbstbewusstsein neu zu entwickeln.“ Jetzt wird‘s verwirrend – und trifft damit die Gesamtlage auf den Kopf: Eine ziemlich desorientierte Einwanderungsgesellschaft, eine Kakophonie von Begriffen, Stimmen und Stimmungen. Hat Herr Hüther recht? Sollen, müssen Geflüchtete also gar nicht integriert werden? Und wenn nicht, was dann?

Einfügen“ klingt nach einer Montageanleitung, und wir alle wissen, dass diese eher selten zum Erfolg führt.

Im Entwurf des Bayerischen Integrationsgesetzes macht bereits die Präambel den Zugezogenen klar, wo der Hammer hängt: „Ganz Bayern ist geformt von gewachsenem Brauchtum, von Sitten und Traditionen. … Diese identitätsbildende Prägung unseres Landes (Leitkultur) im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung zu wahren und zu schützen ist Zweck dieses Gesetzes.“ Zu schützen? Ein seltsamer Zugang zu unserer modernen, längst pluralen Gesellschaft. Anmaßend überdies, die Vielfalt und Individualität (auch einheimischer!) Menschen und Lebensweisen in Abrede zu stellen, eine nicht einmal in einer Stadt, nicht einmal in einem Mietshaus, nicht einmal in einer Familie identische ‚Leitkultur‘ als gegeben und verbindlich hinzustellen und zu überhöhen. Die neuen ‚Integrationsgesetze‘, ob im Bund oder als Entwurf der ‚Mia-san-mia“-Spielart, sehen Integration als Ergebnis der Trias von Regeln-Pflichten-Sanktionen. Das kommt bei vielen Wählern gut an. Doch wird ein Denken wir einmal nach: Wie finden wir selbst uns als Aus- vom Druck der Zustimmungswerte und Wahlergebnisse länder in einem fremden Land zurecht? Unstrittig, dass wir getriebenes gesetzgeberisches Handeln dem Gegenstand eine Offenheit für das Land und seine Menschen mitbrin- und der Tragweite dieser Gesetze gerecht? gen und uns aktiv bemühen, die Elementarregeln des Zusammenlebens dort zu ergründen und anzuwenden; dass Nichts gegen ein – koordiniertes, ausfinanziertes und inwir uns kundig machen, was erlaubt und verboten oder ver- dividuelles – „Fördern und Fordern“ mit dem Ziel eines pönt ist und uns danach richten; dass wir die Sprache ler- eigenständigen, selbstbestimmten Lebens, so schnell wie nen. Es wird dann so sein, dass wir uns Einheimische suchen, möglich. Die neue Sprache intensiv zu lernen und gut zu die von ihrer Wellenlänge, ihrer Bildung, ihren Interessen beherrschen, auch da gilt „fördern und fordern“, beides mit her zu uns passen; wir bauen Kontakte und Beziehungen der gleichen Entschlossenheit. Es stellt auch niemand in auf. So kommen wir dahinter, wie das Land wirklich tickt, Abrede, dass die Anerkennung unseres Grundgesetzes, der lernen es verstehen – und bleiben doch wir selbst. Solan- individuellen Rechte und Pflichten für jeden bindend sein ge wir den Menschen dort mit Respekt und Wohlwollen müssen. Das ist nicht verhandelbar, und, mit Blick auf den begegnen, solange wir die Gesetze achten, uns mit den ethischen Istzustand unserer Gesellschaft, auch bei vielen Werten und Gepflogenheiten identifizieren und nieman- Einheimischen noch nicht angekommen. Traditionen, Haldem auf der Tasche liegen, ist es gut so. Außer in Regimes tungen und Verhaltensnormen hingegen sind nicht statisch, unbedingter Gleichschaltung wird von uns niemand eine unsere nicht und die von anderen auch nicht. Sie sind imAssimilation einfordern auf Kosten der eigenen Identität. mer neu anzupassen und zu verhandeln, und zwar mit alUnd niemandem von uns übrigens würde in der Fremde len, die sie betreffen. Und immer ist da auch die Frage nach vom morgendlichen Zähneputzen bis zum Nachtgebet im dem Raum der individuellen Identität, frei vom Zwang zur Kopf herumschwirren, du musst dich jetzt aber ‚integrie- Konformität, zum ‚so hat man hier zu sein und sich zu verren‘, Mensch! Was soll das auch sein, mit wem und was und halten und nicht anders‘. wie – und mit wem und was und wie eben nicht? Zu einer geforderten ‚Pflicht zur Integration‘ gehört für Wie es scheint, gibt es noch nicht einmal einen Konsens da- Hüther zunächst der Vorbehalt, „dass jede gehaltvolle Derüber, was ‚Integration‘ sei. Hüthers Vorstellung, „im Kern finition der Integrationsziele eine überwältigende gesellgeht es um ein passgenaues gesellschaftlich-kulturelles schaftliche Klarheit über die dabei bedeutsamen Werte Einfügen der Geflüchteten, das letztlich zur Assimilation verlangt. Diese Debatte gehört in den Kontext eines neuführen soll“, kann es nicht sein. Wie soll ein gutes Zusam- en und vor allem systematischen Einwanderungsrechts, in menleben funktionieren, bei dem die Einen ihre Identität dem die verschiedenen Zugangswege nach Deutschland an der Garderobe abzugeben haben, wenn sie hier Einlass und in die deutsche Gesellschaft nicht nur geregelt werden, erhalten wollen? „Passgenaues gesellschaftlich-kulturelles sondern idealerweise zudem eine normative Prägung er-


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oder da … fahren.“ Deutschland braucht keinen Sollkatalog für Flüchtlinge, sondern ein modernes Einwanderungsgesetz, das unserer vielfältigen Gesellschaft und der unaufhaltsamen globalen Migration gerecht wird; auch den Geflüchteten, von denen die Meisten bleiben werden. Denoch gilt: Kein Gesetz führt an sich eine ‚Integration‘ herbei. Wirklich ankommen wollen und auch anzukommen in dem fremden Land, sich einlassen und eingelassen werden: Das braucht zunächst so schnell wie möglich die Gewissheit, ob man bleiben kann oder nicht. Es geht um Verstehen und Verstandenwerden, um „Fördern und Fordern“ von Eingeninitiative und Eigenverantwortung und zugleich um die beidseitige Anerkennung der Andersartigkeit von Kulturen und Lebensentwürfen, von Individualität und Vielfalt. Nach Zick basiert der Erfolg der Integration als des idealen Akkulturationstypus eben auf dem gegeseitigen Entgegenkommen der Kulturen.3 Letztlich sei ein stabiles soziales Umfeld und das Wissen um die eigene Ethnizität die beste Grundlage für beide Parteien, in wechselseitigem Respekt und Verständnis ein gesamtgesellschaftliches Kulturgleichgewicht zu ermöglichen. (Esser)4

oder doch nicht ...

Warum nicht zuerst ganz woanders ansetzen, bevor man sich an abwegigen leit-kulturellen Irrungen abarbeitet: „Eine gute Regierung sorgt für einen institutionellen Kontext, der die Vielheit abbildet. … Dafür braucht es einen Perspektivwechsel. Anstatt den Blick unentwegt auf die Probleme der Einwanderung oder die Defizite der Einwanderer zu richten, stünde eine Überprüfung der bestehenden Institutionen, Organisationen und Einrichtungen an: Sind sie „fit“ für die Vielheit? Wie spiegelt sich diese im Personalbestand und in der Organisationskultur? Inwiefern berücksichtigt der Regelbetrieb in Sachen Bildung, Gesundheit, Arbeitsvermittlung oder Kultur die unterschiedlichen Voraussetzungen, Hintergründe und Referenzrahmen der Individuen und unterstützt sie dabei, ihr Potenzial auszuschöpfen?“, so der Migrationsforscher Mark Terkessidis.7

Also besser erst einmal zurück auf Start: Nehmen wir uns vor einer in Gesetze gegossenen ‚Integrationspflicht‘ für Flüchtlinge doch erst unseren eigenen Integrations-Update vor, im öffentlichen Raum, in unseren Institutionen und Behörden und im breiten Diskurs darüber, wie wir uns eine gemeinsame Zukunft vorstellen und was anders werden muss. Unsicherheit und Ängste, Vorurteile und Verrohung im „Offene Gesellschaften zeichnen sich dadurch aus, dass sie Umgang miteinander, die zunehmende soziale und ökonodie Fähigkeit zum zivilen Gespräch im öffentlichen Raum mische Spaltung und Entsolidarisierung unser Gesellschaft: besitzen, um Konflikte auszuhandeln, Interessen abzustim- DA warten vielleicht die wichtigsten integrativen Aufgaben men, gemeinsame Lösungen zu finden sowie neue Mitglie- vor allen anderen, und sie betreffen letztlich alle, mit und der zu begrüßen und anzunehmen. In diesem öffentlichen ohne deutschen Pass. Raum können unterschiedlichste Identitäten aufeinander treffen, was solange kein Problem ist, wie alle die Bereit- Und zu guter Letzt: Haben Sie sich noch nie den Fragen schaft haben, die anderen durch deren Augen zu sehen. Ge- eines Geflüchteten stellen müssen, ihr sagt und erwartet sinnungsethik – auch im Gewand einer Integrationspflicht von uns dies und das, aber wie achtet ihr selbst eigentlich für Flüchtlinge – führt zur „Tyrannei der Werte“. Offene eure Werte, eure Gesetze? Was ist mit der Menschenwürde, Gesellschaften setzen hingegen auf Verantwortungsethik, mit den Grundrechten für alle Menschen, mit euren christauf zivilen Umgang und verlässliche Verfahren,“ hält uns lichen Geboten? Handelt ihr echt danach, hier und auch in Hüther vor.¹ unseren Ländern? Vielerorts entsteht und wächst dieser öffentliche Raum, der sich nicht treiben lässt von der aktuellen Tagespolitik, der nicht aufspringt auf den medialen Hype im Wettstreit um Schlagzeilen. Über die Initiative „Mut zu Mut - für ein vielfältiges WIR“ 6 berichten wir in dieser Ausgabe und laden zur Teilnahme ein. Die Programmwerkstatt Institut Solidarische Moderne ISM mit ihrem Aufruf „Mit der Demokratie neu beginnen - Gegen die Politik der Angst, für eine Politik der Hoffnung!“ 5 wie auch weitere Blogs und Seiten jenseits populistischer Polemik und nationalistischer Verblendung fordern zum gemeinsamen Nachdenken auf.

Eva Peteler

¹ https://causa.tagesspiegel.de/eine-integrationpflicht-fur-fluchtlinge-ist-falsch.html 2 http://www.auswaertiges-amt.de/DE/EinreiseUndAufenthalt/Zuwanderungsrecht_node.html 3 Zick, A. (2010): Psychologie der Akkulturation – Neufassung eines Forschungsbereiches. VS Verlag für Sozialwissenschaften Wiesbaden 4 Esser. H. (1980). Aspekte der wandersoziologie – Assimilation und Integration von Wanderern, ethnischen Gruppen und Minderheiten. Luchterhand-Verlag Darmstadt 5 https://www.solidarische-moderne.de/de/article/471.mit-der-demokratie-neubeginnen-gegen-die-politik-der-angst-fuer-eine-politik-der-hoffnung.html 6 http://www.mutzumut.de/ 7 Terkessidis, M. (2016). Stresstest. Wie die Flüchtlingskrise staatliche Institutionen auf die Probe stellt. Zeitschrift ‚Kulturaustausch‘, 2/2016, Neuland - Ein Heft über Flucht und Heimat


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6 Stimmen zu:

Leitkultur ist… Ich weiß von keiner „Leitkultur“ hier im Lande – aber wenn ich eine empfehlen sollte, würde ich auf die Bibel zurückgreifen: „ Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ Eine "Leitkultur" existiert nicht. Heutzutage gehören wir doch vielmehr zahlreichen verschiedenen Kulturen oder Gruppen an, zu denen wir uns in verschiedenen Lebensbereichen zugehörig fühlen. Das Definieren einer "Leitkultur" wird der Komplexität und Pluralität des modernen Lebens nicht gerecht. Es fördert vielmehr Ausgrenzung und das Bilden von Vorurteilen. Eine imperative Leitkultur Einiger als Leidkultur der sowohl individuellen als auch kulturellen Vielfalt aller? Ein für alle, die hier leben und leben wollen, verbindliches, klug und prägnant formuliertes LEITBILD haben wir doch schon: unser Grundgesetz. Mehr ‚Kulturvorschriften‘ haben in einer schon längst pluralen und vielfältigen Gesellschaft weder Legitimation noch Relevanz. Auch ich brauche - nach den Vorstellungen der CSU- einen Grundkurs über die Werte der freiheitlich-demokratischen Grundordnung, weil ich der Meinung bin, dass Faschismus keine Meinung, sondern ein Verbrechen ist. Leitkultur? Wer wird geleitet und warum? Diese Gegenfrage können diejenigen meistens nicht beantworten, die dieses Unwort benutzen. Leitkultur - wenn das was Verordnetes sein soll, bin ich dagegen. Aber dass mein kulturelles Umfeld mich leitet und prägt, das ist nicht von der Hand zu weisen. Dieses kulturelle Umfeld ist aber wandelbar, ich entscheide selber, wo ich mich anpasse oder widerspreche. Mit fällt es schwer, hinter dem Wort Leitkultur irgend etwas positives zu vermuten. So wie es bisher zu vernehmen war, ist es ein Konstrukt, mit dem alte, aber heute nicht mehr akzeptierte Begriffe, wie Volk, Nation und Rasse neu interpretiert werden sollen. Die Nazis suhlten sich darin. Und dass das jetzt wieder aus Bayern in die Lande schwappt, ist kein Zufall. Damals: München - die Stadt der Bewegung. Heute: die Stadt der ewig Gestrigen. Wenn es eine Leitkultur gibt, dann wird sie von allgemein gültigen Werten geprägt, aber Werte ändern sich, also würde sich auch eine Leitkultur stetig ändern. Wenn man Leitkultur mit Eigenschaften gleichsetzt, die uns Deutschen zu geordnet werden, wie Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit, Organisationstalent etc. , dann sind dies Eigenschaften, die vielleicht nur wenige erfüllen.

Ich sehe als Grundlage unserer Kultur die Menschenrechte und unser Grundgesetz, die von Werten geprägt werden, an denen ich mich orientiere, z.B.: Toleranz, Offenheit, Religionsfreiheit, Gleichstellung aller Menschen und nicht zuletzt der Grundsatz: Du sollst nicht töten. Sollte heute eine deutsche oder bayerische Leitkultur formuliert werden, die es meines Erachtens nicht gibt, dann wäre es wohl Zeit, auszuwandern. Wobei sich dann die Frage stellt wohin. - Leitkultur? Keine Ahnung was das ist. Vielleicht so etwas wie die Menschen- und Bürgerrechte? - Leitkultur ist Immanuel Kant, Martin Heidegger und Karl Popper gelesen und verstanden zu haben. - Leitkultur ist fehlerfrei „Leck mich doch am A." sagen zu können. - Leitkultur ist nur noch deutsche Bananen essen zu wollen. Leitkultur - das ist Rassismus pur. Der Wert der einen und anderen Kultur wird ganz klar durch die Benutzung dieses Begriffs: Die Deutschen und ihre Kultur, ganz oben - alle anderen müssen von uns lernen. Welch Arroganz von Politikern wie damals Friedrich Merz, der den Begriff schon im Jahr 2000 bei einer Bundestagsrede verwendete. Unausgesprochen werden alle anderen Kulturen damit hinter bzw. unter die unsrige eingeordnet. Weißwurst vor 12:00 Uhr; Biergarten; ewige Treue zum „Kini“ (= König Ludwig) Alles, was nicht verboten ist, ist erlaubt „Mia san mia“ L E I T K U L T U R

eben GEMEINSAM rleben ZUSAMMEN ntegrieren durch TürenÖFFNEN eilen MIT anderen inder sich BEGEGNEN lassen ns statt WIR und IHR lachen MITEINANDER un VEREINT ns statt IHR und WIR eden VERTRAUENSVOLL

Leitkultur? Was soll das sein??


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Unterwegs mit den Werten unserer Kultur - Diese Woche war ich unterwegs und bin manchen Men- dern das Engagement für die Freiheit, vor allem auch für schen begegnet: Einheimischen und jungen Flüchtlingen die Freiheit eines Andersdenkenden, anders Glaubenden, aus dem Waldhaus im Steinbachtal, alleinerziehenden auch die Freiheit in einer anderen Nation... Müttern im Kunterbunt, in der Flüchtlingsunterkunft der Mergentheimerstraße... Manche von ihnen kommen gut Und schließlich als Wichtigstes: die Liebe zu allem, was ist. zurecht in unserer Kultur und sind heilfroh, dass sie in Frie- Toleranz ist zu wenig. In unserer heutigen Zeit sagt man den und Freiheit leben dürfen. Andere nicht. Nach einer zur universalen Liebe eher „Empathie“ - Mitdenken und Umfrage kommen 40% der Flüchtlinge nicht gut zurecht Mitfühlen mit der gesamten Schöpfung. Wenn ein Leben mit unserer Kultur und unseren Werten. davon getragen ist, dann ist die Religion etwas, was das Leben ungemein weit macht und bereichert - mehr als Geld Ein junger Syrer hat kürzlich in einer unserer Wohnanlagen und andere Dinge. für Menschen mit Behinderung gearbeitet. Wenn der Einrichtungsleiter ihm Anweisungen gegeben hat, war dies in Wenn diese Werte nicht wirklich, konkret und persönlich in Ordnung. Wenn die Gruppenleiterin ihm etwas sagen gelebt werden, schadet dies einer Gesellschaft und ist nicht musste: Von einer Frau wollte er sich nichts sagen lassen. die Kultur, die zu uns gehört. Dieser Maßstab muss an alle Er hat die Arbeitsstelle verlassen. Man hat ihm noch eine angelegt werden, die hier leben und leben wollen, unabzweite Chance zukommen lassen, im Notfallwagen der hängig von ihrer Herkunft und ihrem Bekenntnis. Malteser: Als Männer im Auto mitfuhren, stieg er ein. Als eine Frau dabei war, weigerte er sich - und er hat wieder Menschen, die sich zu einem friedlichen Islam und zu diesen aufgehört, zu arbeiten. Werten bekennen, sind in Deutschland willkommen. Wenn sie sich jedoch einem Islam zugehörig fühlen, der MenEs ist schon wichtig, mit welchen Werten man unterwegs schen radikal einteilt in Gläubige und Ungläubige und für ist. die Gläubigen andere Rechte vorsieht oder fordert als für die Ungläubigen, können weder diese Auslegung des Islam - Konkret: In einer Schrift für Flüchtlinge, ausgelegt im So- noch die Menschen, die ihr folgen, zu Deutschland gehören. zialamt der Stadt Würzburg und herausgegeben vom Bundeskanzleramt in Deutsch und Türkisch und Arabisch, steht Pfarrer Werner Schindelin als Erstes, die Flüchtlinge sollten sich nach den Werten unWürzburg seres Landes richten. Welche Werte dies sind, steht aber Juni 2016 nicht da...Dies finde das bedenklich. Ob wirklich allen klar ist, was für Werte dies sind oder sein sollen?! - Im politischen Kabarett „ Die Anstalt“ im ZDF wurde dies in echt humoristisch-prägnanter Form vorgeführt: Einem Flüchtling sollte die Wertewelt unseres Landes nahe gebracht werden. Also, da ging es zuerst darum, ob man in der BRD Schweinefleisch essen darf. Ja. Es wird notiert: „Schweinefleisch“... Dann um „Toleranz“… Nein, allzu viel Toleranz darf nicht sein; also Toleranz wieder gestrichen. Dann „Freiheit“: Aber ist sie für alle gegeben? Bewegungsfreiheit, zum Beispiel: für alle, überall? Nein, eben nicht für alle. Also gestrichen. So wird eine Liste von Wertebegriffen abgearbeitet und diese werden ob ihrer nicht wirklichen allgemeinen Gültigkeit nach und nach gestrichen, bis zum Schluss nur als einziger ‚Wert‘ bleibt, den ein Flüchtling unterschreiben sollte: Schweinefleisch essen… - Aber ernsthaft: Ich versuche, die Werte im Sinne des Evangeliums zu formulieren: Als Erstes und Grundlegendes für unsere Kultur soll die „Ehrfurcht vor jedem Leben“ sein. Es muss anerkannt werden, dass in jedem Leben ein Geheimnis ist. Wir Christen nennen es Gott. Es kann auch anders benannt werden. Diese Ehrfurcht muss unantastbar sein für Jeden, der in unserem Land leben will. Als Zweites ist zu nennen die Freiheit – nicht eine allgemeine Beliebigkeit und Gleichgültigkeit – das ist zu wenig - son-


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REDEN. Migrantische Expertise Ein Artikel über die Geflüchteten-Community der deutsch-vietnamesischen Boat People und ihre stillen Konflikte. Im Fokus steht der junge Schauspieler und Regisseur Dan Thy Nguyen, der mit der stillen Tradition der Community bricht, um Wiederholungen ähnlicher Konflikte in der Zukunft zu verhindern. 03. Juni 2016, Klosterstraße 68, Podevil, Berlin. Durch eine riesige Tür geht es in den Saal. Automatisch bleiben die Sommersonne, die Geschäftigkeit der Menschen, die Gespräche und Wortfetzen, hinter dem Türrahmen zurück. Es ist dunkel. Die Augen müssen sich erst an die neue Situation gewöhnen. Mit dem Eintreten wird schon das "Du” angeboten. Zwei gut gelaunte Herren in dunklen T-Shirts hocken tratschend auf einer Bühne und begrüßen die Teilnehmenden der Veranstaltung. Einer der beiden erhebt kurz darauf die Stimme: “Ich bin erfreut, diesen nicht nur extrem gut aussehenden, sondern auch intellektuellen und politischen jungen Mann vorstellen zu dürfen." Gelächter. Das Eis ist gebrochen. Die Stimme gehört zu Kein Nghi Ha, promovierter Kulturwissenschaftler und Politologe, er spricht über den Kollegen neben ihm: Dan Thy Nguyen.

Das Stück fand während der Interventionen völlig verdient gleich zweimal statt. Der folgende Text konzentriert sich auf diesen Teil der Veranstaltung und bezieht sich auf Einzelheiten aus beiden Auftritten. “Denken was Tomorrow” ist eine Performance. Nguyen gewährt Einblicke in sein eigenes Aufwachsen. Von seinem Notebook spielt er eine Reihe mit Fotos ab, seine Lebensgeschichte. Die Reihenfolge ist zufällig. Es wird viel gelacht, bevor es ans Eingemachte geht. Der Bruch kommt dann knallhart, als man merkt, dass man schon da ist, wo es wehtut.

Ha und Nguyen sind Teil der Boat People Community und gehören damit auch zur deutsch-vietnamesischen Gemeinschaft in Deutschland. Eine der spannenden Parallelen zwischen Vietnam und Deutschland ist, dass beide Länder eine Zeit der Trennung erlebt haben - aber das nur nebenbei. Wie Deutschlands Osten war auch Vietnams Norden von Sozialismus geprägt im Gegensatz zum kapitalistisch geprägten Die Veranstaltung findet im Rahmen der Tagung “Inter- vietnamesischen Süden und dem deutschen Westen. ventionen 2016 - Refugees in Arts & Education” statt. Organisatoren sind die Kulturprojekte Berlin. Die eben ge- Ungefähr 35.000 südvietnamesische Boat People kamen schilderte Szene spielte sich im Workshop “Boat People Ende der 1970er Jahre nach Deutschland. Nach der Erobeund Rassismus gestern und heute“ ab: "Vietnamesische rung Südvietnams durch Nordvietnam, nach dem Rückzug Refugee-Geschichten in der künstlerischen Selbstpräsen- der westlichen Mächte aus dem Krieg und dem Abzug der tation”. Teil des Workshops ist das enorm intime Projekt Amerikaner mussten viele Südvietnamesen Repressalien des Theatermachers Nguyen: “Denken was Tomorrow”. fürchten. Umerziehungslager und unangekündigte exem-


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plarische Hinrichtungen bei Nacht mitten in den Vierteln mehr als Sohn angesehen. Die Akkumulation der Traumata, gehörten zu den politischen Maßnahmen des Nachkriegs- kulturelle Widersprüche, der Generationenkonflikt inneralltags. Nguyens Eltern entschieden sich schließlich zu flie- halb der Community, die noch immer bestehende Skepsis hen. Sie hatten im kapitalistischen Südvietnam gelebt. Die zwischen der südvietnamesischen und der nordvietnameMutter war Lehrerin, der Vater hatte eine Reederei, “das, sischen Gemeinschaft in Deutschland, all das ist derart verwas er machte, würde man heute Controlling nennen”, sagt härtet, es gibt keinen großen Verhandlungsspielraum, in Dan Thy. dem man sich bewegen kann. Eigene Entscheidungen zu treffen, wie Dan Thy es tut, kann leicht zu Brüchen führen. Die Geflüchteten hatten auf eine schnelle Rettung durch Wenn Dan Thy sich durch den Augen seiner Eltern sieht, die Amerikaner gesetzt. Die allerdings blieb aus. Monate- weiß er, “keiner hat es gerne, dass man aus dem Nähkästlang trieb auch das überfüllte Boot mit Nguyens Familie auf chen plaudert und die Leichen aus dem Keller holt. Man ist dem Meer. Es gab keine Toilette, das Essen ging aus, Was- dann der Nestbeschmutzer, der Verräter am Narrativ”. ser ebenso. Regelmäßig wurden sie von Piraten überfallen. Dan Thy wird in Deutschland geboren und wächst im beschaulichen Dorf Langerwehe auf. Die Aufenthaltsgenehmigung der Boat People ist unbefristet, die Großmutter kann aus Vietnam nachkommen, Dan Thy und seine Schwester gehen zur Schule, der Vater findet Arbeit, Dan Thy besucht den Kommunionsunterricht. “Ein Gott mehr oder weniger schadet nicht”. Er lacht, das sei die Haltung seiner Eltern zu dem Thema gewesen. Anpassung spielt eine große Rolle. Auch Treffen bei der Patenfamilie zählen zur wöchentlichen Routine. Dort werden Gedichte aufgesagt, später darf Dan Thy am Computer spielen. In Deutschland baute man mit der Ankunft der Südvietnamesen ein bundesweites Patensystem auf. Südvietnamesische Familien bekamen einen freiwilligen Paten oder eine Patenfamilie: Da ging es um Hilfe beim Deutschlernen oder darum, zu zeigen, Zum Narrativ der Boat People gehört auch das Thema growie man Einkaufen geht. Dan Thy wächst auch mit regel- ßer Dankbarkeit. Die zelebrierte Dankbarkeit gegenüber mäßigen “Ausländer raus”-Rufen vor dem Haus auf. Wenn Deutschland: für die Aufnahme, für das Beenden der Situaer das Thema in der Schule zur Sprache bringt, sagen Leh- tionen auf den Booten, für den Neuanfang. Nachdem Dan rer ihm, Rassismus sei in Deutschland Vergangenheit, das Thys Eltern in Deutschland zunächst keine Arbeit gefunden war in den 90ern. Aber nicht nur von außen, auch intern, in haben, griff der Pate der Familie Dan Thys Vater helfend der Boat People Community, wird geschwiegen. Schließ- unter die Arme. Über seine Kontakte verschaffte er ihm eilich gilt man als die “Vorzeige”-Geflüchteten-Community nen Job als Arbeiter im Kraftwerk. Dan Thys Mutter, die geschlechthin. Dan Thy wird älter, ehe er realisiert, dass es in lernte Lehrerin, arbeitet als Putzfrau. Das hat sich bis heute anderen Haushalten nicht üblich ist, überall kleine Verste- nicht geändert. cke für selbstgebaute Waffen zu haben, für den Fall, dass Rechtsradikale angreifen. Das Patensystem hat in vielen Fällen gut funktioniert. So sind für Kien Nghis Kinder z.B. die Paten von damals zusätzHeute hat Dan Thy sich einen Namen in der freien Theater- liche Großeltern. In Dan Thys Familie ist es allerdings nicht szene gemacht. Nachdem er in konventionellen Theater- so. Dan Thy weiß noch, dass er sich in die Hose gemacht betrieben immer wieder die Rolle des Quoten-Emigranten hat, beim Computerspielen, während des wöchentlichen übernehmen sollte, ging er zunehmend eigene Wege. Aber Patenbesuchs. Seine Schwester hat ihn später angegriffen, ohne den Respekt, den er mittlerweile als Theatermacher weil er im gleichen Raum war, als sie vom Paten der Famihat, würde er jetzt nicht öffentlich zur eigenen Migrati- lie vergewaltigt wurde. Über Jahre. Dan Thy erinnert sich onsgeschichte arbeiten können, ohne abgestempelt zu nicht. Seine Schwester hat auch ihrer Mutter vorgeworfen, werden. Dan Thys Gesprächspartner Kien Nghi Ha spitzt die Vergewaltigungen wissend mitgetragen zu haben. “Du zu: abgestempelt “als Einer, der mit seiner Geschichte um bist von einem Mann vergewaltigt worden, ich bin von 30 Almosen bittet”. Männern vergewaltigt worden,” ist die Antwort der Mutter. Sie spricht von den Überfällen der Piraten auf hoher See. Dan Thy hat mit der Tradition des Schweigens seiner Com- Die Männer mussten bei den Vergewaltigungen ihrer Fraumunity gebrochen. Überhaupt hat er mit vielem gebrochen: en zusehen. mit dem Berufswunsch der Eltern - er ist weder Mediziner noch Jurist geworden und wird von seinen Eltern nicht Dan Thys Theaterarbeiten sind zunehmend politisch. 2014


10 macht er ein Theaterstück und im Anschluss ein Hörspiel über den Spätsommer des Jahres 1992 in Rostock. Es geht um die Angriffe von Neonazis auf das von Nordvietnamesen bewohnte Sonnenblumenhaus. Der Fokus des Stücks liegt auf der Perspektive der Vertragsarbeiter und nicht wie zuvor auf der der Täter. Was für Unbewanderte der innen-

vietnamesischen Konflikte unproblematisch klingt, ist eigentlich ein Spagat. Zu Recherchezwecken nimmt Dan Thy als Nachfahre der Südvietnamesen Kontakt zu ehemaligen Vertragsarbeitern der DDR auf, die ursprünglich aus Nordvietnam kommen. Der Spagat gelingt. Einige der ehemaligen Vietnamesen sind bereit mit ihm zu sprechen, da sie wollen, dass die Geschichte weitergegeben wird. Dan Thys Begeisterung ist noch jetzt spürbar, wenn er sagt, “das war damals für mich eine Revolution.” Im Zusammenhang mit dem Stück bekommt er Morddrohungen. Sein Impuls ist, wie in seiner Kindheit, wieder Steine und Baseballschläger in der gemeinsamen Wohnung deponieren, die er mit seiner Freundin teilt. Als seine Freunde ihn beschwichtigen und blöde Witze machen, begreift er, dass sie ihn nicht ernst nehmen als den, der er ist. Woher auch, er hat mit seinen engsten Freunden nicht über sein Aufwachsen gesprochen. Er beschließt zu reden. Er weiß nicht wie. Jeder Versuch seine Geschichte in eine Ordnung zu bringen, scheitert, aber er will sein Vorhaben umsetzen. So greift er schließlich zu der Methode der Slideshow. Der Zufallscharakter der Fotos wird zu seiner Technik, sich herauszufordern, zu wagen und immer wieder neu zu erzählen.

contact@heimfocus.net Das Lachen bleibt im Hals stecken, während man am Blick hinter die Kulissen des Ankommens aus Migranten-Sicht teil hat. Dan Thys zuweilen witziges, zuweilen fast schüchternes Auftreten bildet den Gegenpol, mit dem man verbunden bleiben kann. Man kann fragen, muss das denn sein, diese Intimität vor all den Leuten? Ja, offensichtlich. Wenn es überflüssig wäre, würden wir diese Geschichten bereits politisch ernst genommen haben. Intimität in dieser Form ist etwas Kostbares, da möchte sich jemand nicht zur Schau stellen. Es geht darum, Informationen zugänglich zu machen. Dan Thy legt seine Identität in die Waagschale, um, indem er sich zeigt, blinde Flecke in der Geschichtsschreibung offenzulegen und gleichsam zu füllen. Auf die Frage aus dem Publikum, welchen persönlichen Umgang Dan Thy mit der Offenlegung seiner Geschichte hat, antwortet er “keine”. - Er verlasse nach solch einer Offenlegung den Raum und wisse nicht, wohin mit sich. Man sieht ihm an, dass er sich nackt fühlt. Gleichzeitig lässt er keinen Zweifel daran, dass er überzeugt ist von der Notwendigkeit, zu reden. Man muss sich immer wieder vor Augen halten, dass Geschichtsschreibung immer auch ein politisches Produkt und Instrument ist. Es hat Konsequenzen, was und wie wir uns Geschichten erzählen. Fakten und Perspektiven, die sich in unserer Geschichtsschreibung nicht niederschlagen, sind nicht nur Lücken, stehen nicht nur für die Ausblendung von Realitäten, stehen nicht nur für die fehlende Anerkennung von wichtigen Aspekten unserer Identität, sie sind nicht zuletzt vergeudete Chancen. Viele der Konflikte, von denen Dan Thy spricht, hängen an Strukturen und sind damit strukturelle Hürden. Strukturen kann man ändern. Der Staat und die Gesellschaft könnten von der Expertise der Geflüchteten-Communities lernen: Denn auf den zweiten Blick sehen auch die scheinbar gelungenen Ereignisse aus Dan Thys Kindheit nicht mehr allzu rosig aus. Da sind die nicht anerkannten Bildungsabschlüsse der Eltern, die fehlende Bereitschaft, Rassismus auch nach dem Nationalsozialismus noch als bestehendes Problem in Deutschland anzuerkennen und dagegen einzutreten und natürlich der große Bedarf an Traumata-Bewältigung.

Wenn wir wollen, dass geschehene Konflikte nicht in der Wiederholungsschleife hängen bleiben, müssen wir und andere uns trauen, Klartext zu sprechen. Und das heißt, wir Als Dan Thy zunehmend nach Antworten sucht, um die müssen darin geübt sein oder es werden, entsprechende Lücken der eigenen Geschichte zu schließen, teilen eini- Situationen zu schaffen. ge Angehörige Familiengeheimnisse mit ihm, seine Eltern schweigen still. Er versucht zu begreifen, wie es war, auf Dan Thy zeigt, wie man Geschichten teilen kann. Und zwar dem Boot. Er bekommt Details erzählt. So versteht er mitt- auch dann, wenn sie nicht der gemeinhin akzeptierten Erlerweile das Verhalten seines verstorbenen Onkels. Auf zählweise entsprechen. Das gilt für Dan Thys Geschichte, dessen Reise geriet das Boot eines Tages in eine Schiefla- wie für jede andere Geschichte, in der jemand den Mut hat, ge und ein Bottich mit kochendem Wasser ergoss sich über den Mund aufzumachen, um ehrlich und fundiert zu spredas Deck und über die Tochter seines Onkels, einen Säug- chen. ling. Die ausgemergelten Menschen auf dem Boot waren hungrig. Sie begannen das gekochte Kind zu verspeisen. Christiane Wittenborn Sein Onkel aß mit. Er starb als Alkoholiker. Nguyen kann es ihm nicht verdenken. Diese Traumata sind nicht verarbeitet und verkomplizieren den Umgang mit Konflikten generell. Alle Bilder© Daniel Staemmler


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Haben Sie sich integriert?

Sie müssen sich integrieren! So habe ich es in den Medien, andere Seite offen und in der Lage ist, mit ihr zu kommuvon Einwohnern dieses Landes, von Freunden und Frem- nizieren, den gehört. Ich habe mir Gedanken gemacht, den Kopf zermartert: Wie soll ich mich bloß integrieren? Mit wem muss Jetzt wusste ich, was es bedeutet, mich zu integrieren! Das ich mich integrieren? Was bedeutet eigentlich dieses Wort aber war nicht so leicht wie gedacht. Offenbar ist der Be„Integration“, das ich immer wieder zu hören bekomme, griff der Integration doch komplizierter und tiefgreifender, ohne wirklich zu wissen, was es bedeutet! als dies von den Medien dargestellt und von den Menschen verstanden wird. Jedenfalls hatte ich seine wahre BedeuIch beschloss also, mich zu integrieren. Aber erstmal muss- tung begriffen und somit auf meine erste Frage eine Antte ich unbedingt noch die Fragen, die mich beschäftigten, wort gefunden. Die zweite Frage erscheint nicht weniger beantwortet haben. Ich begab mich auf die Suche nach kompliziert: Mit wem integriere ich mich? der Bedeutung des Begriffs „Integration“ und fand heraus, dass Integration in der Soziologie einer von vier Begriffen Seit nunmehr fast zwei Jahren bin ich in Deutschland. In ist, welche die mögliche Art und Weise der Interaktion des dieser Zeit war ich in vielen Städten und Bundesländern. Menschen mit der für ihn neuen Gesellschaft beschreiben. Ich arbeitete im Krankenhaus, in Geschäften und an der Universität und war ehrenamtlich für karitative EinrichtunDie Soziologen sagen, dass jeder, der sich aufmacht, in ei- gen tätig. Dabei bin ich vielen Menschen begegnet, kann ner für ihn neuen Gesellschaft zu leben, vier mögliche Re- mir aber nicht vorstellen, diese „deutschen“ Menschen alleaktionen zeigen kann: Er verzichtet auf seine kulturellen samt in einen Topf zu werfen, indem ich ihnen allen dieselWerte und alle mit seiner früheren Umgebung verbunde- ben Eigenschaften zuschreibe und ihnen einen bestimmten nen Sitten und Ideen und nimmt dafür die kulturellen Wer- Stempel aufdrücke, um mich dann mit ihnen zu integrieren! te der anderen Gemeinschaft an, geht also in der für ihn Von Ost nach West, von Nord nach Süd traf ich, wie in jeder neuen Gesellschaft auf. Das nennt man „Assimilation“. Gesellschaft, ganz unterschiedliche Menschen und kam zu dem Schluss, dass das Wort „Deutsche“ sehr umfassend ist Er kann aber auch die für ihn neuen Werte, Ideen und Sitten und mir keine Idee von der Gesellschaft, in der ich jetzt lebe, und die Berührung mit ihnen ablehnen und an seinen Wer- vermittelt. ten und seiner kulturellen Identität sogar noch stärker festhalten, als er dies früher getan hat. Damit lehnt er die für Also beschloss ich, mich in die Gesellschaftsschicht zu inihn neue Gesellschaft ab, indem er umso stärker an der ei- tegrieren, die zu mir passt, mir diejenigen neuen Ideen und genen Community, in der er aufgewachsen ist, festhält und Werte auszusuchen, mit denen ich mich identifiziere, und zu ihr zurückkehrt. Das bezeichnet man als „Separation“. von den Erfahrungen dieser Gesellschaft zu lernen. Denn sie hat auf vielen Gebieten sowohl geistig als auch gesellDie dritte Möglichkeit besteht darin, dass die jeweilige Per- schaftlich viel erreicht. Ich sehe keinen Widerspruch zwison nicht an ihren Werten, Ideen und Sitten festhält, ande- schen Offenheit und Aneignung neuer Erfahrungen und rerseits aber auch die für sie neuen Werte, Ideen und Sitten der Bewahrung meiner kulturellen Identität, der Liebe zu der anderen Gesellschaft nicht akzeptiert. Damit schottet meiner Sprache und ihrem Gebrauch und den von mir mitsie sich ab und schließt sich weder der einen noch der an- gebrachten guten Werten. deren Gesellschaft an. Das nennt man „Marginalisierung“. Integration hat nichts mit Essen, Trinken, Kleidung oder Damit kommen wir schließlich zu unserem Thema und zur Freunden zu tun. Sie ist ein Prozess, an dem sich, im Gevierten Möglichkeit, nämlich dass man seine aus Sprache, gensatz zur Darstellung, dass eine Seite in der anderen Werten und Sitten bestehende kulturelle Identität bewahrt, aufgeht, beide Seiten beteiligen müssen. Sie ist – im, in der dies den jeweiligen Menschen aber nicht daran hindert, die Realität schwer zu erreichenden, Idealfall – die einzige Opfür ihn neue Gesellschaft zu akzeptieren, mit ihr zu leben tion für das Zusammenleben zwischen den verschiedenen und deren zu ihm passenden Werte und Ideen, die er in die- Teilen der für uns neuen, von kultureller Vielfalt geprägten ser Gesellschaft kennenlernt, zu übernehmen. In diesem Gesellschaft. In einer solchen Form des Zusammenlebens Fall lebt der Mensch in Harmonie mit seiner neuen Gesell- befreien wir uns vom Denken in den Kategorien der Sieger schaft, indem er sich seine kulturelle Identität erhält, den und Besiegten, der Überlegenen und Unterlegenen, der Anderen akzeptiert und problemfrei mit ihm kommuniziert. Besseren und Schlechteren. Bei der Integration gibt es keiDas ist „Integration“. ne Verlierer, weil alle gewinnen. Integration bedeutet also nicht, dass eine Seite zugunsBassel Alhalabi ten der anderen ausgeschlossen wird oder verschwindet. Vielmehr treten beide miteinander in Wechselwirkung und Student der Humanmedizin an der Universität Mainz, ehrenamtlikulturelle Koexistenz, wobei sich jede Seite ihrer eigenen cher Dolmetscher Die Übersetzung ist aus einer Kooperation zwikulturellen Identität bewusst bleibt und gleichzeitig für die schen WDRforyou und Abwab entstanden. http://www.abwab.eu/deutsch/haben-sie-sich-integriert/


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Gerichte mit Geschichte Der Würzburger Verein „Da sind wir“ startet ein Kochbuch-Projekt von jugendlichen Flüchtlingen und Nicht-Flüchtlingen Diesmal schwingt der 17-jährige Esseyas aus Eritrea den Kochlöffel in der gut ausgestatteten Küche im Spielhaus des Würzburger Stadtteils Heuchelhof. Seine Beiköche sind rund 20 Jugendliche, darunter unbegleitete Flüchtlinge aus Afghanistan, Syrien, dem Iran und anderen Ländern sowie deutsche Schülerinnen und Schüler. Sie alle sind an auf Initiative des Vereins „Da sind wir“ zusammen gekommen, um gemeinsam zu kochen und zu essen – und es werden noch weitere Kochabende folgen: In Kooperation mit der Ökokiste Schwarzach ist ein Kochbuch mit dem Titel „Gerichte mit Geschichte“ geplant. Darin werden sich neben den Rezepten Geschichten aus den jeweiligen Ländern finden, Portraits von Flüchtlingen und Texte über ihre Schicksale und Erfahrungen.

Während seine Beiköche Berge von Zwiebeln und Tomaten für die Hackfleischsoße schnippeln, bäckt Esseyas aus dem drei Tage gegorenen Mais- und Weizenmehl-Teig große Fladenbrote in zwei Pfannen aus: Heute steht „Injera“ auf der Speisekarte, ein typisches eritreisches Gericht, das Esseyas Mutter in seiner Heimat oft für die Familie zubereitet hat. „Er hat das schon ein paar Mal in der Wohngruppe gekocht, in der ich zusammen mit drei anderen Flüchtlingen wohne“, erzählt Nabi, der dem Treiben von einem Sofa aus zusieht. „Hat gut geschmeckt“, fügt er lächelnd hinzu. Der 17-jährige Afghane ist seit Oktober 2014 in Deutschland. Mit 12 Jahren floh er in den Iran, wo er sich alleine durchschlug. Er würde am liebsten einen Käsekuchen backen, den er erstmals in Würzburg kennengelernt hat und heute besonders gut kann. „Oder vielleicht koche ich Bolani, das sind gefüllte Teigtaschen“. Mahsa, fast 18 Jahre alt, ist aus dem Iran nach Deutschland geflohen. Heute lebt sie mit ihrem Bruder und ihrer Mutter, die als Christin im Iran verfolgt wurde, in Heidingsfeld. Eine Schwester mussten sie im Iran zurücklassen, der Vater ist in Schweden. „Eigentlich wollten wir zu ihm, aber wir wurden in Deutschland festgesetzt und durften nicht weiter“, sagt sie. Zusammen mit Jalil - auch aus dem Iran und ebenfalls fast 18 - wird sie Berberitzen-Reis mit Hähnchen kochen, ein traditionelles persisches Gericht. Neben ihnen sitzt Hoshank (18), der seit 15 Monaten bei Judith Aßländer wohnt; gemeinsam mit Kerstin Portula hat diese den Verein „Da sind wir“ gegründet, um mit dem Projekt „Integration auf Augenhöhe“ jugendlichen Flüchtlingen und Nicht-Flüchtlingen den Raum zu geben, sich kennenzulernen und Freundschaften zu schließen.

„Eines Tages hieß es: Wer mag, kann nachher in die Turnhalle gehen, da stellen euch zwei Leute so ein Flüchtlingsprojekt vor“, erinnert sich Feli ( fast 17) an ihr damaliges Erlebnis in der 10. Klasse des Siebold-Gymnasiums. „Wir sind da natürlich alle hin, weil man dann nicht zum Unterricht musste. Judith und ihr Mann Johannes erzählten von den Schicksa-


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len der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge hier in Inzwischen haben sich die meisten Beiköche nach Draußen Würzburg und luden uns zu gemeinsamen Freizeitaktivitä- begeben und bolzen mit einem Ball. Zwischen ihren Füßen ten mit ihnen ein.“ An den ersten gemeinsamen Aktionen wuselt der jüngste Sohn von Judith Aßländer herum, der wie Kanufahren oder Kochen nahmen ca. 50 Schülerinnen bei den Aktionen immer dabei ist und sich sichtlich wohl und Schüler teil. „Dann wurden es weniger, es kamen aber fühlt unter seinen vielen Freunden. „Es ist wirklich erstaunauch wieder neue dazu und so hat sich heute ein fester Kern lich, mit welchem Eifer sich die Jungs hier an die Herdplatgefunden“, ergänzt Jasmin (17). Im Winter sei es schwierig ten schwingen“, lächelt Kerstin Portula. „Nicht umsonst gewesen, sich regelmäßig zu treffen, doch jetzt sähe man gibt es deutschlandweit inzwischen viele ähnliche Projekte sich wieder zweimal wöchentlich, in den Ferien in Eigenin- mit Flüchtlingen: Die Koch- und Esskultur verrät unglaubitiative auch außerhalb des Vereins. „Das Kochbuch ist ein lich viel über einen Menschen und sein Land, ohne, dass ein tolles Projekt, das gibt dem ganzen eine Richtung, ein ge- Wort gesprochen wurde. Und für die Flüchtlinge ist es ein meinsames Ziel, das wir erreichen wollen“, freut sich Feli. Stück Heimat, das sie hier leben und erinnern können, im geschützten Rahmen.“ Wenn das Kochbuch „Gerichte mit Geschichte“ wie geplant im Herbst zum jährlichen großen Hoffest der Ökokiste Schwarzach in kleiner Auflage vorgestellt wird, werden alle Beteiligten sehr stolz auf ihren Einsatz sein können und viele schöne Erinnerungen in den Händen halten. Der Druck dieser ersten Auflage wird von der Ökoland GmbH Nord im Rahmen des „Das DankÖ-Projekt – Integration gemeinsam gestalten“ finanziell unterstützt. „Gerne würden wir weitere Exemplare des Kochbuchs in größerer Zahl produzieren lassen, aber dafür bräuchten wir mehr finanzielle Mittel“, fügt Kerstin Portula hinzu. „Aber wir sind zuversichtlich, dass sich da eine Lösung finden wird.“ Alle Bilder©Jutta Weber-Vidal

Über den Verein „Da sind wir“ Da sind wir! e. V. hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Lücke zwischen pädagogischer Betreuung und Grundversorgung (un)begleiteter minderjähriger Flüchtlingen zu schließen. Die aktuell 15 Mitglieder möchten jungen Menschen – Flüchtlingen und Nicht-Flüchtlingen – den Raum geben, gemeinsam ihre Freizeit zu gestalten, sich kennenzulernen und Freundschaften zu schließen. Dabei steht das Erkennen von Gemeinsamkeiten durch Wünsche, Werte und Ziele im Fokus: Flüchtlingen und Nicht-Flüchtlingen werden Begegnungen auf Augenhöhe ermöglicht. Das wiederum fördert das gegenseitige Verständnis weit über die Themen Kultur, Sprache und Religion hinaus, wovon nicht nur die Flüchtlinge, sondern auch die deutschen Jugendlichen profitieren. Sie lernen, sich ihre eigene Meinung zu bilden und „bereisen“ Länder quasi „von Zuhause“ aus. Das langfristige Ziel des Vereins ist es, die sozialen Bindungen dieser jungen Menschen zum Selbstläufer werden zu lassen, sodass sie auch ohne unsere Strukturen gemeinsam ihren Weg gehen werden. Mehr Informationen unter: Da sind wir! e.V. Judith Aßländer (1. Vorsitzende) Vereinstelefon: 0176 27 11 73 01 E-Mail: jasslaender@da-sind-wir.de Internet: www.da-sind-wir.de Facebook: www.facebook.com/dasindwir


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Noch nichts vor im Herbst? Venedig einmal anders!

Making Heimat. Germany, Arrival Country Deutscher Pavillon auf der 15. Internationalen Architekturausstellung 2016 Venedig 28.5.–27.11.16

Learning from Neukölln, Berlin, 2013, ©Foto Florian Thein

Das Deutsche Architekturmuseum (DAM) realisiert im Deutschen Pavillon auf der 15. Internationalen Architekturausstellung 2016 –La Biennale di Venezia die Ausstellung Making Heimat. Germany, Arrival Country. Vier große Öffnungen, für die mehr als 48 Tonnen Ziegelsteine aus den denkmalgeschützten Wänden gebrochen wurden, verwandeln den Deutschen Pavillon in ein offenes Haus. Der Pavillon ist offen. Deutschland ist offen. Im vergangenen Jahr wurden die deutschen Grenzen für über eine Million Flüchtlinge offengehalten. Obwohl die Außengrenzen der EU aktuell für Flüchtlinge weitgehend geschlossen wurden, fordert die Geste des offenen Hauses dazu auf, über Deutschland als offenes Einwanderungsland nachzudenken. Mit der Ausstellung Making Heimat. Germany, Arrival Country stellt das DAM Thesen und Beispiele aus deutschen Arrival Cities (Ankunftsstadtvierteln) zur Diskussion, die gemeinsam mit dem kanadischen Autor Doug Saunders entwickelt wurden. Sein Buch Arrival City. Die neue Völkerwanderung diente als Vorlage für einen auch in Deutschland fälligen Perspektivwechsel auf Einwandererviertel. Diese werden meist als Problemviertel bezeichnet, bieten ihren Bewohnern und Neuankömmlingen aber die wichtigsten Voraussetzungen einer Arrival City: Kostengünstiger

Wohnraum, Zugang zu Arbeitsplätzen, kleinteilige Gewerbeflächen, gute Verkehrsanbindungen, Netzwerke anderer Einwanderer derselben Kultur und nicht zuletzt eine Haltung der Toleranz, die auch das Akzeptieren informeller Praktiken einschließt. Bevor jedoch aus vielen der Neuankömmlinge reguläre Einwanderer werden können, leben gegenwärtig Tausende von Flüchtlingen in Deutschland in Erstaufnahmeeinrichtungen und Gemeinschaftsunterkünften. Deren architektonische Qualität wird anhand von Beispielen, die aus der Datenbank www.makingheimat.de ausgewählt wurden, in einem speziell dieser Bauaufgabe gewidmeten Ausstellungsraum vorgestellt. Das wachsende Archiv der realisierten und aktuell in Deutschland sowie in Europa entstehenden Flüchtlingsbauten bietet einen umfangreichen Einblick in die Realität und fordert dazu auf, den dringenden Bedarf an kostengünstigem und qualitätsvollem Wohnraum zu decken. Hierin liegt eine der zentralen Voraussetzungen für einen erfolgreichen Integrationsprozess. In enger Zusammenarbeit mit Doug Saunders wurden acht Thesen zur Arrival City erarbeitet. Mit diesen Thesen stellt das DAM die Frage, welche architektonischen und städte-


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baulichen Bedingungen in den Arrival Cities gegeben sein müssen, damit sich Einwanderer in Deutschland erfolgreich integrieren können. Wenn sich die Fehler der 1960erund 1970er- Jahre nicht wiederholen sollen, dürfen die Neubürger nicht als Gäste behandelt werden, die jederzeit wieder nach Hause geschickt werden können. Sie müssen die Chance bekommen, dass Deutschland zu ihrer zweiten Heimat wird. Einwanderer schließen sich mit ihresgleichen zusammen. So entstehen ganz ohne Planung, eine Vielzahl von Arrival Cities.

Wenn Immigranten erfolgreich sind, werden sie zu einem Teil des wirtschaftlichen und kulturellen Lebens einer Stadt. Sie partizipieren nicht nur am politischen Leben der Stadt, sondern entwickeln sich auch ansonsten effektiver weiter. Existenzgründung oder abhängige Beschäftigung, das Leben in Hausgemeinschaften und das Zahlen von Steuern – all dies sind Vorgänge, die die politische Partizipation nicht nur zu einer Notwendigkeit, sondern zu einem Recht machen. Erst wenn die Migranten selbst die Befugnis, das Wissen und den Einfluss besitzen, um ihre Institutionen, ihre Lebensumstände und ihren physischen Raum zu gestalten, wird es möglich sein, Doug Saunders definiert sie folgendermaßen: sich von der alten Phrase zu verabschieden, man müsse „die „The Arrival City is a City within a City“. Immigranten integrieren“. Wenn wir ihnen die Herrschaft über Der kanadische Journalist und Bestsellerautor hat weltweit ihren Raum und ihr politisches Leben überlassen, werden sie Arrival Cities besucht. Seine Beobachtungen stützen sich sich selbst integrieren und werden neue Räume und Gemeinauf Besuche in Slums und Favelas. Diese Viertel sind und schaften schaffen, die auch uns nachhaltig verändern werden. bleiben arm, aber sie haben eine hohe Fluktuation. Für vie- Doug Saunders le sind sie Durchgangsstationen in ein besseres Leben. Die Ankunftsstädte in Deutschland entstehen nicht durch die prozentuale Verteilung von Asylsuchenden und nicht unter den Bedingungen der gerade wieder diskutierten „Residenzpflicht“, sondern in urbanen Zonen. Dieses Modell der Arrival City wird in der Ausstellung auf Beispiele aus Deutschland angewendet. Eines davon ist die Offenbacher Innenstadt, ein weiteres das Dong Xuan Center in Berlin- Lichtenberg, ein vietnamesischer Großmarkt, in dem vieles gänzlich anders funktioniert, als man es in Deutschland gewohnt ist. Die aktuelle Flüchtlingssituation und die Anforderungen an eine Arrival City berühren sich an einem entscheidenden Punkt: Es gibt in © anitalaydonmillersmiddlegradeblog.blogspot.com Deutschland eine Wohnungskrise. Schon lange wird über kostengünstiges Wohnen diskutiert – nun ist die Datenbank Flüchtlingsbauten Situation da, in der konkrete Lösungen tatsächlich umgesetzt werden müssten. Bezahlbarer Wohnraum muss für Die im Pavillon präsentierten Bauten sind eine Auswahl der alle entstehen. Auch, aber nicht nur, für Flüchtlinge und Flüchtlingsunterkünfte, die vom DAM auf der Webseite Migranten. www.makingheimat.de gesammelt werden. Die Auswahl Die Arrival City ist eine Stadt in der Stadt. Die Arrival City ist bezahlbar. Die Arrival City ist gut erreichbar und bietet Arbeit. Die Arrival City ist informell. Die Arrival City ist selbst gebaut. Die Arrival City ist im Erdgeschoss. Die Arrival City ist ein Netzwerk von Einwanderern. Die Arrival City braucht die besten Schulen Die Ankunftsstädte („Arrival Cities“), jene von Migranten geschaffenen Stadtbezirke, bergen Risiken und Chancen. Denn entweder bildet sich dort eine neue Klasse von Kreativen und Geschäftsleuten heraus, oder es kommt zum Ausbruch einer neuen Welle von Spannungen und Konflikten. Das jedoch hängt in hohem Maße von der organisatorischen und politischen Herangehensweise ab, vor allem aber von den physischen Strukturen und gebauten Formen.

soll nicht werten, sondern gebaute Prototypen präsentieren. Neben der architektonischen Gestaltung und der städtebaulichen Gruppierung hängt die Qualität eines Wohngebäudes für Flüchtlinge wesentlich vom Standort und der Entfernung zur nächsten Arrival City ab, von den Umständen der Betreuung vor Ort und nicht zuletzt von der Frage der individuellen Zukunftsperspektive. Wie lange und unter welchen Umständen wohnt man dort? Die Projekte sollen nach der Fertigstellung weiter vom DAM begleitet werden. Ab Februar 2017 wird eine aktualisierte Fassung der Ausstellung Making Heimat im DAM in Frankfurt zu sehen sein. Die Partner bei der Erstellung der Datenbank sind die Architekturzeitschrift Bauwelt und der „Berlin Award 2016 – Heimat in der Fremde“, ein internationaler Projektaufruf des Landes Berlin zu innovativen Konzepten der Flüchtlingsunterbringung.


16 Heimat Heimat ist ein deutscher Begriff, der sich schlecht in andere Sprachen übersetzen lässt. Weder „home“, „homeland“ oder „home country“ im Englischen, noch „casa“ oder „patria“ im Italienischen und Spanischen umfassen die Vielfalt der Deutungen im Deutschen. Heimat ist ein individuelles „sich zuhause fühlen“. Mit dem Titel Making Heimat wird nach den Bedingungen für ein dauerhaftes Leben in der neuen Heimat gefragt. Denn es ist davon auszugehen, dass viele Migranten nicht wieder in ihre alte Heimat zurückkehren können.

contact@heimfocus.net als Ermutigung für eine andere Politik im Geist der Einheit Europas, in Verpflichtung auf die unantastbare Würde des Menschen. Prof. Dr.-Ing.Werner Durth

Leiter des Fachgebiets Geschichte und Theorie der Architektur, TU Darmstadt Vorsitzender der Auswahlkommission für den deutschen Beitrag zur Architekturbiennale 2016

Wenn aber die Metapher der Öffnung mehr darstellt als nur ein temporäres Ausstellungskonzept, dann könnte es gelingen, dem Haus neues Leben einzuhauStatements zur Eröffnung des Deutsche Pavillons chen, neue Möglichkeiten für Lesbarkeiten herzustellen, im Wortsinn einen neuen Zugang zu eröffnen – dann ist der Aufbrüche. Zum deutschen Beitrag 2016 Eingriff nicht nur möglich, sondern vielleicht sogar richtig Am Anfang war das Thema. „Making Heimat“ ist die Ant- und wichtig. Als historisches Relikt ist jedes Denkmal in wort auf die massenhafte Zuwanderung von Flüchtlingen, eine Kontinuität eingebettet. Es wird dann lebendig, wenn die 2015 Europa erschütterte und Deutschland fast zerriss. man zeigt, dass die Gegebenheiten, die ihm zugrunde lieVon den einen wurden die Schutzsuchenden mit Freude gen, dem Wandel unterliegen. und Mitleid empfangen, den anderen konnten sie gar nicht schnell genug wieder verschwinden. Der deutsche Bei- Insofern wäre mit dem gegenwärtigen Eingriff ein Motrag zur Architekturbiennale 2016 mischt sich ein. Er fragt ment genutzt, das Gebäude zu verwandeln, wie sich auch nach den Gefahren und Chancen dieses Aufbruchs nach Deutschland gegenwärtig verwandelt. Aber – auch da trifft Deutschland. Den thematischen Kontext ihrer Argumenta- sich das Bild mit der Wirklichkeit – die Öffnung der Grention fanden die Kuratoren in den Thesen des welterfahre- zen muss mehr sein als eine große Geste, mehr als ein kurznen Doug Saunders. lebiger Akt der Großzügigkeit. Die neue Offenheit muss, Den räumlichen Rahmen gab der Deutsche Pavillon vor. Er galt seit seiner Neugestaltung 1938 als Programmbau nationalsozialistischer Herrschaft. In seiner stillen Wucht und hermetischen Ordnung war dieser Bau, zu dem die Bezeichnung „Pavillon“ nicht so recht passen mag, als Ort kultureller Selbstdarstellung der Bundesrepublik seit Jahrzehnten immer wieder Gegenstand der Kritik, bis hin zur Forderung nach Abbruch und Neubau eines anderen Pavillons im Habitus „demokratischer“ Architektur – was auch immer das sei. In diesem Jahr scheinen die Mauern unter dem Druck der Ereignisse aufgebrochen, perforiert und auf Zeit provisorisch geöffnet worden zu sein. Auf den zweiten Blick begegnet uns der Pavillon mit einer Botschaft: Was da kam, ließ sich nicht aufhalten, ist eingedrungen in das Haus mit seinen wehrhaften Mauern. Drinnen sehen wir Unterkünfte zur Linderung der größten Not, daneben Projekte neuen Wohnbaus, die nicht nur für Flüchtlinge, sondern auch für Wohnungssuchende aus unterschiedlichen Schichten der deutschen Bevölkerung konzipiert sind. Durch die Öffnungen in der Fassade, die von außen gesehen eben noch die Wahrnehmung irritierten, gewinnt das Gebäude im Inneren temporär eine neue Qualität. Sie stellt jedoch nicht die Architektur in ihrer Tauglichkeit als Ausstellungsraum grundsätzlich in Frage. Denn offensichtlich ist die Maßnahme reversibel, die ausgebrochenen Steine liegen zur Reparatur bereit. Während Zug um Zug einzelne Staaten ihre Grenzen schließen, um die Festung Europa zu sichern, werden in Venedig Mauern geöffnet, zunächst nur für einen Sommer,

will sie tatsächlich etwas bewirken, Spuren hinterlassen, zu einem Teil der deutschen Gesellschaft werden. Ob die Veränderung des deutschen Pavillons die Kraft hat, als architektonische Weiterentwicklung zu bestehen, wird man sehen. Auch das ein Aspekt, den sie mit der großen deutschen Verwandlung gemein hat. Prof. Andreas Hild Lehrstuhl für Entwerfen, Umbau und Denkmalpflege, TU München Inhaber von Hild und K Architekten, München

©Deutsches Architekturmuseum DAM, Frankfurt am Main

Quelle der Textpassagen: http://www.makingheimat.de/content/8-presse/160524_ pressemappe_de.pdf Datenbank von Flüchtlingsunterkünften: http://www.makingheimat.de/content/5-fluechtlingsunterkuenfte/Datenbank_Flu%CC%88chtlingsunterku%CC %88nfte.pdf


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HAPPY WELCOME -

der Kinofilm mit den Clowns… Er zeigt die Deutschlandreise von vier „Clowns ohne Grenzen“ zu acht Aufnahmeeinrichtungen von Flüchtlingen. Während der Auftritte sagen die Künstler mit ihrem clownesken Stück den Kindern und Eltern, die bei uns auf Asyl hoffen: Welcome to Germany! Als Roadmovie erzählt der Film von dieser Reise, von berührenden Begegnungen mit Kindern und Erwachsenen aus Syrien, dem Balkan, Somalia, Nigeria und anderen Ländern. Er erzählt auch von Treffen mit Helfern, Mitarbeitern und engagierten Bürgern.Mit den Beobachtungen in den deutschen Erstaufnahmeeinrichtungen ermöglicht HAPPY WELCOME dem Zuschauer besondere, für die meisten unbekannte Einblicke. Im Kontrast dazu stehen die Bilder des Alltags in den deutschen Städten. Indem der Film der Tour der vier Clowns folgt, nah bei ihnen und ihren Zuschauern bleibt, nähert er sich dem derzeit brisantesten aller innenpolitischen Themen mit Humor aber auch mit genauen Beobachtungen und bewegenden Geschichten an. Damit wird der Film für die Zuschauer Inspiration und Bestärkung sein, damit möglichst viele auf ihre eigene Weise „Willkommen“ sagen und ihren Beitrag für eine zukünftige Integration der Flüchtlinge leisten mögen. Über die Würzburger Klinikclowns kann der Film ab sofort auch für öffentliche Vorführungen (ohne Eintrittsgelder) an interessierte Gruppen, Schulen oder andere Einrichtungen entliehen werden. Hierzu gibt es auch Arbeitsmaterial zum Download. Infos über: info@lachtraenen.de 87 Minuten ab 6 Jahre Download-Link zum Filmplakat: http://www.happywelcome.de/wp-content/uploads/HappyWelcome_Plakat_150917_large.jpg Download zum Postkartenfoto, für Werbezwecke in Medien etc.: http://www.happywelcome.de/wp-content/uploads/HappyWelcome_Postkarte_l1.jpg Filmtrailer unter: https://www.youtube.com/watch?v=jgat6SiK1B4 Weitere Infos zum Film unter: www.happywelcome.de


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Diese Integration ist eine große Lüge! Das Thema Integration wird in Deutschland mittlerweile kontrovers diskutiert. Der Umgang mit dieser aktuellen Frage stützt sich jedoch meistens auf ein falsches Verständnis von Integration. Die Regierung hat ihre Auffassung von Integration, Nichtregierungsorganisationen (NGOs) haben eine eigene Auffassung und die Flüchtlinge ebenfalls. Auf Seiten der Regierung herrscht bei diesem Thema so ein Durcheinander, dass die zuweilen von außen aufgezwungene „Eingliederung“ kläglich scheiterte. Und zwischen diesen beiden Begriffen – einer freiwilligen Integration und einer erzwungenen Eingliederung – besteht ein riesiger Unterschied. So konzentriert sich etwa die Politik der Regierung auf 600 Stunden Sprachkurs, und 60 Stunden Orientierungskurs (Kultur, Politik), als ob ein Abriss der Sprache und ein flüchtiger Blick auf die Kultur dich integriert! Die NGOs arbeiten ebenfalls mit einem speziellen Konzept von Integration. Ihr Unterricht der etwas anderen Art konzentriert sich darauf, Selbstverständliches zu erklären und dem aus dem „Dschungel“ kommenden Flüchtling beizubringen, wie man unter Menschen lebt! Einige von ihnen gaben zum Beispiel Publikationen heraus über die Benutzung von Toiletten. Andere verbreiteten Videos die etwa erklärten: „Wenn eine Frau hier in Deutschland krank wird, kann sie zum Arzt gehen“ – als ob die Frau in unserem Land zur Hebamme oder in den Friseursalon geht, wenn sie krank ist! Gleichzeitig dachten viele Flüchtlinge, Integration sei so, wie sie es sich vorgestellt haben und aus Vorurteilen und Stereotypen kennen. Und so begann Integration das „Koexistieren“ mit der anderen Gesellschaft zu bedeuten, statt mit ihr zu „leben“, oder führte zu einem Gefühl der Minderwertigkeit und der Radikalisierung gegen den Rest der Flüchtlinge. Je mehr ein Flüchtling nazistischer wurde und

arrogant gegenüber den „rückständigen terroristischen“ Flüchtlingen, desto besser fühlte er sich integriert! Was ist also Integration? Ist es ein Prozess in eine Richtung, ein einseitiger Vorgang? Das heißt, muss der Flüchtling sich in die Gesellschaft einfügen und dabei all seine Gewohnheiten mit einem Schlag aufgeben? Das wäre keine Integration sondern eine Entfremdung, die zu der Entstehung entstellter Gesellschaften führt, unfähig sich von ihrem Erbe zu lösen, unfähig Neues aufzunehmen. Ist es mit dem Erlernen der Sprache getan? Sicherlich genügt die Sprache alleine nicht. All dies ist keine Integration, denn es kann keine wirkliche Integration geben ohne sich gegenseitig zu kennen. Integration und Stereotype passen ebenso wenig zusammen, wie Integration und Unwissenheit. Auf diese Weise würden wir uns nur selbst verbarrikadieren und Minderheiten-Staaten bilden – Gesellschaften innerhalb der Gesellschaft! Integration hat drei grundlegende Voraussetzungen die gegeben sein müssen: Erstens das Wissen über den anderen, seine Kultur, Geschichte und Bräuche, seine Gesetze, Probleme und seine Art und Weise zu denken. Zweitens das gegenseitige Beeinflussen und Beeinflusstwerden, das Lernen und Lehren, das aktive Schritte unternehmen um über die gesamte Kultur, die Werte und den Lebensstil aufzuklären. Drittens der Respekt. Und Respekt heißt nicht ignorieren, sondern den anderen und seine Wahl anzunehmen, sein Recht auf Entscheidungsfreiheit zu verteidigen. Ohne dies ist das, was Integration genannt wird, nichts anderes als eine große Lüge! Ramy Al-Asheq *Übersetzt von Sophie Schabarum

http://www.abwab.eu/deutsch/diese-integration-ist-eine-grose-luge/

Auszug aus der Gegenrede von Isabel Schayani: Integration ist ein ehrliches Angebot “Diese Integration ist eine große Lüge”, lese ich im Titel, und der erlaubt es mir nicht, zu diesem Text zu schweigen. Denn diese Aussage ist meiner Meinung nach nicht nur falsch, sie ist vor allem kontraproduktiv.Vorweg muss ich sagen, dass ich die Gedanken und Texte von Ramy Al-Asheq schätze. Nicht nur, weil er, der Dichter, Schreiber, Poet und Macher, mal eben, kaum in Deutschland, aus dem Nichts eine arabische Zeitung gegründet hat (ABWAB) und vielen seiner Kollegen damit ein Forum und eine Stimme gegeben hat, sondern auch, weil ich seine Beobachtungen hier in Deutschland oft kritisch und geistreich und mithin anregend finde. Sprache ist der Schlüssel Ramy behauptet: 600 Stunden Sprachkurs und 60 Stunden Orientierung halte die Bundesregierung für Integration. Das sei eine von außen aufgezwungene “Eingliederung”. Aber was kann eine Regierung mit ihren Steuergeldern Besseres tun, als Menschen, die hier leben werden, das Werkzeug beizubringen, mit dem sich alle weiteren Türen in dieser Gesellschaft öffnen werden? Wie soll man in einem Land leben, die Kinder zur Schule schicken, mit den Lehrern beim Elternsprechtag reden, wenn man seinem Gegenüber nicht das mitteilen kann, was man denkt und nicht versteht, was der andere sagt? Wie will man die Tem-

peratur, das gesellschaftliche Klima begreifen, wie es bereichern, wenn man sich nicht äußern kann? Broschüren aus Hilflosigkeit Die vielen NGO´s, unsere Zivilgesellschaft, wollen Gutes tun! Sicherlich auch, um sich selber dabei als nützlich zu empfinden. Die hilflose und wohl möglich zuweilen bevormundende Art, sich den Neuen mitzuteilen, ist die Broschüre. Drei mal gefaltet wartet sie artig in den Regalen im Wartebereich. Das ist nicht die menschlichste Form der Kommunikation. Aber es ist der konstruktive Versuch, das Zusammenleben mit Menschen, die zu uns kommen


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mussten, weil sie fliehen mussten, perspektivisch zu er- ne Bildungsgerechtigkeit, es gibt auch gewaltsame Angrifmöglichen. Es ist das Signal: Wir wollen mit euch zusam- fe gegen unschuldige Neubürger. Die Reihe, die man hier menleben. Sicherlich stopfen wir alle Flüchtlinge in eine aufzählen kann, ist lang. Aber: Wenn man sich anschaut, Kiste und halten sie für eine homogene Masse. Dann trifft wer bei Karstadt an der Kasse steht, wie der Zahnarzt heißt eine Broschüre, die an einen Menschen gerichtet ist, der und die Englischlehrerin, dann kann man nicht grundsätznicht aus Damaskus, sondern vom Land kommt und noch lich sagen: Integration sei eine Lüge. Sie beginnt sich erst keine Schule gesehen hat, den falschen Ton. Das passiert zu entfalten. Und dauert viel zu lang. bestimmt. Aber es passieren eben auch Unfälle auf dem Klo, weil Menschen nicht wissen, wie sie es benutzen sol- Der Autor fordert, man müsse etwas über einander wissen, len – und tatsächliche wissen Menschen nicht, wie unser Gegenseitigkeit und Respekt seien entscheidend. Da gehe Gesundheitssystem funktioniert. Deshalb sind diese Erklä- ich mit. Nicht aber ohne zu sagen, dass man von einer aufrungsversuche zumindest konstruktiv. Worauf es ankommt nehmenden Gesellschaft nicht erwarten kann, sich selber ist, dass wir lernen müssen auf Augenhöhe zu sprechen. zu verleugnen. Wenn sie in Deutschkursen, in Broschüren und auch in Texten wie diesem zum Ausdruck bringt, wie Das ist ziemlich schwer. diese Gesellschaft funktioniert, dann ist das ein ehrliches Angebot, in diese Gesellschaft einzusteigen und sie mitzuWas ist Integration? Man kann etliches kritisieren an diesem gesellschaftlichen gestalten. Großprojekt, das wir Integration nennen. Im Moment ist Isabel Schayani ist Redakteurin des WDR der Zwischenstand: Jeder 5. in Deutschland hat andere und leitet das Projekt WDRforyou Wurzeln. Es knackt und knarzt. Es gibt Ghettos, es gibt keihttp://www.abwab.eu/deutsch/gegenrede-integration-ist-ein-ehrliches-angebot/

Auszug aus der Antwort von Ramy Al-Asheq auf Isabel Schayani: Die Integration ist ein Bedürfnis und kein Angebot Ich möchte mich zunächst bei Isabel Schayani für ihre Gegenrede bedanken, weil sie einen Raum für Dialog eröffnet. Ich möchte darauf hinweisen, dass ich Frau Schayani respektiere und Freundschaft für sie empfinde. Trotz unserer Meinungsverschiedenheiten haben wir keine persönlichen Differenzen. Jedoch ist mir klar, dass es viele Punkte in meinem Artikel gibt, die falsch interpretiert wurden. Deshalb werde ich die problematischen Punkte noch einmal erklären. Weiterhin werde ich versuchen, Frau Schayani auf die Fehler in ihrer Gegenrede aufmerksam zu machen. Bundesregierung für Integration. Das sei eine von außen Zwei Fehler im Titel Mein vorheriger Artikel trägt den Titel „Diese Integration aufgezwungene ‚Eingliederung’.“ Ich behaupte das nicht. ist eine große Lüge“. Ich habe in ihm über die Bedeutung Frau Schayani setzt ihre Gegenrede fort, als ob ich gesagt des Begriffs Integration und die Umsetzung derselben in hätte, wir wollten die Sprache nicht lernen oder die Sprader Praxis gesprochen. Deshalb ist es nicht akzeptabel, so che sei unwichtig. Aber das stimmt nicht, denn ich habe gezu pauschalisieren, wie es Frau Schayani in ihrem Titel „In- sagt, dass die Sprachkursstunden nicht ausreichend seien. tegration ist ein ehrliches Angebot“ getan hat. Man kann nicht nur vage auf etwas eingehen, das präzise beschrie- Das Problem der Lehrbroschüren ben ist. Der zweite Fehler im Titel ist die Behauptung, dass Frau Schayani spricht von „Broschüren aus Hilflosigkeit“. Integration ein Angebot sei, was ich absolut falsch finde. Frau Schayani fährt fort: „Aber es ist der konstruktive VerIntegration ist kein Angebot, sondern ein Bedürfnis für die such, das Zusammenleben mit Menschen, die zu uns komheimische und die neu hinzugekommene Gesellschaft. Die men mussten, weil sie fliehen mussten, perspektivisch zu Rede von einem Angebot ist nicht mehr als ein arroganter, ermöglichen. Es ist das Signal: Wir wollen mit euch zusamzurzeit dennoch weit verbreiteter Dialog. Dieser nimmt an, menleben.“ Ich frage mich hier: Ist es nicht ein überheblidass der Einheimische stärker, reicher, schlauer und zivilisa- cher Dialog, der zu anderen in anmaßender Weise sagt: torisch fortgeschrittener ist. Demnach muss er das Integra- „Wir möchten mit euch zusammenleben“? Ist es der richtige Umgang mit einer vor einem Bürgerkrieg fliehenden Pertionsangebot von oben nach unten delegieren. son, wenn man sie behandelt, als käme sie aus dem „UrSeien wir realistisch: Was für eine Art von Dialog soll das wald“ und wäre „zurückgeblieben“? Als wisse sie nicht, wie sein? Wird ein Angebot vorgeschrieben und jeder wird be- die Toilette benutzt wird? Weiß ein vom Land kommender straft, der sich nicht daran hält? Das neue Integrationsge- Flüchtling wirklich nicht, wie eine Toilette zu benutzen ist? setz legt fest, dass denjenigen die Sozialhilfe reduziert und Angenommen, eine Person käme aus dem „Urwald“ und keine langfristige Aufenthaltserlaubnis erteilt wird, die den wüsste das tatsächlich nicht, ist es dann die richtige Lösung, Integrationskurs nicht besuchen. Ich setze mich für solche ein Poster für alle Flüchtlinge zu machen? Personen nicht ein, aber ich bezweifle, dass diese Integration ein Angebot ist, denn ein solches ist immer mit der frei- Eine Schublade voller Stereotype en Wahl verknüpft. Entweder man akzeptiert es oder man Ja, liebe Leserinnen und Leser, ich habe ein großes Problem mit dem Umgang mit Flüchtlingen, dessen Grundlage nur lehnt es ab. Stereotype sind. Und ich habe ein großes Problem damit, Menschen mit unterschiedliche Nationalitäten, Kulturen, Wer hat gesagt, die Sprache sei unwichtig? Frau Schayani sagt in ihrem Artikel: „Ramy behauptet: 600 Religionen und Ausbildungsniveaus „in eine Schublade zu Stunden Sprachkurs und 60 Stunden Orientierung halte die stecken“. Ich habe auch ein Problem mit der Projizierung


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20 von individuellen Fehlern auf alle Flüchtlinge. Und damit, dass die Flüchtlingseigenschaft als Charaktermerkmal wahrgenommen wird und Flucht nicht als eine Ausnahmesituation, die man erlebt und für die man sich nicht frei entschieden hat. Wenn wir schon alle in eine Schublade gesteckt werden müssen, dann sollte diese zumindest mit Humanität und Menschenrechten gefüllt sein. Noch einmal: Integration Ja, Arbeit ist ein Teil von Integration, aber eben auch nicht alles. Integration muss auf vielen Stufen und Ebenen erzielt werden: wirtschaftliche Integration, kulturelle Integration, soziopolitische Integration. Wirtschaftliche Integration allein reicht nicht. In Saudi-Arabien beispielsweise gibt es hunderttausende asiatischer Arbeiter, die dort seit Jahren leben. Sind sie in die saudi-arabische Gesellschaft integriert? Sind sie Teil von ihr? Haben sie Einfluss auf politische Entscheidungen? Sind sie in der saudi-arabischen Kultur aktiv? Arbeit ist sehr wichtig und Sprache auch, aber ich wiederhole: Das allein reicht nicht. Mit dieser Lehrermentalität werden wir die Situation nicht verbessern.

Damit mein Artikel nicht nur eine Antwort auf die Fehler ist, die Isabel Schayani in ihrer Gegenrede gemacht hat, werde ich ein paar Lösungen für die entstandenen Missverständnisse vorschlagen: – Integration ist kein Angebot. Sie ist ein Grundbedürfnis beider Gesellschaften. Wir alle sollten versuchen, der anderen Seite Türen zu öffnen und ein friedliches Zusammenleben möglich zu machen. Jeder von uns muss sich die Frage stellen, wie viele Freunde in der jeweils anderen Gesellschaft er hat. – 600 Stunden Sprachkurs und 60 Stunden Orientierung sind nicht ausreichend für Geflüchtete. Was ist die Lösung? Mehr Stunden, um Kultur, Geschichte, Gesellschaft und Recht in Deutschland kennen zu lernen. Eine Lösung wäre auch, mehr Arbeitsplätze zu schaffen, die Flüchtlinge annehmen können, besonders diejenigen, die erst vor kurzem angekommen sind. – Anstatt überhebliche Broschüren zu drucken, deren Kosten man sich sparen kann, und als Ersatz für beschämende Videos und unnütze Sendungen, könnte man zum Beispiel Kleinprojekte von Flüchtlingen unterstützen. Die Kosten von Duschköpfen für Toiletten sind wahrscheinlich niedriger als die Kosten für die Herstellung von Broschüren und Videos. – Anstatt alle in eine Schublade zu stecken, sollten wir jede Person als Individuum behandeln, das sich von anderen unterscheidet, seine eigene Identität, Arbeit und Kultur hat.

Niemand soll sich selbst verleugnen Frau Schayani beendet ihren Artikel mit den Worten: „Nicht aber ohne zu sagen, dass man von einer aufnehmenden Gesellschaft nicht erwarten kann, sich selber zu verleugnen.“ Wer hat das verlangt? Ich habe nur gefordert, dass wir gleichberechtigt behandelt werden. Außerdem habe ich gesagt, dass Integration nicht ohne das Kennenlernen der Es gibt viele kleine Lösungen in diesem Bereich. Wir müsanderen und deren Kultur funktionieren kann. Auch nicht sen nur offen darüber nachdenken und nicht den Klischees ohne die gegenseitige Beeinflussung, das Lernen vonein- über oder der Angst vor Flüchtlingen auf den Leim gehen. ander, den Respekt und die Akzeptanz des anderen sowie die Verteidigung des eigenen Rechts, anders zu sein. InteRamy Al-Asheq gration ist keine Einbahnstraße. Niemand darf von einer Chefredakteur der Zeitung Abwab Wir danken Herrn Al-Asheq für die Gewährung der Nachdruckerlaubnis anderen Person verlangen, sich von der eigenen Kultur zu entfremden. Würde das nicht bedeuten, dass die deutsche http://www.abwab.eu/deutsch/antwort-auf-isabel-schayaniGesellschaft sich selbst verleugnet? die-integration-ist-ein-bedurfnis-und-kein-angebot/ .

Über ABWAB auf http://www.abwab.eu/uber-uns/

ABWAB („Türen“) ist eine kulturelle, soziale, politisch unabhängige Webseite, die sich auf Fragen und Anliegen von Flüchtlingen aus Syrien, dem Irak und auf Neuankömmlinge aus anderen arabisch-sprachigen Ländern bezieht. Verfasst von Flüchtlingen für Flüchtlinge; ABWAB ist eine unparteiische Webseite ohne politische oder religiöse Zugehörigkeit. Extremistische Ansichten und Intoleranz werden in jeglicher Form abgelehnt. Chefredakteur von ABWAB ist Ramy Al-Asheq, ein syrisch-palästinensischer Poet, Schriftsteller und Kolumnist. Die Herausgeberin ist Frederica Gaida, Geschäftsführerin von New European Media Ltd. ABWAB hat das Ziel: sich gegen Vorurteile, Hass und Missstände einzusetzen; eine freie, unabhängige Plattform für Diskussionen, Ideen, Meinungen, Bedenken und Kritik zu sein; eine „Tür“ zwischen Europäern und Neuankömmlingen zu öffnen, um gegenseitiges Verstehen zu ermöglichen; eine offene Plattform zu sein, die den Dialog fördert, um Barrieren zwischen den verschiedenen Kulturen zu beheben; ein Hilfe zu sein, um Neuankömmlingen das Europäische Rechtssystem, sowie die Normen und Gepflogenheiten näher zu bringen; eine Einführung in die Rechte von Flüchtlingen zu geben und all diejenigen Institutionen zu unterstützen, welche sich für das Wohlergehen und die Rechte aller Minderheiten einsetzen; ein unerschütterlicher Befürworter der Grundsätze wie Würde, Freiheit, Demokratie, Bürgerrechte, Gleichheit und Gerechtigkeit zu sein Website: Kontakt:

www.abwab.eu alasheq@abwab.de


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09 / 2016 Maneis (Idee und Illustration) /Alexander Jansen (Text)*

DAS MÄDCHEN MIT DER PERLENKETTE DIE GESCHICHTE EINER FLUCHT

Eine Geschichte für Kinder zur Förderung von Empathie und Toleranz

Als das Leben von Rahas Vater bedroht wird, flüchtet ihre Familie. Ein beschwerlicher und langer Weg – über die Grenze, über endlose Berge und Täler, bis zum Meer. Dort soll ein kleines Boot sein und die Sechsjährige mit ihrer Familie und vielen anderen Menschen die Freiheit bringen. „Das Mädchen mit der Perlenkette“ ist eine von der Stärke der Hoffnung getragene Geschichte des Aufbruchs, der Flucht und des Ankommens. Rahas Geschichte ist eine von unzähligen, sehr ähnlichen Lebensgeschichten, denen die Kinder in Kita und Grundschule begegnen. Mit ihrem warmherzigen Erzählstil und den anrührenden Illustrationen fördert diese Geschichte Empathie und Toleranz. Das 28-seitige Begleitheft bietet die Geschichte in deutscher und arabischer Sprache und als Klanggeschichte. Inkl. Downloadcode mit Zusatzmaterial: Überblick über Flucht und Asyl; Die Situation in den Herkunftsländern; Was ist ein Trauma? Was ist sequentielle Traumatisierung? Trauma und Flucht: Tipps für ErzieherInnen und PädagogInnen. Altersempfehlung: 5 bis 10 Jahre Zielgruppe: ErzieherInnen, KinderpflegerInnen, LehrerInnen, Sozialpädagogische AssistentInnen Die Geschichte ist beim Verlag Don Bosco München in zwei Ausgaben erschienen: Kamishibai-Ausgabe (Tischtheater): 15 Bildkarten, DIN A3, einseitig bedruckt, auf festem 300g-Karton, farbig illustriert, inkl. 28-seitigem Begleitheft in Deutsch und Arabisch, inkl. Downloadcode für pädagogische Zusatzmaterialien EAN: 426017951 365 7 / Preis: 13,95 € Mini-Bilderbuch-Ausgabe: ca. 28 Seiten, geheftet, farbig illustriert ISBN: 978-3-7698-2302-8 / Preis: 1,80 € *Maneis, 1960 in Teheran geboren, illustrierte in seinem Heimatland Kinder- und Schulbücher und ist Initiator der Hamoon Kunstakademie. Der Künstler lebt und arbeitet seit 2009 in Würzburg. Arbeiten und Ausstellungen zum Thema Flucht und Heimat. *Alexander Jansen, Heilpädagoge, Künstlerischer Therapeut, Autor und Dramaturg. Langjährige Erfahrungen in heilpädagogischer und kreativ-therapeutischer Arbeit mit (geflohenen und traumatisierten) Kindern und Jugendlichen sowie Menschen mit Handicaps.


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1. © Hans Schwab, hans@schwabs.de.jpg

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Mut zu Mut – für ein vielfältiges WIR Die „Willkommenskultur“ scheint in der Defensive. Angstmacherei und Missgunst bestimmen die Nachrichtenlage. Und gleichzeitig sterben weiterhin Tag für Tag Männer, Frauen und Kinder im Mittelmeer. So darf es nicht weitergehen. Was wir brauchen, ist eine positive Aufbruchstimmung. Deutschland stand im letzten Sommer für Mitmenschlichkeit und gelebte Demokratie.Da wollen wir anknüpfen, die gelebte Demokratie von unten zu stärken. Klar ist: Die Gesellschaft der Zukunft wird sich verändern, und sie wird vielfältig sein – und wir können diese Zukunft positiv für alle gestalten – mit Zuversicht! Deswegen schaffen wir eine Plattform für Bayern, um uns auszutauschen und über notwendige weitere Schritte zu diskutieren. Herzliche Einladung zur Tagung am 18. September 2016 in München! Anmeldung unter info@mutzumut.de

Aufruf

Das vergangene Jahr hat die Welt verändert Die vielen Menschen, die auf der Suche nach Schutz vor Krieg und Gewalt, vor Not und Elend zu uns gekommen sind, haben uns gezeigt, was Bayern alles kann – im Guten wie im Schlechten. Seit einem Jahr erleben wir Weltoffenheit und Solidarität, lokales Engagement und spontane Hilfsbereitschaft, gemeinsames Anpacken und breiten Protest gegen Menschenverachtung — die Bereitschaft für ein neues WIR. Und zugleich erfahren wir das genaue Gegenteil: vermehrte Übergriffe auf Unterkünfte, offenen Rassismus und fremdenfeindliche Gewalt, soziale Abwehrreaktionen und politische Abschottungsversuche, kollektives Wegschauen und organisierte Unverantwortlichkeit.

Das vergangene Jahr hat unsere Demokratie verändert Mut – das klingt nach einer persönlichen Eigenschaft, nach einer individuellen Haltung. Das ist Mut auch, und als solch individueller Charakterzug ist er heute gefragt: als Mut zur politischen Positionierung, als Mut zur klaren Haltung, als Mut zur öffentlichen Parteinahme. Aber Mut ist mehr: Mut ist auch ein kollektiver Impuls, eine gemeinsame Praxis. Mut zu haben bedeutet unter den gegebenen politischen und ökonomischen Bedingungen, gemeinsam für ein anderes Verständnis von Politik und Ökonomie, Demokratie und Gesellschaft einzutreten, als es gegenwärtig vorherrscht.

Das vergangene Jahr hat unser Land verändert Immer wieder ist die Rede von der „Flüchtlingskrise“. Sie Politisch Mut zu haben bedeutet heute sich einzusetzen: ist aber keine! Die Krise ist allenfalls eine Krise der eurofür ein Europa ohne Grenzen päischen Politik und der europäischen Idee – und steht für eine Abkehr von nationalen Egoismen symbolisch für all das, was sich vor unseren Augen tut. für globale Solidarität Aber sie steht nicht allein. Seien es die von der Europäfür eine gerechtere Verteilung des Reichtums ischen Union erzwungenen Sparmaßnahmen in Griefür gleiche Lebens- und Teilhabechancen aller chenland oder die Schere zwischen Arm und Reich, die für den Respekt gegenüber anderen Kulturen, Identitäauch bei uns immer weiter auseinander geht; seien es die ten und Sexualitäten kriegerischen Konflikte vor unserer Haustür oder die zufür die demokratische Verfasstheit unseres Gemeinwenehmend hemmungslos sich Bahn brechende Intoleranz sens gegenüber „Anders“gläubigen, „Anders“lebenden und für die Demokratisierung von Schulen und Betrieben, „Anders“liebenden: Wir leben in einer Zeit, in der sich vieder lokalen Politik wie der europäischen Institutionen. les zum Schlechten zu wenden scheint. In einer Zeit, in der diejenigen, die sich gegen diese Wende stellen, immer weniger zu werden scheinen. Und in der daher vor allem eines gefragt ist: Haltung und Mut.


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09 / 2016 Mit Mut und nicht müde werdend müssen wir uns einsetzen: für Abrüstung und gegen Waffenhandel für eine ernsthafte Politik der Nachhaltigkeit (die niemals in nationalstaatlichen Grenzen funktionieren kann). Das vergangene Jahr hat Bayern verändert Wir leben in Zeiten weitreichender gesellschaftlicher Umbrüche. Die Fluchtbewegungen haben das Beste dieser Gesellschaft hervor gekehrt – und zugleich ihr Schlechtestes ans Tageslicht gebracht. WIR wollen Bayern verändern – mit einem vielfältigen Wir: auch indem wir die Bewegung der vielen aufnehmen, deren Engagement unterstützen und den Mut weiter treiben. Mut zum Aufbruch, Mut zur Solidarität, Mut zur Vielfalt: Dafür stehen WIR. Stehst Du mit uns? Stehen Sie mit uns? Mut zu Mut – eine politische Initiative c/o Nikolaus Hoenning Eisnergutbogen 51 80639 München www.mutzumut.de Mail: info@mutzumut.de © Stefan Weigand

Mutbürger gegen "Wutbürger"

Wie sich die Zivilgesellschaft gegen die neue Rechte wehren kann. Ein Seminar des Bayerischen Seminars für Politik e.V. vom 07. - 09. Oktober 2016 in der Akademie Frankenwarte. Gesellschaft für Politische Bildung e.V. Leutfresserweg 81 - 83 97082 Würzburg Die verstärkte Zuwanderung von Flüchtlingen hat viele Menschen verunsichert. Die politische Rechte weiß das für sich auszunutzen und rekrutiert eine immer größere Zahl an Mitläufern und Sympathisanten. Der Auftrieb am rechten Rand zeigt sich in den Wahlerfolgen der Alternative für Deutschland (AfD) oder in den Aktivitäten der Pegida-Bewegung. Immer häufiger folgen Worten aber auch Taten, wie der dramatische Anstieg fremdenfeindlicher Straftaten offenbart. Es scheint, als würden die Trennungslinie zwischen nationalkonservativer Gesinnung und rechtsextremistischer Gewaltbereitschaft immer weiter aufgeweicht. Zum Bild unseres Landes im Jahr 2016 gehört aber auch, dass sich viele besorgte Demokratinnen und Demokraten dem aggressiven Gebaren der Rechten entgegen stellen. Wo der rechte Mob gegen Flüchtlinge und Migranten mobilisiert, halten lokale Initiativen und Bündnisse dagegen. Die selbst ernannten "Wutbürger" müssen sich mit demokratisch gesinnten Mutbürgern auseinander setzen. Das Seminar wird vom Bayerischen Seminar für Politik und der Stiftung Civil-Courage ausgerichtet und findet in Kooperation mit der Akademie Frankenwarte in Würzburg statt. Seminaranmeldungen bitte direkt an das Bayerische Seminar für Politik e.V., Oberanger 38, 80331 München Link zum Seminar: http://www.baysem.de/bildungsangebote/detail.html?seminarID=773 HYPERLINK "http://www.baysem.de/ bildungsangebote/detail.html?seminarID=773"

E-mail: niklas.fischer@baysem.de Fax:089-260 90 07


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Sollten Burkinis verboten werden? Mehrere französische Ferienorte haben in diesem Sommer die betreffenden Frauen selbst. … Aber diese Frauen sind Burkinis vom Strand verbannt. Und die Diskussionen gehen keine Kleinkinder. Sie bestimmen selbst, was sie anziehen.“ weiter – wie gewohnt zumeist nicht mit, sondern über die Menschen, die es betrifft. Ob Bikini oder Burkini – hat bei- Teil einer stillen Revolution des nicht etwa auch mit der Selbstbestimmung der Frau zu Wer Burkinis verbietet, stellt sich der Avantgarde der muslitun? Und wer maßt sich hier schon wieder die Deutungsho- mischen Frauen in den Weg, erklärt Soziologe Renzo Guolo heit an? in La Repubblica (IT): „Jeder, der die islamische Kultur kennt, weiß, dass die Frauen seit geraumer Zeit bemüht sind, Verboten und anderen Zum Schleier gezwungen, zur Formen der männlichen Kontrolle der Gesellschaft auszuNacktheit verdammt weichen. Auch die Verbreitung des Burkini gehört zu diesem In höchstem Maße frauenfeindlich ist das Burkini-Verbot komplizierten und langen Prozess, der post-ideologischer nach Ansicht von NRC Handelsblad (NL): ist als gemeinhin angenommen. … Diese wünschenswerte „Männer können in Cannes tragen, was sie wollen. Vom Tan- Verwandlung der islamischen Kultur in Europa begünstigt gaslip bis zum Kaftan ist alles erlaubt. Aber wenn eine Frau man sicher nicht durch Einschränkungen, sondern mit Verdort zum Strand will, dann ist sie seit Kurzem verpflichtet, haltensweisen und Regeln, die das Individuum den klausein bestimmtes Maß an Nacktheit zu zeigen, sonst verstößt trophobischen gesellschaftlichen Zwängen entziehen. Die sie gegen die guten Sitten. … Diese Maßnahme ist ein er- Zeichen dieses Wandels, der in der Praxis und durch den Wibärmlicher Ausdruck der Härte nach Schock und Trauer. derstand der Frauen im täglichen Leben erreicht wird, sind Und sie ist auch sexistisch. Sie betrifft ausschließlich Frau- bereits deutlich sichtbar – auch wenn sie für die öffentliche en und bestätigt auf perverse Weise die untertänige Stel- Meinung und die Medien, die sich auf Fragen der Sicherheit lung der Muslimas. Sie müssen sich bereits auf Befehl ihrer konzentrieren, unsichtbar bleiben. Eine stille Revolution, Glaubensbrüder bedecken. Und nun müssen sie sich auch die mehr Zeichen setzt als jede politische Proklamation.“ noch auf Befehl der Bürgermeister entblößen. … Dieses Burkini-Verbot offenbart die stillschweigende Akzeptanz, Quelle: euro/topics, die Europäische Presseschau der Bundeszentrale für politidass jeder über das Äußere von Frauen bestimmt, nur nicht sche Bildung (bpb) vom 19.08.2016; Die europäische Presseschau kann – auch in Englisch oder Französisch . als kostenloser E-Mail-Newsletter abonniert werden unter: <http://www.eurotopics.net/de/148340/newsletter >

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09 / 2016

Was glauben wir denn eigentlich? Dass die vielen jungen Menschen, die Gewalt, Armut und einem Leben ohne Chancen und Perspektiven entkommen wollen, in ihren Ländern hocken bleiben, nur weil wir sie hier nicht wollen? Dass ihre Regierungschefs, die von den Rücküberweisungen der Migranten in die Heimat erheblich profitieren und sich sonst um das Wohlergehen ihrer Bevölkerung herzlich wenig scheren, auf diesen ökonomischen Vorteil verzichten werden, indem sie Migrationswillige zurückhalten? Und nicht zuletzt: Dass wir auch weiterhin unseren Wohlstand - auch auf Kosten anderer - halten können, ohne dass Letztere daran teilhaben wollen?

lingsabkommen“, „sichere Drittstaaten“, „Khartoum-Abkommen“ oder „Dublin-Verordnung“ umrissen. Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen und gibt jedem Geflüchteten recht, der uns ob der Debatte um ‚Leitkultur‘, Werte und Demokratie Heuchelei vorwirft.

Migration ist Fakt und sie wird es bleiben. Es ist an der Zeit, ihr mit all ihren komplexen Ursachen, Folgen und Herausforderungen die Bedeutung zuzumessen, die sie in Wirklichkeit hat. Es ist an der Zeit, sich mit ihr selbstkritisch und konstruktiv auseinander zu setzen und sie als einen Teil unserer Gegenwart und Zukunft anzunehmen. Debatten um Im Grunde wissen es doch alle, die sich halbwegs für poli- mehr oder weniger Entwicklungshilfe sind Augenwischerei, tischen und wirtschaftliche Zusammenhänge interessie- es geht um eine grundsätzliche Neuausrichtung der globaren: Wir können weiter wie gehabt da und dort politisch len Politik und der sie bestimmenden Wirtschaftsordnung und medial inszenierte Gipfel und Konferenzen abhalten – was wir wissentlich und naiv verdrängen, weil die Folgen mit wolkigen Abschlusserklärungen, die nur mühsam ver- doch so einschneidend wären und ein politisches Harakiri schleiern, dass eigentlich niemand von seinen Vorteilen und für jeden Überbringer dieser Botschaft… Privilegien lassen will – wir nicht und die eingeladenen „Excellecies“ aus den Regierungspalästen der Schwellen- und Doch alles Verdrängen und Vermeiden wird uns zweibeiEntwicklungsländer erst recht nicht. Wir können das Eine nigen Lemmingen auf lange Sicht nichts nützen. Wie viel oder Andere an ‚neuen‘ Maßnahmen auf den Weg bringen, unverantwortliche Kurzsichtigkeit kann sich unsere geniale damit etwas getan ist und sich bloß nichts am globalen Sta- und zugleich unglaublich dumme Spezies noch leisten, die tus quo und damit an dem Wirtschaftssystem ändert, mit dieses Jahr schon am 20.08.* die globalen natürlichen Resdem wir und die Eliten des besagten Länder bisher doch so sourcen eines ganzen Jahres aufgebraucht hat? 1993 war gut gefahren sind. Doch es kann uns nicht verborgen ge- dies noch am 21.10., 2003 am 22.09. der Fall. Dieses Jahr leblieben sein, dass die Globalisierung des Kapitals und des ben wir also ab dem 21.08. von der virtuellen „Erde II“? Die korrespondierenden Wirtschaftssystems im Wettrennen Auswirkungen dieses immerwährenden Raubbaus treffen um die vollständige Verwertung dieses Planeten nicht nur zuerst Diejenigen, die nicht dessen Verursacher, sondern bei uns, sondern noch viel mehr in den Ländern des Südens Opfer sind; sie werden ums Überleben kämpfen, um Wasverheerende Folgen hat – und mit der Vernichtung der öko- ser, um Ernten, um Weideland. Sie werden fliehen müssen, logischen Lebensgrundlagen von allen einher geht. die Verletzlichsten, die Armen und Rechtlosen, viele wohl in die wachsenden Slums um die Metropolen des globale Die Zeiten sind vorbei, dass es Menschen in anderen Welt- Südens. Doch von dort werden viele wieder dorthin aufbreregionen verborgen blieb, wie krass ungleich und ungerecht chen, wo sie sich bessere Lebenschancen erhoffen. die Lebenswirklichkeiten und Lebenschancen verteilt sind – zwischen, aber auch innerhalb einzelner Gesellschaften. So Was glauben wir also eigentlich? Dass sich so viele lebenskommen heute verlockende, mitunter realitätsfern verklä- hungrige junge Menschen aufgeben und ihr Glück nicht rende Bilder von den Wohlstandregionen dieser Welt fast woanders suchen werden? Dass sie für immer hinnehmen, überall an. Sie haben Folgen, wen wundert‘s... Menschen für die politischen und wirtschaftlichen Interessen der glotun das, was sie schon immer getan haben: Sie machen sich bal und lokal Mächtigen auf der Strecke zu bleiben? Früher – getrieben von Verzweiflung, Hoffnung und in unserem oder später werden sie wie auch unsere junge Generation Teil der Welt auch von dem (Irr-)Glauben an das ‚Paradies von uns Antworten einfordern, um die wir uns immer noch Europa‘ - auf den Weg dorthin, wo sie sich das gute Leben drücken, obwohl uns doch klar sein muss: Wenn wir für uns in Sicherheit und Wohlstand erhoffen. Nichts wird sie auf- ein gutes Leben in Sicherheit, Frieden und Stabilität wollen, halten - außer systematischer militärischer Abwehr und dann wird es nur global möglich sein, dann ist Augen-zuletztendlich brutaler Gewaltanwendung. Wie wir uns dann und-weiter-wie-bisher fahrlässig. Manche haben es schon an unseren gern bemühten „Werten“ orientieren, das sei begriffen, andere noch nicht. - Aber auch Begreifen allein nur beispielhaft mit den Stichworten „EU-Türkei-Flücht- ist zuwenig. Eva Peteler * http://www.footprintnetwork.org/de/index.php/GFN/page/earth_overshoot_day/ „Der Earth Overshoot Day markiert das ungefähre Datum, an dem unsere Nachfrage an natürlichen Ressourcen das Angebot eines ganzen Jahres übersteigt und damit auch die Kapazitäten unseres Planeten, alle konsumierten Ressourcen abzubauen und zu erneuern. Global Footprint Network stellt fest, dass wir in ungefähr acht Monaten den Vorrat an erneuerbaren Ressourcen für ein ganzes Jahr verbrauchen und wir mehr CO2 ausstoßen, als die Erde innerhalb dieser Zeit wieder umwandeln kann.“


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Aus unseren unzureichenden Integrationsmustern ergeben sich zwei dringende Forderungen:

Ausbildung statt Abschiebung. Differenzierte Aufenhalts- und Integrationstitel.

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1. Integration oder Abschiebung? Keine echte Alternative! Geflüchtete Menschen werden im Augenblick in Deutschland in nur zwei Gruppen unterteilt: Flüchtlinge mit Bleibeperspektive und Flüchtlinge ohne Bleibeperspektive. Zur ersten privilegierten Gruppe gehören Menschen aus Syrien, Irak, Iran, Somalia und Eritrea. Menschen der zweite Gruppe haben nur geringe Chancen, anerkannt zu werden. Ihre Asylanträge werden meist abgelehnt, und sie werden abgeschoben, bestenfalls noch geduldet. Ankündigung einer Abschiebung aber besagt für die Betroffenen meist: Untertauchen in die Illegalität bzw. in die Obdachlosigkeit in Deutschland oder in dem Erstankunftsland der EU: Italien, Spanien, Bulgarien…

gen Menschen, die z.B. aus Afrika kommen und oft 10 und mehr Jahre unterwegs sind - fast immer traumatisiert - und nach einer menschenwürdigen Zukunft suchen, sind nicht einfach nur Schmarotzer unserer Wohlstandsgesellschaft. Sie suchen Menschenrechte, Bildung, Zukunft, Sicherheit. Auch sie brauchen unsere Unterstützung, um ihre Zukunft aufbauen zu können.

Ein Bildungsverbot, wie es zum oft monatelangen Wartestatus der Nichtregistrierten gehört, führt sie in die Isolation, verhindert ihre Entwicklung zu Verantwortung, gesellschaftlichem Engagement und persönlicher Mündigkeit. Wo und wie sollen sie denn ihre Blickrichtung verändern lernen und verantwortlich auf ihre Herkunftsländer schauen, die durch Kriege, Terrorismus, Armut, KlimakaDiese Flüchtlinge sind meistens mehr als ein Jahr bei uns, tastrophen, diktatorische und korrupte politische Systeme haben freiwillig Deutschkurse besucht, Paten gefunden, fast unbewohnbar geworden sind, wenn nicht in unserem haben sich angefreundet mit den Orten und Menschen ih- relativ gesicherten und wohlhabenden Gesellschaftsrer Unterkünfte. Nach ihrer Anhörung vergehen oft lange system? Ein Bleiberecht, zumindest für die Zeit einer Monate und Jahre. Schließlich werden mit dem zumeist Ausbildung, wäre eine aktuelle und effektive Art der Entnegativen Bescheid und der harschen Aufforderung, das wicklungshilfe in unserem Land. Land innerhalb von 1-2 Wochen zu verlassen, alle zaghaft gewachsenen neuen Wurzeln mit einem Schlag abgerissen. 3. Auch das neue Integrationsgesetz kennt keinen Es gibt meistens keine Zukunftsperspektive oder Hoffnung Perspektivenwechsel mehr. Auch das neue Integrationsgesetz hat nur Integration und ihre Konkretisierungen aus der Sicht der BRD im Blick: “In2. Auch eine befristete Zeit in Deutschland kann human tegrationsstatus” bedeutet: Der Schutzbedürftigkeit von gestaltet werden Flüchtlingen wird durch Bett, Brot, Sprache und Geld bzw. Der Popanz “Wirtschaftsflüchtling” im Unterschied zum Job weitgehend entsprochen, nicht aber in jedem Fall der wirklich Schutzbedürftigen, aus einer Kriegsregion Geflo- konkreten Lebenslage und der Zukunftsperspektive von henen, trifft nicht die humane Wirklichkeit. Die vielen jun- Asylsuchenden, die nicht in Deutschland bleiben wollen


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oder können. Für sie sollte es differenzierte Aufenthaltsti- 3.4 ”Familienstatus” tel geben, die - wie das Asylgesetz selbst - die betroffenen Familiengerechte Aufenthaltstitel: Familien, die auf geMenschen in den Fokus nimmt und nicht vor allem die Inte- trennten Wegen zu uns gekommen sind, sollten niemals ressen unserer Arbeitswelt. auseinander gerissen und getrennt ‚abgewickelt‘ werden. Ihr Zusammenhalt sollte höchste Priorität und höchsten 3.1 „Rückkehrerstatus” Schutz genießen. Die ganze Familie in Sicherheit und um Es sollte normal sein, dass Flüchtlinge nach einer Befrie- sich zu wissen, gibt am ehesten die Chance, die Zeit nach dung ihrer Heimatländer dorthin zurückgehen und sich beim Wiederaufbau engagieren. Dazu sollten sie u.a. bei uns sensibilisiert,motiviert und weitergebildet werden. Für sie sollten auch niedrigschwellige Jobs möglich sein, bei denen sie schnell Geld verdienen können für ihre Familien und ihre Rückkehr. Die entmündigende Versorgung vor dem und im Integrationsprozess ist demütigend für Familienväter und gegen ihre Ehre, wenn sie ihre Familien nicht bald wieder selbst ernähren können. 3.2 “Ausbildungsstatus” Junge Menschen, die hier studieren oder einen Beruf erlernen wollen, sollten durch kultursensible und zielorientierte Ausbildung, Praktika, Kontakte mit den Heimatländern, durch Betriebe, Werkwochen, Gastprofessuren aus den Heimatländern oder Sommeruniversitäten Kontakt zu den Herkunftsländern wach halten oder zukunftsweisend knüpfen können. Sie sollten die Gewissheit erhalten, ihre Ausbildung oder ihr Studium hier bei uns beenden zu können, auch mit einem Zertifikat für eine Berufsfindung in den Heimatländern. Kurse in Buchführung, Grundausstattung einer Werkstatt und Ausstattung mit Werkzeug im Hinblick auf Bedürfnisse des Heimatlandes sollten u.a. zur Ausbildung gehören. Eine Abschiebung sollte während der Ausbildungs- oder Studienzeit ausgeschlossen sein. 3.3 Entwicklungshilfegelder direkt an Rückkehrer, Studierende, AZuBis... Abschiebung, Rückführung und Ausstattung für den Neubeginn kosten viel Geld. Hinzu kommen die Milliarden, die die Bundesrepublik an Herkunftsländer zahlt, damit sie ihre Bürger wieder zurücknehmen. Man könnte es effektiver und humaner einsetzen. Differenzierte Aufenthaltstitel sollten nicht nur Integration in unser Wirtschaftssystem oder Abschiebung in “sichere Herkunftsländer” sein, sondern Nutzung des sicheren Aufenthaltes bei uns für: Studium und Ausbildung Gelderwerb und Vorbereitung für eine sichere und zukunftsorientierte Rückkehr in die Heimatländer Statt Verhandlungen mit “sicheren Herkunftsländern”, die ihre Bürger nicht zurücknehmen wollen, und Zahlung von hohen Summen an Despoten, die diese Gelder wahrscheinlich für Korruption und Machterhalt und nicht für den Fortschritt der Menschen im Land nutzen, sollten diese Gelder der Aus- und Weiterbildung der Flüchtlingen aus diesen Ländern dienen.

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der Flucht zur Normalisierung, Integration oder Weiterbildung zu nutzen. Kinder sind meistens die besten Sprachund Integrationshelfer der Familie. Die Familie bietet aber auch die Chance, den Kontakt zum Heimatland nicht zu verlieren und Wurzeln in der eigenen Kultur zu erhalten. Unser einseitig orientiertes Integrationsmodell tut doch so, als ob all die vielen Menschen für immer bei uns bleiben sollten und wollten. Damit nehmen wir den Flüchtlingen ja auch den Mut und die Hoffnung, dass ihre Heimatländer noch einmal wieder bewohnbar und friedvoll sein könnten. Ein Austausch unter den Kulturen muss ja nicht Multikulti nur in Deutschland sein. Es wäre schade, wenn die reichen Kulturen des Vorderen Orients, die viel, viel älter sind als unsere Kultur, uns nicht mitgeteilt werden könnten und die Hoffnung auf ihre angestammten Wurzeln im Herkunftsland gemeinsam und miteinander nicht wach gehalten würde. Dr. Margret Peek-Horn


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Fluchtverursacher: Klimawandel Die Internationale Organisation für Migration (IOM) schätzt die Zahl der Menschen, die derzeit aufgrund von Wetterextremen bzw. Überschwemmungen oder Dürren, also vor den Folgen des Klimawandels fliehen, ihre Heimat verlassen (müssen), auf ca. 50 Millionen Menschen, bis 2050 können es bereits 200 Millionen sein. Nach einer Studie des Norwegischen Flüchtlingsrats (NRC) haben die Folgen extremer Wetterereignisse im Jahr 2013 mindestens dreimal so viele Menschen um ihr Zuhause gebracht wie die Folgen von Konflikten. Risikomultiplikator Klimawandel Auswirkungen des Klimawandels stellen schon heute besonders verletzliche Staaten und Bevölkerungsgruppen vor große Probleme und verstärken Faktoren, die zu Fluchtursachen werden können („Risikomultiplikator“). Durch den steigenden Meeresspiegel kommt es zu Engpässen in der Frischund Trinkwasserversorgung, Böden versalzen, Land wird unfruchtbar. Dürren gefährden durch Wasserknappheit und den Verlust von fruchtbarem Land die Ernährungssicherung. Auch der Weltklimarat IPCC sieht eine zunehmende Bedrohung für die menschliche Sicherheit und verweist auf eine Zunahme klimabedingter Migration. Immer häufiger tragen solche Entwicklungen dazu bei, dass Menschen ihre angestammten Umgebungen verlassen müssen. Bisher wandern nach Wetterkatastrophen die meisten als „Binnenvertriebene“ in andere Regionen ihres Heimatlandes ab – häufig vom Land in die Slums der Städte. Kein internationaler Flüchtlingsschutz Die noch kleine, aber wachsende Gruppe von Menschen, die wegen des Klimawandels grenzübergreifend flüchten, fällt nicht unter das Mandat der Genfer Flüchtlingskonvention, ihnen fehlt bisher jeglicher Schutzstatus. Zwar gibt es innerhalb der Vereinten Nationen bereits Diskussionen und Vorschläge, wie Klimaflüchtlinge international geschützt werden können. Doch die aktuelle Abschottungspolitik der EU und Nordamerikas gegenüber Geflüchteten lässt wenig hoffen, dass die Staatengemeinschaft zu einer Regelung auf der Basis von Solidarität und Menschenrechten bereit ist. Dabei tragen die westlichen Industriestaaten als Hauptverursacher des Klimawandels eine besondere Verantwortung, denn die ärmsten Staaten der Welt haben mit ihrem vergleichsweise geringen Anteil am CO2-Ausstoß kaum zum Treibhauseffekt beigetragen.

passen. Insofern ist der Klimawandel nicht nur eine ökologische, sondern wird auch zur globalen sozialen Frage.

Globale soziale Frage Die Folgen des Klimawandels treffen außerdem besonders arme, marginalisierte Bevölkerungsgruppen, da diese selten über die notwendigen Mittel verfügen, um sich vor den Klimaveränderungen zu schützen bzw. an diese anzu-

Laut einem Bericht des US-Verteidigungsministeriums von 2015 wird Klimawandel zu mehr Naturkatastrophen, Konflikten um Ressourcen wie Nahrung und Wasser und Fluchtbewegungen/Migration führen. Innerhalb der absehbaren Zukunft "wird er demnach bestehende Probleme

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verschärfen - etwa Armut, soziale Spannungen, Umwelt- knapper werdende Ressourcen wie Wasser und Land. Auch zerstörung, mangelnde Führung und schwache politische in Syrien spielten die Folgen extremer Dürre zwischen Institutionen - die die gesellschaftliche Stabilität in etli- 2006 und 2010 bei der Entwicklung zum Bürgerkrieg mit chen Ländern bedrohen". eine Rolle. Noch lässt sich der Klimawandel in den Griff bekommen Die Menschheit kann den Klimawandel nur in den Griff bekommen, wenn sie sich endlich langfristig vom Zeitalter der fossilen Brennstoffe löst und bei der Transformation der industriellen Produktions- und Wirtschaftsweise sowie der Energie- und Transportsysteme vollständig auf erneuerbare Energien setzt. Diese Herausforderung stellt das auf stetig steigenden Ressourcenverbrauch ausgerichtete Wachstumsdogma und damit auch westliche Konsum- und Lebensstile sowie globale Ungerechtigkeiten massiv in Frage. Eine Transformation ist technologisch möglich, ökonomisch sinnvoll und angesichts der lebensbedrohlichen Folgen des Klimawandels insbesondere für Menschen in den Entwicklungsländern ohne Alternative. Klimaziele einhalten und globale nachhaltige Entwicklungsagenda 2030 umsetzen Konkret heißt das, dass die bei der Klimakonferenz in Paris im November 2015 vereinbarten Ziele unbedingt eingehalten werden müssen und v. a. auch die zugesagten finanziellen Hilfen für die armen Länder für Klimaanpassungsmaßnahmen etc. tatsächlich gezahlt werden müssen. Insbesondere aber stellt sich die Frage, inwieweit der globale Norden tatsächlich bereit ist, die im September 2015 verabschiedete Entwicklungsagenda 2030 (Sustainable Development Goals – SDGs – Nachhaltige Entwicklungsziele) umzusetzen. Darin sind nämlich u.a. auch klare Aufgaben an die Adresse der Industrieländer formuliert: (10) Ungleichheit in und zwischen den Ländern verringern; (12) nachhaltige Konsum– und Produktionsmuster sicherstellen; (13) umgehend Maßnahmen zur Bekämpfung des Klimawandels und seiner Auswirkungen ergreifen. In diesem Sinne ist auch ein gerechteres Welthandelssystem dringend nötig; leider sind Freihandelsverträge wie CETA, TTIP, TISA & Co bisher genau das Gegenteil von dem, was hinsichtlich eines zukunftsfähigen Wirtschaftens notwendig wäre. Gisela Voltz Pfarrerin

Zunehmende Klimawandel-Konflikte So bezeichnete UN-Generalsekretär Ban Ki Moon 2007 den Konflikt in Darfur im Sudan als den ersten "KlimawandelKonflikt" der Welt. Es sei kein Zufall, dass die Gewalt zwischen den ethnischen Gruppen bzw. zwischen Bauern und Nomaden während der extremen Dürre ausgebrochen war, unter der Darfur damals litt. Letztlich sei es ein Konflikt um

Fachreferentin für entwicklungspolitische Bildungs- und Öffentlichkeitsarbeit, Mission EineWelt, Centrum für Partnerschaft, Entwicklung und Mission der Evang.-Luth. Kirche in Bayern


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Winnie Adukule

Flucht. Was Afrikaner außer Landes treibt Die Autorin, Menschenrechtsanwältin aus Uganda, hat unterschiedliche Stimmen von Afrikanern zur Flüchtlingsthematik gesammelt, in Afrika, auf dem Weg nach Europa, von Rückkehrern usw. Ein sehr spannendes, kluges und aufschlussreiches Buch*.

Winnie Adukule Die ugandische Menschenrechtsanwältin kennt westliche (USA, Deutschland u.a.) und afrikanische Länder und Lebensmuster. In ihrem neuesten Werk spürt sie den Fluchtgründen und Träumen nach, wegen derer Afrikaner südlich der Sahara ihr Land verlassen. Das Buch enthält eine allgemeine Einführung in die Problematik, ein Fazit von Winnie Adukule und zehn Interviews und Gespräche mit Flüchtlingen, Rückkehrern, Entwicklungshelfern, Botschaftern, Unternehmern und NGOs. Es gibt einerseits Einblicke in die oft naiven und simplen Vorstellungen von Flüchtlingen vom Leben in westlichen Ländern, stellt andererseits jedoch auch kritische Fragen an die Vorstellungen afrikanischer und europäischer Politik und Entwicklungshilfe. Die realistische und kritische Stimme dieser in Uganda lebenden und arbeitenden Juristin ist wichtig u.a. auch für unsere Sicht auf afrikanische Flüchtlinge bei uns und deren Blick auf unser Land. Zwischen beiden herrscht eine gewaltige Diskrepanz. Das unsere momentane Gesetzgebung bestimmende simple Kriterium: Integration oder Abschiebung in “ein sicheres Herkunftsland” wird der Situation für Afrikaner in keiner Weise gerecht.

ließe, später, sofern die Voraussetzungen vorliegen, legal wieder einzureisen.”(S.18).”Pauschal abzuweisen oder auszuweisen ist darum so kritikwürdig und falsch, wie tatenlos zuzuschauen, dass Menschen in ihr Unglück rennen, weil sie Luftschlössern hinterherlaufen.” (S.18). Unterstützung anerkannter Flüchtlinge in Uganda “Wer als Flüchtling anerkannt ist, hat Anspruch auf ein Stück Land von 50 mal 100 Metern; ist die Familie größer, gibt es auch mehr. Auf diesem halben Hektar kann die Familie sich eine Hütte bauen und Landwirtschaft betreiben. Wir stellen dafür das Basismaterial zur Verfügung: Werkzeuge, Baumaterial, Saatgut. Und natürlich liefern wir auch Know-how. Etwa wie man aus Lehm Ziegeln für den Bau herstellt, mit welchem Material das Dach ausgestattet wird usw.” (S.34). „Flüchtlinge aus anderen afrikanischen Staaten müssen sich in Uganda an “unsere Gesetze” halten. Auch einige Riten wie z.B. Genitalverstümmelung von Mädchen sind verboten. Abschiebung kennen wir nicht, weil sie in unseren Augen gegen die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 verstößt.“ (S.43). “Wir geben ihnen vor, welches Verhalten angemessen ist, während sie hier sind. Ihnen das zu vermitteln ist unsere Pflicht, wie eben auch der Flüchtling nicht nur Rechte, sondern ebenfalls Pflichten hat. Das muss man ihnen bewusst machen.” (S. 44)

Heimweh, Wetter, Essen, mangelnde Sprachkenntnisse und keine Perspektive Diese fünf Gründe werden immer wieder genannt, wenn Illusionen von jungen Flüchtlingen aus Afrika auf die harte “Entscheidend ist, die Flüchtlinge zu organisieren und für Realität in Europa treffen. Aber eine Rückreise ist selten; ihre Selbstorganisation zu sorgen. Man muss herausfinden, es fehlen das Geld und der Mut. Man lässt via Internet die wer ihre Wortführer sind, damit die Regeln und Aufgaben Daheimgebliebenen wissen, es gehe einem bestens und leichter vermittelt werden können und wir nicht jeden Einweckt so bei ihnen den Wunsch, ebenfalls nach Europa zelnen instruieren müssen. Wenn es noch keinen Wortfühaufzubrechen. “Ich bin davon überzeugt, dass eine weitaus rer gibt, müssen wir eine Hierarchie festlegen.” (S.45) “Wir größere Zahl sogenannter Wirtschaftsflüchtlinge freiwil- bauen dabei auf eine Kommunikationsstruktur von unten lig in ihre Heimat zurückkehren würde, wenn man sie da- nach oben. Jedes “Dorf” verfügt über einen Anführer, der bei unterstützte und überdies ihnen die Möglichkeit offen einem Führungsgremium vorsteht, einem Flüchtlingsrat


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(refugee welfare council).” S. 46. Die Größe der “Zellen” „Nicht wenige gestehen sich ein, dass sie einen schönen richtet sich nach räumlicher Ausdehnung, Einwohnerzahl Traum hatten, der an der Wirklichkeit zerschellt ist. Dass und Stammeszugehörigkeit. Schlepperwesen ist bisher in man nicht klarkommt in diesem kalten, abweisenden Euroden Siedlungen unbekannt. pa, keinen Job hat und kein Geld, von allen Hunden gehetzt wird, weil man keine Aufenthaltsgenehmigung hat. Doch “Ich will Farmer in Deutschland werden.” (S.61) wer zeigt sich schon gern als Versager, gar als Verlierer, zuViele Flüchtlinge kennen nicht die politischen und wirt- mal wenn es andere – angeblich – geschafft haben? Nein, schaftlichen Hintergründe der desolaten Situation, aus der mit leeren Händen und gescheitert kehrt man freiwillig sie geflohen sind. Sie wollen nur diesem Schicksal entkom- nicht nach Hause zurück. Deshalb bleiben viele trotz widmen. Traumatische Erlebnisse, Abhängigkeit von der Gunst rigster Umstände.“ (S. 108). anderer und die ungewisse Zukunft machen sie krank. “Ich werde beköstigt und bekleidet, habe eine Schlafstelle, Wir Afrikaner müssen im Ausland lernen, mehr nicht.” (S.64). „Ich will nach Deutschland, weil man „ wie wir unser Leben hier verändern und verbessern köndort besser leben kann als hier, hat man uns erzählt." „Sie nen. Damit kehre ich das übliche Prinzip um: Menschen verschicken mir Fotos auf Facebook. Das sieht alles so toll aus, lassen ihr Land, um der Perspektivlosigkeit zu entrinnen, in wie in der Fernsehwerbung. Die Wirtschaft floriert, alle welcher sie leben und nicht mehr leben wollen. Sie fliehen sind reich, und es herrscht Frieden.” (S. 65). “Ich brauche in die reichen Länder, weil sie hoffen, an deren Reichtum keine sechs Monate, dann beherrsche ich die Sprache.” (S. 68) irgendwie partizipieren zu können, und sei der Anteil noch Die Menschen in Deutschland sind glücklich, “sie haben alle so gering… Was aber ist die objektive Folge? Sie mehren Geld, es herrscht Frieden und sie leben in Sicherheit. Die mit ihrer Arbeit nur den Reichtum der Reichen dort in Euro-

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Kinder können zur Schule gehen, wer ein Talent hat, kann etwas daraus machen. In dieser Hinsicht hat man in Afrika keine Chance. Bleibe ich hier, sehe ich für meine Zukunft schwarz.” (S. 69)

pa und sorgen dafür, dass die Not in ihrer Heimat zunimmt. Es gehen doch die Jungen, Ehrgeizigen, Kreativen weg und mit ihnen die Zukunft des Landes… Wir müssen an unser Land denken. Wir müssen studieren, wie sie es gemacht haben und noch immer machen, und bei uns kreativ anwenden.“ (S. 109-110)

„Wir sind Opfer unserer eigenen Traditionen“ (S. 91) Von der Dinka-Welt im Südsudan beispielsweise sagt ein Betroffener: …“der Diebstahl von Rindern ist nicht nur legi- „Man trägt Verantwortung für andere, nicht nur für sich tim, sondern Ausdruck von Männlichkeit. Feldarbeit hinge- selbst. Das aber wollen die meisten von uns nicht. Und sie gen ist Frauenarbeit und nichts wert. Der Streit um Rinder warten lieber, das man ihnen was anbietet, als sich selbst und um Weidegründe ist der wesentliche Grund der Ausei- etwas zu besorgen. Viele glauben ernstlich, dass das in nandersetzungen zwischen den beiden größten Ethnien im Europa so üblich sei: Man sitzt im Kaffeehaus und die Jobs Südsudan, den Dinka und den Nuer…“ (98) fliegen vorbei, den bestbezahlten nimmt man sich dann.“ (S. 116) Ein Rückkehrer aus Europa meint: „Bei uns in Afrika wächst an fast allen Bäumen Essbares, was manche von uns zu dem „Ich gehe wieder nach Hause zurück. Mit den erworbenen Schluss kommen lässt, in Europa wächst an den Bäumen Fertigkeiten, die ich bei meiner Ausreise noch nicht besaß. Geld. Und gibt es mal keine Bäume, so stehen irgendwel- Damit kann ich zu Hause eine eigene Firma aufbauen. Ich che Kisten herum, in die man ein Plastikkärtchen schiebt, bringe Know-how mit zurück. Das ist das beste Startkapiund schon kommen Banknoten heraus. Das ist kein Witz. tal.“ (S.136). Sie wissen es einfach nicht besser. Weil man ihr Gehirn mit Werbung und Postkartenmotiven und erfundenen Erfolgs- „Wir werfen den Ausländern gerne vor, unsere Wirtschaft zu geschichten spült.“ (S.107) zerstören, sich wie Kolonialherren aufzuführen. Aber das halte ich für Blödsinn. Wir blenden dabei immer unseren


32 eigenen Beitrag, unsere eigene Unfähigkeit aus.“ (S. 152). Was müsste sich ändern? • Die Art und Weise, wie die Regierung das Land führt: Weniger Korruption und Vetternwirtschaft • „Die Geberländer müssten ihr Verhältnis zu Ländern wie dem unseren (Uganda) korrigieren. Alle wissen doch, dass hier die Korruption regiert, und trotzdem geben sie unverändert Geld. Warum ? Ich verstehe, dass sie auf diese Weise ihren Einfluss erhalten wollen, insbesondere aus wirtschaftlichen Interessen.“ (S. 144).“ Wenn man Geld in ein Fass ohne Boden wirft, darf man sich nicht beklagen, wenn es auf Nimmerwiedersehen verschwindet. Korruption und Diebstahl lassen sich wirksam bekämpfen, indem man die Chancen einer privaten Bereicherung reduziert.“ (S.146). • Die Geberländer müssen Unregelmäßigkeiten öffentlich machen, kritisieren. • Partnerschaften und Austausch zwischen Universitäten: ugandische Studenten und Dozenten nach Deutschland und deutsche nach Uganda. Das dauert! „ Hat der Chinese einen Samen, wirft er ihn in die Erde und sagt: In zwanzig Jahren habe ich einen Baum, der Schatten wirft und mich stets vor der heißen Sonne schützt. Was macht der Ugander: Der veräußert den Samen und kauft sich von dem Geld einen Sonnenschirm.“ (S. 147-148). • „Wenn sie hier Fabriken bauen würden, gäbe es keinen Grund, in die reichen Länder auszuwandern.“ (S. 153) • „Europa muss seine Märkte auch für unsere Waren öffnen. Wenn man sie aus Qualitätsgründen zurückweist, muss man uns sagen, was zu verbessern ist und wie der gewünschte Standard erreicht werden kann. Andere Verweigerungsgründe sind inakzeptabel.“ (S.154). • Der Charakter der Hilfsorganisationen müsste sich wandeln. Warum immer nur Geld? Die meisten Spenden laufen über Regierungen, über ihre Verwendung wird keine Rechenschaft verlangt. (S. 162) • “Vielleicht müsste man in Europa ein Hilfsprogramm auflegen für rückkehrwillige Afrikaner, denen die Mittel für die Reise fehlen, eine Art Amnestie: Wenn du dich bei uns meldest, bringen wir dich gratis zurück. Das wäre viel billiger, als die Illegalen von der Polizei jagen zu lassen und dann ein aufwendiges Ermittlungsverfahren zu bestreiten, an dessen Ende doch die Abschiebung steht.“ (S. 215). • ‚Einfache‘ Lösungen liegen so nahe: 1. Kriege und Konflikte würden versiegen, wenn Waffenlieferungen ausblieben, 2. Bessere Entwicklungshilfe durch Unterstützung konkreter Projekte im Bildungswesen, medizinischer Versorgung, Berufsausbildung, Arbeitsplätze, Hygiene, auch Aus- und Weiterbildung von Flüchtlingen in Europa. Die bisher praktizierte Entwicklungshilfe hat wenig zur Entwicklung in den Ländern Afrikas beigetragen. Sie alimentiert eine Nehmermentalität, Bequemlichkeit und Stagnation statt Hilfe zur Selbsthilfe und schafft neue Abhängigkeiten. 3. Korruption und Vetternwirtschaft als ver-

contact@heimfocus.net deckte Form des Neokolonialismus bringen eine politische Klasse hervor, die sich ungeniert der Zuwendungen bedient und den Staat als Eigentum betrachtet, den man bestehlen kann. Siesorgen für Ruhe und Stabilität im Land, ganz im Interesse der Geberländer. 4. Rechtsstaatlichkeit statt Ungesetzlichkeit und Willkür funktioniert nur dann, wenn die Ordnungskräfte ordentlich bezahlt werden und von ihren regulären Bezügen ihre Familien ernähren können. 5. Die Welt von Werbung und Filmen gaukelt eine Kunstwelt vor. Auch in den Industrieländern gibt es nicht nur Reiche, auch dort müssen die meisten Menschen hart arbeiten für ihren Lebensunterhalt und Wohlstand. Wir organisieren Hilfe zur Selbsthilfe“ (S. 165) Beispielhaft subsidiär ist ein Projekt der finnischen Flüchtlingshilfe in Kyaka II.: Bildungsprogramme für Erwachsene, Existenzsicherung durch Anleitung für bestimmte Unternehmensformen, Business-Pläne im Bereich der Landwirtschaft, Aufforstung, Landschaftsbau, Schweinezucht, Bauwesen usw. Dazu werden Startkapital, Materialien und Beratung geboten. Flüchtlinge sollen möglichst bald auf eigenen Füßen stehen, für ihre Familien sorgen können und nicht mehr auf Zuwendungen des Staates angewiesen sein. „ Wir setzen an der Basis des Lebensunterhaltes an und handeln nachhaltig, statt Mittel von oben nach unten zu verteilen. Wir vermitteln unsere Werte.“ (S.169). „Es gibt drei Kernaspekte: 1. Resettlement, also dauerhafte Ansiedlung irgendwo im Land 2. Bildungsangebote 3. wir helfen den Flüchtlingen dabei, was sie selbst wollen. Wir beziehen auch Flüchtlinge in die Arbeit ein.“ Die Beobachtungen und Stimmen, die Winnie Adukule uns vermittelt, sind wichtig und wert bedacht zu werden. Manches, was sie als Afrikanerin sagen kann, würde - von uns „Westlern“ gedacht und gesagt - als rassistisch gelten. Aber Realismus, innovatives und kreatives Denken und ein spezifischer Blick auf afrikanische Flüchtlinge sind jetzt mehr denn je angesagt. Jeden Tag kommen neue Afrikaner von der Subsahara zu uns. Und jeden Tag sterben viele dieser Menschen im Mittelmeer. - Und sie sind in jedem Fall nicht nur einfach schnöde Wirtschaftsflüchtlinge. Dr. Margret Peek-Horn

*Winnie Adukule Flucht. Was Afrikaner außer Landes treibt Verlag Das Neue Berlin, Berlin 2016 ISBN 978-3-360-01309-5


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Afrikanische Weltliteraten Zeugen, Mahner, Hoffnungsträger Was wissen wir schon vom Reichtum, vom Mut und von der Wertschätzung afrikanischer Literatur? Was über das ausgesprochen hohe, fast radikale und eindrucksvolle Leseinteresse von Afrikanern und ihrer ernsten Hochschätzung des Buches?

Chinua Achebe, © Stuart C. Shapiro, CC wikimedia.org.jpg

Die Wahrheit nämlich sei dem Menschen zumutbar, schrieb werden mit unsäglicher Gewalt, die einfach dagegen (und Ingeborg Bachmann 1958 anlässlich des ihr zugesproche- voll von Hoffnung) ihr Dennoch anschreiben. nen "Hörspielpreises der Kriegsblinden". Wahrheiten aber beleuchten auch Brüche und Abgründe des Mensch-Seins. Ein Auszug aus dem lebendigen Forum des Bayreuther Iwalewa-Hauses* ein festgehaltenes Gespräch von Ulli Beier Warum drängt sich dieser Gedanke gerade im Zusammen- 1989 mit Chinua Achebe aus Nigeria, beide leider vor wehang mit der hierzulande weithin unbekannten Literaturar- nigen Jahres erst verstorben, weist auf die Einbindung der beit afrikanischer Autoren auf? Erst mit jahrzehntelangen zeitgenössischen afrikanischen Literatur in ein geschichtliWartezeiten schaffen hier bedeutende, andernfalls verges- ches, politisches und soziokulturelles Bewusstsein hin: sene Werke den Eingang in wichtige Verlage und Zeitschriften und damit in eine begrenzte interessierte Öffentlichkeit. "Achebe: Das ist, nun ja, schwer in Worte zu fassen, aber es Exemplarisch seien Wole Soyinka aus Nigeria - Nobelpreis- ist nicht so, als würde man zu etwas `Primitivem´ zurückträger für Literatur 1986 - oder Nuruddin Farah aus Soma- kehren. Die Notwendigkeit dieser Bewegung müssen wir lia genannt, Weltliteraten aus Staatsgebilden, die assoziiert aus unserer jüngeren Geschichte erklären. Die Veränderun-


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gen in unserer Gesellschaft sind nicht allmählich verlaufen, dir die Initiative; du wirst aus deiner eigenen Geschichte in der Wandel war ziemlich brutal - wie ein gewaltsamer Ein- die Geschichte eines anderen geworfen. schnitt, ein Bruch der Kontinuität. Der Kolonialismus nimmt Beier: Alle Entscheidungen wurden plötzlich von anderen getroffen. Achebe: Ja, es war eine traumatische Erfahrung, aus der wir erst jetzt zu erwachen beginnen. Diese künstlerische Bewegung ist Teil eines Prozesses, der uns sagen läßt: `Wir sollten feststellen, wer wir sind´ ... Damit wir uns entscheiden können, welchen Weg wir einschlagen wollen. Verstehst du ? Wir können nicht im voraus zwingend sagen: `Das ist unser Weg !´ ... wir müssen erst ein gewisses Bewusstsein unserer selbst entwickeln - nach dieser Zeit der völligen Entmenschlichung. Wir müssen das Maß der Dinge wiederfinden, einfach herausfinden, wer wir sind. Das löst nicht alle unsere Probleme - oder auch nur die meisten davon. Aber es ist ein Anfang. Von diesem Punkt aus kann man eine Richtung finden, und das ist keine persönliche Entscheidung, da steckt eine ganze Generation mit drin." ¹

Nuruddin Farah, © Simon Fraser, CC wikimedia.org.jpg

Die im obigen Gespräch angerissene Negritude ist die Pariser Erfindung von Afrikanität und schwarzer Identität, begründet ab 1935/ 39 von den damaligen Studenten Leopold Sedar Senghor aus dem Senegal und insbesondere Aime Cesaire aus Martinique. Aus ihr erwuchs eine philosophische, literarische und dann auch politische Emanzipationsbewegung und breitete sich nicht nur unter schwarzen Intellektuellen aus. Sie wandte sich gegen den französischen Mutterlandsanspruch und die Hegemonie der assimilitativen Francite und behauptete, formulierte, verteidigte einen eigenen, gleichberechtigten Kulturgrund Altafrikas. Die Negritude wurde zur antikolonialen geistigen Prägung, die in weitergehende kritische, radikalere Schritte politischer Verselbständigung mündete. Sie erreichte eine Wiedergeburt altafrikanischer Lebensphilosophie und schwarzer Weltwahrnehmung, eine Achtung der Quellen und der Ursprünge, einen eigenen Humanismus der unterdrückten und verachteten Völker. Mit Jean-Paul Sartres Würdigung und seinem Vorwort 1948 zu Senghors Anthologie neuerer schwarzer Poesie erhielt die Negritude schließlich internationale Anerkennung.

Wole Soyinka2015, © Geraldo Magela, CC wikimedia.org.jpg

Die Skepsis braucht keine Pfadfinder, sie hat ihre Erfahrung. "Ich schreibe über den Humor in meinem Land, über die Traurigkeit in diesem Land, die Tränen, die wir vergossen haben, und die, die wir nicht vergossen haben, über das Lächeln, das wir der Welt schenken konnten, und über das Lächeln, das wir der Welt noch schuldig sind." (Hove) ² Die Erfahrung klagt an, betrauert, fürchtet vorweg: den obszönen Staatsmord des alleingelassenen Ken Saro Wiwa und seiner sieben Ogoni-Mitstreiter aus dem Niger-Delta 1995 durch das nigerianische Abacha-Regime, dieses lebenslang belächelten, beneideten und zornigen, bitter gewordenen Volksliteraten Nigerias. Oder die fortwährende Flucht des Syl Cheney-Coker, gepeinigt vom brennenden Heimkehrwunsch nach Sierra Leone, von depressiver Verharrung und Ablehnungen.


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09 / 2016 Beide Namen stehen beispielhaft für viele Intellektuelle, die nicht Hofschreiber ihrer Landesdespoten sein wollten nicht den Herrschaften schmeichelten und mit Verfolgung, Demütigung, Folter, und Haft rechnen mussten – und die so das übergreifende soziale Gewissen ihrer Länder geworden sind, moralische Zeugen. "Als Dichter, einsam in meinem Land, suche ich die Wahrscheinlichkeiten des Lebens, das Feuer der Bilder, das Gift der Verse. Mein Land, du bist mein Herzschlag, lebst wie eine verwüstete Landschaft." (Cheney-Coker) 3 Sie und weitere konnten und können zumindest darauf zählen: Vernichtet werden zu sollen unter der Walze von Macht und Selbstbereicherung, sei es seelisch, sei es leibhaftig, beispiellos aber für den getroffenen Einzelnen. "Als seine Peiniger ihn allein ließen, untersuchte er seine neue Heimstatt - einen grausigen Kerker aus kolonialer Zeit, in dem sich vor vielen Jahrhunderten das Blut seiner Landsleute mit Kot und Erbrochenem vermischte, bevor man sie auf Schiffen über das trügerische Meer in eine andere Welt brachte, in deren sumpfiger Trostlosigkeit sie dann zugrunde gingen." (aus: „Der Nubier“)4 Wer alles war nicht schon Zielscheibe: eine Legion von Weltliteraten, deren Namen beschämen! Anfang und Ende des fiktionalen "Nubier" korrelieren mit den letzten Worten im offenen Brief des realen Todeskandidaten Ken Saro-Wiwa. "Schreckliche Aussichten? Wohl kaum. Die Herren, die diese schamvolle Veranstaltung, diese tragische Scharade, in Auftrag gegeben haben und sie überwachen, fürchten das Wort, die Macht der Ideen, die Macht der Feder. Sie fürchten die Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit und Menschenrechten." (Saro-Wiwa) 5

beschreibt die koloniale Aktion als Ausplünderung und entmenschlichte Barbarei, als Verdinglichung und zahlloses Menschenopfer, als mystifizierten Sadismus und "hastige Fabrikation einiger tausend subalterner Funktionäre, [...] die für den reibungslosen Ablauf der Geschäfte benötigt werden." 7 Im Anbetracht all dessen: Wie lesen, wie schreiben, ohne zynisch zu verzweifeln? Bücher werden nichtsdestotrotz weitergereicht von Leser zu Leser, bis sie zerfleddern, zerfallen; sie helfen. "Auf dem Land lässt das Leben in der Gruppe die fürs Lesen notwendige Vereinzelung nicht zu: Man spricht immerfort miteinander und hat, solange die Sonne am Himmel steht, Wichtigeres zu tun als zu lesen; und elektrische Beleuchtung ist in den Dörfern immer noch die Ausnahme. Dennoch kann man überall Lesende antreffen: sie sitzen auf den Küchenschwellen während der Arbeitspause, lehnen an einem Baumstamm beim Hüten der Herde oder warten vor den Sehenswürdigkeiten auf Touristen. Zudem erlebt man vielerorts, wie literarische Werke, auch Romane, vorgelesen werden. Diese mündliche Umsetzung ergänzt das Theater, das lebendig ist wie eh und je und sich seinen Weg ins Fernsehen bahnt, und das Lied, das übers Radio eine Verbreitung erfährt wie nie zuvor.", schreibt die reisende und beobachtende Lehrerin Almut Seiler-Dietrich in ihrer Umschau "Wörter sind Totems"8 .

Die Bestialität und Lächerlichkeit (nicht nur) afrikanischer Despoten und ihrer Regime haben Sony Labou Tansi aus Kongo-Brazzaville und Ahmadou Kourouma von der Elfenbeinküste ausgiebig beschrieben; sie steht in der Nachfolge der kolonialistischen Menschenverachtung, des Sklaven jagenden Menschenhandels. In seinem zornigen Aufsatz "Über den Kolonialismus"6 bewertet Aime Cesaire den Kolonisator als den, "der sich, um sich ein gutes Gewissen zu verschaffen, daran gewöhnt, im anderen das Tier zu sehen, der sich darin übt, ihn als Tier zu behandeln, objektiv dahin gebracht wird, sich selbst in ein Tier zu verwandeln"; er

"Ist das Feuer so klein, dass du es nicht siehst, steck es nur in die Tasche, dann merkst du, dass es brennt." (Ewe/ Togo)

Dr. Thomas Friedrich

1 Ulli Beier, Auf dem Auge Gottes wächst kein Gras, Peter Hammer, Wuppertal 1999, S. 22 2 Chenjerai Hove, zit.n. Ausstellung Geschichte und Geschichten, Frankfurt 1998 3 Syl Cheney-Coker, zit.n. Ausstellung Geschichte und Geschichten, Frankfurt 1998 4 Syl Cheney-Coker, Der Nubier, Peter Hammer, Wuppertal 1996, S. 7 5 Ken Saro-Wiwa, LiteraturNachrichten H.46/ 1995 6 Aime Cesaire, Über den Kolonialismus, Wagenbach, Berlin 1968 7 Al Imfeld, Verlernen was mich stumm macht, Unionsverlag, Zürich 1980, S. 38 8 Almut Seiler-Dietrich, Wörter sind Totems, Books on African Studies, Schriesheim 1995, S.12 * Iwalewa-Haus, Afrikazentrum der Universität Bayreuth. www.iwalewa.uni-bayreuth.de


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Mein Partner, der Diktator Um Fluchtursachen anzugehen, kooperieren Deutschland und die EU mit Despoten.

Al Bashir, der Ministerpräsident des Sudan © commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=17499392

Der große Andrang ist offenbar vorbei. Die Flüchtlinge sind als tägliches Thema aus den Medien weitgehend verschwunden. Auf der politischen Agenda Deutschlands und Europas sind sie aber nach wie vor präsent – und das ist gut so: Wir müssen aus der Tatsache, dass der globale Reichtum aufgrund einer ungerechten Weltwirtschaftsordnung ungleich verteilt ist, die richtigen Lehren ziehen. Wichtige Voraussetzungen für den Reichtum Europas sind unsere politische Stabilität und der lang anhaltende Frieden. An Frieden scheint die Welt derzeit jedoch noch ärmer als an wirtschaftlichen Perspektiven, und so wundert es nicht, dass Europa auch diejenigen anzieht, die vor Krieg und Vertreibung fliehen müssen.

Wie aber kann Europa die Fluchtursachen bekämpfen? Die Europäische Union will das nun in großem Stil angehen. Sie stellt dafür in einem Treuhandfonds namens „EU Emergency Trust Fund for stability and addressing the root causes of irregular migration and displaced persons in Africa“ knapp 1,8 Milliarden Euro bereit. Davon sollen 714 Millionen nach Ostafrika fließen. Von dem Geld sind 30 Prozent für Friedenssicherung und Konfliktprävention vorgesehen. Der Löwenanteil von 70 Prozent wird für die Bekämpfung der irregulären Migration und für Vertriebene eingesetzt. Dabei gibt es Überschneidungen mit dem sogenannten Khartum-Prozess, der schon im Oktober 2014 begann. In dessen Rahmen stimmt sich die EU mit Ägypten, Äthiopien, Dschibuti, Eritrea, Kenia, Somalia, Sudan, Südsudan und Andererseits ist unbestritten, dass auch das reiche Europa Tunesien ab, um die nordafrikanische Migration besser renicht alle aufnehmen kann, die gerne kämen. Wahrschein- geln und kontrollieren zu können. lich könnten wir uns finanziell noch deutlich mehr Flüchtlinge leisten, aber Deutschland ist schon jetzt personell damit Die meisten dieser Länder sind höchst zweifelhafte Partüberfordert, den hier Aufgenommenen zeitnah das zu ge- ner. Der sudanesische Staatschef Omar al-Bashir wird seit ben, was ihnen zusteht. Wir haben dafür schlechterdings in 2009 vom Internationalen Strafgerichtshof gesucht, und unseren Ämtern, Behörden, Schulen und anderswo nicht zwar wegen seiner mutmaßlichen Verantwortlichkeit für genug qualifizierte Arbeitskräfte. Bei etlichen, vor allem Kriegsverbrechen in der Provinz Darfur im Westsudan. Es den vom Krieg Traumatisierten, wächst die Verzweiflung geht um Massenmord, Vergewaltigungen und Plünderunwieder, weil sie sich in Deutschland seit Monaten in einem gen. Eritrea ist eine äußerst repressive Diktatur – auch nach rechtlichen Schwebezustand befinden, der jede Eigeninitia- Überzeugung der Vereinten Nationen. So heißt es unter tive vereitelt. Darüber verzweifeln vor allem jene, die nach anderem in einem UN-Bericht von Anfang Juni 2015, willIntegration, Beschäftigung und Neuanfang geradezu fie- kürliche Verhaftungen, Folter und Zwangsarbeit seien weit bern. Dies ist ein unwürdiger Zustand für die Flüchtlinge verbreitet. „Einige der Menschenrechtsverletzungen sind und für ein reiches Land wie Deutschland. womöglich Verbrechen gegen die Menschlichkeit.“ Nach Schätzung des UN-Menschenrechtsrats sitzen tausende Es ist also richtig, dass Deutschland und Europa die Fluchtur- Eritreer ohne Anklage oder Aussicht auf ein Gerichtsversachen bekämpfen wollen. Auf meinen Reisen durch afrika- fahren in Haft. „Besuche von Rechtsanwälten oder Familinische Länder höre ich immer wieder, dass niemand seine enangehörigen sind verboten. Die Regierung macht weder Heimat gerne verlässt, und dass die meisten in Europa nicht Angaben zur Gesamtzahl der Gefangenen noch zur geogradas Paradies, sondern eine Notlösung sehen. phischen Lage der Haftanstalten. Tod im Gefängnis ist üb-


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09 / 2016 lich. Die Gründe sind Misshandlungen, Folter, Hunger und die Verweigerung medizinischer Behandlung.“ Die Menschenrechtslage in Äthiopien ist ebenfalls mehr als problematisch. Internationalen Menschenrechtsorganisationen kritisieren die drastisch eingeschränkte Meinungsfreiheit, Angriffe auf unabhängige Medien, willkürliche Inhaftierungen sowie Folter. Im Südsudan geht die Regierung immer härter gegen Medien und andere Oppositionelle vor, während das Land wegen des Starrsinns und Machtwillens der politischen Führung seit Dezember 2013 in einem brutalen Bürgerkrieg versinkt.

zu kooperieren, ist moralisch nicht zu vertreten. Zudem ist die Zusammenarbeit mehr als kontraproduktiv, wenn die Schmuggler und Schlepper, die man bekämpfen will, Teil der Regime sind. Denn dann werden sie durch die Kooperation womöglich noch gestärkt, durch bessere Ausrüstung, bessere Ausbildung und mehr Geld.

Etwas anderes sind Projekte im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit, sofern davon wirklich die Bevölkerung profitiert. Deutschland beispielsweise will seine Entwicklungszusammenarbeit mit Eritrea wieder aufnehmen, unter der Voraussetzung, dass sich die Menschenrechtslage und Das also sind einige der Partner, mit denen die EU nun ver- anderes in Eritrea grundlegend verbessern. Das jedenfalls handelt. Sie bietet diesen Staaten Entwicklungszusammen- versichert der persönliche Afrika-Beauftragte von Bunarbeit und gezielte Projekte, durch die man die Situation deskanzlerin Angela Merkel, Günter Nooke. Wie messbar der Flüchtlinge in der Region verbessern will. Dazu gehören solche Fortschritte sind, sei einmal dahin gestellt. Das Prodie Versorgung somalischer Kriegsflüchtlinge in Kenia oder Berufsausbildungsprogramme für junge Eritreer in Äthiopien. Der Großteil des Geldes fließt jedoch in die Ausbildung und technische Ausrüstung von Grenzbeamten, Polizisten, anderen „Sicherheits“-kräften und der Justiz. Zu diesem Zweck wurde beispielsweise an der Polizeischule Kairo unter europäischer Beteiligung ein Schulungszentrum für die Mitgliedstaaten des Khartum-Prozesses eingerichtet. Während vieles noch vage ist, was den Khartum-Prozess und den EU-Treuhandfonds betrifft, wurde ein Projekt schon beschlossen. Es heißt „Better Migration Management“ und ist mit rund 40 Millionen Euro ausgestattet. Die deutsche staatliche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) soll an der Umsetzung des Projekts beteiligt werden. In einem Aktionsplan der Europäischen Union heißt es, durch das Projekt solle die Leistungsfähigkeit beim Management der Fluchtbewegungen verbessert werden. „Vor allem soll illegale Migration bekämpft und verhindert werden, darunter Menschenschmuggel und Menschenhandel.“ Das will man unter anderem durch den Bau von „Reception Centers“ inklusive Zellen im Sudan erreichen und durch die Bereitstellung besserer Ausrüstung für Sicherheitskräfte. Ergänzt werden soll das Projekt unter anderem durch den „EU Internal Security Fund on police cooperation“. Schon in der Projektbeschreibung wird dabei auf das Risiko verwiesen, dass die zur Verfügung gestellte Ausrüstung und die Ausbildung der nationalen Sicherheitskräfte für repressive Maßnahmen genutzt werden könnten. Erstaunlich ist auch, dass die EU mit den Sicherheitskräften dieser Regime arbeitet, obwohl sie in demselben Aktionsplan feststellt: „Die Netzwerke der Menschenschmuggler und Menschenhändler in der Region sind hochgradig organisiert und ausgeklügelt, häufig unter Mittäterschaft von Offiziellen.“ Anders gesagt: Zu den Partnern der EU gehören ausgerechnet jene, die sie doch eigentlich bekämpfen will, nämlich die Schmuggler und Schlepper. Denn wer kann ausschließen, dass unter denen, die Ausrüstung und Ausbildung erhalten, auch verkappte Menschenschmuggler und -händler sind? Mit Grenzbeamten, Militärs und Polizisten solcher Regime

Donald Rumsfeld mit Eritreas Staatschef Isaias Afwerki © Helene C. Stikkel, commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=402408

jekt, das Deutschland in Aussicht stellt, hilft im besten Fall tatsächlich der Bevölkerung. Es geht um ein oder mehrere Zentren für berufliche Bildung für insgesamt rund vier Millionen Euro. Aber selbst das hat einen Haken: In Eritrea – und anderen repressiven Staaten – gibt es als Partner für solche Projekte keine privaten, unabhängigen Organisationen oder Träger. Einziger Ansprechpartner in Eritrea oder auch in Äthiopien, ist die Regierung. Sie wird durch eine solche Zusammenarbeit in jedem Fall gestärkt. Sie bekommt Geld oder den Gegenwert davon, wird also wirtschaftlich stärker – und dadurch auch politisch stabilisiert. Selbst wenn solche Projekte vielleicht wirklich der Bevölkerung helfen, helfen sie auf jeden Fall der Regierung. Und das sind mit Blick auf Ostafrika viele Despoten. Mit ihnen paktieren Deutschland und Europa, um sich die Flüchtlinge von den Grenzen zu halten. Trotzdem ist es wohl richtig, gezielte Projekte zu fördern, die der Bevölkerung Perspektiven verschaffen. Die Zusammenarbeit mit Sicherheitskräften, Polizei oder Militärs repressiver Regime sollte dagegen für Europa nicht zur Debatte stehen. Europäische Politiker, auch deutsche, beschwören gerne europäische Werte. Wer diese Werte wirklich hochhält, kann mit gewissen Despoten nicht paktieren. Bettina Rühl http://www.ipg-journal.de/kolumne/artikel/mein-partner-der-diktator-1412/


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Sichere Drittstaaten?

Wie beschönigendes Gerede von eigenen Versäumnissen ablenkt.

© Western Sahara - Sahrawi women against the wall of shame, commons.wikimedia. org/w/index.php?curid=3109722

Die Welt scheint in der Tat ganz einfach zu sein, und sie ist ja hierarchisch verfasst: „Wir“ haben die Definitionsmacht, also definieren wir zum Beispiel, wer oder was ein „sicherer Drittstaat“ ist. Seit dem Asylkompromiss von 1993 gelten als „sichere Drittstaaten“ sämtliche Mitgliedsstaaten der Europäischen Union sowie Norwegen und die Schweiz. Doch so einfach sind die Dinge nicht: Das Verwaltungsgericht Stuttgart hatte Ungarn schon 2012 diesen Status abgesprochen. Da erscheint es vollmundig, wenn in der deutschen Debatte über die wachsende Zahl von Flüchtlingen prominente Politikerinnen und Politiker die „Lösung“ des Problems darin sehen, dass per definitionem „sichere Drittstaaten“ geschaffen werden, in die dann Menschen umgehend abgeschoben werden können. Nun sollte man meinen, dass prominente Politiker, bevor sie populistische Lösungen in die Welt posaunen, sich ein wenig kundig machen. So könnten sie vielleicht einen Jahresbericht von Amnesty International zur Hand nehmen, um zu erfahren, wie denn die rechtsstaatlichen Verhältnisse in den von ihnen genannten Ländern aussehen. Sie könnten auch zur Kenntnis nehmen, dass unser seit 1993 ohnehin eingeschränktes Asylrecht die Abschiebung verbietet, wenn den Asylbewerbern in ihren Heimatländern Tod oder Folter droht. Die hohe Zahl von Ausreisepflichtigen, die aber nicht abgeschoben werden können, dürfte auf diese Regelung zurückzuführen sein, denn genau das ist es, was die Menschen in Marokko oder Algerien zu erwarten haben.

Im algerischen Bürgerkrieg, der noch immer nicht zu Ende ist, kamen mehr als 200 000 Menschen ums Leben; zwischen 10 000 und 30 000 Menschen sind „verschwunden“ – heißt: sie haben die Folter nicht überlebt und wurden irgendwo verscharrt. Hinsichtlich der Zustände in marokkanischen Gefängnissen kann jeder, der will, sich der grauenhaften Verhältnisse vergewissern. Rechtsstaatlichkeit? Man verfolge doch (nur beispielsweise) die Unterdrückung, Verfolgung, Inhaftierung, Folter und Aburteilung vor Militärgerichten von Bürgerrechtlern aus der seit 40 Jahren völkerrechtswidrig von Marokko besetzten Westsahara. Statt solcher Forderungen, die nur den wachsenden Rassismus bedienen, sollte über die Ursachen nachgedacht werden, die Menschen zur Flucht bewegen. Spätestens seit den Explosionen des Arabischen Frühlings, die in Tunesien im Sturz der Diktatur endeten, in Algerien mit äußerster Brutalität niedergeschlagen wurden, in Marokko durch eine Kombination aus Repression und politischen Versprechungen (und Subventionierung der Grundnahrungsmittel) zum Stillstand gebracht wurden, wissen wir: Die Revolten hatten soziale Ursachen. Es ist ein Irrglaube zu meinen, durch repressive Maßnahmen soziale Probleme lösen zu können. Genau daran sind schon Zine el-Abidine Ben Ali und Hosni Mubarak gescheitert – und ob die „Stabilität“ der repressiven marokkanischen Monarchie oder der algerischen Militärdiktatur von Dauer sein wird, ist höchst zweifelhaft. Ihre bereits erfolgte (und von der EU mitfinanzierte) Einbeziehung im Kampf gegen die Flüchtlinge (Stichwort: Ceuta)


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im Rahmen von Frontex zeigen deutlich, dass selbst unsere zuschließen, die nicht nur das Paradies verspricht, sondern diktatorischen Partner die Flucht vor allem der verelende- der perspektivlosen Jugend aus diesen Ländern Ruhm, die ten perspektivlosen Jugendlichen nicht verhindern können. Verwirklichung von Männlichkeitsfantasien und sogar ein gutes materielles Auskommen verschafft. Ansonsten beEs ist nicht zuletzt die von der EU aufgezwungene Frei- fördern und erfüllen wir jene Ziele, die die dschihadistische handelspolitik, die wesentlich mitverantwortlich ist für die soziale Misere: Marokko und Tunesien wurden zu verlängerten Werkbänken europäischer Unternehmen, die permanent damit drohen, dass sie zwecks Profitmaximierung in andere Länder abwandern, wenn Löhne erhöht werden sollten. So kann keine Kaufkraft entstehen. Die Liberalisierung hat auch große Teile des einheimischen Handwerks vernichtet und die Märkte mit Billigprodukten aus Asien überschwemmt. Die damit einhergehende Industrialisierung und Exportorientierung der Landwirtschaft vernichtet massenhaft kleine Betriebe und hat dazu geführt, dass die bisher autarke Lebensmittelversorgung durch Grundnahrungsmittelimporte abgelöst wird. Große Anstrengungen Zaun von Ceuta im Erziehungswesen, der Aufbau von Universitäten haben dazu geführt, dass nicht einmal die Hälfte der Hochschulabsolventen im eigenen Land eine Anstellung finden. Hier wäre die EU gefordert, wirksam Ursachen zu bekämpfen, indem statt Weltmarktintegration wenigstens die Entwicklung eines einheimischen Kapitalismus gestattet würde, in dem mit menschenwürdigen Löhnen Kaufkraft geschaffen würde, die ihrerseits die Entstehung einer nationalen Marktwirtschaft ermöglichen könnte. Statt Ausgrenzung und Kriminalisierung muss es darum gehen, Flüchtlinge zu integrieren, indem man sie auch

© Xemenendura, commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=17612179, CC BY-SA 3.0,

in den Arbeitsmarkt integriert, wo sie dabei helfen, der Propaganda in ihren Pamphleten anvisiert: Durch den ZuÜberalterung unserer Bevölkerung entgegenzuwirken. strom von Flüchtlingen Rechtsradikalismus und Rassismus Mehr noch: Nur so können wir dem wie eine Monstranz vo- in Europa zu fördern, damit immer mehr Zugewanderte rangetragenen Bekenntnis zu „unseren Werten“ wie Men- erkennen, dass allein ein „Islamischer Staat“ ihnen Sicherschenrechten und Rechtsstaatlichkeit zu Glaubwürdigkeit heit und Würde bieten kann. Zu deren Helfershelfern und verhelfen, die, wenn sie Gültigkeit haben sollen, für alle zu Förderern des Terrorismus hier und anderswo sollten wir Menschen gelten. Zugleich muss der Verelendungsprozess uns nicht machen, indem wir „unsere Werte“ nur für uns in den Entwicklungsländern aufgehalten und umgekehrt gelten lassen. werden, auch wenn dies der neuen Religion des NeolibeWerner Ruf ralismus zuwider läuft. Für die Menschen in Nordafrika, Nahost und Afrika südlich der Sahara muss es eine andere Prof. Dr. Werner Ruf ist emeritierter Professor für Internationale und Perspektive geben als die, entweder im Mittelmeer zu er- intergesellschaftliche Beziehungen und Außenpolitik mit Schwertrinken oder sich der dschihadistischen Internationale an- punkt Nordafrika. http://www.ipg-journal.de/kommentar/artikel/sichere-drittstaaten-1245/


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PRO ASYL

Geplante Reform des Dublin-Systems:

Verschärfungen stellen Flüchtlinge schutzlos

© golfrangenetting.com

In den kommenden Monaten wird über die Reform des Dublin-Systems verhandelt. Die EU-Kommission plant eine massive Verschärfung des geltenden Dublin-Systems. Sie will die Regelungen, die im bisherigen System eine humanitäre Korrektur des Dublin-Systems ermöglichen, abschaffen.

Hierzu hat die EU-Kommission hat am 4. Mai 2016 einen Entwurf für eine neue Dublin-IV-Verordnung vorgelegt. Abschiebungen in andere EU-Staaten, in denen unmenschliche Bedingungen auf Flüchtlinge warten, können bislang verhindert werden z.B. mit der Durchsetzung der Selbsteintritts-Klausel. Dies soll künftig nicht mehr möglich sein. PRO ASYL warnt davor, die Vorschläge der EU-Kommission umzusetzen.

ein Mitgliedstaat, der eine Dublin-Abschiebung durchsetzen möchte, dabei bestimmte Fristen einhalten. Wird z.B. die Überstellungsfrist von sechs Monaten nicht eingehalten, geht die Zuständigkeit auf den Staat, in dem sich der Flüchtling aufhält, über. Wenn diese Regelung abgeschafft wird, können Flüchtlinge künftig auch noch nach Jahren abgeschoben werden – humanitäre Spielräume bestehen nicht mehr. Die Betroffenen wären nur noch geduldet und würden in der ständigen Fristablauf soll abgeschafft werden, Dublin-Abschie- Angst leben, doch noch nach Bulgarien, Ungarn oder Italien bungen drohen auch nach Jahren zurück zu müssen. Letztendlich wären sie sog. „refugees in Was bislang oftmals der letzte Ausweg war, um eine Dublin- orbit“ – also schutzbedürftige Flüchtlinge, die keinen ZuAbschiebung zu verhindern, soll künftig nicht mehr möglich gang zum Flüchtlingsschutz haben: Im Staat, in dem sie sein: Es soll künftig kein Zuständigkeitswechsel mehr durch sich aufhalten, wird ihnen das Asylverfahren verwehrt. In den Ablauf der im Dublin-Verfahren vorgesehenen Fristen dem Staat, der laut Dublin-Verordnung für sie zuständig ist, stattfinden (S. 58 und 63 des Entwurfs). Bislang musste haben sie keine menschenwürdigen Überlebenschancen.


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Selbsteintrittsrecht wird beschränkt: nur noch in Famili- Dublin-Reform: Schutzlos-Stellen von Flüchtlingen enkonstellationen möglich Diese geplante Verschärfung des Dublin-Systems würde Außerdem soll die Selbsteintritts-Klausel auf die Anwen- den Druck auf die Flüchtlinge und sie unterstützenden dung auf familiäre Konstellationen beschränkt werden (S. Strukturen massiv verschärfen. Die EU würde eine äußerst 49 des Entwurfs). Bislang stand die Ausübung des Selbst- hohe Zahl an irregulären Flüchtlingen produzieren, die in eintrittsrechts im Ermessen des jeweiligen Staates. In der EU ohne Schutzstatus umherirren (Refugees in orbit). Deutschland wurde es vor allem auf besonders schutzbe- Der verwehrte Schutz verhindert auch die Integration in dürftige Gruppen angewandt. Dies soll nicht mehr möglich sein. Drittstaatenregelung hebelt Recht auf Familienzusammenführung aus Vorgesehen ist außerdem, dass vor jeder Zuständigkeitsprüfung zunächst ein Zulässigkeitsverfahren durchgeführt werden soll, in dem festgestellt werden soll, ob ein Asylsuchender nicht in einen „sicheren Drittstaat“ oder „ersten Asylstaat“ abgeschoben werden kann (S. 39f des Entwurfs). Das Recht auf Familienzusammenführung beispielsweise soll auf diesem Weg von der Drittstaatenregelung ausgehebelt werden. Asylsuchende, die in Griechenland ankommen, sollen also nicht mehr zu ihren Angehörigen weiterreisen dürfen.

©UNHCR, A. McConnell

Abschiebungen von unbegleiteten minderjährigen den Aufenthaltsländern. Nur mit einem legalen RechtsstaFlüchtlingen tus haben die Betroffenen die Möglichkeit, in den Ländern Wenn ein Minderjähriger ohne Eltern oder Verwandte in Fuß zu fassen – sich eine Perspektive aufzubauen, zu arbeidie EU einreist, hat er nach dem geltenden Dublin-System ten und Teil der Gesellschaft zu werden. das Recht, in dem EU-Staat zu bleiben, in dem er sich aufhält. Er darf nicht abgeschoben werden. Künftig soll er in 23.06.2016 den EU-Staat abgeschoben werden, wo er erstmals einen https://www.proasyl.de/news/geplante-reform-des-dublin-systems-verschaerfunAntrag gestellt hat. Abschiebungen von unbegleiteten gen-stellen-fluechtlinge-schutzlos/ Minderjährigen ist mit dem Kindeswohl nicht vereinbar.

AMNESTY INTERNATIONAL ASYLBERATUNG IM BEZIRK WÜRZBURG Tel.: 0175 125 3224 | Mail: asylberatung@amnesty-wuerzburg.de www.amnesty-wuerzburg-asyl.de

Asylberatung in Würzburg


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Hass im Netz:

Hinnehmen geht gar nicht! Viele seriöse Medien öffnen neuerdings bei Artikeln mit Stichworten wie Flüchtlinge, Asyl, Migration die Kommentarfunktion gar nicht mehr oder schließen sie bereits nach kurzer Zeit, weil sie ob der Flut unterirdischer Kommentare mit der Moderation gar nicht mehr nachkämen. Offensichtlich haben sich Teile unserer Mitbürger von der geschmähten ‚political correctness‘, der gesellschaftlichen Vereinbarung über Anstand, über die Unantastbarkeit der menschlichen Würde und über gegenseitigen Respekt, verabschiedet. Sie holzen nun losgelöst von allen zivilisatorischen Tabus - in einer animalischen Primitivität herum, die deutlich macht: Das, worauf wir uns als einigende Übereinkunft der zivilisierten Gesellschaft berufen, ist eine verdammt dünne, fragile Eisdecke! Und was bitte waren noch einmal die Errungenschaften der abendländischen Bildung, Aufklärung, christlicher Orientierung und Prägung, die wir so gerne als überlegenes Konstrukt anderen Weltregionen vorhalten? Nur ein flüchtiges, aufgesetztes Phänomen, das keinem Stresstest standhält? Wir haben viel zu tun, wenn wir uns einst retrospektiv unseren Kindern und Enkeln mit geradem Rücken erklären wollen. Wichtig ist erst einmal, sich klar zu machen, dass wir nicht ohnmächtig sind gegen Rassisten, Hass-Poster und Menschenfeinde. Der „Tagesspiegel“ weist in seinem Artikel „Hasskommentatoren im Netz agieren gern unter echtem Namen“ vom 26.07.2016* auf eine Studie der Universität Zürich hin, die feststellt, Hass im Netz unter Klarnamen ist ‚in‘! Er weist ‚Helden‘ aus, die Kreuzritter gegen die ‚political correctness‘, die andere mehr beeindrucken und mobilisieren können – auch, weil sie kaum Konsequenzen zu befürchten haben. Warum eigentlich? Die Stiftung Warentest hat sich mit dem Thema ‚Hasskommentare‘ konstruktiv und sachlich auseinandergesetzt und zeigt auf, wie man mit einem Hinweis oder einer Online-Anzeige durchaus gegenhalten kann: https://www.test.de/Hasskommentare-Ein-Facebook-Post-schlaegt-Wellen-5020226-0/

Eva Peteler

*http://www.tagesspiegel.de/medien/studie-der-universitaet-zuerich-hasskommentatoren-im-netz-agieren-gernunter-echtem-namen/13925358.html-


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„Hass hilft“:

Eine coole Idee zum mitmachen! Hass-Kommentare zur unfreiwilligen Spende für Flüchtlinge und gegen Rechts machen Das Internet wird derzeit mit rassistischen und fremdenfeindlichen Kommentaren geflutet. Wir haben etwas dagegen. Eine ganz einfache Idee. Wir präsentieren: HASS HILFT – die erste unfreiwillige Online-Spenden-Aktion. Die Idee dahinter: Wir machen jeden menschenverachtenden Kommentar zu einer 1 EURO SPENDE. 1. Jemand postet einen Hass-Kommentar auf Facebook 2. Einer unserer Partner antwortet mit einem von uns bereitgestellten „HASS HILFT“-Post. 3. Dadurch wird dieser Hass-Kommentar gezählt und unfreiwillig zur 1€ Spende. Die unfreiwilligen Spenden gehen an diese Projekte: EXIT-Deutschland „EXIT-Deutschland“ ist eine Initiative gegen Rechts. Wir helfen Menschen, die mit dem Rechtsextremismus brechen und sich ein neues Leben aufbauen wollen. Zudem werden Personen und Institutionen beraten, die sich mit rechtsextremen und anderen menschenfeindlichen Aktivitäten auseinandersetzen. Ein Teil der durch „HASS HILFT“ generierten unfreiwilligen Spenden sorgt dafür, dass „EXIT-Deutschland“ weiter gegen Rechts arbeiten kann. Aktion Deutschland Hilft Die „Aktion Deutschland Hilft“ ist das Bündnis renommierter deutscher Hilfsorganisationen. Wenn schwere Katastrophen die Menschheit erschüttern, wird Nothilfe. Geleistet. So auch Flüchtlingen in Deutschland mit bundesweiten Projekten. Und mit den unfreiwilligen Spenden, die durch „HASS HILFT“ zur Verfügung gestellt werden. So spenden alle Hasser und Hetzer praktisch gegen sich selbst. Zwickmühle, nennt der Fachmann sowas. Die Geldmittel, mit denen wir Hass-Kommentare zu unfreiwilligen Spenden machen, wurden zuvor von unseren großartigen Partnern und Unterstützern zur Verfügung gestellt. So setzen wir gemeinsam ein Zeichen für Menschenwürde und ein tolerantes Deutschland. Flagge zeigen: schlaue Antworten auf dumme Parolen: Hier sind Banner zum Download vorbereitet. Indem Sie die Bilder zum Beispiel in Ihrer Facebook-Chronik oder Ihrem Profil posten, spenden Sie zwar nicht – Sie helfen aber mit, die Idee bekannt zu machen und weiter zu verbreiten. Hass kann man nicht tolerieren. Aber melden. Oder anzeigen. In vielen Fällen verstoßen rassistische Kommentare und menschenfeindliche Parolen gegen die Richtlinien von Facebook. Das sollte man bei Facebook melden. Manche Parolen verstoßen sogar gegen das Gesetz. Das sollte man amtlich anzeigen. Nutzen Sie Ihre rechtlichen Möglichkeiten, um Hass und Fremdenfeindlichkeit zu bekämpfen. Hier bietet die Seite entsprechende Funktionen zum Anklicken an. Die Website bietet auch Medienvertretern die Möglichkeit, diese Aktion auch zu nutzen, um auf Hass-Kommentare in den eigenen Medien zu antworten. Unternehmen oder Privatperson werden gebeten, über die Website Geld zur Verfügung zu stellen, mit dem auf HassKommentare geantwortet werden kann und diese so zu Spenden für den guten Zweck gemacht werden.

www.hasshilft.de

Grafik und Text der Website <www.hasshilft.de> entnommen


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Klartext 09/2016 Klartext 09/2016 » Was ist mit dir los, humanistisches Europa, du Verfechterin der Menschenrechte, der Demokratie und der Freiheit? Was ist mit dir los, Europa, du Heimat von Dichtern, Philosophen, Künstlern, Musikern, Literaten? Was ist mit dir los, Europa, du Mutter von Völkern und Nationen, Mutter großer Männer und Frauen, die die Würde ihrer Brüder und Schwestern zu verteidigen und dafür ihr Leben hinzugeben wussten? […] Ich träume von einem Europa, das sich um das Kind kümmert, das dem Armen brüderlich beisteht und ebenso dem, der Aufnahme suchend kommt, weil er nichts mehr hat und um Hilfe bittet. Ich träume von einem Europa, das die Kranken und die alten Menschen anhört und ihnen Wertschätzung entgegenbringt, auf dass sie nicht zu unproduktiven Abfallsgegenständen herabgesetzt werden. Ich träume von einem Europa, in dem das Migrantsein kein Verbrechen ist, sondern vielmehr eine Einladung zu einem größeren Einsatz mit der Würde der ganzen menschlichen Person. […] « Papst Franziskus anlässlich der Verleihung des Karlspreises Mai 2016 http://de.radiovaticana.va/news/2016/05/06/die_papstansprache_im_wortlaut_was_ist_mit_dir_los,_europa/1227938

Der Traum Papst Franziskus wird wohl leider ein Traum bleiben. Die blanke Realität der Flüchtlingspolitik dieser Tage, Wochen und Monate ist der reine Albtraum. Wir wissen sehr wohl um die unerträgliche, unmenschliche Situation der schutzlosen Geflüchteten um und vielerorts auch in Europa – und wir schauen weg.

Deutschland lässt Griechenland und Italien im Stich Deutschland hatte zugesichert, innerhalb von 2 Jahren insgesamt 27.500 Geflüchtete aus Griechenland und Italien aufzunehmen. Jetzt ist das erste Jahr schon fast verstrichen und BRD hat noch nicht einmal 0,5% der Zahl aufgenommen. In den monatlichen Berichten der EU-Kommission wird Deutschland regelmäßig dafür kritisiert. Es braucht eine Bewegung aus vielen Kommunen heraus, die miteinander kooperieren, um den Druck zu erzeugen, der nötig ist, um möglichst viele Geflüchtete aus Griechenland nach Deutschland zu holen. Siehe auch https://www.proasyl.de/news/kommunale-initiativen-fordern-aufnahme-von-fluechtlingen-aus-griechenland/

Vielleicht habt Ihr ja in Euren Kommunen Möglichkeiten und Chancen, diese Initiative selbst mit voranzutreiben ?

EU-Türkei Deal "What Merkel, Tusk and Timmermans should have seen during their visit to Turkey" - Europaabgeordnete der European United Left/Nordic Green Left haben sich im Mai 2016 im Rahmen einer Delegationsreise in der Türkei umgesehen und sich mit der Situation von Flüchtlingen nach dem EU-Türkei-Deal beschäftigt. Ihr Bericht zeigt folgende wesentliche Ergebnisse: Aus Griechenland Abgeschobene haben weder in Griechenland noch in der Türkei eine Chance gehabt, einen Asylantrag zu stellen. Es gibt in der Türkei ein gefängnisähnliches Haftsystem auch für Kinder. Dokumentiert wurden illegale Rückschiebungen (Push Backs) in die Türkei von Seiten bulgarischer und griechischer Polizeieinsatzkräfte. Verstörende Zeugenaussagen von Flüchtlingen gibt es bezüglich der Effekte der Schließung der türkisch-syrischen Grenze. ht tp:// w w w.guengl.eu/uploads/news- documents/GUENGL _ repor t _ Situation _ of_ ref ugees _ since _ EU -Turkey_ deal_2016.05.10.pdf

» Die EU hat die Lage in der Türkei absichtlich falsch dargestellt, um die irreguläre Einreise von Asylsuchenden und Flüchtlingen nach Europa zu verhindern. Es war aber zu erwarten, dass ein neues Asylsystem in dem Land, das bereits am meisten Flüchtlinge weltweit aufgenommen hat, nicht zufriedenstellend funktioniert. […] Die europäische Union hat auf eine der größten humanitären Katastrophen unserer Zeit mit Zäunen reagiert, mit Grenzbeamten und mit zwielichtigen Abkommen mit Nachbarländern - nur um die Flüchtlinge draußen zu halten. Das Ergebnis sind Not und Leid - und weitere Tote auf dem Mittelmeer. » John Dalhuisen, Direktor für Europa und Zentralasien bei Amnesty International https://www.amnesty.de/2016/6/3/tuerkei-ungenuegender-schutz-fuer-fluechtlinge


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© flick.jensen

So ist es geradezu ein Hohn, an diesem dreckigen Deal noch festzuhalten, nachdem infolge des gescheiterten Putsches alle Demokratieansätze dort endgültig im Keim erstickt werden, Erdogan sogar die Menschenrechtskonvention teilweise außer Kraft setzt und Folterungen nachgewiesen sind – dazu auch

https://www.amnesty.org/en/latest/news/2016/07/turkey-independent-monitors-must-be-allowed-to-access-detaineesamid-torture-allegations/ http://www.amnesty.de/2016/7/24/tuerkei-gefangene-nach-putschversuch-gefoltert?destination=startseite https://www.proasyl.de/news/tuerkei-wie-der-ausnahmezustand-politisch-instrumentalisiert-wird/

Fluchtursachen bekämpfen so lautet das Motto der Bundeskanzlerin in diesen Tagen, doch ob sie sich überhaupt damit beschäftigt, warum Menschen fliehen ? - "Warum Menschen fliehen - Ursachen von Flucht und Migration" – ein Dossier von medico international. Verstörende Bilder haben im Sommer 2015 die humanitäre Katastrophe des syrischen Bürgerkrieges und das Elend von Millionen Menschen, die aus verschiedenen Ländern der Welt vor Krieg, Gewalt oder Armut fliehen, in das öffentliche Bewusstsein hierzulande zurückgebracht. Doch mittlerweile haben diejenigen die Meinungsführerschaft übernommen, die Ängste davor schüren, dass Deutschland und Europa von Geflüchteten überrannt werden. Diese Broschüre soll Stoff liefern für informierte, reflektierte und engagierte Beiträge zur gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit Flucht und Migration, die hierzulande zunehmend von Angst und Ausgrenzung bestimmt ist. Der Begriff Flüchtlingskrise ist irreführend. Vielmehr gilt es, die Weltkrise in den Blick zu nehmen, die Flucht und Migration auslöst. https://www.medico.de/fluchtursachen/

Infos und Materialien Portal www.anwalt.org Vor einigen Monaten hat der Berufsverband der Rechtsjournalisten e.V. das neue Portal http://www.anwalt.org/ ins Leben gerufen. Ziel ist es ein umfassendes Informationsportal zu schaffen, auf dem man sich über alle Rechtsgebiete Deutschlands informieren kann. Zu finden dort auch ein umfangreicher Ratgeber zum Thema Asylrecht und Migrationsrecht unter http://www.anwalt.org/asylrecht-migrationsrecht

„Flüchtlinge in unserer Praxis – Informationen für ÄrztInnen und PsychotherapeutInnen“ Diese sehr hilfreiche Broschüre kann unter http://www.baff-zentren.org/baff-fluechtlinge_in_unserer_praxis/

heruntergeladen bzw. als Printaussgabe bestellt werden. Sie ist nicht nur für Ärzte und Psychotherapeuten nützlich, sondern enthält zentrale Information zur Gesundheitsversorgung von Flüchtlingen und zu Barrieren innerhalb des Versorgungssystems. Erklärt werden Trauma und Traumafolgestörungen bei Flüchtlingen, therapeutische Ansätze, Fragen der Begutachtung und Dokumentation, des Umgangs mit Krisen und Suizidalität sowie das Problem der Arbeit mit DolmetscherInnen und SprachmittlerInnen.


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Am 20. Juni war (mal wieder) Weltflüchtlingstag... … und er ist eigentlich ungehört und unbeachtet im Sog von Brexit-Debatten und anderen ach so weltbewegenden Geschichten untergegangen. Die französische Band "Les Yeux de la Tête" hat in ihrem Song "Entre chez moi" den Flüchtlingen Gehör und Beachtung geschenkt: http://www.dailymotion.com/video/x42jsip Darin heißt es unter anderem: Du, der sein Land verlässt, das meinesgleichen geplündert haben das meinesgleichen gebeutelt haben Du, der seine Vergangenheit flieht Du, der sein Land verlässt über das unbekannte Meer Du, der nicht mehr zurückkehrt Du, der seine Familie zurück lässt Du, der nichts zu verlieren hat Du, der nur seine Augen hat, um das Los seiner Kinder, seiner Frauen, seines brennenden Landes zu beweinen

Tritt ein bei mir mein Haus ist deines und mein Land, mein Land, gehört dir auch Tritt ein bei mir mein Haus ist deines und mein Land, mein Land schuldet dir das

"Laisse la porte grande ouverte", so das Fazit der Band – "… „lass die Tür weit offen" ! Europa hat alle Türen für Flüchtlinge gewaltsam zugeschlagen –lassen wir unsere Herzen weit offen für die Menschen, die am dringlichsten unseren Beistand benötigen ! » Ich träume von einem Europa, das die Rechte des Einzelnen fördert und schützt, ohne die Verpflichtungen gegenüber der Gemeinschaft außer Acht zu lassen. Ich träume von einem Europa, von dem man nicht sagen kann, dass sein Einsatz für die Menschenrechte an letzter Stelle seiner Visionen stand. « Papst Franziskus anlässlich der Verleihung des Karlspreises Mai 2016 http://de.radiovaticana.va/news/2016/05/06/die_papst-ansprache_im_wortlaut_was_ist_mit_dir_los,_europa/1227938

Andreas Schwantner Amnesty International – Fachkommission Asyl Mitglied Härtefallkommission Hessen PRO ASYL - Vorstand

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09 / 2016

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7.Jahrgang, 1.Ausgabe, 09 / 2016 Redaktion: Addis Mulugeta Redaktionskontakt: contact@heimfocus.net Erscheinungstermin: 01.09.2016 Erscheinungsweise: vierteljährlich Auflage: Exemplare 2500 Herausgeber: Eva Peteler c/o Ausländer-und Integrationsbeirat der Stadt Würzburg Rückermainstr.2 97070 Würzburg Fotos: Redaktion, Diverse Titelbild: © Hans Schwab Layout: Maneis Arbab, Anette Hainz Druck und Produktion: flyeralarm GmbH Die in der Zeitschrift veröffentlichten Beiträge sind urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil dieser Zeitschrift darf ohne schriftliche Genehmigung der Redaktion in irgendeiner Form reproduziert werden. Die Beiträge geben eine persönliche Meinung des Autors wieder, die nicht mit der der Herausgeber übereinstimmen muss. Die Verantwortung für den Inhalt der Beiträge liegt ausschließlich beim Verfasser.

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