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EDITORIAL
Liebe Leserin, lieber Leser Diese Ausgabe des «handeln» ist etwas umfangreicher als üblich, weil wir Ihnen unsere neu konzipierte Kampagne vorstellen möchten, welche Anliegen aus unserer Inlandarbeit in die Öffentlichkeit trägt. Unter dem Motto «Chancengleichheit zahlt sich aus» setzen wir uns dafür ein, dass auch Menschen eine faire Chance auf dem Arbeitsmarkt erhalten, die nicht in allen Belangen perfekte Voraussetzungen mitbringen. Das sind zum Beispiel Arbeitnehmende über 50 Jahre, die aus betrieblichen Gründen ihre Stelle verloren haben, es sind Jugendliche, denen der Einstieg in eine Berufsausbildung nicht gelingt, oder es sind schlicht und einfach Menschen mit Migrationshintergrund, die allein aufgrund ihres fremdländisch klingenden Namens Schwierigkeiten haben bei der Stellensuche. Wir wollen aufzeigen, dass es sich für alle Beteiligten lohnt, wenn Diskriminierungen überwunden und möglichst viele Menschen in den Arbeitsprozess integriert werden. Aus gesamtgesellschaftlicher Sicht sind eigenverantwortliche, finanziell eigenständige Menschen ein Gewinn, weil sie für sich selbst sorgen und zum Gemeinwohl beitragen können. Menschen, die bei der Suche nach ihrem Platz in der Arbeitswelt Schwierigkeiten überwunden haben, gewinnen an Selbstvertrauen und erleben Wertschätzung. Und auch für die Betriebe zahlt es sich aus, wenn sie mit gezielten Massnahmen auch jenen eine Chance geben, die auf dem Papier nicht ideale Voraussetzungen mitbringen: Sie gewinnen oft treue und dankbare Mitarbeitende und tun etwas zur Behebung des oft beklagten Fachkräftemangels. Als Hilfswerk können wir zwar mit gezielten Angeboten Menschen bei der Suche nach einer befriedigenden Arbeit unterstützen und allfällige Defizite beheben. Aber ohne die Bereitschaft von Betrieben, auch jenen eine Chance zu geben, die vielleicht an einem neuen Arbeitsplatz zu Beginn etwas Unterstützung brauchen, geht es nicht. Wir wenden uns daher in regionalen Veranstaltungen an Arbeitgeber und Arbeitgeberinnen, denen wir aufzeigen möchten, welche konkreten Massnahmen zur Verbesserung der Chancengleichheit beitragen können. Aus jeder Region, in der wir mit einer Regionalstelle präsent sind, geben wir daher zwei Betrieben die Möglichkeit, im Rahmen einer Veranstaltung zu präsentieren, wie sie sich um die Chancengleichheit verdient gemacht haben. Die Zusammenarbeit mit Arbeitgeber- und Gewerbeverbänden ist für uns Neuland. Umso mehr freut es mich, dass uns der Schweizerische Arbeitgeberverband unterstützt und dass wir in den Regionen mehrheitlich auf offene Ohren für unsere Anliegen gestossen sind. Mit dem Aushang von Plakaten in grossen Schweizer Städten werden wir in den letzten zwei Maiwochen zudem gut sichtbar für Chancengleichheit werben. Ich bin gespannt auf das Echo zu diesem neuen Ansatz, die Erfahrungen aus unserer Arbeit in der Schweiz zu thematisieren. Und ich bin Ihnen ganz besonders dankbar, wenn Sie uns auch für unseren Einsatz zugunsten von sozial benachteiligten Menschen
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in der Schweiz unterstützen. Herzlichen Dank.
Ueli Locher, Direktor
HUMANITÄRE HILFE
Unterstützung für Syrien-Flüchtlinge Seit über zwei Jahren tobt in Syrien der Konflikt zwischen Opposition und Regierung. Ein Ende der Kämpfe ist nicht abzusehen und die Lage der Zivilisten im kriegsversehrten Land verschlimmert sich täglich. HEKS unterstützt gemeinsam mit Caritas Menschen in drei Flüchtlingslagern in der Türkei. VON JUDITH MACCHI
Verteilung von Hygieneartikeln an syrische Flüchtlinge im Flüchtlingslager «Karkamis» in der Türkei.
sen – sie sind meist nur mit den Kleidern, die sie am Leibe trugen, geflüchtet – an vielem, zum Beispiel auch an Hygieneartikeln und Windeln für die Kleinkinder. Aus diesem Grund hat ADF mit der Unterstützung von HEKS über die letzten vier Monate Hygieneartikel, wie Waschpulver, Shampoo, Rasierutensilien, Zahnbürsten und Zahnpasta, Damenbinden sowie Windeln für Kinder und bettlägrige Erwachsene, verteilt. Die syrischen Flüchtlingsfamilien sind für diese Hilfe sehr dankbar. Im April hat HEKS eine Abklärungsmission in den Libanon unternommen. Dort möchte sich HEKS gemeinsam mit der britischen Organisation Christian Aid und der libanesischen Organisation Association Najdeh für palästinensische Flüchtlinge, die aus Syrien geflohen sind, einsetzen. Auch Palästinenser, die bislang in Flüchtlingslagern in Syrien untergebracht waren, sind vom Konflikt betroffen und fliehen nun in den Libanon und nach Jordanien, wo sie
zum zweiten Mal zu Flüchtlingen werden. Ungleich den SyrerInnen, welche im Libanon bei Gastfamilien Unterschlupf finden, werden die Palästinenser in den palästinensischen Flüchtlingslagern untergebracht, die auch ohne neue Flüchtlingszuströme schon aus allen Nähten platzen. Es fehlt an Unterkünften, Nahrungsmitteln, Infrastruktur etc. Zudem müssen sich die neu ankommenden palästinensischen Flüchtlinge aus Syrien jeden Monat neu registrieren lassen, für einen Betrag von 33 USD, was sich die meisten Familien nicht leisten können. HEKS arbeitet derzeit gemeinsam mit seinen Partnern ein Projekt aus, wie man die geflüchteten palästinensischen Familien am besten unterstützen kann. Weitere Informationen zu den Verteilungen in den Flüchtlingslagern entnehmen Sie unserer Homepage: www.heks.ch/handeln Spenden: PC-Konto 80-1115-1 mit dem Vermerk «Syrien».
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Laut UNOCHA sind dem Konflikt bis heute 70 000 Menschen zum Opfer gefallen, über vier Millionen Menschen in Syrien benötigen dringend humanitäre Hilfe, wobei der Zugang für Hilfsorganisationen schwierig und die Finanzierung der Hilfsaktionen kaum gesichert ist. Schon über eine Million Menschen, vorwiegend Kinder und Frauen, haben Syrien verlassen und haben in den Nachbarländern Jordanien, Libanon, dem Irak, Ägypten und der Türkei Unterschlupf gesucht; täglich werden es mehr. Über 7000 Menschen überqueren täglich die syrische Grenze. In den Aufnahmeländern stossen die Behörden und die Gastfamilien, welche die Flüchtlinge grosszügig aufgenommen haben, immer mehr an ihre Grenzen. António Guterres, der Uno-Flüchtlingskommissar, welcher vor kurzem den Libanon besuchte, nimmt an, dass sich die Zahl der Flüchtlinge bis Ende Jahr noch verdoppeln oder verdreifachen könnte, und befürchtet, dass sich Syrien auf ein humanitäres Desaster zubewegt. Zurzeit ist HEKS gemeinsam mit dem türkischen Partner Anatolian Development Foundation (ADF) und der Caritas Schweiz in drei Flüchtlingslagern in der Region Gaziantep nahe der türkisch-syrischen Grenze aktiv. Unterstützt werden die Projekte auch von der Glückskette. Die Türkei hat bis jetzt mehr als 300 000 Flüchtlinge aufgenommen und beherbergt diese in 17 Flüchtlingslagern, wo die geflüchteten Familien in Zelten untergebracht und mit dem Nötigsten (z. B. Kleidung und Nahrungsmitteln) versorgt werden. Auch wenn sich die türkische Regierung vorbildlich um die Flüchtlinge kümmert, fehlt es dieFoto: HEKS/ADF
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KONFLIKTBEARBEITUNG
Das können Sie tun: Stärken Sie die Stimme des Widerstands in Zacate Grande! Übernehmen Sie eine Patenschaft für nur einen Franken pro Tag und unterstützen Sie damit Jugendliche in Zacate Grande.
Foto: HEKS/Andreas Schwaiger
VON MONIKA ZWIMPFER
Eine Tafel am Dorfeingang der Halbinsel macht klar: Hier regt sich Widerstand. «Zacate Grande – tierra libre de terratenientes», «von Grossgrundbesitzern freies Land» steht in grossen Lettern geschrieben. Hier wehrt sich eine Gemeinschaft gegen die Vertreibung von ihrem Land, das sie seit Generationen bewirtschaftet. Einer der mächtigsten Männer von Honduras, Miguel Facussé, hat die Halbinsel in den neunziger Jahren einer reichen Frau aus Nicaragua abgekauft und vor rund zehn Jahren beschlossen, hier ein Luxusresort zu
bauen. Dem standen die rund 800 ansässigen Kleinbauern- und Fischerfamilien im Weg. Also versucht er sie seither mit Rückendeckung von Polizei und Gerichtsbarkeit von ihrem Land zu vertreiben.
Radio Zacate auf Besuch Vom 1. bis 18. November werden zwei VertreterInnen des Radios zu einem Besuch in der Schweiz erwartet. Sie werden an verschiedenen
Recht auf Land Um sich mit vereinten Kräften zu wehren, gründeten die BewohnerInnen von Zacate Grande die Organisation ADEPZA (Verein zur Entwicklung der Halbinsel Zacate Grande), die heute von HEKS unterstützt wird. Sie beruft sich auf ein Dekret der Regierung, das Gemeinschaften Landtitel zugesteht, wenn sie mehr als zehn Jahre auf einem Landstück leben und dieses bewirtschaften.
Orten über den Kampf für ihr Land berichten. Nähere Details werden wir in den nächsten Wochen auf www.heks.ch aufschalten. ihre Rechte auf und geben andere nützliche Informationen weiter. HEKS hat einen Teil der Sendeanlage finanziert und bildet die Mitglieder des Radioteams aus, welche ihr erworbenes Wissen an andere Jugendliche weitergeben. Für ihr Engagement erhalten sie weitherum Lob und Anerkennung. Das Lokalradio macht Schule, und die Kleinbauernfamilien von Honduras erheben ihre Stimme gegen die Grossgrundbesitzer.
Recht auf freie Meinungsäusserung Um den Widerstand zu verbreiten, haben junge Erwachsene 2010 das Lokalradio «La Voz de Zacate Grande» ins Leben gerufen. Damit informieren sie die Bevölkerung laufend über die aktuelle Lage, klären sie über
Foto: HEKS/Andreas Schwaiger
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Setzen Sie ein Zeichen! Sie können die Menschen von Zacate Grande jetzt mit einer Patenschaft für Jugendliche in Honduras unterstützen. Setzen Sie ein Zeichen der Solidarität und stärken Sie das Recht auf freie Meinungsäusserung, das Recht auf Nahrung und das Recht eines jeden Menschen auf ein Leben in Würde. Herzlichen Dank. Weitere Auskunft erteilt Ihnen gerne: Susanne Loosli, Tel. direkt 044 360 88 09, E-Mail Patenschaft@heks.ch. Den Anmeldetalon finden Sie auf der Rückseite dieser Ausgabe. Jugendliche aus Zacate Grande machen Radio und erheben so ihre Stimm gegen die Grossgrundbesitzer.
STRATEGIE 2013–2017
Leitplanken für unsere Arbeit Das HEKS-Stiftungsstatut definiert den Zweck unseres Hilfswerks. In der Strategie beschreiben wir, mit welchen Mitteln wir welche konkreten Ziele erreichen wollen. Im Herbst 2012 hat der Stiftungsrat von HEKS die Strategie für die Jahre 2013 bis 2017 verabschiedet und damit die Leitplanken für unsere Arbeit gesetzt. VON UELI LOCHER
HEKS ist im In- und Ausland mit rund 200 Projekten engagiert.
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Verankerung der Schwerpunkte Einzig bei der Verankerung der thematischen Schwerpunkte unserer Arbeit konnten wir die gesteckten Ziele nicht erreichen. Es gelang nicht, mit unseren Kernthemen (Entwicklung ländlicher Gemeinschaften, Friedensförderung und Konfliktbewältigung, Humanitäre Hilfe sowie Kirchliche Zusammenarbeit für unsere internationale Tätigkeit; Anwaltschaft für sozial Benachteiligte und soziale Integration für unsere Arbeit in der Schweiz) wahrgenommen zu werden und uns von anderen Werken abzuheben. Da werden wir uns in den kommenden Jahren verbessern müssen.
Dialog und Austausch Die strategische Ausrichtung von HEKS wird sich nicht grundlegend ändern. Sie ist vielmehr geprägt von Kontinuität und Verlässlichkeit, denn vieles hat sich in der Praxis bewährt. In einzelnen Bereichen haben wir die Akzente etwas anders gesetzt, und das im Stiftungsstatut vorgesehene gesellschaftspolitische Engagement haben wir klarer beschrieben. In den vergangenen Wochen wurde die Strategie an Kirchen und Kirchgemeinden verschickt. Möchten Sie mit uns ins Gespräch kommen zu strategischen Fragen, zu einzelnen Zielsetzungen oder zur Umsetzung der strategischen Vorgaben? Wir stehen gerne für einen Dialog zur Verfügung. Melden Sie sich bei Regula Demuth, demuth@heks.ch. Sie kümmert sich um die Vereinbarung von Terminen und die Vermittlung der richtigen Gesprächspartner. Wir freuen uns auf viele anregende Gespräche! Die Strategie kann bei info@heks.ch bestellt, oder auf der Homepage www.heks.ch/handeln heruntergeladen werden.
Foto: HEKS/Annette Boutelleir
Nähe zu den Menschen sowie die Professionalität und Wirkungsorientierung, welche unsere Arbeit prägen, werden ebenfalls als typische Merkmale von HEKS wahrgenommen. Dass diese in unserer Kommunikation und in der täglichen Arbeit stets präsent sind, hat unser Profil mit Sicherheit gestärkt und vermutlich auch dazu beigetragen, dass wir heute über die kirchlichen Kreise hinaus als Hilfswerk viel bekannter sind als vor fünf Jahren.
Bei der Erarbeitung der neuen Strategie haben wir auch Bilanz gezogen über das in den letzten fünf Jahren Erreichte. Besonders interessiert hat uns dabei die Frage, wie HEKS von Aussenstehenden wahrgenommen wird. Das liessen wir 2012 durch externe Fachleute überprüfen. Erfreulicherweise war unsere kirchliche Verankerung das am deutlichsten wahrgenommene Element unserer Identität – und zwar nicht nur bei Menschen, die HEKS mit Spenden unterstützen, sondern auch bei solchen, die anderen Hilfswerken spenden. Viele sehen in den Kirchen so etwas wie einen Garanten des Vertrauens und der Ehrlichkeit. Das kommt auch HEKS zugute. Die christlichen Grundwerte und die universellen Menschenrechte, die
Foto: oben und unten: HEKS/Christian Bobst
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Alle Menschen sollen die gleichen Chancen erhalten, ihr Leben eigenverantwortlich zu gestalten. Niemand darf aufgrund des Geschlechts, der Nationalität, des Alters, der sozialen oder kulturellen Herkunft oder der Religion auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt, im Bildungs- und Gesundheitswesen oder im Kontakt mit staatlichen Stellen benachteiligt werden. Lesen Sie auf den folgenden Seiten mehr zur Kampagne Chancengleichheit zahlt sich aus, die am 21. Mai mit einem nationalen Plakataushang startet.
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HEKS setzt sich ein für Chance Aus seiner Projektarbeit im Bereich der sozialen Integration und der Rechtsberatung weiss HEKS: Nicht alle Menschen haben die gleichen Chancen auf eine Lehrstelle, eine höhere Ausbildung, eine ihren Qualifikationen entsprechende Arbeit, eine Wohnung oder auf die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben. HEKS hat sich zum Ziel gesetzt, diesen Benachteiligungen etwas entgegenzusetzen und sein Engagement für Chancengleichheit zu verstärken. VON NINA GILGEN UND CORINA BOSSHARD
Chancengleichheit fördern – wie geht das? Es ist eine grosse Herausforderung, die Vision einer chancengleichen Gesellschaft umzusetzen. Doch in der Praxis existieren verschiedene Massnahmen, Lösungen und Lösungsansätze, auf die gebaut werden kann. Um Chancengleichheit für alle Bevölkerungsgruppen und in den vielfältigen gesellschaftlichen Bereichen zu gewährleisten, sind alle Teile der Gesellschaft auf verschiedenen Ebenen gefordert: Zum einen ist die individuelle Befähigung und Stärkung der Menschen, die Benachteiligungen er-
Unsere Vision von Chancengleichheit Alle Menschen sollen die gleichen Chancen erhalten, ihr Leben eigenverantwortlich zu gestalten. Niemand darf aufgrund des Geschlechts, der Nationalität, des Alters, der sozialen oder kulturellen Herkunft oder der Religion auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt, im Bildungs- und Gesundheitswesen oder im Kontakt mit staatlichen Stellen benachteiligt werden.
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I T S E I N E R T Ä G L I C H E N A R B E I T setzt sich HEKS seit Jahren dafür ein, dass sozial benachteiligte Menschen die gleichen Chancen erhalten, ihr Leben eigenverantwortlich zu gestalten und in sozialer Sicherheit zu leben. HEKS möchte mit seiner Arbeit dazu beitragen, dass eine Gesellschaft entsteht, an welcher alle Menschen frei von Diskriminierung teilhaben und ein Leben in Würde führen können. Dabei orientiert sich HEKS an der Anerkennung der Vielfalt von Lebensformen, am Grundsatz der Gleichbehandlung und am Respekt gegenüber jedem Menschen. HEKS ist überzeugt: Wenn ungleiche Chancenverteilung zwischen Bevölkerungsgruppen ausgeglichen und die Talente und Potenziale aller Menschen gefördert werden, zahlt sich dies für alle aus. Neben der Stärkung der sozialen Zugehörigkeit der Einzelnen und des sozialen Zusammenhaltes insgesamt ist die Förderung von Chancengleichheit auch von volks- und betriebswirtschaftlichem Nutzen.
Fotos: Keystone-Press
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Lehr- und Arbeitsstellen kann die Autonomie und das Wohlbefinden der Projektteilnehmenden nachhaltig steigern. Insgesamt zeigt die Erfahrung von HEKS, dass mit der nötigen Bereitschaft der Betroffenen etwas gegen eine schlechte Schulkarriere, das Fehlen von Bildungsabschlüssen, Sozialhilfeabhängigkeit oder Arbeitslosigkeit unternommen werden kann. Doch gleichzeitig stellen wir fest: Das allein reicht nicht. Wenn die Gesellschaft sozial benachteiligten Menschen keine Chancen eröffnet, dann kann auch die Stärkung ihrer persönlichen Ressourcen und Kompetenzen nur bedingt Erfolg haben. Sowohl Institutionen und Organisationen der öffentlichen Hand wie auch die Wirtschaft müssen daher ihren Teil beitragen, um strukturelle Hürden abzubauen und den Weg für Chancengleichheit zu ebnen. Gesellschaftliche Strukturen: Fit für die Vielfalt? Ungleichbehandlungen kommen in allen Lebensbereichen vor: beim Zugang zu Ämtern, in der Schule, auf dem Arbeits- oder Wohnungsmarkt, in der Freizeit. Hinter einer direkten oder indirekten Diskriminierung (siehe Kasten S. 10) stecken oft keine Absicht, sondern Unwissenheit, schlecht angepasste Strukturen oder Vorurteile. Verallgemeinernde Vorstellungen wie «Alte Menschen sind einsam und krank», «Jugendliche sind gewalttätig», «Arbeitslose sind faul» oder «AusländerInnen sind schlecht gebildet» beschreiben Personen und Gruppen nicht neutral, sondern bewerten sie pauschal negativ. Öffentliche Diskurse und die Medien prägen und verstärken solche Sichtweisen und Haltungen oft. Wenn Diskriminierungen von einem
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Fördermassnahmen ab früher Kindheit Es existieren bereits verschiedene staatliche und private Unterstützungsangebote für die Stärkung und Befähigung von sozial benachteiligten Menschen. In den letzten Jahren hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass Fördermassnahmen einerseits schon in frühster Kindheit ansetzen sollten, andererseits aber auch im Alter an Bedeutung gewinnen. Auch in HEKS-Projekten werden sozial benachteiligte Menschen in der Entwicklung ihrer persönlichen Ressourcen und Kompetenzen gefördert. Im Projekt «schritt:weise» etwa werden Eltern dabei unterstützt, ihren Kindern in den ersten Lebensjahren eine gute Entwicklung und somit einen guten Schulstart zu ermöglichen. In den Programmen von HEKS-Visite wird Langzeiterwerbslosen durch individuell passende Einsatzplätze eine Tagesstruktur ermöglicht. Im Projekt HEKS AltuM werden ältere MigrantInnen befähigt, ihr Wissen zu altersrelevanten Themen zu verbessern und die ihnen zustehenden Sozialleistungen einzufordern. Die Stärkung der persönlichen Kompetenzen, das Aufzeigen von Perspektiven und das Vermitteln von passenden
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fahren, zentral, damit sie Chancen, die sich ihnen bieten, besser wahrnehmen können. Des Weiteren bedarf es aber auch diskriminierungsfreier gesellschaftlicher Strukturen: Bildungswesen, Arbeitsmarkt und Ämter etc. müssen ihre Strukturen so gestalten, dass sie auch sozial benachteiligten Menschen Chancen eröffnen. Parallel dazu braucht es längerfristig einen besseren gesetzlichen Rahmen, in welchem Ungleichbehandlung und Diskriminierung entgegengewirkt werden kann. Zentral sind Diskriminierungsverbote, wie sie in den Menschenrechten festgeschrieben sind.
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grossen Teil der Bevölkerung geteilt werden, prägen sie das Handeln von gesellschaftlichen Akteuren und können so eine strukturelle und auch institutionelle Form annehmen. Besonders problematisch sind strukturelle Diskriminierungen im Bildungsbereich und in der Erwerbsarbeit. Die PISA-Studien etwa haben gezeigt, dass bei vergleichbaren Leistungen Schülerinnen und Schüler aus sozio-ökonomisch benachteiligten Familien deutlich weniger häufig ins Gymnasium gehen. Und zwei neue umfassende Schweizer Studien sowie eine 2012 erschienene OECD-Studie bestätigen mit ihren Resultaten, dass auch der Arbeitsmarkt bezüglich Diskriminierung ein Brennpunkt ist. Öffentliche und private Institutionen müssen ihre Leistungen und Angebote daher so anpassen und ausrichten, dass sie «fit für die Vielfalt» unserer Gesellschaft werden und den unterschiedlichen oder zusätzlichen Bedürfnissen der immer heterogeneren Bevölkerung gerecht werden. Zwar wird etwa in der Schule oder auf dem Arbeitsmarkt bereits viel getan, um Chancengleichheit zu gewährleisten. Doch noch besteht in verschiedenen Bereichen Handlungsbedarf: So braucht es etwa mehr niederschwellige Informationsangebote und professionelle Beratung zum Thema Chancengleichheit und Nichtdiskriminierung, um Verwaltungen, Arbeitgebende und Organisationen, aber auch Diskriminerungsbetroffene zu unterstützen. Zudem empfiehlt sich eine Stärkung des Diversity-Ansatzes sowohl im öffentlichen wie auch im privaten Sektor.
kriminierung geworden sind, rechtlich dagegen vorgehen können. Auch hier besteht grosser Handlungsbedarf: Zwar ist der Grundgedanke der Gleichbehandlung und Nichtdiskriminierung in unserer Bundesverfassung rechtlich verankert, und die Schweiz hat verschiedene internationale Abkommen im Bereich der Diskriminierungsbekämpfung ratifiziert. Trotzdem können sich Betroffene – im Gegensatz zu fast allen europäischen Ländern, den USA und Kanada – nicht auf einschlägige Gesetze und ihre Durchsetzung verlassen. Dies hat zur Folge, dass sozial benachteiligte Menschen Diskriminierungen praktisch schutzlos ausgesetzt sind, insbesondere in den nichtstaatli-
Direkte Diskriminierung: In einer vergleichbaren Situation wird eine Person aufgrund ihrer Herkunft, ihres Alters, Geschlechts etc. ungleich behandelt. Zum Beispiel: Einer Wohnungsbewerberin tamilischer Herkunft wird mitgeteilt, dass aufgrund ihres Aussehens die Wohnung nicht an sie vergeben werden könne.
Indirekte Diskriminierung: Benachteiligung, die im Rahmen neutral erscheinender Vorschriften, Kriterien oder Regelungen entsteht. Zum Beispiel: Im Bewerbungsverfahren wird ein Französischtest vorgeschrieben, obwohl die Beherrschung der französischen Sprache für die Ausübung der Tätigkeit nicht von Bedeutung ist.
Strukturelle Diskriminierung: Diese zeigt sich etwa in internen Reglementen, gängigen Praktiken und gesetzlichen Regelungen. Zum Beispiel: Anspruchsvolle Eltern- oder Patientengespräche werden ohne Übersetzung geführt.
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Rechtlicher Schutz vor Diskriminierung Ebenfalls zentral für die Verwirklichung von Chancengleichheit ist, dass Menschen, die Opfer von Dis-
Fotos: Keystone-Press
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C HEKS macht Chancengleichheit zum Thema Chancengleichheit ist in vielen Institutionen, bei Arbeitgebenden, aber auch in der öffentlichen Wahrnehmung erst am Rand ein Thema. Es ist wenig Bewusstsein über das Ausmass und die Formen der Diskriminierung vorhanden. Noch weit weniger bekannt ist, dass Diskriminierungen in der Schweiz verboten sind. Dieses Unwissen erstaunt nicht, da der rechtliche Schutz vor Diskriminierung in der Schweiz deutlich hinter dem anderer Länder zurückliegt. Aufgrund dieser Tatsachen will HEKS mit einer mehrjährigen Öffentlichkeitskampagne das Bewusstsein für das Thema Chancengleichheit schärfen, konkrete und in der Praxis erprobte Massnahmen bekannter machen und durch politische Einflussnahme den rechtlichen Rahmen für Gleichbehandlung und Nichtdiskriminierung klarer abstecken.
Foto: HEKS/Ruedi Lüscher
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Fokus Arbeitsmarkt Im Jahr 2013 rückt HEKS insbesondere den chancengleichen Zugang zum Arbeitsmarkt in den Fokus. Arbeit zu haben, ist zentral, um ein selbstbestimmtes Leben in Würde zu führen. Zwar steht die Schweiz im europäischen Vergleich gut da: Die
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Wirtschaft wächst und die Arbeitslosenzahlen sind auf einem äusserst tiefen Stand. Bestimmte Gruppen von Menschen sind jedoch auch auf dem Schweizer Arbeitsmarkt benachteiligt. So macht HEKS in seiner Projektarbeit etwa die Erfahrung, dass Jugendliche mit Migrationshintergrund bei der Lehrstellensuche deutlich schlechtere Chancen haben als Schweizer Jugendliche, dass ältere Menschen nur schwer den Wiedereinstieg ins Arbeitsleben finden oder dass qualifizierte MigrantInnen es schwer haben, ihre im Ausland erworbenen Bildungsabschlüsse hier anerkennen zu lassen. >> Lesen Sie mehr zu den auf dem Schweizer Arbeitsmarkt benachteiligten Gruppen ab Seite 12 dieses Magazins. HEKS steht durch seine Arbeitsintegrationsprogramme in engem Kontakt mit Unternehmen und weiss daher, dass das Engagement gewisser Betriebe in der Förderung von Chancengleichheit bereits gross ist. Ihre Erfahrungen zeigen: Massnahmen, welche die Chancengleichheit im Betrieb fördern, sind nicht nur für sozial Benachteiligte, sondern auch für die Unternehmen ein Gewinn. Denn eine Unternehmenspolitik, welche die personelle Vielfalt und die Potenziale aller Mitarbeitenden fördert, zahlt sich für die Unternehmen aus, auch betriebswirtschaftlich. In der diesjährigen Kampagne «Chancengleichheit zahlt sich aus» möchte HEKS daher einige dieser Unternehmen ins Rampenlicht stellen und vorbildliche Massnahmen zur Förderung der Chancengleichheit in der Arbeitswelt besser bekannt machen. >> Lesen Sie mehr zur HEKS-Kampagne ab Seite 18 dieses Magazins.
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chen Bereichen des Arbeits- und Wohnungsmarkts sowie in der Berufsbildung. HEKS setzt sich deshalb für die Schaffung von expliziten Diskriminierungsverboten im Privatrecht, Verwaltungsrecht und Strafrecht zur Verhinderung, Sanktionierung und Wiedergutmachung von Diskriminierungen ein. Zudem sollte ein allgemeines nationales Gleichbehandlungsgesetz geschaffen werden, wie es viele EU-Staaten bereits kennen.
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Wer ist betroffen? Sozial benachteiligte Jugendliche Eine berufliche Ausbildung und der Einstieg in die Erwerbsarbeit sind wegweisende Faktoren für eine erfolgreiche Integration in die Gesellschaft. Für Jugendliche mit Bildungsdefiziten oder sozialen Belastungen gestaltet sich der Sprung in die Arbeitswelt aber besonders schwierig. VON CORINA BOSSHARD
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er Übertritt von der obligatorischen Schulzeit ins Berufsleben ist für Jugendliche ein herausfordernder Moment. Jugendlichen, die aufgrund ihres familiären und sozialen Umfelds oder aufgrund ihrer ethnischen oder kulturellen Herkunft Benachteiligungen erfahren haben, fällt es oft besonders schwer, den Übergang von der Schule in den Beruf zu meistern. Jugendliche mit Migrationshintergrund etwa verfügen in ihrem Umfeld oft über weniger Ressourcen für die Lehrstellensuche als ihre Schweizer Kolleginnen und Kollegen und sind oft bereits im Schulsystem benachteiligt. Bei der Stellensuche werden sie – oft nur schon aufgrund ihres fremdländisch klingenden Namens – klar benachteiligt. In Konkurrenz mit einem jungen Schweizer, der dieselbe Schulbank gedrückt hat, haben sie weniger Chancen, eine Lehr- oder Arbeitsstelle zu finden. Studien belegen, dass Jugendliche mit Migrationshintergrund etwa fünfmal mehr Bewerbungen schreiben müssen für eine Einladung zum Vorstellungsgespräch als Schweizer Jugendliche und im Schnitt doppelt so lange brauchen, um eine Lehrstelle zu finden. Dies, obwohl sie im Durchschnitt die erfolgreicheren Lehrlinge sind. Eine 2012 erschienene Studie der Universität Freiburg etwa zeigt, dass Jugendliche mit Migrationshintergrund in der Berufsbildung auch dann sehr gute Leistungen erbringen, wenn sie in der Schule nur mässig gut waren. Die besten LehrabgängerInnen in der Schweiz sind oft Migrantinnen und Migranten. Sie stehen den Schweizer Lernenden häufig in nichts
nach, sondern steigen gemäss der Studie sogar erfolgreicher ins Berufsleben ein. Das tut HEKS: HEKS KICK ist ein Motivationssemester, das sich an stellensuchende Jugendliche aus den Regionen Emmental und Oberaargau richtet. HEKS KICK bietet diesen jungen Menschen Arbeit, Weiterbildung und Coaching an, um ihnen den Einstieg in die Arbeitswelt zu erleichtern. Während der Teilnahme am Programm sollen die jungen Erwachsenen eine realistische, ihren Neigungen und Möglichkeiten entsprechende Berufs- und damit Zukunftsperspektive entwickeln und eine entsprechende Lehrstelle finden. Im Gestaltungsatelier und in der Holz- und Metallwerkstatt von «KICK» oder während eines Stages in einem externen Betrieb können sie erste praktische Arbeitserfahrungen sammeln. Zudem besuchen die Teilnehmenden allgemein- und persönlichkeitsbildende Kurse, holen anhand eines individuellen Lernplans schulische Defizite auf, erstellen ein Bewerbungsdossier und trainieren Vorstellungsgespräche. HEKS KICK hat Erfolg: Im letzten Jahr haben über 60 Prozent der Teilnehmenden eine Lehrstelle oder eine andere qualifizierende Anschlusslösung finden können.
Zum Beispiel Adina Buzdic: «Auch jemand mit ‹-ic› kann gute Arbeit leisten» Adina Buzdic ist 18 Jahre jung, aufgeweckt, sympathisch. Adinas Eltern verliessen Bosnien wegen des Krieges. Adina wurde in Deutschland geboren und wuchs in der Schweiz auf. Gegen Ende ihrer Schulzeit begann sie sich im Detailhandel zu bewerben – ohne Erfolg. Als sie nach dem 10. Schuljahr noch immer keine Lehrstelle gefunden hatte und sich nach den vielen entmutigenden Absagen völlig ausgebrannt fühlte, entschied sie sich, das «KICK»-Motivationssemester zu absolvieren. Adina, kannst du mehr über deine Lehrstellensuche erzählen? Ich habe an verschiedenen Orten
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Es gefällt dir also? Ich würde diesen Job um nichts in der Welt hergeben. Hier schätzen sie dich, übergeben dir Verantwortung. Ich war in anderen Betrieben im Detailhandel-Praktikum, da war ich das Putzfraueli. Hier durfte ich vom ersten Tag an machen, was die anderen auch tun: Ich bediene Kunden, nehme Bestellungen auf, darf bald an die Kasse. Und sie sagen mir, dass sie schon lange so jemanden wie mich gesucht haben.
Nach dem Praktikum hast du dann eine der wenigen Lehrstellen bei IKEA ergattert. Ja, ich musste den normalen Bewerbungsprozess durchlaufen. Es war happig, aber ich war ja gut vorberei-
Wenn du den Arbeitgebern, die dir damals Absagen geschickt haben, etwas sagen könntest, was wäre das? Seid nicht oberflächlich. Habt keine Vorurteile. Gebt den Leuten eine Chance, sich vorzustellen. Ein Name sagt doch nichts aus. Auch jemand mit «-ic» kann gute Arbeit leisten, so, wie jemand, der Berger oder Müller heisst, schlechte Arbeit leisten kann.
Jugendliche mit Migrationshintergrund müssen fünfmal mehr Bewerbungen schreiben als Schweizer Jugendliche, um zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen zu werden.
Adina Buzdic ist glücklich mit ihrer Lehrstelle im Detailhandel.
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tet. Ich bekam dann die dreijährige Lehrstelle als Detailhandelsfachfrau und war mega happy.
Dann hast du dich bei HEKS KICK angemeldet. Was war das Wichtigste, was du dort gelernt hast? Im «KICK» lernt man sich selbst am besten kennen. Das erste Mal im Leben beschäftigst du dich intensiv mit dir, blickst in die Zukunft. Ich lernte so viel über mich, es war der Hammer. «KICK» hat mir dann einen dreimonatigen Stage bei der IKEA in Lyssach verschafft. Ich selbst wäre nie auf diese Idee gekommen, ich wollte Schuhe oder Kleider verkaufen. Doch während des Stages merkte ich: Hey, das ist genau das, was ich will. In einem Kleidergeschäft rumzustehen, wäre überhaupt nichts für mich.
FotoS: HEKS/ Walter Imhof
Wie erklärst du dir die vielen Absagen? Ich kann’s mir nicht erklären. Ich hatte gute Zeugnisse, bin ja auch nicht scheu oder so. Die Leute haben mich aufgrund meiner schriftlichen Bewerbung wohl einfach falsch eingeschätzt. Vielleicht auch wegen meines Nachnamens. Die meisten Bewerbungen kamen kommentarlos zurück. Es war frustrierend.
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geschnuppert, erst wollte ich Coiffeuse werden, aber dann entschied ich mich für den Detailhandel. Als nur Absagen kamen, habe ich mich dann aber auch in anderen Berufsfeldern beworben. Ich habe sicher über 60 Bewerbungen geschrieben, aber es wollte einfach nie klappen. Am Ende des 10. Schuljahres war ich völlig ausgepowert. Es war so ein stressiges Jahr, und ich stand immer noch ohne Lehrstelle da.
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Wer ist betroffen? Ältere und niedrig qualifizierte Erwerbslose Wer über 50 und erwerbslos ist, hat es schwer auf dem Arbeitsmarkt, insbesondere dann, wenn gesundheitliche Probleme hinzukommen. Auch niedrig qualifizierte Arbeitskräfte werden bei der Suche nach einfachen Arbeitsplätzen oft durch Personen verdrängt, deren formale Qualifikationen höher sind. VON CORINA BOSSHARD
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ltere Menschen sind zwar nicht häufiger von Erwerbslosigkeit betroffen als jüngere, aber wenn sie einmal erwerbslos sind, erweist sich der Wiedereinstieg in den Arbeitsmarkt als deutlich schwieriger. Überholte Qualifikationen, gesundheitliche Probleme, aber auch die Meinung, dass sie wegen ihres höheren Gehalts, längeren Urlaubs und mutmasslich längeren Krankheitszeiten höhere Kosten verursachen, erschweren ihnen den Wiedereinstieg in die Arbeitswelt. Vielfach werden Menschen über 50 auch als «Auslaufmodelle» und potenzielle Frühpensionierungskandidaten behandelt. Studien belegen, dass Menschen über 45 und erst recht über 50 auch in Bezug auf Weiterbildungen eingeschränkte Chancen haben. Wenig Chancen auf eine Weiterbildung haben auch niedrig qualifizierte Arbeitskräfte. Nur gut jeder Fünfte mit lediglich einem Schulabschluss absolviert eine Weiterbildung oder Nachholbildung. Im Gegensatz dazu machen stolze 73 Prozent der Menschen mit Uni-Abschluss eine Weiterbildung. Eine geringe Bildung wirkt sich direkt auf die Chancen im Arbeitsmarkt aus: Gering Qualifizierte tragen – unabhängig von Alter, Geschlecht und Herkunft – ein vielfach höheres Risiko, arbeitslos zu werden als Menschen mit einem beruflichen oder akademischen Abschluss. Die demografische Entwicklung der nächsten Jahre – starke Jahrgänge scheiden aus dem Erwerbsleben aus, geburtenschwache Jahrgänge treten ein – wird zum einen die Altersstruktur der arbeitenden Bevölkerung in der Schweiz nachhaltig verändern. Zum anderen wird dadurch
generell das Angebot an Arbeitskräften – besonders im Fach- und Führungskräftebereich – abnehmen. Für eine erfolgreiche Personalpolitik wird es wesentlich sein, das Potenzial älterer wie auch niedrig qualifizierter Personen zu nutzen, um auch in Zukunft über genügend Arbeitskräfte zu verfügen. Das tut HEKS: Das Arbeitsintegrations-Programm HEKS TG job in Amriswil unterstützt Erwerbslose bei ihrem Sprung oder Wiedereinstieg in die Arbeitswelt. Durch das Einbinden in eine geregelte Arbeits- und Tagesstruktur fördert «TG job» erwerbslose Menschen in ihren beruflichen und sozialen Kompetenzen und unterstützt sie bei der Stellensuche. Das Programm bietet den Arbeitssuchenden niederschwellige bis anspruchsvolle Einsatzplätze, Weiterbildung und eine klare Tagesstruktur. Neben einem vielfältigen internen Arbeitsangebot erledigen die Teilnehmenden Dienstleistungen für externe Kunden in den Bereichen Landschaftspflege, Entsorgung, Umzug und Reinigung. «TG job» pflegt gute Verbindungen zu Arbeitgebern, um möglichst viele Teilnehmenden in den offenen Arbeitsmarkt vermitteln zu können. Ziel von «TG job» ist nicht nur die berufliche Integration, sondern die nachhaltige Verbesserung der Lebenssituation der Projektteilnehmenden. «Uns geht es nicht nur um das Finden eines Arbeitsplatzes, sondern um die gesamthafte Stärkung eines Menschen», sagt die «TG job»-Programmleiterin Silvia Gasser.
Zum Beispiel Hans Gurtner: «Man fühlt sich abgeschrieben» Hans Gurtner arbeitete nach seiner Lehre als Maler in Amriswil und Umgebung. Später wechselte er den Job und war 18 Jahre Chefmagaziner bei Coop Amriswil. Als Coop jedoch Stellen abbauen musste, wurde er, damals 55-jährig, entlassen. Seit dreieinhalb Jahren unternimmt Gurtner alles, um wieder den Einstieg in den Arbeitsmarkt zu finden – vergeblich. Herr Gurtner, warum, denken Sie, waren Sie damals unter denjenigen, die den Hut nehmen mussten? Bei Coop gab es Personaleinsparungen, einer von uns Lageristen
C Mit welchen Begründungen kommen die Absagen jeweils zurück? Es steht natürlich nie «Sie sind zu alt». Meistens steht, dass meine Bewerbung super sei, aber dass ich leider nicht in die engere Auswahl komme. Viele Bewerbungen kommen auch kommentarlos zurück, manche gar nicht.
Sie sind nun seit eineinhalb Jahren bei «TG job». Was genau arbeiten Sie hier? Ich bin der Allrounder, arbeite in der Werkstatt, flicke Velos, helfe aus, wo es nötig ist. Ich kann auch ab und zu kleinere Malerarbeiten erledigen, die mir vermittelt werden. Das mache ich halt doch am liebsten.
Sie leben nun schon einige Zeit von der Sozialhilfe. Wie kommen Sie über die Runden? Ich muss mein Budget einteilen. Ich gehe nur noch ein-, zweimal die Woche auswärts etwas trinken, und an den Wochenenden bleibe ich meist zu Hause. Ich schaue, was Aktion ist, dann kaufe ich etwas mehr und friere es ein ... man wird erfinderisch. Was würden Sie den Arbeitgebern, die Ihre Bewerbungen jeweils zurückschicken, gerne sagen? Gebt auch den Älteren einmal eine Chance. Im Gegensatz zu den Jungen bringen wir viel mehr Erfahrung mit. Und ich zum Beispiel werde mich erst mit 65 pensionieren lassen – bis dahin kann ich noch volle sechs Jahre meine Leistung bringen. Junge bleiben oft nicht so lange an einem Ort. Aber klar, wir Alten und unsere Sozialleistungen sind halt teurer, und am Ende zählt leider meistens nur das Geld.
Nur jeder Fünfte, der nach dem 55. Lebensjahr den Job verliert, findet wieder den Einstieg ins Arbeitsleben – der Rest bleibt langzeitarbeitslos.
FotoS: HEKS/Ruedi Lüscher
Nach der Entlassung haben Sie versucht, wieder eine Stelle zu finden. Ja, ich habe überall gesucht, wieder als Maler oder als Lagerist. Ich habe seither sicher über 400 Bewerbungen geschrieben.
Es muss schwierig sein, motiviert zu bleiben … Ja, auf Dauer ist es frustrierend. Man fühlt sich abgeschrieben. Manchmal habe ich schon meine Tiefs. Es geht nun immerhin schon dreieinhalb Jahre so. Wichtig ist einfach, dass man sich nicht hängen lässt, dass man sich beschäftigt, unter die Leute geht. «TG job» ist dafür super: Hier hast du deine Aufgaben, wirst geschätzt und respektiert, und wenn du ein Problem hast, kannst du auf die Leute zugehen und sie helfen dir.
Hans Gurtner hier bei einem Einsatz von HEKS TG-job. Er ist stellenlos und hat schon über 400 Bewerbungen geschrieben.
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musste gehen. Mit 50 fingen bei mir halt die gesundheitlichen Probleme an: Ich hatte eine Operation am Knie und später eine an der Hüfte. Ich konnte nicht mehr 100 Prozent arbeiten und somit nicht mehr die gleiche Leistung bringen wie früher.
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Wer ist betroffen? Qualifizierte MigrantInnen Qualifizierte MigrantInnen haben bei der Arbeitssuche in der Schweiz mit besonderen Schwierigkeiten zu kämpfen – selbst wenn sie ihr Studium in der Schweiz abgeschlossen haben. VON CORINA BOSSHARD, INTERVIEW JOËLLE HERREN
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usländische Hochqualifizierte sind im Schnitt dreimal so stark von Erwerbslosigkeit betroffen wie schweizerische. Zu diesem Schluss kommt eine Studie der Universität Basel. Am stärksten benachteiligt sind Personen aus der Türkei, aus Südosteuropa und aus Portugal. Im Jahr 2010 etwa waren über 5 Prozent der Hochqualifizierten aus Portugal und der Türkei erwerbslos, selbst wenn sie ihre Ausbildung in der Schweiz absolviert hatten. Die Erwerbslosigkeit von schweizerischen Hochqualifizierten hingegen lag bei 1,5 Prozent. Bei neu in die Schweiz eingewanderten MigrantInnen sind mangelnde Sprachkenntnisse, fehlende Kenntnisse des Schweizer Arbeitsmarkts sowie ein fehlendes berufliches Netzwerk oft die Hauptgründe dafür, dass sie hier keine ihren Qualifikationen entsprechende Stelle finden. Hinzu kommen Schwierigkeiten bei der Anerkennung der beruflichen Kompetenzen, die sie in ihrer Heimat erworben haben: Zahlreiche ausländische Abschlüsse sind in der Schweiz nicht anerkannt, und es ist kompliziert, im Ausland erworbene Bildungsleistungen und Berufspraxis anerkennen zu lassen. Viele MigrantInnen müssen daher einen beruflichen Abstieg in Kauf nehmen, wenn sie arbeiten wollen. Rund jede dritte Migrantin aus einem Staat ausserhalb der EU ist für die Arbeit, die sie hier in der Schweiz verrichtet, überqualifiziert. Das tut HEKS: «Mentorat Emploi Migration» (MEM) wurde im Mai 2010 in den Kantonen Waadt und Genf ins Leben gerufen, um qualifizierte Migrantinnen und Migranten bei ihrem Einstieg in den Arbeitsmarkt zu unterstützen. Die
Idee: Freiwillige MentorInnen bilden gemeinsam mit qualifizierten MigrantInnen Tandems und betreuen und unterstützen diese bei der Arbeitssuche. Die Mentoren arbeiten ehrenamtlich und kommen aus derselben Branche wie der Kandidat, damit sie diesen optimal begleiten und beraten können. 35 solcher Tandems wurden in den Kantonen Genf und Waadt bereits gebildet. Eine externe Evaluation des Projekts zeigte, dass Personen, die von einer Mentorin oder einem Mentor des MEM begleitet wurden, über einen zwei bis drei Mal besseren Arbeitsmarktzugang verfügen. 40 Prozent der Teilnehmenden haben eine ihren Qualifikationen entsprechende Arbeit in ihrem Berufssektor finden können, 20 Prozent haben Arbeit in einer anderen Branche gefunden. «Wir wollen vermitteln, dass Migranten einen Beruf haben und motiviert sind, zu arbeiten», sagt MEM-Projektleiterin Anne-Claude Gerber und ergänzt: «Die Migranten sind ein grosses Potenzial, das wir nutzen müssen.»
Zum Beispiel Léa Ferreira Grandchamp: «Ich hatte das Gefühl, alles verloren zu haben» Die Heirat mit einem Schweizer führte Léa Ferreira Grandchamp in die Schweiz. Die Brasilianerin, die in ihrer Heimat als pädagogische Koordinatorin an einer Primarschule gearbeitet und an der Universität Didaktik unterrichtet hatte, plante, ihre Karriere hier fortzusetzen. Doch bald musste sie feststellen, dass ihr Pädagogikstudium, ihr Master in interkultureller Bildung und ihre Berufserfahrung hier in der Schweiz nicht viel zählten. Frau Ferreira, wie haben Sie Ihre erste Zeit in der Schweiz erlebt? Ich kam hierher und rechnete damit, dass ich meine Karriere hier
C Was haben Sie nach Ihrer Ankunft in der Schweiz gearbeitet? Ich habe als Aufgabenhilfe gear-
lande richtigen Terminologie erarbeitet. Das ist nämlich ganz anders als in Brasilien. Dort zählt das Bewerbungsschreiben nicht so viel, man will die Kandidaten sehen. Meine Mentorin hat mir auch gezeigt, wo ich Stellenausschreibungen für Lehrkräfte finden kann. Als ich dann zum Bewerbungsgespräch eingeladen wurde, hat sie es mit mir vorbereitet und geübt. So habe ich dann meine jetzige Stelle als Lehrerin einer Integrationsklasse ergattern können. Ich unterrichte fremdsprachige Kinder zwischen dem fünften und neunten Schuljahr in Französisch.
beitet. Dann habe ich ein paar Vertretungen in einer Integrationsklasse machen können. Das hatte den Vorteil, dass ich mich etwas mit dem Schweizer Schulsystem vertraut machen konnte. Dank MEM habe ich dann aber die Vollzeitstelle gefunden, die ich heute habe. Wie sind Sie auf MEM aufmerksam geworden? Ich habe ein Plakat in einem Bus gesehen, welches auf das Projekt hinwies, und habe mich sofort eingeschrieben. Ich hatte dann auch Glück und habe eine sehr einfühlsame Mentorin erhalten, die selbst eine erfahrene Lehrerin ist.
Und Sie sind zufrieden mit Ihrer neuen Arbeit? Ja, diese Stelle hat mein Leben verändert. Vorher habe ich die Schweiz nicht gemocht. Ich habe diese Verschlossenheit der Menschen nicht verstanden. Seit ich diese Arbeit habe, hat es aber klick gemacht. Endlich bin ich auch Teil einer Gemeinschaft. In der Institution, in der ich arbeite, gibt es über 150 Lehrer und Lehrerinnen. Ich wurde dort sehr gut aufgenommen.
Wie konnte Ihnen Ihre Mentorin helfen? Wir haben zusammen an meinem Lebenslauf gearbeitet und ein Motivationsschreiben mit der hierzu-
Jede dritte Migrantin aus einem Staat ausserhalb der EU ist für die Arbeit, die sie hier verrichtet, überqualifiziert.
Foto: HEKS/Yves Leresche
Haben Sie Ihre Diplome anerkennen lassen können? Ich musste verschiedene Prüfungen machen, um die Anerkennung zu erhalten. Für Personen aus NichtEU-Staaten dauert dieser Prozess über ein Jahr. Das Ganze zog sich zudem in die Länge, da es schwierig war, die nötigen Dokumente aus Brasilien zu erhalten.
Léa Ferreira Grandchamp aus Brasilien unterrichtet heute in der Schweiz fremdsprachige Kinder in Französisch.
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würde voranbringen können. Das stellte sich aber als sehr schwierig heraus. Nach sechs Monaten musste ich einsehen, dass ich hier nicht die gleiche Arbeit machen kann wie in Brasilien. Ich musste sozusagen mein Berufsleben mit dreissig von vorne beginnen. Ich hatte das Gefühl, alles verloren zu haben.
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Chancengleichheit – Ein Gewinn für alle «Chancengleichheit zahlt sich aus» – so das Motto der zweiwöchigen, nationalen Kampagne für mehr Chancengleichheit in der Schweizer Arbeitswelt, welche HEKS am 21. Mai 2013 lanciert. Eine Feststellung und ein Aufruf, welcher sich an uns alle, insbesondere aber an die Schweizer Wirtschaft, richtet. VON CORINA BOSSHARD
it seinen Projekten in der Schweiz im Bereich
M
in der Schweizer Arbeitswelt zu gewährleisten, ist auch
der Arbeitsintegration leistet HEKS einen Bei-
Teil der gesellschaftlichen Verantwortung eines jeden
trag dazu, die Chancen sozial benachteiligter
Unternehmens, das damit zur Stabilität des Wirt-
Menschen auf Bildung und Arbeit zu verbessern. Doch
schaftsstandorts Schweiz, zum gesellschaftlichen Zu-
immer wieder hat HEKS feststellen müssen: Das allein
sammenhalt und zum sozialen Frieden beiträgt.
reicht nicht. Nicht nur die Zivilgesellschaft, auch die Po-
Die Förderung von Chancengleichheit ist aber nicht
litik und die Wirtschaft müssen ihren Teil dazu beitra-
nur eine Pflicht, sondern – und das wird oft kaum be-
gen, strukturelle Hürden abzubauen und den Weg für
tont – auch eine Chance für die Unternehmen: Eine auf
Chancengleichheit in der Schweizer Arbeitswelt zu
Chancengleichheit und Antidiskriminierung basierende
ebnen.
Unternehmenspolitik bringt klare betriebswirtschaftli-
Die HEKS-Kampagne richtet sich im Jahr 2013 ins-
che Vorteile. Positive Massnahmen zur Förderung von
besondere an die Schweizer Arbeitgeber: Anhand von
Chancengleichheit und Diversität im Unternehmen stei-
Best-Practice-Beispielen aus der Wirtschaft will HEKS
gern nachweislich die Motivation und Arbeitsleistung
Schweizer Unternehmen für die Thematik und für be-
der Mitarbeitenden, die Servicequalität und Kundenzu-
reits bestehende, die Chancengleichheit fördernde Prak-
friedenheit, das Image und die Personalbindung und
tiken und Massnahmen sensibilisieren und aufzeigen,
damit insgesamt das finanzielle Ergebnis. Um den de-
dass diese für ein Unternehmen auch profitabel sein
mografischen Wandel und den wachsenden Fachkräfte-
können. Zudem möchte HEKS mittels einer nationalen
bedarf künftig erfolgreich zu bewältigen, zahlt sich
Plakatkampagne auch eine breite Öffentlichkeit auf das
schon heute eine Unternehmenspolitik aus, welche die
Thema aufmerksam machen.
personelle Vielfalt und die Talente und Potenziale aller Mitarbeitenden fördert.
Chancengleichheit fördern – eine Pflicht, aber auch eine Chance
Vorbildliche Unternehmen teilen ihre
Dass alle Menschen die gleichen Lebenschancen haben
Erfahrungen
und nicht aufgrund ihrer Herkunft, ihres Geschlechts,
In einer nationalen Kampagne möchte HEKS daher
ihrer Religion oder ihres Alter benachteiligt werden dür-
unter dem Motto «Chancengleichheit zahlt sich aus»
fen, ist ein rechtliches Gebot, welches sich aus dem in
Unternehmen in den Fokus rücken, welche sich bereits
der Verfassung verankerten Gleichbehandlungsgebot
heute mit viel Engagement und Kreativität für mehr
und Diskriminierungsverbot ableitet. Chancengleichheit
Chancengleichheit in ihrem Betrieb einsetzen.
«handeln» 320 0213
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C Im Rahmen der Kampagne erarbeitete HEKS das
Gleichbehandlungsrichtlinien oder durch das Durchfüh-
Dossier «Chancengleichheit zahlt sich aus – Best Prac-
ren von Diversity- oder Antidiskriminierungs-Trainings
tice von Schweizer Unternehmen»: Zwölf im Bereich der
für Führungskräfte, Personalverantwortliche und Lehr-
Förderung von Chancengleichheit vorbildliche Unter-
lingsbetreuende.
nehmen aus der ganzen Schweiz werden darin porträtiert. Darunter sind Branchenriesen wie etwa die Post,
Diskussionen und Austausch ermöglichen
aber auch viele kleinere Betriebe. Verschiedene Bran-
Die vom Schweizer Arbeitgeberverband mitgetragene
chen sind vertreten, von der Baufirma über das Elek-
Publikation wird am 21. Mai 2013 an einer Pressekon-
trounternehmen bis zum Taschenproduzenten, dem
ferenz in Bern präsentiert. Ausserdem laden die HEKS-
Hotel oder der Wäscherei. Firmenchefs wie auch Ange-
Regionalstellen gemeinsam mit den regionalen Arbeits-
stellte kommen zu Wort, und die Massnahmen, die die
kammern oder Gewerbeverbänden Unternehmen ihrer
zwölf Unternehmen für mehr Chancengleichheit in
Region zu regionalen Veranstaltungen ein, an welchen
ihrem Betrieb umsetzen und weiterempfehlen, werden
die porträtierten Unternehmen ihre «best practices»
kompakt und übersichtlich dargestellt.
präsentieren. Interessierte Firmen sollen so praktische
Darunter fallen etwa Massnahmen, die einen chan-
Tipps erhalten und die Möglichkeit haben, gemeinsam
cengleichen Zugang zu den Arbeitsplätzen und Lehr-
über Erfahrungen und Herausforderungen zu diskutie-
stellen im Unternehmen gewährleisten, wie zielgrup-
ren.
penspezifische Stellenausschreibungen oder die Rekrubeitsplätze über Regionale Arbeitsvermittlungszentren (RAV) oder Hilfswerke.
>> Das Dossier «Chancengleichheit zahlt sich aus – Best Practice von Schweizer Unternehmen» und weitere
Wichtig sind auch Aktivitäten im Bereich der Perso-
Informationen zur Kampagne finden Sie ab
nalförderung, wie etwa das Anbieten von Sprachkursen
21. Mai auf unserer Homepage:
für Mitarbeitende mit mangelnden Deutschkenntnissen
www.heks.ch/chancengleichheit
oder die Unterstützung der Mitarbeitenden bei der An-
«handeln» 320 0213
erkennung ihrer ausländischen Bildungsabschlüsse.
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>> Zwei der porträtierten Unternehmen
Wichtig ist zudem die generelle Förderung einer
teilen ihre Erfahrungen und Empfehlungen
Unternehmenspolitik im Zeichen der Diversität und
für mehr Chancengleichheit in der Arbeitswelt
Nichtdiskriminierung, etwa durch klar formulierte
auf den folgenden Seiten dieses Magazins.
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tierung von Mitarbeitenden für niederschwellige Ar-
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Best Practice aus der Wirtschaft – Zwei Unternehmen stellen sich Im Rahmen der Kampagne erarbeitete HEKS das Dossier «Chancengleichheit zahlt sich aus – Best Pra Unternehmen»: Zwölf im Bereich der Förderung von Chancengleichheit vorbildliche Unternehmen aus Wir stellen zwei Betriebe und ihre Tipps vor. VON CHRISTIAN ZEIER (TEXT UND FOTOS)
Die Heizmann AG Dass Jugendliche trotz schlechten Schulnoten zu Leistungsträgern im Betrieb werden können, beweist die Heizmann AG in Aarau.
Geschäftsführerin Karin Streit-Heizmann
«Mir ist völlig egal, wo ein Mensch herkommt oder wie alt er ist», sagt Geschäftsführerin Karin StreitHeizmann. «Wenn er der Richtige für den Job ist, geben wir ihm eine Chance.» Seit 2004 hat sie die Geschäftsleitung des Aarauer Familienunternehmens inne, das sich im Bereich Schlauchtechnik und Hydraulik spezialisiert hat. Man schaut bei der Heizmann AG genau darauf, welche Fähigkeiten ein künftiger Arbeitnehmer auch wirklich benötigt. Bringt ein Kandidat diese mit und zeigt er sich engagiert, hat er gute Chancen auf eine Anstellung. Diese Erfahrung hat auch Christian Horisberger gemacht. Der heute 30-jährige Mechaniker hat nach der Kleinklasse keine Lehre begonnen, sondern für verschiedene Firmen einfache Jobs erledigt. Nach einer schlechten Phase dann, als er gerade acht Monate arbeitslos gewesen war, gab ihm die Heizmann AG eine Chance. «Es hätte mir nichts Besseres passieren können», sagt Horisberger heute. Immer mehr Aufgaben konnte er in der Werkstatt selbständig erledigen. Heute, acht Jahre nach seiner Einstellung, bereitet er sich auf die Schweisserprüfung vor. Für Karin Streit ist klar, dass die Zertifikate aus der Weiterbildung und die guten Referenzen aus der Firma ihren Angestellten trotz
fehlendem Lehrabschluss zu einem gefragten Mann auf dem Arbeitsmarkt machen. Der Betrieb hat eine zweijährige Mechanikpraktiker-Lehrstelle speziell für Anwärter mit Realschulabschluss oder darunter geschaffen. Auch für ältere Arbeitssuchende gibt es Platz bei der Heizmann AG. «Wir stellen immer wieder Leute über 50 oder gar über 55 ein», sagt Karin Streit. Diese würden zwar etwas mehr kosten, brächten aber auch mehr Erfahrung mit. Die Mitarbeitenden im Aussendienst sowie die Lehrlinge erhalten zudem einen Paten, der sie in ihre Arbeit einführt. Ist jemand überfordert, wird er zu einem Gespräch eingeladen. Zusammen versucht man dann, dem Problem auf den Grund zu gehen. So ist es auch schon vorgekommen, dass die Firma jemanden zur Schuldenberatung oder zum Arzt geschickt hat – auf Geschäftskosten. Dass sich das Engagement lohnt, davon ist Streit überzeugt. Die Fluktuation im Unternehmen sei tief und die Motivation der Mitarbeitenden hoch. «Und natürlich ist das Engagement auch nicht schlecht für das Image der Firma», fügt sie mit einem Lächeln an. Denn eines ist für sie klar: «Wir sind kein Sozialbetrieb, letztlich müssen auch wir rentieren.» Der Einsatz für sozial Schwächere aber ist für die Geschäftsführerin Pflicht eines jeden Arbeitgebers: «Unsere Gesellschaft kann nur funktionieren, wenn jeder seinen Platz findet.»
Tipps von Karin Streit-Heizmann •
Bei Selektion nur wirklich benötigte Qualifikationen beachten
•
Schnupperlehre/Praktikum vor der Anstellung
•
Patensystem für neue Mitarbeitende
•
Verantwortung an Mitarbeitende abgeben
•
Offene Türen beim Kader: Hilfe bei Problemen
•
Weiterbildung am Arbeitsplatz (wenn möglich mit Zertifikat)
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Die Wäscherei Bodensee Niederschwellige Arbeitsplätze bringen Verantwortung für den Betrieb mit sich. Die Wäscherei Bodensee nimmt diese wahr und unterstützt die Belegschaft mit Weiterbildungen, Sprachkursen und persönlichen Hilfeleistungen.
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16 Tonnen Textilien werden im thurgauischen Münsterlingen, am Ufer des Bodensees, täglich gewaschen. Seit fünf Jahren steht Marco Wäckerlig an der Spitze des Unternehmens – zusammen mit Betriebsleiterin Elisabeth Chomicz versucht er sich Tag für Tag im Spagat zwischen sozialem Engagement und Gewinnstreben. «Wir sind eines der wenigen Unternehmen, das noch niederschwellige Arbeitsplätze anbietet», sagt Wäckerlig. Das bringe eine gewisse Verantwortung mit sich. So werden die Mitarbeitenden unter anderem über die Invalidenversicherung, über Regionale Arbeitsvermittlungszentren (RAV) oder auch über HEKS rekrutiert. Mit den vermittelten Leuten klappe das oft sehr gut. Denn oft handle es sich um ausländische Arbeitskräfte, die sehr motiviert seien. Damit auch Jugendliche mit mangelnder Schulbildung in der Wäscherei eine Perspektive erhalten, setzt sich der Firmenchef für den Erhalt der Anlehre ein. «Der Verband möchte sie abschaffen und mit der Attestlehre ersetzen», erklärt er. «Doch auch diese kann für Lernende mit schlechten schulischen Leistungen eine zu hohe Hürde sein.» Von dieser Überzeugung profitierte Maide Amiti, als sie vor sieben Jahre eine Stelle suchte. Die gebür-
tige Mazedonierin hatte in der Schweiz drei Schuljahre absolviert, von der ersten Realklasse bis zur dritten, und war hoch motiviert, einen Job zu finden. «Ich durfte in vielen Unternehmen schnuppern gehen, und alle haben mein Engagement gelobt», erinnert sie sich. «Am Schluss habe ich trotzdem immer eine Absage erhalten.» Damals habe sie sich oft gefragt, ob das mit ihrem Namen oder der schlechteren Schulbildung zu tun habe – eine Ungewissheit, die heute keine Rolle mehr spielt. «Nach einer Woche schnuppern hat mir die Wäscherei Bodensee eine Chance gegeben», sagt Maide Amiti. Die junge Frau begann eine zweijährige Anlehre und rechtfertigte mit ihrem Engagement das Vertrauen, das ihr entgegengebracht wurde. Heute ist die 29Jährige Bereichsleiterin in der Spedition. In der Wäscherei Bodensee haben rund 95 Prozent der Mitarbeitenden einen Migrationshintergrund. Mehrmals im Jahr werden Schulungen organisiert, in denen die Bereichsleitenden etwa in Kommunikation oder interkulturellem Umgang weitergebildet werden. Weil im Betrieb offiziell deutsch gesprochen wird, werden zudem immer wieder Mitarbeitende für HEKS-Sprachkurse angemeldet. Über die Vorteile einer solch multikulturellen Arbeiterschaft hat sich Betriebsleiterin Chomicz kaum Gedanken gemacht. «Es funktioniert halt einfach, die Leute sind motiviert», sagt sie. «Durch die starke Durchmischung ist eine neue Homogenität entstanden.» >> Weitere Unternehmensporträts finden Sie ab 21. Mai auf unserer Homepage: www.heks.ch/chancengleichheit
Tipps von Marco Wäckerlig •
Rekrutierung über Kleinklassen, RAV, IV, Hilfswerke
•
Chance geben mit Schnuppern, Praktikum
•
Anlehre anbieten
•
Potenziale erkennen und fördern
•
Bezahlte Sprachkurse anbieten
•
Weiterbildung in Kommunikation oder interkulturellen Kompetenzen
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ctice von Schweizer der ganzen Schweiz werden darin porträtiert.
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Geschäftsführer Marco Wäckerlig und Betriebsleiterin Elisabeth Chomicz
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Wir fragen das das Bundesamt für Migration Michèle Laubscher ist Fachreferentin im Bundesamt für Migration (BFM) in der Abteilung Integration, welche die Integrationsmassnahmen von Bund, Kantonen und Gemeinden koordiniert.
Frau Laubscher, von Ihrer Warte aus gesehen: Gibt es Diskriminierung auf dem Schweizer Arbeitsmarkt? Ganz bestimmt. Nur geschieht diese Diskriminierung meist nicht vorsätzlich, sondern unbewusst. Wer ist besonders betroffen? Sicher einmal AusländerInnen, aber auch Behinderte oder etwa – obwohl die Situation der Frauen besser ist als noch vor zwanzig Jahren – alleinerziehende Mütter. Was tut das BFM für mehr Chancengleichheit auf dem Arbeitsmarkt? Natürlich sind wir als Bundesstelle selbst angehalten, die Chancengerechtigkeit zu fördern. Was
unsere Arbeit betrifft: Wir befassen uns mit der Integration von AusländerInnen in die Gesellschaft. Da geht es um Themen wie Sprache, Bildung oder eben Arbeit. Für Menschen mit Migrationshintergrund, die hier leben, können die Hürden auf dem Arbeitsmarkt hoch sein. Diese Hürden kann der Staat nicht allein abbauen. Deshalb haben Bund, Kantone, Städte und Gemeinden im Herbst 2012 einen Dialog mit der Wirtschaft gestartet (www.dialog-integration.ch).
bessere Rahmenbedingungen für die Weiterbildung von niedrig qualifizierten Arbeitskräften, unabhängig von ihrer Herkunft, damit sie auch während einer Wirtschaftskrise im Arbeitsmarkt bleiben oder sich danach schnell wieder eingliedern können. So würden nicht nur die Sozialwerke entlastet, sondern man würde auch etwas gegen den Fachkräftemangel tun. Das Potenzial der Menschen, die hier leben, sollte besser genutzt werden.
Warum sollte sich die Wirtschaft für Chancengleichheit einsetzen? Die Schweizer Wirtschaft ist auf Arbeitskräfte aus dem Ausland angewiesen. Deshalb sollen die Arbeitgeber auch ihren Teil zu deren Integration beitragen. Es reicht nicht, jemandem einen Arbeitsplatz anzubieten, und dann geht die Integration von allein. Das haben wir aus der Vergangenheit gelernt.
HEKS ist überzeugt: Chancengleichheit zahlt sich für Unternehmen aus. Würden Sie das unterschreiben? Auf jeden Fall. Wenn ich in einem Betrieb respektiert und gleich gefördert werde wie alle anderen, arbeite ich doch motivierter, als wenn ich merke, dass ich nie zum Zug komme, obwohl ich gute Arbeit leiste. Ein chancengerechtes Betriebsklima wirkt sich positiv auf die Stimmung im Betrieb aus, was oft auch nach aussen spürbar und eng mit der Kundenzufriedenheit verknüpft ist.
Reichen freiwillige Massnahmen oder sollte die Wirtschaft gesetzlich zu Integrationsmassnahmen verpflichtet werden? Der Entwurf für die Revision des Ausländergesetzes, die dieses Jahr von National- und Ständerat behandelt wird, enthält Vorschläge. So sollen zum Beispiel Arbeitgeber ihre ausländischen Angestellten über Integrationsangebote wie Sprachkurse informieren. Weil sie es sind, die diese Menschen am besten erreichen können – sie haben täglich mit ihnen zu tun. Wünschenswert wären zudem
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DIE FRAGEN STELLTE CORINA BOSSHARD
Foto: HEKS/Walter Imhof
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Wir fragen den Schweizerischen Arbeitgeberverband
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Foto: Keystone Press
DIE FRAGEN STELLTE CORINA BOSSHARD
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Herr Daum, was tut der Schweizerische Arbeitgeberverband für mehr Chancengleichheit auf dem Arbeitsmarkt? Oberstes Ziel des SAV ist die Erhaltung eines gut funktionierenden, flexiblen Arbeitsmarkts sowie die weitere Steigerung der Erwerbsbeteiligung und eine möglichst tiefe Arbeitslosigkeit. Damit wird die Standortattraktivität gefördert und die Wettbewerbsfähigkeit für Unternehmungen gesteigert, was wiederum die Grundlage für Wohlstand und soziale Sicherheit ist. Das sind wichtige Voraussetzungen, um den allgemeinen Zugang zu Bildung und Arbeit zu verbessern und die Umsetzung der Chancengleichheit zu fördern.
Warum lohnt es sich für die Wirtschaft, für mehr Chancengleichheit im Arbeitsmarkt einzustehen? Eine breitere und bessere Integration in den Arbeitsmarkt ist nur möglich, wenn die verschiedenen Arbeitnehmerkategorien «gleicher» werden. Das wiederum setzt voraus, dass der Zugang zu Bildung und Arbeit gefördert wird. Damit wird das Arbeitskräfteangebot sowohl quantitativ als auch qualitativ verbessert, was direkt den Arbeitgebern zugutekommt. Eine auf Chancengleichheit ausgerichtete Unternehmenspolitik ist somit betriebswirtschaftlich interessant. Gleichzeitig ist sie gesellschaftlich erwünscht, weil die Teilnahme am Arbeitsprozess integrativ wirkt und soziale Sicherheit gewährleistet. Reichen freiwillige Massnahmen oder braucht es neue gesetzliche Rahmenbedingungen? Der SAV setzt nach dem Grundsatz «nur so viel Regulierung wie nötig» auf unternehmerische Eigenverantwortung und auf Freiwilligkeit. Damit soll jedoch nicht der Willkür, dem Eigennutz und der Masslosigkeit das Wort geredet werden. Es gibt unbestreitbarerweise immer wieder Fehlverhalten seitens der Arbeitgeber und Fälle, die als klare Missbräuche erscheinen. Es ist richtig, diese zu identifizieren und – wenn nötig auch öffentlich – zu kritisieren. Doch darf nicht jedes schlechte Beispiel dazu führen, gleich eine Regulierung vorzunehmen und so den Dschungel gesetzlicher Rahmenbedingungen weiteraufzuforsten. Vielmehr müssen auch die guten Beispiele öffentlich gemacht werden, ist über Best-PracticeFälle zu informieren, so dass eine
umfassende Sensibilisierung für die Thematik stattfindet. Welche konkreten Massnahmen empfiehlt denn der SAV? Zunächst muss das Thema überhaupt aufgegriffen und die Bereitschaft geschaffen werden, über Aspekte und Bedeutung der Chancengleichheit auf dem Arbeitsmarkt zu diskutieren. Dann sind konkrete Massnahmen zur Verbesserung der Chancengleichheit zu treffen. Hier ist vor allem an personalpolitische Diversity-Ansätze der Unternehmen und Laufbahnplanungen sowie an eine auf die Verschiedenartigkeit der Menschen ausgerichtete Beschäftigungsund (Sozial-)Versicherungspolitik zu denken. Im Vordergrund stehen dabei immer Massnahmen und Anreizsysteme, welche das eigenverantwortliche Verhalten der Arbeitgeber fördern. Welche konkreten Anliegen oder Wünsche haben Sie an Hilfswerke wie HEKS? Auch wenn die Beweggründe zur Förderung der Chancengleichheit nicht für alle Akteure dieselben sind und die Situation sowie die geeigneten Massnahmen zum Teil unterschiedlich beurteilt werden, bleibt doch das gemeinsame Ziel: die bestmögliche Integration unterschiedlichster Arbeitnehmerkategorien in den Arbeitsmarkt. Um dieses Ziel zu erreichen, ist eine offene, unvoreingenommene Zusammenarbeit auch zwischen Hilfswerken und Arbeitgeberschaft angezeigt. HEKS geht diesbezüglich mit gutem Beispiel voran und hat das Thema in einem konstruktiven Diskurs aufgenommen.
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Thomas Daum ist Direktor des Schweizerischen Arbeitgeberverbandes (SAV). Der SAV ist der Dachverband der schweizerischen Arbeitgeberverbände und vertritt rund 100 000 Unternehmungen in der Schweiz.
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Flüchtlingssonntag, 16. Juni 2013 «Ich habe eine Chance bekommen» Die Kampagne zum nationalen Flüchtlingstag und zum Flüchtlingssonntag will aufzeigen, was Wirtschaft und Gesellschaft gewinnen, wenn Flüchtlinge bei uns nicht nur Schutz, sondern auch Arbeit finden. HEKS engagiert sich seit vielen Jahren für die Anliegen der Flüchtlinge, sei es mit seinen Projekten im Bereich der sozialen Integration oder den Rechtsberatungsstellen für Asylsuchende. Auch Bassirahmad Rezahi hat nach seinem Einsatz bei HEKS TG Job Arbeit gefunden. VON BETTINA FILACANAVO (TEXT) UND WALTER IMHOF (FOTOS)
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s ist der 6. Oktober 2008: Der 22-jährige Bassirahmad Rezahi, seine Eltern, seine Frau und die 2-jährige Tochter betreten nach einer viermonatigen Odyssee Schweizer Boden und bitten völlig erschöpft um Asyl. Während ihrer Reise vom Iran über die Türkei und Griechenland hat die Familie zusammen mit anderen Flüchtlingen grosse Strecken zu Fuss zurückgelegt, teilweise waren sie mit einem Auto unterwegs oder mit Lastwagen und einmal zu Wasser in einem überfüllten kleinen Gummiboot mit Motor. Sie wussten nie, was am nächsten Tag passieren würde. Vier Wochen haben sie kein Tageslicht gesehen. Sie durften sich auf Befehl der Schlepper nur in der Nacht bewegen, bei Tagesanbruch mussten sie sich in geheimen Unterkünften im Wald oder im Unterholz verstecken. «Man hat uns immer wieder gesagt, wir müssten leise sein, und wir durften keinen Lärm machen. Aber das Baby hat viel geweint», erzählt der junge Mann, der in seinem weissen Arbeitskittel in der Kantine seines Arbeitgebers in Amriswil sitzt und sich erinnert. Der Entschluss Heute wohnt Bassirahmad Rezahi mit seiner Frau Fereschte (27) und seinen beiden Töchtern Neda (7 Jahre) und Negar (3 Jahre) im Kanton Thurgau. Geboren wurde er in Afghanistan. Als er sieben Jahre alt war, flüchteten seine Eltern mit ihm und seiner Schwester vor dem Krieg über die Grenze in den Iran. «Dort war das Leben sehr schwierig, weil Afghanen
im Iran keine Rechte haben», erklärt er. «Nur wer Geld hatte, konnte sich gewisse Dinge erkaufen.» Bassirahmad Rezahi wuchs im Iran in der Illegalität auf und konnte nur drei Jahre die Schule besuchen, weil eine gute Schulbildung afghanischen Kindern dort verwehrt ist. Während dieser Zeit erlernte er vom Vater das Schneiderhandwerk, das bereits sein Grossvater ausgeübt hatte. Als Bassirahmad Rezahi heiratete und seine erste Tochter auf die Welt kam, fand er keinen Job. Und wenn er mal als Tagelöhner arbeitete, musste er sich oft auf Befehl des Arbeitgebers vor der Polizei verstecken, die Razzien durchführte. «Ich wusste nicht, ob ich am Abend lebend nach Hause komme.» Aber ohne Arbeit konnte er seine Familie nicht ernähAm Vormittag liefert Bassirahmad Rezahi mit dem Lastwagen die Fische an die Kunden aus, am Mittag geht er nach Hause und isst mit seiner Familie. Am Nachmittag ist er in der Produktion tätig. Ein Handwerk, das er gelernt hat, ist zum Beispiel das Filetieren von Fischen.
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Firma Copro nicht nur in der Produktion, sondern auch als Chauffeur tätig ist und Kunden beliefert. Er arbeitet hundert Prozent und besucht zusätzlich die Abendschule, um noch besser Deutsch zu lernen. Der Wille ist da Die Stelle bei Copro ist für Bassirahmad Rezahi ein wichtiger Schritt: «Ich habe eine Chance bekommen, selber für mich und meine Familie zu sorgen.» Trotzdem reichen die 3000 Franken im Monat, die ihm von seinem Lohn noch bleiben, nicht ganz aus, um unabhängig von der Gemeinde zu leben. Diese bezahlt die kleine, von Fereschte mit viel Liebe eingerichtete Wohnung der Familie. Aber die wirtschaftliche Unabhängigkeit ist Voraussetzung für eine Aufenthaltsbewilligung – neben den fünf Jahren, die sich die Familie bereits in der Schweiz aufhält. Sein grösster Wunsch ist es, mehr zu verdienen, ohne finanzielle Unterstützung leben zu können, eine Aufenthaltsbewilligung zu bekommen und hier für sich und seine Familie ein neues und ruhiges Leben aufzubauen. Der Wille ist da, die Umsetzung wird aber noch viel Kraft kosten.
Kampagne
Ein erster Schritt Seit fünf Jahren lebt er mit seiner Familie in der Schweiz. Sie sind vorläufig aufgenommene Flüchtlinge. Während die Familie im Asylzentrum lebte, ging er häufig mit in den Wald, um dort Freiwilligenarbeit zu leisten. Eine Beschäftigung, die besser gewesen sei, als den ganzen Tag rumzusitzen und zu grübeln. Dann konnte er beim Arbeitsintegrationsprogramm HEKS TG Job in Amriswil einsteigen und dort Arbeiten im Nähatelier übernehmen. Über HEKS TG Job hat er nun in der Firma Copro Comestible Produktions AG in Amriswil seine erste Stelle gefunden. Die Firma ist spezalisiert auf die Verarbeitung, Verpackung und den Transport von Frisch-, Tiefkühl- und Räucherfisch. Bassirahmad Rezahi ist ehrgeizig. Obwohl er unser Alphabet nicht kannte und kein Deutsch sprach, hat er in kurzer Zeit lesen und schreiben gelernt, hat die theoretische Fahrprüfung auf Anhieb bestanden und auch die praktische Prüfung abgelegt. So kommt es, dass er heute bei der
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ren. Zurück nach Afghanistan konnte er auch nicht. Da seine Situation aussichtslos war und es mit jedem Tag schlimmer wurde, entschied er, den Iran zu verlassen.
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ANWALTS CHAFT FÜR SO ZIAL BENA CHTEILIGTE
Dringliche Änderungen des Asylgesetzes: Viele offene Fragen und ein grosser Verlust
Neuer Artikel 26 Absatz 1bis des Asylgesetzes: «Das Bundesamt kann Asylsuchende, die die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährden oder die durch ihr Verhalten den ordentlichen Betrieb der Empfangsstellen erheblich stören, in besonderen Zentren unterbringen, die durch das Bundesamt oder durch kantonale Behörden errichtet und geführt wer-
Am 9. Juni 2013 werden wir über eine Änderung des Asylgesetzes abstimmen, die vom Parlament am 29. September 2012 bereits in Kraft gesetzt wurde. Einige der neuen Bestimmungen werfen mehr Fragen auf, als sie Antworten geben, und eine Änderung erschüttert die Glaubwürdigkeit des Schweizer Asylsystems: der Wegfall der Möglichkeit, bei einer Schweizer Botschaft im Ausland ein Asylgesuch einzureichen.
den. In diesen Zentren können unter den gleichen Voraussetzungen Asylsuchende untergebracht werden, die einem Kanton zugewiesen wurden. Bund und Kantone beteiligen sich im Umfang der Nutzung anteilsmässig an den Kosten der Zentren.»
VON THOMAS SEGESSENMANN
Viele offene Fragen … … beim Flüchtlingsbegriff … Neu sollen Wehrdienstverweigerer und Deserteure in der Schweiz kein Asyl mehr erhalten. Das haben sie auch schon unter bisherigem Recht nicht. Voraussetzung für die Anerkennung als Flüchtling war stets, dass die Verfolgung auf asylrelevanten Grün-
den beruhte wie etwa der Rasse, Religion oder der politischen Überzeugung. Wie sich aus dem Verweis im Gesetz auf die Flüchtlingskonvention ergibt, soll dies auch in Zukunft so bleiben. Es drängt sich daher die Frage auf, was die Regelung bezweckt. Die Asylsuchenden, die mit der neuen Klausel abgeschreckt werden sollen, werden jedenfalls kaum je etwas davon erfahren.
Neuer Artikel 3 Absatz 3 des Asylgesetzes: «Keine Flüchtlinge sind Personen, die wegen Wehrdienstverweigerung oder Desertion ernsthaften Nachteilen ausgesetzt sind oder begründete Furcht haben, solchen Nachteilen ausgesetzt zu werden. Vorbehalten bleibt die Einhaltung des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge.»
… bei der Unterbringung von Asylsuchenden … Dass die Sicherheit und Ordnung in und um Asylzentren gewährleistet sein muss, darüber sind sich alle einig. Ebenso steht ausser Frage, dass es Personen gibt, die durch ihr unkooperatives Verhalten den Betrieb einer Asylunterkunft empfindlich stören können. Mit der Schaffung der neuen Personenkategorie «Renitente» wird jedoch eine ganze Lawine ungeklärter Fragen losgetreten: Was ist eine erhebliche Störung? Gibt
es ein Rechtsmittel gegen die Zuweisung? Wie lange dauert der Aufenthalt? Liegt ein Freiheitsentzug vor? Wie wird die Sicherheit in und um solche Zentren gewährleistet? Es besteht die Gefahr, dass hier aus innenpolitischem Kalkül ein neues System geschaffen wird, das mehr Probleme schafft, als es löst. Bereits heute können Personen, die den Betrieb einer Unterkunft stören, für 24 Stunden ausgeschlossen werden. Daneben stehen die Mittel des Strafrechts zur Verfügung. Ein «Sonderstrafrecht» für Asylsuchende braucht es aus Sicht von HEKS nicht.
Neuer Artikel 19 Absatz 1bis des Asylgesetzes: «Ein Gesuch kann nur einreichen, wer sich an der Schweizer Grenze oder auf dem Gebiet der Schweiz befindet.»
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Foto: Keystone/AP Arturo Rodriguez
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Fischerboot mit rund 90 Flüchtlingen an Bord vor der Küste der Kanarischen Insel Teneriffa. Laut UNHCR sind 2011 mehr als 1500 Menschen auf ihrer Flucht nach Europa im Mittelmeer ertrunken.
… und ein grosser Verlust Die Schweiz war bis im vergangenen Herbst das einzige Land in Europa, das noch die Möglichkeit kannte, ein Asylgesuch auf einer Botschaft im Ausland einzureichen. Regelmässig konnten auf diese Weise tatsächlich verfolgte Personen Schutz in der Schweiz finden. Nun wurde auch diese letzte offizielle Türe zugeschlagen, die es Menschen erlaubte, in einem europäischen Land Asyl zu erhalten, ohne sich dazu in die Illegalität begeben zu müssen. Asylsuchende haben neu keine andere Wahl mehr, als die gefährliche Reise auf überfüllten Flüchtlingsbooten, in stickigen Lastwagencontainern oder zu Fuss über die grüne Grenze zu bewältigen. Hochkonjunktur für Menschenschlepper und ein bedauernswerter Verlust für die humanitäre Schweiz. Der Bundesrat macht geltend, dass unmittelbar gefährdeten Personen, die sich bei einer Schweizer Bot-
schaft melden, weiterhin die Einreise in die Schweiz erlaubt werden könne. Eine solche Möglichkeit ist im europäischen Visumsrecht, das auch für die Schweiz gilt, schon seit langem vorgesehen. HEKS ist jedoch nicht bekannt, dass die Schweiz von dieser theoretischen Möglichkeit bisher je Gebrauch gemacht hätte. Mit der Abschaffung des Botschaftsverfahrens verabschiedet sich die Schweiz von einem einzigartigen Institut, das dem Schutz der Menschenrechte in der Vergangenheit grosse Dienste erwiesen hat. Verfolgte Menschen konnten in der Schweiz Schutz finden, ohne heimlich über den europäischen Grenzzaun klettern und dabei ihr Leben riskieren zu müssen. Die Möglichkeit, auf einer Schweizer Botschaft ein Asylgesuch einzureichen, sollte daher auch in Zukunft weiter bzw. wieder möglich sein.
Die Geschichte von Herrn Yonas aus Eritrea Herr Yonas* stammt aus Eritrea und wurde im Jahr 2008 als erst 17-Jähriger ins Militär eingezogen. Nach acht Monaten floh er aus dem Militärdienst. Das eritreische Militärregime betrachtet Desertion als regierungsfeindliches, also politisch oppositionelles Verhalten. Deserteure laufen deswegen akute Gefahr, auf willkürliche und grausame Weise bestraft zu werden. Herrn Yonas glückte die Flucht über den Sudan bis nach Libyen. Dort lebte er unter prekären Verhältnissen. Dreimal versuchte er vergeblich, mithilfe von Schleppern übers Mittelmeer nach Europa zu gelangen. Herr Yonas: «Ich habe dreimal versucht, auf dem Seeweg von Libyen übers Mittelmeer zu kommen. Das erste Mal wurden alle, die sich für
Foto: Keystone/EPA Gabriel Tizon
ANWALTS CHAFT FÜR SO ZIAL BENA CHTEILIGTE
Ein afrikanischer Bootsflüchtling auf Gran Canaria, der mit 15 anderen die Überquerung des Mittelmeers in einem kleinen Boot überlebte.
lichkeit, auf einer Schweizer Botschaft ein Asylgesuch zu stellen. Dies führt dazu, dass sich
Der Bruder wandte sich daraufhin an die HEKS Rechtsberatungsstelle für Asylsuchende St. Gallen / Appenzell. Nachdem die Rechtsberatungsstelle den Fall geprüft hatte, unterstützte sie Herrn Yonas dabei, bei den Schweizer Behörden ein Asylgesuch einzureichen. Dies war Ende November 2010. Schon drei Wochen später bewilligte das Bundesamt für Migration die Einreise in die Schweiz. Im Rahmen des Asylverfahrens in der Schweiz wurde Herr Yonas eingehend befragt und anschliessend als Flüchtling anerkannt. Noch heute kann Herr Yonas sein Glück kaum fassen, in der Schweiz endlich Schutz gefunden zu haben. Was wäre wohl mit ihm geschehen, wenn er diese Möglichkeit nicht gehabt hätte?
Asylsuchende in die Hände von Schleppern begeben müssen, um in der Schweiz Schutz
*Name von der Redaktion geändert
die Überfahrt gemeldet hatten, in einem Lager zusammengepfercht. Die Schlepper haben uns das Geld abgenommen, dann aber gesagt, das Schiff fahre nicht. Sie haben uns weggeschickt. Das zweite Mal waren wir während vier Wochen in einem Lager eingesperrt. Dann fuhren wir tatsächlich los. Wir waren 37 Leute an Bord. Es war ein kleines Plastikboot, das mit Luft gefüllt war. Wir gerieten in ein Unwetter. Der Schlepper rief zum Glück die Polizei um Hilfe. Wir wurden dann mit einem grossen Schiff gerettet. Das dritte Mal ging der
Schiffsmotor nach etwa siebzig Kilometern kaputt. Wir waren über 300 Leute auf dem Schiff. Fischer haben uns nach sechs Tagen entdeckt und unser Schiff mit Leinen nach Tripolis zurückgebracht. Auf dem Schiff sind mehrere Leute gestorben, vor allem Kinder. Ich habe Meerwasser getrunken.» Wieder an Land, wurde Herr Yonas verhaftet und für sechs Monate eingesperrt. Über seinen in der Schweiz lebenden Bruder erfuhr Herr Yonas von der Möglichkeit, aus dem Ausland ein Asylgesuch in der Schweiz zu stellen.
Volksabstimmung vom 9. Juni 2013: NEIN zur Asylgesetzrevision! HEKS kritisiert insbesondere die durch das Parlament beschlossene Abschaffung der Mög-
finden zu können. Bedenken hat HEKS auch in Bezug auf die Verwässerung des Flüchtlingsbegriffs und die speziellen Zentren für renitente Asylsuchende. Darum: Stimmen Sie NEIN am 9. Juni.
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«Keine Hausarbeiterin ist illegal»
HEKS-Regionalstelle Ostschweiz – seit 30 Jahren unterwegs
Über 30 Organisationen haben sich in einem Verein zusammengeschlossen und am 13. März 2013 die gesamtschweizerische Kampagne «Keine Hausarbeiterin ist illegal» gestartet. Diese macht auf die Situation von Hausarbeiterinnen ohne Aufenthaltsbewilligung aufmerksam und hat zum Ziel, deren Arbeits- und Lebensbedingungen zu verbessern. VON NINA GILGEN
In über 100 000 Privathaushalten kümmern sich Sans-Papiers um die Haus- und Betreuungsarbeiten. Im Kanton Zürich ist dies schätzungsweise in jedem 17. Privathaushalt der Fall. Die mehr als 40 000 hauptsächlich weiblichen Hausarbeiterinnen ohne Aufenthaltsbewilligung putzen, bügeln, kochen, betreuen Kinder sowie ältere oder kranke Menschen. Die Nachfrage in diesem Arbeitssektor ist stark steigend. Die wachsende Zahl von Einelternfamilien, von Alleinstehenden und von älteren Menschen sowie die Berufstätigkeit beider Elternteile haben neue Bedürfnisse geschaffen, die durch die bestehenden privaten und öffentlichen Angebote nicht gedeckt werden können.
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Prekäre Arbeitsbedingungen Die Arbeitsbedingungen in dieser Schattenwirtschaft sind oft prekär. Das Risiko von Unfall, Krankheit oder Lohnausfall tragen die Sans-Papiers selber, und vom Zugang zu sozialer Sicherung sind sie weitgehend ausgeschlossen. Lediglich in der Westschweiz gibt es dank privaten und kommunalen Projekten vermehrt Arbeitgebende, welche Sans-Papiers bei den obligatorischen Sozialversicherungen anmelden. Zum Auftakt der Kampagne wurde eine Petition lanciert, die mehr Rechte für Hausarbeiterinnen ohne Aufenthaltsbewilligung vom Bundesrat fordert. Die Forderung nach garantiertem Zugang zu sozialem Schutz und zu Arbeitsgerichten, ohne Gefahr, ausgeschafft zu werden, sind ganz im Sinne von HEKS. Was die Regularisierung des Aufenthaltes betrifft, teilt HEKS die Forderung der Petition nicht. Während im Petitionstext eine generelle Regularisierung aller illegal in der
Schweiz Arbeitenden verlangt wird, möchte HEKS die Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung an die Voraussetzung einer Aufenthaltsdauer von 5 Jahren knüpfen. Wie sich HEKS engagiert HEKS setzt sich aufgrund seines anwaltschaftlichen Engagements seit längerem für Sans-Papiers ein, sowohl auf operationeller Ebene mit Projekten im Bereich der Gesundheitsförderung als auch mit regionalen Rechtsberatungs- und Anlaufstellen. Eines der ersten Angebote, welches die soziale Absicherung für ArbeitnehmerInnen in Privathaushalten – auch für Sans-Papiers – zum Ziel hatte, wurde von unserem Secrétariat romand ins Leben gerufen. Über Chèques-emploi können Arbeitgebende ihre Angestellten bei den Sozialversicherungen anmelden und ihnen so den Zugang zu sozialen Leistungen ermöglichen. HEKS-Projekte: SPAGAT – Sans-Papiers-Anlaufstelle für gesundheitliche und soziale Fragen AG/SO Permanences volantes – Fliegende Gesundheitsberatung GE Chèques-emploi – Soziale Absicherung in Privathaushalten im Kt. Waadt Kontaktstelle für Zwangsmassnahmenbetroffene BS
Weitere Informationen zu den HEKS-Projekten: www.heks.ch/handeln
Der Weg der Regionalstelle Ostschweiz begann im April 1983 mit der Eröffnung der Regionalstelle Romanshorn im Thurgau, welche drei Jahre später nach St.Gallen umzog. Die wichtigste Aufgabe in dieser Zeit war die Betreuung und Integration von anerkannten Flüchtlingen. Zu dieser Arbeit gehörte auch die Führung von Rechtsberatungsstellen in Weinfelden und St.Gallen, die auch von anderen Hilfswerken und den Landeskirchen mitgetragen wurden. Im Jahr 1997 startete das Arbeitsintegrationsprojekt HEKS TG job, und im Jahr 2000 das Sprach- und Integrationsprojekt HEKS in-fra. 2003 zog die Regionalstelle Ostschweiz wieder in den Kanton Thurgau, nach Amriswil. Heute besteht die Regionalstelle aus 8 Projekten und Dienstleistungen, beschäftigt 20 Festangestellte, ca. 50 Mitarbeitende im Stundenlohn, Praktikantinnen, Zivildienstleistende und viele Freiwillige an 15 Standorten in den Kantonen Thurgau und St.Gallen. Weitere Informationen zur HEKS-Regionalstelle Ostschweiz und zu den Veranstaltungen im Jubiläumsjahr finden Sie auf unserer Homepage: www.heks.ch/handeln
NAHE BEI DEN MENS C HEN
10 Fragen an einen Sans-Papier 6
Was macht Sie glücklich? Meine Familie macht mich glücklich. Auch Vater zu sein, macht mich glücklich. Und natürlich die Tatsache, dass meine Partnerin und ich hoffentlich bald heiraten werden.
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Der Mann ist 32 Jahre alt, kommt aus Afrika, ist seit vier Jahren in der Schweiz und Vater zweier Kinder. Er hat keine Papiere. Er lebt in einer Beziehung mit einer Schweizerin. Das Paar hat ein gemeinsames Kind. Er wird seit 2011 vom HEKS-Projekt Spagat begleitet. «Spagat» unterstützte ihn im Verfahren betreffend Kindesanerkennung und begleitet ihn und seine Partnerin aktuell im Verfahren zur Vorbereitung der Heirat vor dem zuständigen Zivilstandsamt und vor dem zuständigen Migrationsamt.
1 Was machen Sie heute beruflich? Seit der Geburt meines Kindes bin ich Hausmann. Während meine Partnerin arbeitet, kümmere ich mich um unser Kind, mache den Haushalt, erledige Einkäufe und koche. Ich gehe oft mit unserem Kind nach draussen, um zu spazieren und zu spielen, oder wir gehen ins Babyschwimmen. 2
Was beschäftigt Sie im Moment am meisten? Zurzeit denke ich viel über meine Familie und unsere Zukunft nach. Auch über meine Verantwortung als Vater und wie ich dieser Verantwortung gerecht werden kann, mache ich mir viel Gedanken.
3 Wie sind Sie mit HEKS in Kontakt gekommen? Vom HEKS-Projekt Spagat haben wir durch eine Internetrecherche erfahren, danach hat meine
Partnerin in einem ersten Schritt mit der Anlaufstelle Spagat Kontakt aufgenommen. Als wir Vertrauen gefasst haben, sind wir gemeinsam zu den Beratungsgesprächen gegangen.
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Wie wohnen Sie? Wir leben zu dritt in einer Wohnung in einem Dorf, welches nicht weit von der Stadt entfernt ist. Das Haus ist von einem Garten umgeben. Schön ist auch, dass sich der Wald in unmittelbarer Nähe befindet, so dass ich regelmässig mit meinem Kind in den Wald gehen kann.
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Was haben Sie gestern gegessen? Gestern haben wir selbstgemachte Pizza gegessen. Oft koche ich für meine Familie aber auch afrikanisch. Das afrikanische Essen ist allerdings manchmal ein bisschen zu scharf gewürzt für mein Kind und meine Partnerin.
Was macht Ihnen Angst? Als mein Kind hier in der Schweiz als Frühgeburt auf die Welt gekommen ist, war ich sehr besorgt, ob es genug stark ist. Es war eine sehr belastende Zeit für uns. Auch heute beschäftigt es mich, ob sich das Kind gut entwickeln wird.
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Was bringt Sie zum Lachen? Vieles bringt mich zum Lachen. Ich bin trotz meiner schwierigen Lage als Sans-Papier in der Schweiz grundsätzlich ein fröhlicher Mensch. Diese Eigenschaft hilft mir, schwierige Situationen zu überstehen.
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Ein schöner Moment, an den Sie sich erinnern? Es gibt viele schöne Momente, an welche ich mich gerne erinnere. Ein speziell schöner Moment war, als ich als 9-Jähriger zum ersten Mal meine Schwester gesehen habe, welche ich bis dahin nur von Erzählungen her kannte. Auch die Geburt meiner beiden Kinder habe ich in schöner Erinnerung und das erste Treffen mit meiner Partnerin.
10 Was ist Ihr grösster Wunsch? Ich möchte mit meiner Partnerin und meinem Kind nach Afrika reisen, damit sie meine Familie kennenlernen und etwas über meine Herkunft und die Kultur und Tradition meines Heimatlandes erfahren können. Zudem möchte ich für meine Familie in der Schweiz ein Leben aufbauen und arbeiten.
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Foto: HEKS/Ruedi Lüscher
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