HEKS-Magazin handeln, Nr. 324, Mai 2014

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handeln›››››› DAS MAGAZIN DES HILFSWERKS DER EVANGELISCHEN KIRCHEN SCHWEIZ | Nr. 324

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Welchen Job man macht, liegt auch an den Chancen, die man erh채lt. www.gleiche-chancen.ch


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DAS MAGAZIN DES HILFSWERKS DER EVANGELISCHEN KIRCHEN SCHWEIZ | Nr. 324

2 / Mai 2014


IN H A LT

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Editorial

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Schwerpunkt in diesem Heft: HEKS-Kampagne «Chancengleichheit zahlt sich aus»

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Einleitung ins Kampagnenthema

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Zurück in den Arbeitsmarkt – zwei Porträts

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10 goldene Tipps für Unternehmen

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Stimmen aus der Praxis

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Flüchtlingssonntag: Luz Marina Cantillon Romero aus Kolumbien möchte arbeiten

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Philippinen: 1700 Häuser für die Taifunopfer

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Friedensprojekte im Südkaukasus

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Landkampf: Erfolg für HEKS und seine Partner in Indien

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Transparent – warum das Projekt «schritt:weise» beendet wird

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Haiti: Vier Jahre nach dem Erdbeben – HEKS zieht Bilanz

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Patenschaft für Kleinbauernfamilien

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Moldawien: Den Lebensabend in Würde verbringen

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10 Fragen an Lhakpa Kyang aus Tibet

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Der Zeitzeuge

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Vorschau Benefizkonzert

IMPRESSUM Nr. 324, 2/Mai 2014 handeln. Das Magazin des Hilfswerks der Evangelischen Kirchen Schweiz. Erscheint 4-mal jährlich. Auflage 52 000 Redaktionsleitung: Susanne Stahel Redaktion: Bettina Filacanavo, Corina Bosshard Fotoredaktion: Ruedi Lüscher Korrektorat: www.korr.ch Gestaltung: Herzog Design, Zürich Druck: Kyburz AG, Dielsdorf Papier: LEIPA ultraLux silk /Recycled /FSC Material Abonnement: Fr. 10.–/Jahr, wird jährlich einmal von Ihrer Spende abgezogen Adresse: HEKS, Seminarstrasse 28, Postfach, 8042 Zürich, Telefon 044 360 88 00, Fax 044 360 88 01, E-Mail info@heks.ch, Internet www.heks.ch bzw. www.eper.ch HEKS-Spendenkonto: Hilfswerk der Evangelischen Kirchen Schweiz, PC 80-1115-1

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EDI T OR IAL

Liebe Leserin, lieber Leser Wie jedes Jahr wird auch im kommenden Juni anlässlich der nationalen Flüchtlingstage das Schicksal von Flüchtlingen in Erinnerung gerufen und an unsere humanitäre Pflicht, ihnen beizustehen, erinnert. Gemeinsam mit Flüchtlingen werden in über 200 Städten und Gemeinden in der Schweiz Anlässe wie Begegnungstage, Podiumsgespräche, Gottesdienste, Kaffeestuben, Picknicks, Filmnächte, Lesungen, Marktstände oder Open-Air-Konzerte organisiert. Tausende von Menschen beteiligen sich jedes Jahr an diesen Aktivitäten und legen damit eindrücklich Zeugnis ab von ihrer Solidarität mit Menschen auf der Flucht. Das stimmt mich hoffnungsvoll und zuversichtlich. Fast überall, wo eine Unterkunft für Asylsuchende geplant wird, regt sich in unserem Lande aber auch Widerstand. Manchmal moderat, manchmal ausserordentlich heftig. Menschen, die bei uns Schutz suchen, werden dann rasch einmal pauschal als Wirtschaftsflüchtlinge, Kriminaltouristen oder Wohlstandsschmarotzer abqualifiziert. In der politischen Debatte und der medialen Berichterstattung werden Asylsuchende nicht selten als Bedrohung für die Schweiz dargestellt. Und im Vorfeld von Abstimmungen über die Asylgesetzgebung scheint mir oft deutlich mehr von Abschreckung oder Verhinderung von Missbrauch als von humanitärer Verpflichtung oder von Menschen in Not die Rede zu sein. Das bedrückt mich, macht mich manchmal auch wütend. Unseren statutarischen Auftrag, Flüchtlingshilfe zu leisten, erfüllen wir mittendrin in diesem Spannungsfeld. Wir begleiten Asylsuchende in den Anhörungen durch die Behörden und bieten ihnen juristische Beratung oder Unterstützung an. Wenn wir feststellen, dass ein Verfahren nicht korrekt ablief oder dass wesentliche Tatsachen nicht berücksichtigt wurden, übernehmen wir die Rechtsvertretung bei der nächsthöheren Instanz. Das kann, wie im Februar dieses Jahres, auch einmal so weit gehen, dass wir Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg einreichen. Dass diese Beschwerde von der grossen Kammer des Gerichtshofs behandelt wird, ist ein deutliches Zeichen für die Bedeutung, welche dem Fall beigemessen wird. Für mich ist dies auch eine Bestätigung für die hohe Qualität unserer juristischen Arbeit. Schliesslich ist es uns auch ein Anliegen, mit sachlichen Argumenten in der öffentlichen Debatte präsent zu sein. So erinnern wir etwa daran, dass in der Regel nicht mehr als die Hälfte der Gesuchstellerinnen und Gesuchsteller – vorläufig oder definitiv – in der Schweiz bleiben dürfen und dass zum Beispiel der Libanon allein 2,6 Millionen Flüchtlinge aus Syrien aufgenommen hat, während in der Schweiz im vergangenen Jahr insgesamt gerade einmal rund 20 000 Asylanträge gestellt worden sind. Verlieren wir also nicht das Augenmass, den Blick fürs Ganze und setzen wir der Polemik nüchterne Zahlen und Fakten entgegen. Es würde mich freuen, wenn Sie die Zeit fänden, sich an einem der zahlreichen Anlässe zu den Flüchtlingstagen ein persönliches Bild davon zu machen, was es heisst, auf der Flucht zu sein (Veranstaltungen unter www.heks.ch/handeln). Und ich danke Ihnen ganz herzlich dafür, dass Sie uns auch in der wichtigen

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Arbeit für verfolgte Menschen unterstützen.

Ueli Locher, Direktor


Welchen Job man macht, liegt auch an den Chancen, die man erh채lt. www.gleiche-chancen.ch


Chancengleichheit auf dem Arbeitsmarkt bedeutet, dass Faktoren wie etwa das Geschlecht, die Herkunft oder das Alter eines Menschen seine Chancen auf eine Arbeitsstelle und seinen beruflichen Werdegang nicht Talent, seine Leistungen ausschlaggebend sind. Wenn eine 53-jährige Bürofachfrau unzählige Bewerbungen schreibt und aufgrund ihres Alters immer nur Absagen erhält, wenn ein junger Tamile keine Arbeit finden kann, obwohl er in der Schweiz aufgewachsen ist und einwandfrei Deutsch spricht, wenn eine in die Schweiz geflüchtete Kolumbianerin hier um die Anerkennung ihrer 20-jährigen Berufserfahrung als Geschichtslehrerin kämpfen muss, dann besteht Handlungsbedarf. Dies sind nur drei Beispiele von Menschen, denen HEKS in seinen Arbeitsintegrationsprogrammen täglich begegnet. In der Kampagne «Chancengleichheit zahlt sich aus» weist HEKS daher auf diesen Handlungsbedarf hin und macht den chancengleichen Zugang zum Arbeitsmarkt zum Thema. Unterstützt wird HEKS dabei vom Schweizerischen Arbeitgeberverband (SAV). Denn HEKS und SAV sind sich einig: Die Förderung von Chancengleichheit in der Arbeitswelt ist keine lästige Pflichtaufgabe, sondern ein echter Gewinn für die Wirtschaft. Unternehmen, die die Talente und Fähigkeiten aller Menschen erkennen und einbinden, nutzen auf dem Arbeitsmarkt vorhandenes Potenzial optimal. Oder eben anders gesagt: Chancengleichheit zahlt sich aus!

Kampagne

beeinträchtigen, sondern dass allein seine tatsächlichen Fähigkeiten, sein


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Chancengleichheit heisst Pote Vorurteile verstellen oft den Blick auf vorhandene Qualifikationen, Talente und Potenziale – mit der Fo sam mit Unternehmen auf, dass sich eine vorurteilsfreie, auf Chancengleichheit ausgerichtete Personalp VON NINA GILGEN (TEXT), ANNETTE BOUTELLIER (FOTOS)

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I R A L L E B E D I E N E N U N S G E W I S S E R B I L D E R und Denkmuster, um Menschen zu charakterisieren und einzuordnen. Diese sind einerseits gesellschaftlich, andererseits durch individuelle Erfahrungen geprägt. Bestimmten Merkmalen wie etwa dem Geschlecht, dem Alter oder der Nationalität werden dabei unterschiedliche Eigenschaften zugeschrieben: Frauen gelten als konsensorientiert, Männer als wettbewerbsorientiert. Älteren Menschen wird nachgesagt, sie seien nicht flexibel. Jugendliche mit einem schlechten Schulabschluss werden als nicht leistungsorientiert eingestuft, ausländische Arbeitnehmende oft automatisch mit schlechten Deutschkenntnissen und niedrigen Qualifikationen in Verbindung gebracht. Diese Aussagen sind nicht zwingend falsch, jedoch in der Regel einseitig und vereinfachend. Solch stereotypes Denken beeinflusst nicht nur unsere Haltung als Privatpersonen, sondern auch als Vorgesetzte, Personalverantwortliche, Geschäftsführende oder Arbeitskollegen im beruflichen Umfeld. Dies kann etwa bei der Personalrekrutierung zur Folge haben, dass ältere Stellensuchende erst gar nicht zu einem Bewerbungsgespräch eingeladen werden, weil sie als weniger lernfähig eingeschätzt werden. Oder bei Personalförderentscheiden Frauen nicht für Führungsaufgaben vorgeschlagen werden, weil sie vermeintlich zu wenig wettbewerbsorientiert sind. Es ist ausserdem nachgewiesen, dass bei Personalentscheiden

meist unbewusst Personen bevorzugt werden, die einem ähnlich und dadurch vertrauter sind, was sowohl bei der Personalauswahl wie auch bei der Personalförderung zu Ungleichbehandlung und Diskriminierung führen kann. Verschiedene Studien und Arbeitsmarktstatistiken belegen – und HEKS macht auch in seiner Projektarbeit im Bereich der Arbeitsmarktintegration die Erfahrung –, dass gewisse Personengruppen auf dem Schweizer Arbeitsmarkt benachteiligt sind. Dies sind etwa erwerbslose Menschen über 50, die es schwer haben, den Wiedereinstieg ins Arbeitsleben zu finden. Es sind Jugendliche, die aufgrund eines schlechten Schulabschlusses oder aufgrund ihres Migrationshintergrundes den Einstieg in die Berufsbildung oder ins Erwerbsleben nicht schaffen. MigrantInnen mit ausländisch klingendem Namen haben nachweislich geringere Chancen bei der Stellensuche. Auch niedrig qualifizierte Arbeitskräfte werden bei der Suche nach Arbeitsplätzen benachteiligt und oft durch Personen verdrängt, deren formale Qualifikationen höher sind. Gleichzeitig finden hochqualifizierte MigrantInnen, insbesondere aus Drittstaaten, den Einstieg ins Erwerbsleben nur schwer, wenn sie nicht einen beruflichen Abstieg in Kauf nehmen wollen. Gemeinsam Talente suchen In allen Arbeitsintegrationsprojekten von HEKS wird der Blick auf die individuellen Ressourcen der Stellensu-

Nur jede fünfte Person, die nach dem 55. Lebensjahr den Job verliert, findet wieder den Einstieg ins Arbeitsleben.

Jede dritte Migrantin aus einem Staat ausser die sie hier verrichtet, überqualifiziert.


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nziale erkennen und nutzen chenden gerichtet. Sie werden dabei unterstützt, sich ihrer Fähigkeiten, Stärken und Potenziale bewusst zu werden, diese weiterzuentwickeln und besser zu nutzen. Doch immer wieder hat HEKS feststellen müssen: Das allein reicht nicht. Wenn die Stellensuchenden keine Chancen erhalten, ihre Fähigkeiten und ihr Engagement in der Arbeitswelt unter Beweis zu stellen, dann kann auch die Stärkung ihrer Ressourcen und Kompetenzen nur bedingt Erfolg haben. Um die Talente dieser benachteiligten Gruppen besser in den Arbeitsmarkt einzubinden, hat HEKS im Rahmen seiner Projektarbeit, aber auch der Kampagne «Chancengleichheit zahlt sich aus» die Kontaktpflege und Zusammenarbeit mit öffentlichen und privaten Arbeitgebenden verstärkt. HEKS stellt dabei fest: Es gibt bereits Unternehmen, die sich in ihrem Betrieb für mehr Chancengleichheit engagieren und vermehrt auf Arbeitskräfte setzen, die sie bisher nicht im Blick hatten. Und sie machen damit gute Erfahrungen. Vorurteile entkräften – Vielfalt gewinnen So zeigen die Erfahrungen dieser Unternehmen etwa, dass – entgegen den gängigen Vorurteilen – Jugendliche mit schlechter Schulkarriere in der Berufsausbildung sehr gute Leistungen bringen können und Lernende mit Migrationshintergrund in ihrem Betrieb im Schnitt gar die erfolgreicheren Lehrlinge sind. Dass niedrig Qualifizierte oft ein hohes Engagement zeigen, wenn sie im

halb der EU ist für die Arbeit,

Unternehmen die Möglichkeit erhalten, sich weiter zu qualifizieren. Dass ältere Mitarbeitende oft ausgeglichener sind, besser mit kritischen Situationen umgehen können und zudem wertvolles Wissen haben, das sie an jüngere Mitarbeitende weitergeben können. Oder dass viele MigrantInnen sich auf neue Situationen flexibel einstellen können und ihre interkulturellen Kompetenzen in unterschiedlichen Bereichen von Nutzen sind. Wenn es einem Unternehmen also gelingt, Ältere so gut in den Betrieb zu integrieren wie Jüngere, Frauen so gut wie Männer oder Menschen mit Migrationshintergrund so gut wie Menschen ohne, dann profitieren davon nicht nur die Menschen, die eine faire Chance erhalten, ihre Fähigkeiten und ihr Engagement unter Beweis zu stellen. Auch für die Unternehmen ist eine auf Chancengleichheit ausgerichtete Unternehmenspolitik ein Gewinn: Sie lernen, die wachsende Vielfalt ihrer Mitarbeitenden bewusst für den wirtschaftlichen Erfolg einzusetzen, sie bereiten sich aktiv auf den demografischen Wandel vor und verbessern ihre Chancen, im sich verschärfenden Wettbewerb um Nachwuchs und Fachkräfte zu bestehen. >> Lesen Sie auf den folgenden Seiten, wie HEKS sich für mehr Chancengleichheit in der Schweizer Arbeitswelt einsetzt: einerseits in seiner Projektarbeit, andererseits im Rahmen der Kampagne «Chancengleichheit zahlt sich aus».

Jugendliche mit Migrationshintergrund müssen fünfmal mehr Bewerbungen schreiben als Schweizer Jugendliche, um zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen zu werden.

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lge, dass bestimmte Gruppen im Zugang zur Arbeitswelt benachteiligt sind. HEKS zeigt gemeinolitik lohnt.


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Zurück in den Arbeitsmarkt Es gibt viele Gründe, weshalb Menschen ohne Arbeit sind – aber keinen Grund, sie mit diesem Problem alleinzulassen. HEKS Stellennetz unterstützt Arbeitsuchende auf ihrem Weg zurück in den Arbeitsmarkt. VON CORINA BOSSHARD (TEXT) UND WALTER IMHOF (FOTOS)

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Ü N F Z E H N P E R S O N E N haben sich an diesem Montagmorgen in den Kursräumlichkeiten von HEKS Stellennetz in Burgdorf eingefunden. Sie könnten unterschiedlicher nicht sein: Männer und Frauen, Ältere und Jüngere, Schweizer und Menschen mit Migrationshintergrund. Verbinden tut sie vor allem eines: Sie sind auf der Suche nach Arbeit. Das Arbeitsintegrationsprogramm HEKS Stellennetz wird im Auftrag der Arbeitsmarktbehörde des Kantons Bern (beco) durchgeführt und unterstützt Stellensuchende aus den Regionen Oberaargau, Emmental und Berner Oberland auf drei Arten: Erstens wird ihnen ein individueller, sechsmonatiger Arbeitseinsatz in einem Unternehmen vermittelt. Zweitens erarbeiten sie mit einem persönlichen Coach und Berater eine individuelle Bewerbungsstrategie. Und drittens findet einmal pro Woche, parallel zum Arbeitseinsatz, ebendieser Kurstag statt.

«Belastend» statt «belastbar» Heute sind die Anwesenden in zwei Gruppen aufgeteilt: Einige besuchen gerade den Aufbaukurs, die anderen den darauf folgenden Vertiefungskurs. Alle haben den Grundlagenkurs bereits absolviert. Hier haben sie zusammen mit den Kursleitenden ihr Bewerbungsdossier vervollständigt und à jour ge-

Die Leute sehen meinen Namen, aber erwarten nicht jemanden, der hier aufgewachsen ist und Berndeutsch spricht. Der Name ist halt der erste Eindruck. Satheesan Nadarajah

Gemeinsam mit Lorenzo Wirz, Fachleiter Bildung von HEKS Stellennetz, arbeitet Satheesan Nadarajah an seinen Bewerbungsunterlagen.


11 brikarbeiter, Servicehilfe. Seit November 2012 ist er arbeitslos. «Die Stellensuche war schon immer etwas schwierig für mich, schon die Lehrstellensuche», sagt er. «Die Leute sehen meinen Namen, aber erwarten nicht jemanden, der hier aufgewachsen ist und Berndeutsch spricht.» Satheesan Nadarajah, ein passionierter Koch, träumt vom Wirtepatent und vom eigenen Restaurant. HEKS Stellennetz hat ihm nun einen sechsmonatigen Einsatz in der Küche eines Alterszentrums vermitteln können, der ihm sehr gefällt – und bei der Stellensuche sicher helfen wird.

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bracht, Bewerbungsgespräche geübt und am CV und Motivationsschreiben gefeilt. «Das hat mir wirklich viel gebracht», sagt Satheesan Nadarajah. Obwohl der junge Tamile in der Schweiz lebt, seit er neun ist, und einwandfreies Berndeutsch spricht, sei er froh, wenn jemand jeweils seine Bewerbung redigiere. So habe er in seinem Motivationsschreiben etwa immer geschrieben, er sei «belastend» statt «belastbar». Der angelernte Autolackierer, der aus gesundheitlichen Gründen nicht in diesem Beruf arbeiten kann, hat schon diverse Jobs gemacht: Gipser, Fa-


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Ein Pool von 500 Betrieben «Diese Arbeitseinsätze sind ein zentraler Teil des Programms», erklärt «Stellennetz»-Programmleiterin Michèle Pauli. «Die Teilnehmenden sammeln praktische Erfahrungen, knüpfen wertvolle Kontakte, erhalten ein Arbeitszeugnis.» «Stellennetz» hat Kontakte zu einem Pool von rund fünfhundert Unternehmen aufgebaut, die es für Arbeitseinsätze angehen kann. «In der Regel finden wir für die Teilnehmenden innerhalb von zwei bis vierzig Arbeitstagen einen passenden Einsatzort. Uns ist vor allem wichtig, dass beide Seiten vom Einsatz profitieren: die Betriebe und die Stellensuchenden, die ihr Potenzial so gut wie möglich einbringen und weiterentwickeln können sollen», so Pauli. Während die Teilnehmenden im Aufbaukurs an diesem Morgen eine Standortbestimmung machen, sich anhand von Collagen mit dem bewussten Erkennen der persönlichen Stärken und Fähigkeiten auseinandersetzen, bearbeitet die Kursgruppe im Vertiefungskurs das Thema Work-Life-Balance: Wie können wir unser Leben im Lot halten, wenn ein so zentraler Bereich wie die Arbeit wegfällt und alles aus dem Gleichgewicht zu bringen droht? Jede Absage eine Ablehnung Annemarie Gerber weiss nur zu gut, wovon gesprochen wird. Die gelernte Verkäuferin mit Handelsdiplom Bürofach verlor vor rund fünf Jahren, als 48-Jährige, ihren Job als kaufmännische Angestellte und muss seither die Erfahrung machen, wie schwierig es ist, in ihrem Alter wieder eine Festanstellung zu finden. «Mit fünfzig gehörst du zum alten Eisen. Auf meine Bewerbungen erhalte ich nur Absagen – und jede davon empfindet man als persönliche Ablehnung.» Ja, es sei schwierig, motiviert zu bleiben. Aber sie könne sich heute sagen: Es gibt im Leben noch anderes als Arbeit. «Wenn meine dreissig Jahre Berufserfahrung heute nichts mehr gelten, dann kann ich nicht viel daran ändern. Ich habe gelernt, dass ich auch ohne Arbeit etwas

Es wäre schön, wenn die Unternehmen nicht nur auf die Abschlüsse und das Alter des Bewerbers achten, sondern auf den Menschen, der dahintersteckt. Annemarie Gerber

Seit rund fünf Jahren auf der Suche nach einer Festanstellung: Annemarie Gerber tauscht sich mit einer anderen Kursteilnehmerin aus.

wert bin. Das ist ein wichtiger Schritt, zu dem HEKS Stellennetz sicher beigetragen hat.» Selbstsicherheit zurückgewinnen Die «Erfolgsquote» von «Stellennetz» – wenn man darunter die durchschnittliche Zahl der Menschen versteht, die während oder nach dem Programm eine Festanstellung finden – beträgt im Schnitt rund 30 bis 40 Prozent. Aber Michèle Pauli ist es wichtig, unter «Erfolg» mehr zu verstehen: «Oft kommen Menschen zu uns, die schon länger arbeitslos sind, viele Absagen bekommen haben und


13 dass ich sehr wohl noch arbeiten kann, und dass ich gerne arbeite», sagt sie. «Ich weiss: Ich gebe mein Bestes. Am Ende gehört einfach auch eine Portion Glück dazu. Glück, dass mein Bewerbungsdossier einmal in den Händen von jemandem landet, der nicht nur mein Alter sieht, sondern der meine Arbeits- und Lebenserfahrung zu schätzen weiss.»

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entsprechend in ihrem Selbstwert angeschlagen sind. Es ist wichtig, diese Menschen aufzubauen, ihnen Selbstsicherheit zurückzugeben. Ein gesundes Selbstwertgefühl, zusammen mit einem sauberen Bewerbungsdossier und einem guten Zeugnis vom Arbeitseinsatz, kann die Chancen auf eine Anstellung definitiv verbessern. Ob es dann aber tatsächlich klappt, ist stark vom Arbeitsmarkt abhängig.» Ähnlich formuliert das auch Annemarie Gerber: «Der Arbeitseinsatz, den ich dank ‹Stellennetz› machen kann, gibt mir Sicherheit zurück, zeigt mir,


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10 goldene Tipps für Unternehmen Wie fördert man Chancengleichheit auf dem Arbeitsmarkt? HEKS hat gemeinsam mit dem Schweizerischen Arbeitgeberverband 10 Tipps erarbeitet, die ArbeitgeberInnen Anregungen und Beispiele geben, was sie in ihrem Betrieb konkret für mehr Chancengleichheit tun können. Die 10 Tipps werden im Rahmen der Kampagne «Chancengleichheit zahlt sich aus» breit in der Schweizer Arbeitswelt gestreut – helfen auch Sie mit! VON CORINA BOSSHARD UND NINA GILGEN

Oft braucht es nicht viel, um etwas für mehr Chancengleichheit auf dem Arbeitsmarkt zu tun – manchmal genügen schon ein paar wenige Worte. Bei Stellenausschreibungen etwa: Ein Stelleninserat sollte so neutral formuliert sein, dass es sich nur auf die Kompetenzen bezieht, die für die ausgeschriebene Stelle wirklich relevant sind. Klingt selbstverständlich, doch der Teufel steckt im Detail: Oft sind sich ArbeitgeberInnen nicht bewusst, dass auch Formulierungen wie «Sie sind jung und dynamisch», oder «Ihre Muttersprache ist Deutsch» gewisse Personen – in diesem Fall «ältere» Menschen oder Menschen, die zwar Deutsch sprechen, aber deren Erstsprache nicht Deutsch ist – ausschliessen. Dies kann dazu führen, dass sich BewerberInnen, welche die gewünschten Qualifikationen zwar mitbringen, nicht angesprochen fühlen und sich daher erst gar nicht melden. Generell können bei der Personalrekrutierung – oft auch unbewusste – Vorurteile dazu führen, dass bestimmte Menschen etwa wegen niedriger Schulnoten, des Alters oder eines ausländisch klingenden Namens erst gar nicht eingeladen werden oder bereits am Bewerbungsgespräch scheitern. Dies, obwohl sie die für die Stelle erforderlichen Qualifikationen eigentlich mitbringen würden. Daher weist HEKS darauf hin: Neben klassischen Bewerbungsgesprächen gibt es eine Vielzahl von Alternativen, um wirklich geeignete Mitarbeitende zu finden. Praktische Eignungstests etwa, Probetage oder Schnupperwochen geben den BewerberInnen mehr Zeit und die Möglichkeit, ihre tatsächlichen Fähigkeiten und Talente unter Beweis zu stellen. Ein weiterer Bereich, in welchem Chancengleichheit am Arbeitsplatz eine zentrale Rolle spielt, ist die Förderung der Mitarbeitenden, etwa in Form von Weiterbildungen. Unternehmen sollten darauf achten, dass die von ihnen angebotenen oder unterstützten Weiterbildungen unabhängig von Alter, Geschlecht, Qualifikation oder Herkunft vergeben werden. Genauso wichtig ist es, den Mitarbeitenden flexible Arbeitsmodelle wie etwa Teilzeitarbeit, Jobsharing oder Home-Office anzubieten. Flexible Arbeitszeiten und -orte berücksichtigen die individuellen Lebenslagen der Mitarbeitenden und ermöglichen es ihnen, auch dann erwerbstätig zu bleiben, wenn sie mehr Zeit für die Kinderbetreuung, die Angehörigenpflege, die Genesung nach einer Krankheit oder die Religionsausübung benötigen. Auch lohnt es sich für Unternehmen, Personengruppen, die in ihrem Betrieb unterrepräsentiert sind, gezielt zu rekrutieren und die Arbeitsteams bewusst zu mischen. Denn eine Belegschaft, die sich durch eine grosse Bandbreite an Erfahrung und Wissen auszeichnet, kann besser auf ebenso vielfältige Kundensegmente und -wünsche eingehen und ist zudem innovativer: Schliesslich betrachten Mitglieder eines gemischten Teams ein und dasselbe Problem meist aus völlig unterschiedlichen Blickwinkeln und finden so oft verblüffend neue Lösungsansätze.

Auf der Website www.gleiche-chancen.ch finden Sie alle 10 Tipps, illustriert mit vielen Beispielen und Stimmen aus der Unternehmenspraxis. Leiten Sie die 10 Tipps auch an Ihren Vorgesetzten oder Personalchef weiter und setzen Sie ein Zeichen für mehr Chancengleichheit in der Arbeitswelt – es lohnt sich!

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Stimmen aus der Praxis Jeden der 10 Tipps für Chancengleichheit illustriert HEKS mit positiven Beispielen aus der Unternehm VON CORINA BOSSHARD

Hunziker Partner AG Die auf Gebäudetechnik spezialisierte Hunziker Partner AG in Winterthur fördert ihre Mitarbeitenden auf unterschiedlichsten Ebenen. CEO Christian Hunziker ist überzeugt: Das zahlt sich aus. Firmensitz: Winterthur (ZH) / Tätigkeit: Gebäudetechnik / Mitarbeitende: ca. 70

Was haben der Austausch eines Radiators in einer Wohnung, die Dachentwässerung eines Flugzeughangars oder die Installation einer Komfortlüftung gemeinsam? Sie alle gehören zu den Kernkompetenzen der Hunziker Partner AG. Dies wiederum belegt, wie vielfältig die Tätigkeiten und damit auch die Kundschaft des Unternehmens sind. «Wer diese Vielfalt bedient, versteht seine Kunden und designt seine Dienstleistungen danach. Dies geschieht am besten, wenn diese Vielfalt auch in der Unternehmung abgebildet ist», sagt Christian Hunziker, der die Firma seit über dreissig Jahren mit seinem Bruder und seit zehn Jahren mit aus der Unternehmung aufgestiegenen, neuen Mitbesitzern leitet. «Darum ist Diversity im Unternehmen keine ‹Nice to have›Aktion, sondern eine strategische Entscheidung für eine nachhaltige, erfolgreiche und zukunftsfähige Unternehmung.»

Mehrfach ausgezeichnet Dies sind keine leeren Worte. Die Hunziker Partner AG setzt die im Leitbild formulierten Grundsätze der Chancengleichheit und der individuellen Entwicklungsförderung sowie das Versprechen, eine fortschrittliche Arbeitgeberin zu sein, im Arbeitsalltag um. Davon zeugen auch diverse Preise, die die Firma mit ihrem Engagement in den letzten Jahren im Inund Ausland gewonnen hat. 2000 und 2001 erhielt das Unternehmen den ESPRIX, den Schweizer Preis für Business Excellence; 2005 wurde es von der Plattform für Familie und Beruf des Schweizerischen Arbeitgeberverbandes als familienfreundlichste Firma der Schweiz geadelt. Und 2009 erhielt es vom deutschen Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie das Label «Exzellente Wissensorganisation» für ihr «bewusstes und integriertes Wissensmanagement in allen Bereichen».

Weiterbildung als Schlüsselaufgabe «An einer kontinuierlichen Ausbildung der gesamten Belegschaft liegt uns viel», so Hunziker. Das firmeneigene Ausbildungskonzept PIP, das «permanente Instruktions-Programm», sieht jeden Freitag eine Unterrichtseinheit vor. PIP bedeutet Schulung von Mitarbeitenden für Mitarbeitende. Die behandelten Themen sind ausgesprochen vielfältig: Sie reichen von Informationen zu neuen technischen Verfahren über die Verbesserung von Prozessen bis zu Diskussionen über gesunde Ernährung und Religion im Alltag. Dabei werden Präsentationstechnik, interkultureller Austausch und gegenseitiges Lernen gefördert. Pro Jahr und Mitarbeitenden wendet die Hunziker Partner AG insgesamt 40 bis 50 Stunden für die Weiterbildung der Belegschaft auf. Keine Selbstverständlichkeit für einen Betrieb, der vor allem Gebäudetechnikmonteure beschäftigt – für Hunziker aber eine Notwendigkeit: «40 Stunden Schulung sind 90 Prozent weniger Fehler. Wir haben weniger Un- fälle, sind gesünder, gehen mit Kunden freundlicher und professioneller um, sind leistungsfähiger – und weil wir so sind, wie wir sind, haben wir ein anderes Image bei den Kunden. Das alles schlägt sich direkt in der Wirtschaftlichkeit eines Unternehmens nieder.»

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enspraxis. Zwei dieser Betriebe stellen sich hier vor.

Aligro Demaurex & Cie SA

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Beim Familienunternehmen Aligro haben Menschen mit Migrationshintergund ebenso eine Chance auf eine Anstellung wie ältere Arbeitsuchende. Der HR-Verantwortliche François Burnier erklärt warum. Firmensitz: Hauptsitz in Chavannes-Renens (VD) Tätigkeit: Grossmarkt Gastronomie / Mitarbeitende: ca. 600

Aligro ist auf dem Vormarsch. In Schlieren hat der Grosshändler Ende 2012 seine erste Filiale in der Deutschschweiz eröffnet – mittlerweile betreibt das Familienunternehmen mit Sitz in Chavannes-Renens fünf grosse Abholmärkte. Nicht zuletzt basiert dieser Erfolg auf den über 600 Mitarbeitenden, welche die Firma beschäftigt. Denn wirtschaftlicher Erfolg ist bei Aligro nicht alles, wie der HR-Verantwortliche François Burnier betont. «Wir sind uns der Rolle bewusst, die wir als Unternehmen spielen», sagt er. «Falls möglich, versuchen wir den Menschen zu helfen, die Schwierigkeiten haben.» Das können junge Leute sein, die auf der Suche nach einer Lehrstelle sind, aber auch ältere Menschen, welchen der Wiedereinstieg ins Arbeitsleben schwerfällt. Um die passenden Lernenden zu finden, setzt das Unternehmen auf einen Eignungstest von Multicheck, persönliche Gespräche und Schnupperwo-

chen. Dass sich heute alles um Kompetenzen und Abschlüsse dreht, empfindet Burnier als schwierig für die Stellensuchenden. Man versuche deshalb, nur die wirklich notwendigen Kompetenzen zu berücksichtigen. Chance im Alter Aligro stellt daher auch ältere Menschen ein, die Mühe mit dem Wiedereinstieg in die Arbeitswelt haben. So fand zum Beispiel die heute 50-jährige Rose-Marie Raemy-Favre einen Job in der Filiale in Matran bei Fribourg. Nachdem sie lange in der Gastronomie gearbeitet hatte, hatte sie Schwierigkeiten, eine neue Anstellung zu finden. «Ich wurde oft zu Vorstellungsgesprächen eingeladen, aber jüngere Bewerber wurden mir vorgezogen», sagt sie. Daher konnte sie es fast nicht glauben, als sie den Anruf von Aligro erhielt. Mit dem neuen Arbeitgeber ist die Kassiererin sehr zufrieden – vor allem auch, weil ihre Arbeit abwechslungsreich ist und

geschätzt wird. «Das Unternehmen will, dass die Mitarbeitenden vielfältig einsetzbar sind», sagt sie. So arbeitet sie nicht nur an der Kasse, sondern auch in der Bar-Cafeteria und macht manchmal Kundenbesuche. Fremdsprache als Vorteil Auch Flüchtlinge hat das Unternehmen angestellt – zudem arbeiten viele Menschen mit Migrationshintergrund beim Grosshändler. «Das ist schon etwas multikulti bei uns», sagt Burnier mit einem Lächeln. «Ich sehe das aber auch klar als einen Vorteil, schliesslich haben wir auch ein sehr durchmischtes Kundensegment.» Ausländische Kunden, die etwa ein Restaurant führen, würden gerne von einem Landsmann beraten. So schickt Aligro zum Beispiel bewusst türkische Mitarbeitende zum Kundenbesuch in türkische Läden. Wer bei Aligro arbeitet, nimmt regelmässig an Kursen zu den Werten der Firma teil. Letzthin ging es dabei um Respekt – gegenüber den Mitarbeitenden und den Kunden. «Uns ist es wichtig, dass wir diese Werte nicht nur schriftlich festlegen, sondern auch leben», sagt Burnier.


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Flüchtlingssonntag, 15. Juni 2014

«Hier bin ich niemand, solange ich keine Arbeit habe.» Die Flüchtlingstage rufen uns das schwere Schicksal von Flüchtlingen in Erinnerung und unsere humanitäre Pflicht, ihnen zu helfen. Immer am dritten Wochenende im Juni wird in über 200 Schweizer Städten und Gemeinden gemeinsam mit den Flüchtlingen gefeiert. Im Fokus steht die soziale Integration. Auch die 48-jährige Kolumbianerin Luz Marina Cantillon Romero, die vor zwei Jahren ihr Land verlassen musste, kämpft um ihre Integration in der Schweiz und um die Anerkennung ihrer 20-jährigen Erfahrung als Geschichtslehrerin und Menschenrechtsaktivistin. VON JOËLLE HERREN

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UZ MARINA CANTILLON ROMERO, die wie der Literaturnobelpreisträger Gabriel García Márquez aus dem kleinen kolumbianischen Ort Aracataca stammt, musste von einem Moment auf den anderen aus ihrem Land fliehen. Ihr Leben, das so gar nichts mit den magischen Geschichten des Schriftstellers gemeinsam hat, geriet an jenem Tag ins Wanken, als sie den bewaffneten Männern entkam, die sie aus ihrem Haus verschleppen wollten. Durch die Hintertür floh sie ins Auto zu ihrem Sohn und kam nur knapp mit dem Leben davon. Von einem Tag auf den anderen musste sie ihr Zuhause, ihre Arbeit, ihre Familie und alles, was sie sich bis dahin aufgebaut hatte, hinter sich lassen.

Asylantrag auf Botschaft Sie bat die Schweizer Botschaft in Bogotá um Hilfe und versteckte sich – ohne auch nur ein Mal ihre Verwandten anrufen zu können sechs Monate lang mit ihrem 24-jährigen Sohn in

einem Kloster, bis sie schliesslich Antwort von der Botschaft erhielt. Die Schweiz nahm Mutter und Sohn auf, beide beantragten schliesslich erfolgreich Asyl. Das war vor zwei Jahren. Auch wenn Luz Marina die unfassbare Gewalt noch längst nicht verdaut hat, gehört sie zu denen, die nach vorn schauen. In Kolumbien unterrichtete sie als Mittelstufenlehrerin seit 20 Jahren Geschichte und arbeitete parallel an einem Forschungsauftrag der Universität. Sie hatte eine sichere Stellung und war anerkannt. Daneben engagierte sie sich ehrenamtlich für den Schutz der Rechte von Müttern, die Opfer bewaffneter Konflikte geworden waren. In diesem Zusammenhang erhielt sie den Auftrag der politikwissenschaftlichen Fakultät, die Geschichte von Menschen aufzuschreiben, die in einem Bananenanbaugebiet Opfer von Folter, Verschleppung, Tötung und sexueller Gewalt geworden waren. Allein in dem Dorf, in dem sie arbeitete, zählte

man 823 Tote. «Durch diese Aufgabe war ich nützlich für die Gesellschaft, sie gab meinem Leben einen Sinn. Es ging mir nie nur darum, meinen Lebensunterhalt zu verdienen. Es war mir immer schon wichtig, mich einer Sache mit ganzer Hingabe widmen zu können.» Ich würde gerne arbeiten Mit dem Erhalt der B-Bewilligung stellte sich für Luz Marina unmittelbar die Frage nach einer Arbeitsstelle. «Ich bin der Schweiz sehr dankbar dafür, dass sie mir Unterkunft und Verpflegung bezahlt, aber ich möchte arbeiten, um nicht länger auf Hilfe angewiesen zu sein. Das ist für mich eine Frage der Würde.» Die französische Sprache macht es zusätzlich schwer. Als sie in die Schweiz kam, sprach sie kein einziges Wort Französisch. Motiviert und ausdauernd nimmt sie an verschiedenen Sprachkursen teil, unter anderem an einem Kurs der Association Découvrir, der sich an qualifizierte Frauen mit viel-

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Foto: HEKS/Yves Leresche

«Ponts emploi» – das aktuelle HEKS-Projekt in der Westschweiz Im Auftrag des Bundesamtes für Migration startete HEKS Ende 2012 ein Projekt mit dem Ziel, das berufliche Potenzial von Flüchtlingen und vorläufig aufgenommenen Ausländern in den Kantonen Waadt und Genf zu aktivieren. Betreut werden 16 Personen. Es werden Strategien entwickelt, die die Suche nach einer passenden Arbeitsstelle unterstützen. Dabei geht es insbesondere um die Anerkennung von Berufserfahrung und im Ausland erworbenen Abschlüssen sowie um die Aufnahme verkürzter Ausbildungen.

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Flüchtlingssonntag Am 15. Juni ist der Flüchtlingssonntag, an dem in vielen Kirchgemeinden in der ganzen Schweiz Veranstaltungen zum Thema stattfinden. HEKS stellt auch dieses Jahr eine breite Palette von Materialien wie Plakate, Karten, Predigtbausteinen u.a. zur Verfügung unter: www.heks.ch/news-service/kampagnen/

fältigen Interessen wendet, die so ihren Wortschatz stetig erweitern wollen. Das spornt sie an. Weil sie nicht untätig sein will, arbeitet sie seit 2012 30 Prozent im Jardin Robinson, einem Freizeitzentrum für Jugendliche. «Auch wenn ich für diese Arbeit nicht bezahlt werde, ist sie für mich genau das Richtige, um Französisch zu lernen, zumal in einem Bereich, der mir Spass macht und mir für meine berufliche Zukunft etwas bringen könnte», erklärt sie. Anerkennung der Berufserfahrung Im September erfährt sie im Rahmen einer Befragung vom HEKS-Projekt Ponts emploi. Die Befragung widmet sich der Frage, was qualifizierte Flüchtlinge brauchen, damit ihre Lernleistungen anerkannt werden und sie einer Arbeit in der Schweiz nachgehen können. Zusammen mit ihrer Mentorin Stéphanie Voser spricht Luz Marina über ihre Kompetenzen, die in der Schweiz anerkannt

werden, aber auch über Qualifikationen, die sie noch erwerben muss, um eine Arbeitsstelle zu finden, die ihrem Potenzial entspricht. Sie kann wählen zwischen: Spanisch-Lehrerin oder Sozialberaterin bzw. Animatorin. Stéphanie hilft Luz Marina, ausgehend von der mitgebrachten Erfahrung, ihre berufliche Zukunft zu planen, speziell beim Erstellen des Lebenslaufs und dem Verfassen von Motivationsschreiben. «Das ist für mich sehr wichtig, weil ich nicht weiss, was ich in der Schweiz beachten muss.» Auch ein Gespräch mit der Abteilung zur Validierung von Bildungsleistungen der Universität Genf ist bereits geplant. Dort wird man prüfen, ob Luz Marina für ein verkürztes BachelorStudium der Sozialarbeit zugelassen werden kann. Je nach Voraussetzungen lässt sich das Studium von regulär drei Jahren auf zwei, vielleicht sogar auf ein Jahr reduzieren. «Ich werde alles dafür tun, dass man meine berufliche Erfahrung als erbrachte Lernleistung anerkennt.» Ob sie nicht auch ein bisschen Angst habe, mit 50 Jahren nochmal ein Studium aufzunehmen? «Im Gegenteil, das wäre eine grosse Chance für mich. In Kolumbien hatte ich übrigens ein Master-Studium angefangen. Studieren ist Teil meiner Lehrtätigkeit.» Vorwärts schauen Luz Marina ist eine Kämpferin. Aber sie macht sich nichts vor. «In Kolumbien hatte ich einen sozialen Auftrag. Aber hier bin ich niemand, solange ich keine Arbeit habe.» Bevor Luz Marina bei «Ponts emploi» teilnahm, bekam sie wegen ihres «Arbeitseifers» viel Entmutigendes zu hören. Die Aussicht auf eine Arbeit, bei der sie ihr ganzes Wissen einbringen kann, freut sie sehr: «Zu arbeiten bedeutet für mich weniger, mir etwas kaufen zu können, sondern einen Sinn im Leben zu haben und Würde!»

Kampagne

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Unsere Tomaten wachsen auch online.


www.heks2013.ch In unserem Online-Jahresbericht 2013 lernen Sie von der Familie Chittiboini aus Indien, wie Tomaten ein Leben in Würde ermöglichen. Fakten, Projekte, Menschen – alles Wichtige aus der HEKS-Arbeit des vergangenen Jahres: Jetzt unter www.heks2013.ch


HU MA N I TÄ RE HIL F E

1700 Häuser für die Taifunopf Die Philippinen sind am 8. November 2013 vom schwersten Taifun aller Zeiten heimgesucht worden. mittel verteilt hatte, konnte HEKS im Februar auf der Insel Panay mit dem Bau von neuen Häusern be VON SUSANNE STAHEL (TEXT) UND BENI BASLER (FOTOS)

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I E FA M I L I E C . WA R I N I H R E M H A U S auf der Insel Panay, als der Taifun begann. Als der Sturm das Haus wegfegte, flohen sie durch umknickende Bäume und herumfliegende Kokosnüsse zu ihrem Fischerboot und wollten damit fliehen. Doch das Boot kenterte, und die ganze Familie, die Eltern Eddie und Gina sowie die vier Kinder Je (19), Edwin (12), Gwen (3) und Enerie (1,5) fielen aus dem Boot. Die zwei jüngsten ertranken. Die beiden älteren Kinder und der Vater konnten von Verwandten gerettet werden, die

Mutter wurde mit einem verletzten Fuss ans Land geschwemmt. Die Leichen der beiden Kinder fanden sie am nächsten Tag und konnten die Kleinen im öffentlichen Gemeindegrab beerdigen. Dies ist nur eines der tragischen Unglücke, denn viele Familien haben ihr Zuhause, Angehörige und die gesamte Lebensgrundlage verloren. Ein Haus in zwei Tagen Nach dem Sturm war die Not gross, es fehlte an allem. Zusammen mit seiner Partnerorganisation

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Nachdem HEKS in den Monaten November und Dezember Nahrungsginnen. Finanziell wird das Projekt von der Glückskette unterstützt.

Bereits konnten 340 Häuser (Stand 20. März 2014) gebaut werden. 60 Häuser sind im Bau. Die Arbeiten laufen in fünf Dörfern mit 45 Arbeitsgruppen.

Film Sehen Sie online einen ZeitrafferFilm, der in weniger als drei Minuten die Entstehung eines Gerüstes samt Dach zeigt. Eine fest installierte Kamera hat einen Tag lang alle 50 Sekunden ein Bild vom Bau gemacht. www.heks.ch/handeln.

Task Force Mapalad (TFM) verteilte HEKS in einer ersten Phase Nahrungsmittlel an 2000 Familien. Seit dem 10. Februar sind HEKS und TFM in der Provinz Capiz – ebenfalls auf der Insel Panay – dabei, Häuser zu bauen. Insgesamt werden bis im Sommer 1700 neue Häuser entstehen und für 400 Häuser wird das Material für Reparaturen verteilt. Der Bau eines Hauses dauert zwei Tage. Zuerst wird aus Sturmholz der umgeknickten Kokospalmen das Grundgerüst inklusive Dachstuhl gebaut. Anschliessend werden die Wände aus Bastmatten erstellt und das Dach errichtet. Es besteht aus Wellblech mit hohem Aluminiumanteil, damit es nicht rostet. Innerhalb von zwei Arbeitstagen ist das Haus bezugsbereit. Neu hat nun HEKS gemeinsam mit der Glückskette entschieden, dass die Häuser auch ein Fundament erhalten sollen, um dadurch noch mehr Stabilität zu erreichen. Der Bau eines Hauses mit Fundament dauert insgesamt drei Tage. Ein Haus kostet zwischen 360 und 400 Franken. Die Begünstigten bauen nebst ihrem eigenen ein zweites Haus gratis mit auf, das ist ihr Beitrag. Ab dem dritten erhalten sie im Rahmen des «Cash for work»-Programms von HEKS einen Lohn. Dadurch können die Begünstigten vorübergehend Einkünfte erwirtschaften um zum Beispiel zerstörte Fischerboote zu reparieren. Zum Andenken an den traurigen Tag, an dem sie ihre Kinder und ihr Zuhause verloren hatten, stellte die Familie C. die Überreste des Bootes in den Garten des neuen Hauses. Eddie arbeitet nun als Taglöhner auf Krabbenfarmen, für ein neues Boot fehlt ihm das Geld. Gina arbeitet als Wäscherin, erhält aber nur wenig Aufträge. Der 19-jährige Sohn arbeitet beim «Cash for work»-Programm von HEKS mit und verdient so etwas dazu. Gina ist jetzt wieder schwanger, darin liegt für sie «die Hoffnung auf neues Leben». Spenden bitte auf das PC-Konto 80-1115-1 mit dem Vermerk «Taifun Asien»


K ON FLI K TTRA N S F O RM AT IO N

Frieden vermehren HEKS unterstützt im Südkaukasus Friedensprojekte, die zum Ziel haben, friedliches Verhalten zwischen Jugendlichen und jungen Erwachsenen und Werte wie Toleranz und Respekt gegenüber anderen Kulturen und Nationalitäten zu fördern. VON BETTINA FILACANAVO UND CHRISTINE SPIRIG (TEXT) UND WALTER IMHOF (FOTOS)

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I E R E G I O N S Ü D K A U K A S U S ist seit Jahrzehnten Schauplatz vieler Konflikte, die zum grossen Teil ungelöst geblieben sind und mehr oder weniger aktiv ausgetragen werden. Besonders schwierig sind die Beziehungen zwischen Armenien und Aserbeidschan. Der bald 100-jährige Konflikt um die Region Bergkarabach hat sich ins Nationalbewusstsein beider Völker eingebrannt und die gegenseitigen Vorurteile verhärtet. «Die jungen Menschen in Armenien und Aserbeidschan sind der Schlüssel zum Frieden», sagt zum Beispiel Karen Nazaryan, Direktor der HEKS-Partnerorganisation «Armenia Round Table Foundation» (ART). Gemeinsam mit der aserbeidschanischen Organisation Internews produziert ART eigene Filme und führt diese an Podien in Armenien und Aserbeidschan vor. Teilnehmende sind Jugendliche, die sich nach der Filmvorführung auch kritisch mit dem Thema auseinandersetzen. Das Projekt hat zum Ziel, den Dialog und die Versöhnung zwischen ArmenierInnen und AserbeidschanerInnen zu fördern. In Armeniens Hauptstadt Erewan bilden rund zwanzig ehemalige Podiumsteilnehmende eine Kerngruppe von FriedensaktivistInnen, die den Dialog zwischen jungen Menschen aus beiden Ländern fördern wollen.

Persönliche Begegnungen gegen Vorurteile ART organisiert die Jugendlichen aus Armenien, Internews diejenigen aus Aserbeidschan, zum Beispiel für ein Treffen auf neutralem Boden, in Georgiens Hauptstadt Tbilissi. Maria Adaiman aus Armenien hat an einem

dieser Treffen teilgenommen, obwohl ihr Familie und Freunde davon abgeraten hatten. «Bei uns glaubt man, dass die AserbeidschanerInnen uns hassen und brutal sind», sagt sie. Zu Hause erzählte sie dann von ihren positiven Erfahrungen und Freundschaften. «Ich will offen sein für meine neuen Freunde aus Aserbeidschan, den letztlich wollen wir alle das Gleiche: Frieden.» Auch Harutyun Hayrepetian hatte vor dem Treffen Bedenken. «Wir wussten ja von der politischen Propaganda gegen Armenien in Aserbeidschan», erzählt er. Doch nach anfänglichen Berührungsängsten schmolz das Eis. «Ich habe tolle Leute kennengelernt, mit denen ich immer noch in Kontakt bin per E-Mail und auf Facebook.» Ferienlager in Georgien und Armenien Neben diesen Filmpodien und Treffen in Tbilissi sollen auch Ferienlager dazu beitragen, die festgefahrenen und von der älteren Generation übermittelten Vorurteile zu beseitigen. Die Peace-Camps werden für armenische, georgische und aserbeidschanische Kinder (die in Georgien leben) jeden Sommer in Georgien und Armenien durchgeführt. Organisiert werden sie von den beiden HEKS-Partnerorganisationen Syunik aus Armenien und Lazarus sowie der «Union of Azerbaijan Women of Georgia» aus Georgien. Rund 120 Jugendliche aus benachteiligten oder sozial schwachen Milieus und 20 junge Erwachsene, die das Lager leiten, nehmen jährlich an den Lagern teil. Sie kommen hauptsächlich aus ländlichen Regionen. Ziel der Camps ist es, das Selbstvertrauen der Kinder zu stär-

ken, Vorurteile abzubauen und Freundschaften zwischen den Kindern zu fördern, die auch über das Camp hinaus weiterbestehen. Für die Lagerteilnehmenden wurde eigens eine Facebook-Gruppe gegründet, die bereits über 300 Mitglieder zählt und aktiv genutzt wird. In einer politisch sehr instabilen Region, in der die Vorurteile zwischen den einzelnen Nachbarländern tief verwurzelt sind, stellen diese Freundschaften einen ersten Schritt auf dem Weg in eine friedlichere Zukunft im Südkaukasus dar. Dabei soll ein kultureller Austausch entstehen, eine Sensibilisierung für die Konflikte stattfinden und ein Klima von Toleranz und Gemeinschaft entstehen. Für viele Kinder ist es zudem die einzige Möglichkeit, einmal Ferien ausserhalb ihres Landes zu machen.

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Dass die Lager auch wirklich eine Wirkung auf das Zusammenleben haben, zeigen Befragungen der Campteilnehmenden: Im Jahr 2012 zum Beispiel besuchten 105 Jugendliche und 18 BetreuerInnen die Friedenscamps. Zu Beginn der Lager gaben praktisch alle Jugendlichen an, Mühe im Umgang mit anderen Ethnien innerhalb der Gruppe zu haben. Bereits nach wenigen Tagen hatten sie ihre Meinungen geändert. Am Ende waren sich alle Teilnehmenden der schlechten Auswirkungen von Stereotypen bewusst und verwendeten keine entsprechenden Ausdrücke mehr. Fast drei Viertel der Kinder gaben an, dass sie nunmehr andere ethnische Gruppen schätzten, und über die Hälfte wünschten sich gar eine multikulturelle Gesellschaft. Nicht nur die Jugendlichen selbst,

Jugendliche im Friedenscamp in Borjomi (Georgien): Sie sind die Generation, die etwas ändern kann.

sondern auch ihr direktes Umfeld – Familie, Freunde – bekommen etwas mit auf den Weg. Somit wirken die Jugendlichen als MultiplikatorInnen, indem sie von ihren Erfahrungen erzählen. Nune Nuredyans ist die Mutter eines Jugendlichen, der vor zwei Jahren an einem Camp in Armenien teilgenommen hat. «Ich hatte Angst, mein Kind in ein Lager zu schicken, an dem auch aserbeidschanische Kinder teilnahmen», gesteht sie. Aber ihr Sohn hat sie aus dem Lager angerufen und gesagt, er sei im Paradies. Sie hat gesehen, dass ihn das Erlebnis verändert hat. «Er hatte eine weltoffenere Einstellung, er ist selbständiger

und sagt immer wieder, dass es egal sei, welche Nationalität ein Mensch habe.» Sie ist stolz, wie offen er seine Meinung sagt: «Wenn seine Freunde im Dorf etwas anderes denken von den Aserbeidschanern, verteidigt er seinen neuen Standpunkt.»


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E NT WI CK LU N G L Ä N D L ICH E R G E M E IN S C HAFTEN

Erfolg für HEKS und seine Part Über 8600 Hektaren Land konnten HEKS und seine Partnerorganisationen bei der siebten Landvertei für Landlose erstreiten.Die Regierung hat auf Druck geltendes Recht umgesetzt und an über 9500 Fam VON BETTINA FILACANAVO (TEXT), KARIN DESMAROWITZ (FOTOS)

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N Z U S A M M E N A R B E I T mit seinen Partnerorganisationen, die sich seit Jahren gemeinsam im Landrechtsforum «Andhra Pradesh Peoples’s Forum for Land Right» (APFLR) für die Landrechte der ärmsten Bevölkerungsschichten einsetzen, konnte HEKS einen Grosserfolg verbuchen: Die Regierung, bei der APFLR seit Jahren gemeinsam mit den Landlosen lobbyiert, hat 9565 Familien Land zugesprochen und ihnen Landtitel ausgestellt. Insgesamt konnten so 8624 Hektaren Land für arme Bauernfamilien zugänglich gemacht werden. Beim Land handelt es sich um brachliegendes Gemeindeland, auf das Landlose in Indien Anspruch haben.

Ein Resultat, das nicht zuletzt auch mit dem neuen HEKS-Kampagnenfilm «Naa Boomi» zu tun hat: Während der Dreharbeiten im Frühjahr 2013 versicherte der amtierende Revenue Minister vor laufender Kamera den HEKS-Mitarbeitenden aus der Schweiz und Indien, dem Gesetz Folge zu leisten und das Land bis Ende Jahr zu verteilen. (Filmszene: www.heks.ch/andhra-pradesh). HEKS arbeitet seit 55 Jahren in Indien. Seit rund zehn Jahren ist der Landkampf für benachteiligte Bevölkerungsgruppen ein Schwerpunkt, und seither hat HEKS rund 100 000 Hektaren Land für Landlose erkämpft. Im Jahr 2003 gründete HEKS in


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ner in Indien lung im indischen Gliedstaat Andhra Pradesh ilien Landtitel verteilt.

drei Bundesstaaten, in denen es tätig ist, Landrechtsforen. Deren Ziel ist es, die Aktivitäten der Partnerorganisationen für den Landkampf zu koordinieren. Die verschiedenen HEKS-Partnerorganisationen treffen sich in diesen Foren regelmässig, tauschen Informationen aus, besprechen Strategien und planen gemeinsame Aktivitäten. Zudem unterstützt HEKS die Bauernfamilien bei der Bewirtschaftung ihres neu erworbenen Landes sowie beim Aufbau neuer Wertschöpfungsketten und hilft ihnen so, sich eine neue Existenzgrundlage aufzubauen.

Guntipilli Chinnappa Siluvappan, Leiter des HEKS-Koordinationsbüros bei der Arbeit. Wer Land hat, muss etwas anpflanzen können. Es ist eine Form von Starthilfe, wenn Kleinbauernfamilien den klimatischen Bedingungen gut angepasstes Saatgut erhalten und verwenden können. Damit sollen die Erträge erhöht und die Abhängigkeit von Kunstdünger oder Pestiziden vermindert werden.

«Gesellschaftlicher Status und wirtschaftliche Entwicklung gehen Hand in Hand mit den Landtiteln» Die HEKS-Partnerorganisationen in Indien helfen Landlosen und Menschen ohne Landtitel durch die administrativen Mühlen hindurch, bis sie gesicherten Zugang zu einem Stück Land erhalten. Wenn nötig werden auch Protestmärsche organisiert, um Druck auf die zuständigen Stellen auszuüben. Bettina Filacanavo sprach mit dem Leiter des HEKS-Koordinationsbüros in Indien, Guntipilli Chinnappa Siluvappan. 9500 Familien haben Land erhalten, das sie in Zukunft bearbeiten können. Wer sind diese Familien? Von den Familien sind 59 Prozent Adivasi, also Ureinwohner Indiens, 12 Prozent sind Dalits, die in Indien zu den sogenannten Unberührbaren gehören, und 29 Prozent der Familien gehören zu den untersten Kasten im indischen Kastensystem. Sie haben alle gemein, dass sie von der indischen Gesellschaft ausgestossen werden und kaum Chancen haben, aus eigener Kraft der Armut zu entkommen. Was bedeutet es für diese Familien, eigenes Land zu besitzen? Ein Dokument zu besitzen, das bestätigt, dass man Eigentümer eines Landstücks ist, bedeutet, dass das Ansehen und somit der Status dieser Menschen in der Gesellschaft steigt. Sie werden respektiert. Sobald diese Familien Landtitel in der Hand haben, können sie zudem bei den Banken Kleinkredite beantragen und diverse staatliche Dienstleistungen zur Bearbeitung ihres Landes einfordern, wie etwa die Bereitstellung von Wasser oder Elektrizität. Dank diesen Ressourcen können sie sich eine Lebensgrundlage aufbauen und haben genügend Nahrung. Oberstes Ziel dieses Landkampfes ist es, das Ansehen dieser Menschen in der Gesellschaft anzuheben. Sie sollen respektiert werden. Gesellschaftlicher Status und wirtschaftliche Entwicklung gehen Hand in Hand mit den Landtiteln.


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Wie lange dauerte dieser Landkampfprozess vom Beginn weg bis zur Vergabe der Landtitel? Es kommt immer ein bisschen darauf an, wie die verantwortlichen PolitikerInnen kooperieren. Im Schnitt dauert dieser Prozess drei bis fünf Jahre. Die Landtitel sind den Kleinbauernfamilien nun zugesprochen, was ist der nächste Schritt, den die HEKS-Partnerorganisationen unternehmen werden? Wir kümmern uns in einem nächsten Schritt darum, dass die Familien auch wirklich zu ihren Dokumenten kommen. Die Familien müssen diese bei der lokalen Regierung abholen. Zudem unterstützen wir die Bauern dabei, ihr Land schnell bearbeiten zu können. Tun sie das nicht, kann ihnen die Regierung das Land wieder wegnehmen. Wir zeigen ihnen, wie sie die von der Regierung zur Verfügung gestellten Ressourcen nutzen können. Also wie sie zum Beispiel einen Kleinkredit aufnehmen, damit sie Saatgut kaufen können, oder sich den Zugang zu Wasser für die Bewässerung der Felder sichern können. Weiter zeigen wir ihnen, wie sie eine Wurmkompostanlage anlegen und mit dieser Erde ihre Felder düngen können. HEKS arbeitet in drei Regionen in Indien. Neben Andhra Pradesh auch in Karnataka und Tamil Nadu. Die Erfolgsmeldungen über erkämpftes Land für Landlose kommen aber hauptsächlich aus Andhra Pradesh. Ist es in den anderen beiden Gliedstaaten schwieriger, Land zu erkämpfen? In Andhra Pradesh hatten wir in den letzten zehn Jahren eine gute Zusammenarbeit mit der Regierung. Wir sind dort mit unseren Forderungen immer wieder auf offene Ohren gestossen. In den anderen beiden Regionen ist das leider nicht so. Obwohl wir in allen drei Regionen Landkampfforen bildeten, die Druck auf die Politik ausüben, weigern sich zum Beispiel in Tamil Nadu die verantwortlichen Regierungsmitglieder, den nationalen Forest Rights Act aus dem Jahr 2006 – eine nationale Gesetzgebung, die verlangt, dass den Adivasi das von ihnen genutzte Forstland zugesprochen werden muss – umzusetzen. Und dafür werden wir weiterkämpfen. Dazu ist eine von uns unterstützte Klage beim Gericht hängig. In Karnataka wiederum ist die politische Situation äusserst komplex, was unsere Arbeit erschwert. Aber auch dort verfolgen wir unser Ziel hartnäckig. Die neusten Entwicklungen in Andhra Pradesh sind wohl nicht ganz einfach für die Arbeit vor Ort: Die Abgeordneten des Oberhauses in Delhi haben im Februar die Gründung des neuen südindischen Gliedstaates Telangana beschlossen. Im Mai 2014 gibt es Neuwahlen. Was bedeutet das für die Fortsetzung der Arbeit von HEKS und seinen Partnerorganisationen? Wir gehen davon aus, dass wir in den nächsten ein bis zwei Jahren keine weiteren Landtitel erstrei-

ten können. Es muss zuerst klar sein, wer die neuen Verantwortlichen in den beiden Gliedstaaten sind. Wir werden aber so schnell wie möglich wieder bei den Verantwortlichen mit unseren Anliegen vorstellig werden. Wir konzentrieren uns deshalb in dieser Zeit auf die Bewirtschaftung des erstrittenen Landes und die Unterstützung jener Familien, die bereits Land erhalten haben. Konkreter heisst das, dass wir die Landwirtschaft fördern und die Bauern aus- und weiterbilden, damit sie sich zusätzliches Einkommen erwirtschaften und ein Leben in Würde führen können.

Gesetzlich verankerte Landrechte in Indien In Indien gibt es bereits gesetzliche Grundlagen, die landlosen Feldarbeitern, Dalits, Ureinwohnern (Adivasi), Männern und Frauen aus den ärmsten Schichten eigenes Land zugestehen. Das indische Forstgesetz («Forest Rights Act», seit 2006 in Kraft) besagt, dass Adivasi das von ihnen besiedelte und bebaute Forstland erhalten und Waldprodukte nutzen können. Sie sammeln Blätter, Früchte, Blumen, Feuerholz und andere Erzeugnisse, die sie selber nutzen oder verkaufen. Auch der «Andhra Pradesh Land Reforms Act» (seit 1973 in Kraft), besagt, dass Kastenlose und Menschen unterer Kasten, die brachliegendes Regierungsland während dreier Jahre bewirtschaftet haben, Landtitel dafür einfordern können. Deshalb ermutigen die HEKS-Partnerorganisationen

Lashiamma und ihr Mann werden von einem Mitarbeiter der HEKS-Partnerorganisation SES beraten. Die drei stehen auf dem Land, um das sie jahrelang gekämpft haben.

die Ärmsten der Bevölkerung, brachliegendes Land zu bebauen, um sich in einem weiteren Schritt die Landrechte zu sichern. Mit diesen Landrechten können die Landbesitzer auch am staatlichen Programm MGNREGA teilnehmen: Der «Mahatma Gandhi National Rural Employment Guarantee Act» ist ein im Jahr 2005 von Sonia Gandhi eingeführtes Regierungsprogramm, das allen Indern in ländlichen Gebieten 100 bezahlte Arbeitstage im Jahr garantiert – für viele ist das ein lebenswichtiges Zusatzeinkommen. Gleichzeitig können Menschen in Dorfgemeinschaften mit eigenem Land Anträge stellen für grössere Arbeiten, die im Rahmen des Programms auf ihren Feldern verrichtet werden müssen. Weiterführende Informationen zum Landkampf in Indien unter: www.heks.ch/handeln

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TRA N SPA R E N T

Politischer Entscheid bedeutet Ende für HEKS-Projekt VON NATALI VELERT

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ein präventives Programm der frühen Förderung für sozial benachteiligte und bildungsferne Familien mit oder ohne Migrationshintergrund. Seit 2009 führt HEKS das Spiel- und Lernprogramm im Auftrag des Sozialdepartements der Stadt Zürich im Stadtkreis Zürich Nord durch. Die Aufbauphase gestaltete sich aufwendig. Bei der Zielgruppe von «schritt:weise» handelt es sich um Familien, die oftmals zurückgezogen leben. Sie nutzen die bestehenden Angebote für Familien nicht oder kaum. Den Zugang zu dieser Zielgruppe zu finden, stellte eine Herausforderung dar, es galt, das Vertrauen und Interesse zu diesen Familien aufzubauen. Inzwischen läuft das Programm durch Mund-Propaganda sehr gut, da ehemals teilnehmende Familien in ihrem Bekannten- und Freundeskreis andere Familien darauf aufmerksam machen. Das Programm stärkt die Ressourcen und Kompetenzen der Familie im Alltag, fördert die Eigenverantwortung der Eltern und

unterstützt sie bei ihrer sozialen Integration. Im Herbst 2014 werden die letzten fünfzehn Familien ihre Teilnahme abschliessen. Dann endet die Pilotphase von «schritt:weise». Inzwischen hat das Sozialdepartement den strategischen Entscheid gefällt, dass die Arbeit in Familien neu in die Zuständigkeit der Sozialen Dienste des Sozialdepartements fällt und keine Aufträge mehr an Dritte erfolgen. HEKS bedauert diesen Entscheid sehr, weil es in den letzten Jahren viel Know-how und ein gutes Beziehungsnetz aufgebaut hat, das nun verloren geht. Der Entscheid zeigt auf, dass unsere Angebote von politischen Entscheidungsprozessen abhängig sind und dass auch dann, wenn sie sich in der Praxis bewähren, sie nicht immer Bestand haben. HEKS wird jedoch auch in Zukunft bedarfsund zielgruppengerechte Angebote anbieten und arbeitet aktuell an entsprechenden Abklärungen.

Foto: HEKS/Annette Boutellier

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EKS BETRACHTET soziale Integration als einen Prozess, der dazu beiträgt, dass alle Mitglieder unserer Gesellschaft am wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Leben teilhaben. Die Projekte, die HEKS im Inland durchführt, tragen dazu bei. Ein Lebensbereich, in welchem HEKS das erforderliche Fachund Erfahrungswissen aufgebaut hat, betrifft die frühe Kindheit. Eltern mit einer bescheidenen Schulbildung, die finanzielle und/oder berufliche Sorgen haben und über wenig soziale Kontakte verfügen, benötigen oftmals Unterstützung bei der Gestaltung einer entwicklungsfördernden Umgebung für ihre Kinder und bei deren Vorbereitung auf den Kindergarten. Ohne Unterstützung haben ihre Kinder bereits zu Beginn der Schulzeit schlechtere Startchancen. Mit dem Programm «schritt: weise» leistet HEKS einen wichtigen Beitrag zu mehr Chancengleichheit beim Schuleintritt. «schritt:weise» ist


HU MA N I TÄ RE HIL F E

VierJahre nach dem Erdbeben Nach dem verheerenden Erdbeben in Haiti im Januar 2010 schliesst HEKS derzeit seine Humanitäre H wässerungskanäle saniert, Strassen wieder instand gestellt, lokale Arbeiter und Bauern aus- und weiter VON VALENTIN PRÉLAZ

Foto: HEKS/Olivier Cosandey

Oben: 2800 Personen in Petit Goâve und Grand‘Anse erhielten ein neues Zuhause. Unten: Rückstaubecken, um das Wasser zu kanalisieren und zu sammeln.

Frühling die Ziele erreicht worden waren, schloss HEKS die Humanitäre Hilfe in Petit Goâve ab. Nur wenige Tage nach dem Erdbeben richtete HEKS in Port-au-Prince Strassenküchen ein. Während 100 Tagen bereiteten 42 lokale MitarbeiterInnen jeden Tag 3000 warme Mahlzeiten zu, die anschliessend in 12 Lagern in Pétion-Ville verteilt wurden. Auch im Südwesten der Insel, im Departement Grand’Anse, war das Hilfswerk kurz nach der Katastrophe im Einsatz. In dieser Region ist HEKS bereits seit Jahrzehnten mit Landwirtschaftsprojekten tätig und unterstützte nach dem Erdbeben Familien, die Verwandte aufnahmen, die aus der Region Port-au-Prince geflüchtet waren. Es verteilte ihnen Saatgut und Werkzeuge, damit sie mehr Bananen, Gemüse und Reis anbauen konnten, um sich und die Neuzugezogenen ernähren zu können. Wiederaufbau in Grand’Anse Trotz einem fragilen Umfeld konnten die Wiederaufbauarbeiten im Januar 2014 beendet werden: HEKS ist insbesondere stolz auf die 406 aufgebauten Häuser, ausgerüstet mit Toiletten, sowie die Infrastruktur zur Bewässerung. Letztere ermöglicht den Kleinbauern, ihre Felder selbst während der Trockenzeit zu bewirtschaften. In Grand’Anse wurden für Familien in 5 verschiedenen Gemeinden wie geplant 25 traditionelle Häuser gebaut, ausgestattet mit Öfen, Toiletten, Wasserzisternen und -filtern. Zudem wurden 23,2 Kilometer Strassen ausgebessert und 1,1 Kilometer betoniert. Daneben wurden Mauern in einer Länge von insgesamt 4,3 Kilometern erstellt, um die Strassen zu stützen. 1046 Schulkinder erhielten ein Stipendium. Weiter bildete HEKS Maurer und Klempner im Häuserbau aus. Auch nach Abschluss der Humanitären Hilfe werden die Projekte in den Bereichen Landwirtschaft und Wissensvermittlung wie bis anhin weitergeführt. Wiederaufbau in Petit Goâve Die meisten im Land aktiven NGO verliessen die Gemeinde Petit Goâve bereits Ende 2011. Einzig HEKS blieb länger vor Ort, um anstelle von temporären Unterkünften permanente Wohnunterkünfte zu bauen. Ein Konzept, das sich bewährt hat: Die bereits gebauten Häuser überstanden die Wirbelstürme im Jahr 2012, und die Begünstigten sind zufrieden. Sie konnten sogar Nachbarn und Angehörige bei sich aufnehmen, die in weniger soliden

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O R M E H R A L S V I E R J A H R E N , am 12. Januar 2010, wurde Haiti von einem Erdbeben der Stärke 7,3 auf der Richterskala erschüttert. HEKS führt seit mehr als vierzig Jahren auf Haiti Entwicklungs- und Soforthilfeprojekte durch und verfügte deshalb zum Zeitpunkt des Erdbebens bereits über lokale Partnerorganisationen sowie ein Koordinationsbüro in Port-au-Prince. Dank diesem Netzwerk konnte das Hilfswerk nach der Katastrophe rasch handeln und Soforthilfe leisten. Beim Wiederaufbau konzentrierte sich HEKS mit finanzieller Unterstützung der Glückskette auf die Regionen Grand’Anse und Petit Goâve. Nachdem diesen

Foto: HEKS/Olivier Cosandey

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in Haiti – HEKS zieht Bilanz ilfe in Grand’Anse und Petit Goâve ab. Es wurden Häuser, Stützmauern und Wassertanks gebaut, Begebildet und Schulstipendien verteilt. In vier Jahren hat HEKS, trotz steinigem Weg, das Ziel erreicht.

ligung der Begünstigten verlangte und sie bei Entscheidungen involvierte, hat sich bewährt: Die Eigeninitiative und das Engagement der lokalen Bevölkerung wurden gestärkt. Zusätzlich bildete HEKS unter den haitianischen Maurern und Zimmerleuten, die beim Aufbau mitarbeiteten, mehr als 80 Vorarbeiter aus. Schwierige Bedingungen HEKS hat in Petit Goâve jedoch in einem fragilen Umfeld und unter schwierigen Bedingungen gearbeitet, und die Aufbauarbeiten nahmen mehr Zeit in Anspruch als geplant. Dies war vor allem auf die

Marie Alina vor ihrem neuen Haus in Petit Goâve.

Foto: HEKS/Andreas Schwaiger

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Unterkünften lebten, die dem Hurrikan nicht standhielten. HEKS hat die Behörden und die lokale Bevölkerung so stark wie möglich in seine Projekte mit einbezogen. So wählte die Bevölkerung in Petit Goâve schon vor Baubeginn lokale Komitees. Diese wurden anschliessend mit einer Vorauswahl der potenziell Begünstigten beauftragt. Das Projekt richtete sich hauptsächlich an alleinerziehende Familien, Grossfamilien und Familien mit Angehörigen, die aufgrund des Erdbebens körperlich behindert sind. Die Begünstigten und ihre Familien leisteten ihren Beitrag, indem sie beim Bau mithalfen. Der partizipative Ansatz, der eine aktive Betei-


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Unterstützung der Kleinbauernfamilien Seit April 2011 führte HEKS in Petit Goâve mit Unterstützung der Glückskette zudem ein Projekt zur Diversifizierung der Existenzgrundlagen durch. Bis Ende Januar 2014 waren 11 Wassertanks aus Backsteinen fertiggestellt. Während der Trockenzeit ermöglichen diese Vorrichtungen das Auffangen des Regenwassers und das Speisen der von HEKS erstellten Tropfbewässerungssysteme. Durch das Errichten eines Damms, der flussaufwärts das Wasser des Caiman filtert, sowie die Sanierung von Bewässerungskanälen von einer Länge von insgesamt 2,5 Kilometern kann das Regenwasser aufgefangen und auf die Gemüseanbauflächen verteilt werden, ohne dass die Wasserbezüger flussabwärts benachteiligt werden. Zusätzlich wurde ein Aquädukt gebaut, um dieses Wasser vom anderen Ufer herbeizuführen. Gleichzeitig wurden auch Ausbildungsprogramme in den Bereichen Obstanbautechniken und Baumveredelung angeboten. Diese stiessen bei der Bevölkerung auf grosses Interesse. Schliesslich wurden noch 8 Spar- und Kreditgruppen gegründet.

Pe tit G oâ ve

Schliessung des Büros in Petit Goâve Am 23. Januar 2014 organisierte HEKS eine Feier für die Übergabe der Hausschlüssel an die letzten Begünstigten. In Petit Goâve und in Grand’Anse profitieren nun 2800 Personen von permanenten Wohnunterkünften: 406 Häuser und Toiletten sind gebaut worden. Diese Feier bedeutete gleichzeitig das Ende der Humanitären Hilfe in Haiti und die Schliessung des HEKS-Büros in Petit Goâve. HEKS wird sich nunmehr auf die laufenden Aktivitäten im DeHAITI partement Grand’Anse konzentrieren, wo verschiedene Projekte zur ländlichen Entwicklung und zum Port-au-Prince ● Aufbau von Infrastruktur fortgesetzt werden. DOMINIKANISCHE REPUBLIK

KUBA

G ra nd ’A ns e

Schwierigkeiten bei der Rekrutierung von geeignetem Personal zurückzuführen und auf die Herausforderung, mit einem gemischten Team aus ausländischen und lokalen Arbeitskräften zu arbeiten. Zusätzlich hatte die Abklärung der Besitzverhältnisse mehr Zeit in Anspruch genommen als vorgesehen, wie auch die Zusammenarbeit mit den Behörden. Schliesslich konnten bei kontroversen Aspekten, wie der Fläche der zu bauenden Häuser, Kompromisse gefunden werden. Die Erfahrung hat auch gezeigt, dass es kostengünstiger ist, beschädigte Häuser abzubrechen und neue aufzubauen, als diese zu reparieren. Im Rahmen von HEKS-inter-

Haiti: Das ärmste Land der westlichen Hemisphäre war am 12. Januar 2010 von einem Erdbeben der Stärke 7.3 erschüttert worden. Rund 250 000 Menschen starben, über eine Million wurde obdachlos. Noch immer leben rund 170 000 Menschen in Zeltlagern, die Armut ist gross, der Wiederaufbau kommt nur schleppend voran.

nen Kontrollen wurden zudem im September 2012 Unregelmässigkeiten im Warenlager in Petit Goâve festgestellt. Ein lokaler Mitarbeiter wurde dringend verdächtigt, zusammen mit Komplizen 328 000 Franken veruntreut zu haben. In der Folge hat sich HEKS von den Hauptverdächtigen wie auch von den massgeblich verantwortlichen Mitarbeitenden getrennt. Gegen die Hauptverdächtigen läuft ein Strafprozess. Die operative Arbeit in Petit Goâve musste in der Folge vorübergehend eingestellt werden. Mit einem neu gegründeten Department für Logistik und neuen Personen in Schlüsselpositionen gelang der Neustart und das Projekt konnte schliesslich erfolgreich abgeschlossen werden. Der Schaden konnte durch Rückstellungen aus Wertschriftenerträgen gedeckt werden, es waren also keine Spendengelder davon betroffen.

Weitere Informationen: www.heks.ch/handeln

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Foto: HEKS/Olivier Cosandey

Neue Bewässerungsinfrastrukturen helfen den Kleinbauernfamilien, ihre Felder zu bewässern. Oben: Bewässerungskanäle Unten: Tröpfchenbewässerung

Foto: HEKS/Olivier Cosandey

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Das können Sie tun: Bringen Sie einen jungen Erwerbszweig zum Blühen! VON MONIKA ZWIMPFER

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Foto: HEKS/Karin Desmarowitz

Frauengruppe des Dorfes Daga auf dem Gemeinschaftsfeld. Die Frauen sammeln und binden Kinkéliba-Zweige, mit denen Tee zubereitet wird.

An der Petite Côte, südlich von Senearbeiten und damit ein Zusatzgals Hauptstadt Dakar, ist der Klimaeinkommen zu erwirtschaften. Die wandel schon seit längerem spürbar. lokale HEKS Partner-Organisation Die Regenzeiten werden immer kürACCES («Association d’Actions Conzer, und die Trockenperioden dehnen certées pour l’Entraide et la Solidasich aus. Darunter leiden die Ernten rité») bot ihnen Unterstützung an. und auch das Vieh der Kleinbauernfamilien. Für viele von ihnen ist es unVerdienst für 1500 Frauen möglich geworden, allein von der Zuerst sprachen die Frauen bei den Landwirtschaft zu leben. Behörden vor, um brachliegendes GeVor rund sieben Jahren wurde in meindeland in sogenannte «Aires der Gegend das «Centre Mampuya» protégées», geschützte Allmenden, gegründet. Das Kultur- und Ökozenumzuwandeln. Dann pflanzten sie urtrum machte es sich zur sprüngliche Wildpflanzen Aufgabe, die von Dornbüwie Kel, Kinkéliba, MbaniaFür 360 Franken im schen überwucherte Hügeloder Hennasträucher an. Jahr: Eine Patenlandschaft wieder mit der Eine zentrale Baumschule lieschaft für Kleinbauursprünglichen Vegetation zu fert die Setzlinge. Um die ernfamilien bepflanzen. Die Vielfalt der Jungpflanzen vor Wind und Mit einer Patenschaft einst einheimischen Bäume Erosion sowie Ziegen und für Kleinbauernfamilien und Sträucher sollte wiederSchafen zu schützen, wurhelfen Sie Menschen hergestellt und nach herden Schutzhecken angelegt. wie Madame Ciss, mit kömmlicher Tradition genutzt Ein Brunnen dient der Beeiner Starthilfe, einem werden. wässerung. Nach der Ernte Kredit oder einem Der sichtbare Erfolg diewerden die Früchte, Blätter, Kleinhandel ein zusätzser Massnahmen weckte die Samen und Rinden frisch liches Einkommen zu Aufmerksamkeit der Frauenoder getrocknet verkauft erwirtschaften und gruppen aus den umliegenoder zu Sirup, Salben oder damit die Lebensqualiden Dörfern. Auch sie wollten Tinkturen verarbeitet. tät ihrer Familien zu versuchen, die wild wachsenBis heute sind 19 solcher verbessern. Herzlichen den Pflanzen nach ihrem traAllmenden entstanden, und Dank. ditionellen Wissen zu verrund 1500 Frauen pflegen

und nutzen sie. So auch Madame Ciss. Ihre Familie lebt hauptsächlich vom Ackerbau und hält einige Schafe und Ziegen. Doch die Erträge aus der Landwirtschaft reichen nicht für den Lebensunterhalt. Auch die steigenden Preise für Reis, Öl und Zucker machen ihr zu schaffen. Als Mitglied einer Frauengruppe pflegt und nutzt sie die Wildpflanzen einer geschützten Allmend. Die Gruppe hat ihr einen Kredit von knapp 100 Franken gewährt. Damit will sie nun einen Kleinhandel aufbauen: Sie kauft den anderen Frauen einen Teil ihrer Kinkéliba-, Kel- und Mbania-Ernte ab, verarbeitet und konfektioniert sie, um sie dann auf dem Markt in einem Vorort von Dakar zu verkaufen. «Jedes Mal, wenn ich nach Thiaroye fahre, kann ich etwa tausend ‹Baguettes› aus KinkélibaZweigen, fünfhundert Kränze für KelTee und fünf bis zehn Kilo frische Mbania-Beeren mitnehmen», sagt sie. Pro Baguette verdient sie 10 Francs, pro Kilo Mbania rund 200 Francs, etwa 38 Rappen. Mit dem Erlös trägt sie zum Familieneinkommen bei und bezahlt den Kredit mit 10 Prozent Zins zurück. Die Allmenden sind zu Einkommensquellen für rund 1500 Familien geworden und entwickeln sich zu einem neuen Erwerbszweig für Menschen, die vorher kaum mehr Zukunftsperspektiven in ihren Heimatdörfern sahen. Weitere Auskunft erteilt Ihnen gerne: Susanne Loosli, Tel. direkt 044 360 88 09, E-Mail patenschaften@heks.ch. Den Anmeldetalon finden Sie auf der Rückseite dieser Ausgabe.


E NT WI CK LU N G L Ä N D L ICH E R G E M E IN S C HAFTEN

Den Lebensabend in Würde verbringen Früher galt die Republik Moldau aufgrund ihrer florierenden Landwirtschaft als Kornkammer der UdSSR. Heute ist sie das ärmste Land Europas. Ein Drittel der arbeitsfähigen Bevölkerung ist ausgewandert – Kinder und ältere Menschen bleiben zurück. VON JOËLLE HERREN

Zurückgelassene Eltern Das Drama, das sich in der Republik Moldau abspielt, ist offensichtlich:

Viele Häuser sind verlassen und die Felder liegen brach. Ein Drittel der fast vier Millionen Einwohner verlässt das Land, weil es an Arbeit fehlt. Die meisten arbeiten als Saisonniers in Russland, weil dort für einen dreimonatigen Aufenthalt kein Visum verlangt wird. Die anderen leben – meist illegal – in Rumänien, Italien, Griechenland, Spanien, Portugal oder Frankreich. Der Republik Moldau bringt dies Einnahmen; für die Kinder und älteren Menschen, die sich selbst überlassen werden, sind die sozialen Konsequenzen jedoch schlimm. Die 78-jährige Tatiana Dimitriv ist in ihrem Haus gefangen. Ihre nach Frankreich und Russland ausgewanderten Kinder schicken ihr zwar Geld für Lebensmittel, aber mit ihrer Hepatitis und den Schmerzen, die sie ans Bett fesseln, muss sie alleine zurechtkommen. Gesellschaft leistet ihr einzig ein Fernsehgerät. Damit ältere Menschen, die isoliert, krank oder in ihrer Bewegung eingeschränkt sind, trotzdem zu Hause bleiben können, hat HEKS 2010 einen Hauspflegedienst gegründet. Vom «Centre for Social and Medical Assistance at Domicile» (CASMED) profitieren gegen 300 Be-

Die Betreuerinnen von CASMED mit der 78-jährigen Tatiana Dimitriv, deren Kinder – wie viele junge MoldawierInnen – im Ausland leben.

günstigte in 11 Dörfern im Norden des Landes. Jährlich erfolgen zwischen 20 000 und 25 000 Hausbesuche. Die Dienstleistungen umfassen Pflege und Unterstützung im Haushalt oder Arbeiten wie Schneeräumen, Einheizen, Einkaufen und Wäschewaschen. Erfolgsrezept: Alle beteiligen Das Projekt CASMED benötigt in jedem Dorf die finanzielle und praktische Unterstützung der Behörden: Diese stellen die Räumlichkeiten für Büro und Waschmaschine zur Verfügung und kommen für einen Teil der Löhne und der Kosten für Hygieneprodukte auf. Das Projekt übernimmt die Pflege und delegiert die Arbeiten im sozialen Bereich an lokale Organisationen. «Im Unterschied zu anderen Institutionen verlangen wir einen bescheidenen finanziellen Beitrag von den Begünstigten», erklärt Véronica Cazacu, Direktorin der HEKS-Projekte in der Republik Moldau. «Damit tragen wir zu einer globalen Verbesserung der Sozialdienste bei, die von der Gemeinschaft benötigt werden. Wir sind guter Hoffnung, dass unsere Tätigkeit langfristig weiter getragen wird.» Nachdem die Pflegerin Frau Dimitriv versorgt hat, überlässt sie den Platz der Sozialhilfe Neagu. Diese bringt einen Eimer mit Wasser, da das Haus über kein fliessendes Wasser verfügt, sowie Gemüse für eine Suppe. Frau Dimitriv vertraut uns an, dass sie wieder auflebe, seit sie regelmässig betreut werde: «Dank der Massagen kann ich wieder laufen, ich kann sogar ganz alleine zur Kirche gehen!» Die Angestellten von CASMED stellen bei den von ihnen betreuten Patientinnen und Patienten wirklich grosse Fortschritte fest. «Was gibt es Wichtigeres», sagt die Direktorin, «als dieses Lebensalter in Würde und umsorgt zu verbringen?»

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Tatiana Dimitriv, 82 Jahre alt, sitzt auf einem Stuhl auf der Vortreppe ihres Hauses und wartet auf die Pflegerin. Als diese eintrifft, erhellt sich ihr Gesicht. Jeder Besuch bedeutet eine willkommene Abwechslung zur alltäglichen Einsamkeit. Die Pflegerin Liliane wird so herzlich empfangen wie eine eigene Tochter. «Sie ist meine rechte Hand!», ruft Frau Dimitriv freudig aus. Liliane schaut zwei- bis dreimal pro Woche nach ihr. Sie misst den Blutdruck und massiert die Füsse, da die alte Dame Mühe hat, sich zu bewegen. Wir befinden uns im Dorf Pârlita, im Norden der Republik Moldau. Zahlreiche Frauen im Ruhestand leben hier in prekären Verhältnissen, wie überall in diesem hügeligen und von Landwirtschaft geprägten Land. Zur Sowjetzeit arbeitete Frau Dimitriv in einer Kolchose. Heute bezieht sie eine Rente von 60 Franken pro Monat, gerade die Hälfte des Existenzminimums. Ihre vier Kinder leben im Ausland und besuchen sie nur selten.

Foto: HEKS/Pieder Casura

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N A H E BEI D E N M E N S CH E N

10 Fragen an Lhakpa Kyang, Teilnehmer bei «HEKS rollt» in Kloten lese in jeder freien Minute. Bei meiner Arbeit als Velokurier erlebe ich oft glückliche Momente, wenn meine Arbeit geschätzt wird. Das Lachen der Kunden gibt mir das Gefühl, ein wertvoller Mensch zu sein und auch gebraucht zu werden.

Foto: HEKS/Beni Basler

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Nach seiner Flucht aus dem von politischen Unruhen erschütterten Tibet kam Lhakpa Kyang in die Schweiz, wo er seit 2011 mit seiner Frau lebt. Die ersten Monate verbrachte er in einem Durchgangszentrum für Asylsuchende, bis er schliesslich in Wädenswil am Zürichsee sesshaft wurde. Seit rund eineinhalb Jahren arbeitet er nun als fliegender Velokurier beim Integrationsprojekt «HEKS rollt».

1 Was machen Sie heute beruflich? Zurzeit bin ich Teilnehmer bei «HEKS rollt» und arbeite beim Hauslieferdienst in Kloten und Uster, wo ich meist älteren Leuten dabei helfe, ihre Einkäufe nach Hause zu fahren. Daneben besuche ich einen Deutschkurs und einen Vorbereitungskurs für die Ausbildung zum Pflegehelfer.

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2 Was beschäftigt Sie momentan am meisten? Die aktuelle Situation in Tibet. Das machtlose Zusehen, wie mein Volk in dem Land, in dem ich bisher gelebt habe, unterdrückt wird. 3 Wie sind Sie mit HEKS in Kontakt gekommen? Im Jahr 2012 wurde ich durch meine Betreuerin über das Projekt «HEKS rollt» informiert. Es hat mich sofort begeistert. Zum ersten Mal erhielt ich hier in der Schweiz eine Beschäftigung, in der ich eine Funktion habe. Da ich zu diesem Zeitpunkt keine sinnvolle Tagesstruktur hatte, nahm ich die Chance, die mir gebo-

Was macht Ihnen Angst? Ich habe oft Zukunftsängste. In Bezug auf meinen beruflichen Werdegang macht es mir auch Angst, dass ich trotz Deutschkurs Mühe habe, die Schweizer mit ihrem Schweizer Dialekt zu verstehen. Aber der direkte Kundenkontakt bei «HEKS rollt» hilft mir dabei, das Schweizerdeutsch besser zu verstehen. Auch der Konflikt in Tibet bereitet mir Angst. Er wird wohl nicht so schnell enden.

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ten wurde, wahr. Ich bereue den Schritt bis heute nicht, denn ohne dieses Projekt hätte ich es nie geschafft, mit so vielen Schweizerinnen und Schweizern in Kontakt zu kommen. Das hilft mir bei der Integration und auch beim Deutschlernen.

Was bringt Sie zum Lachen? Offensichtliches Lügen bringt mich zum Lachen. Als ich zum Beispiel in Tibet als Lehrer unterrichtete, habe ich ein Kind gefragt, ob es ein Bonbon gestohlen hätte. Es antwortete mit «Nein», obwohl der Mund noch klebrig war. Im Allgemeinen bringen mich Kinder sehr zum Lachen. Sie haben das ehrlichste Lachen.

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Wie wohnen Sie? Ich wohne zusammen mit anderen Tibetern in einer 3,5-Zimmer-Gemeinschaftswohnung der Gemeinde Wädenswil. Meine Frau und ich teilen uns ein Zimmer. Die Wohnung ist nur fünf Gehminuten vom Bahnhof entfernt mit vielen Einkaufsmöglichkeiten.

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Was haben Sie gestern gegessen? Gestern zum Abendessen habe ich zusammen mit meiner Frau eine tibetische Nudelsuppe, genannt Thukpa, gekocht. Wenn wir Zeit haben, kochen wir oft unsere tibetischen Traditionsgerichte.

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Was macht Sie glücklich? Lesen macht mich glücklich, ich

Ein schöner Moment, an den Sie sich erinnern? Beim letzten Weihnachtsessen in unserem Projekt, als alle miteinander friedlich Weihnachten feierten. Es gab Essen aus unterschiedlichen Kulturen, welches die Teilnehmenden mitgebracht hatten. Wir tauschten unsere Erlebnisse und Erfahrungen aus. Ich bekam sogar ein Geschenk als Belohnung für meine geleistete Arbeit. Das war das schönste Weihnachtsgeschenk. Es war ein Büchergutschein.

10 Was ist Ihr grösster Wunsch? Ein guter Abschluss in meinem Kurs als Pflegehelfer, damit ich in Zukunft als Pfleger arbeiten kann. Und mein grösster Wunsch wäre: Freiheit für mein Volk in Tibet.


DE R ZEI TZEU G E

Hätte man ihm damals, am 1. April vor 27 Jahren, gesagt, dass er bis hauptung vielleicht für einen Scherz gehalten. Doch es kam genau so: Ruedi Lüscher, verantwortlich bei HEKS für die Fotografie und das gesamte Bildarchiv, geht in wenigen Wochen in Pension. 124 Ausgaben

Foto: HEKS/Ueli Locher

zu seiner Pensionierung bei HEKS arbeiten würde, er hätte die Be-

Augenzeugen VON RUEDI LÜSCHER

Vor 26 Jahren habe ich in der damaligen «HEKS-Zeitung» zum Fotoarchiv, zur Fotografie, zu den Fotos bei HEKS geschrieben: «Fotos zeigen uns Facetten des Lebens, die wir auf fast keine andere Art und Weise so direkt wahrnehmen können. Die Fotografie wirkt unmittelbar und ist an keine Sprache gebunden. Ohne Fotos blieben viele Fälle von Ungerechtigkeit, Verfolgung und Unterdrückung blass. Ich denke an Auschwitz, Hiroshima, Vietnamkrieg, Apartheid, Hungerkatastrophen, Bürgerkriege, Flüchtlingselend. Haben wir noch Blicke für Bilder? Lassen wir uns von ihnen überfluten oder drängen Fotos uns dazu, bewusster zu handeln? Was bedeutet es, wenn Regierungen das Fotografieren von Ereignissen verbieten? Vielleicht das, dass Bilder nicht lügen?» Nach 27 intensiven Arbeitsjahren, immer mit dem Anspruch im Herzen, die Welt ein bisschen zum Bessern zu verändern, verlasse ich HEKS und gehe in den Ruhestand. Die Bilderflut wurde während meiner HEKS-Jahre immer grösser, unermesslicher. Überall wird fotografiert. Von allen Ecken der Erde ist jederzeit zu allem sofort ein Foto erhältlich. Schön ausgeleuchtete, retuschierte Menschen, alles ist aufgeblitzt und funkelnd. Lügen deshalb Bilder nicht? Die Bildsprache der Medien, auch der Hilfswerke, hat unsere Sichtweise verändert, geprägt. Auch ich habe Ihnen, liebe Leserin, lieber Leser des «handeln», Fotos von aktiven, starken und selbstbewussten Menschen gezeigt. Ich und HEKS haben unseren Begünstigten ein Gesicht gegeben. Die Fotos haben sicher nicht gelogen, sie waren authentisch. Trotzdem, sie waren nie die ganze Wahrheit, nie das Leben, die Realität der Ärmsten. Wir haben aber versucht, eine Ahnung davon zu vermitteln. Das Bild ist losgelöst von der Wirklichkeit realer geworden. Die Wahrheit sehen wir nicht mehr, wir sehen die Bilder. Bei HEKS haben wir selten solche Fotos gezeigt, wie von diesem hungernden Kind aus Niger. Weshalb? Die Empörung über solche Fotos ist gross. Wir reden dann bald von Würde und Ethik. Weshalb empören wir uns nicht über die Realität? Vermutlich weil das Leben dieses Kindes nicht mehr zu unserer Lebensweise, zu unserem Weltbild passt.

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37 des Spendenmagazins «handeln» (früher noch «HEKS-Zeitung») hat er mitgestaltet, und die Nummer, die Sie soeben in den Händen halten, ist nun seine letzte. Wir danken Ruedi Lüscher für seine engagierte und professionelle Mitarbeit und seine vielen Anregungen und Ideen in all

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Foto: HEKS/Annette Boutellier

den Jahren.

Die Menschen im westafrikanischen Sahelland Niger sind immer wieder mit Dürreperioden und Hungerkrisen konfrontiert. Mangelernährung ist vor allem bei Kleinkindern ein grosses Problem. 44 Prozent der Bevölkerung müssen mit weniger als 1,25 Dollar pro Tag auskommen. Im «Human Development»-Index der Uno liegt Niger auf dem letzten Rang. HEKS ist seit der grossen Dürre der siebziger Jahre in Niger tätig und finanziert Entwicklungsprojekte, die langfristig bessere Lebensbedingungen für die Begünstigten schaffen. Während der akuten Hungerkrisen leisten HEKS und seine Partner Humanitäre Hilfe. www.heks.ch/weltweit/afrika/niger/


NIC HT V ERPA SSE N

Das Capriccio Barockorchester hat sich bereits kurz nach seiner Gründung 1999 an die Spitze der einheimischen Barockorchester gespielt. «Capriccio» veranstaltet eigene Konzertreihen im Aargau, in Basel und Zürich und brilliert mit herausragenden ExponentInnen der historischen Aufführungspraxis.

Benefizkonzert zugunsten von HEKS Am Montag, 2. Juni 2014, werden in der Tonhalle in Zürich die Motetten von Johann Sebastian Bach aufgeführt. Sie gelten als höchste Chorkunst. Mozart soll beim Hören dieser Werke seine «innigste Verehrung» ausgedrückt haben. Die meist doppelchörigen Kompositionen stellen enorme Anforderungen an die Singenden. In virtuosen Koloraturen wird die Stimme oft wie ein Instrument eingesetzt, weshalb diese Meisterwerke selten alle zusammen in einem Konzert zu hören sind. Die

Motetten werden durch die schönsten Arien aus Bach-Kantaten ergänzt. Die Leitung hat Ulrich Meldau. Das Bach Ensemble Zürich hat sich kurz nach seiner Entstehung 2009 als erstklassiger und flexibler Klangkörper profiliert und 2012 in einem HEKS-Benefizkonzert mit der h-Moll-Messe begeistert. Unter der Leitung von Ulrich Meldau werden in der Kirche Enge, Zürich, regelmässig Werke von J.S. Bach aufgeführt. Solistinnen und Solisten: Penelope Monroe, Ulla Westvik (Sopran); Breno Quinderé, Jan Thomer (Alt); Achim Glatz, Ivo Haun (Tenor); Francis Benichou, Tobias Wicky (Bass).

Ticket-Bestellung Datum: Montag, 2. Juni 2014 Zeit: 19.30 Uhr Ort: Tonhalle Zürich, grosser Saal Die Karten können bestellt werden unter www.bach-ensemble.ch 1. Kategorie Fr. 90.– 2. Kategorie Fr. 80.– 3. Kategorie Fr. 50.– 4. Kategorie Fr. 40.– Jugendliche bis 18 Jahre, Studierende und AHV-RentnerInnen haben in der 3. Kategorie Fr. 10.– Ermässigung. Die Karten werden mit Rechnung zugestellt. Rückfragen: Flavio Vassalli, Tel. 079 405 34 61

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