Wie Gott zur Welt kommt: Bausteine f端r Weihnachtspredigten HEKS-Weihnachtsaktion 2014
Hilfswerk der Evangelischen Kirchen Schweiz
Wie Gott zur Welt kommt: Bausteine für Weihnachtspredigten Zu jener Zeit, vor zirka zweitausend Jahren, kam Gott zur Welt und wurde von seiner Mutter in Windeln gewickelt. Doch nicht nur: Gott kam zur Welt auch vor aller Zeit, und Gott kommt zur Welt in unserer Zeit, er wird «allezeit, ohne Unterlass in uns geboren». So sagt es der deutsche Mystiker Johannes Tauler (um 1300 bis 1361) in einer Weihnachtspredigt. Mit seinem Konzept der «dreifachen Gottesgeburt» befassen sich die diesjährigen Predigt-Bausteine zur Weihnachtszeit. Sie sind konzipiert als Trilogie für die Christnachtfeier, den Weihnachtsgottesdienst und den Gottesdienst am zweiten Weihnachtstag. Indessen gehen wir davon aus, dass den Manuskripten auch einzelne Elemente – im Sinn von Bausteinen – entnommen werden können.
Andreas Fischer, reformierter Pfarrer in Zürich-Schwamendingen Liv Kägi, derzeit Vikarin in Zürich-Schwamendingen
Inhalt Predigt I: Gottesgeburt vor aller Zeit (Andreas Fischer)
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Predigt II: Gottesgeburt zu jener Zeit (Liv Kägi)
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Predigt III: Gottesgeburt in dieser Zeit (Andreas Fischer)
Seite 15
Die HEKS-Weihnachtskampagne online: www.heks.ch/sammelkampagne Kontakt und Information: Sara Baumann, Telefon direkt 044 360 88 10, E-Mail projektdienst@heks.ch
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Predigt I: Gottesgeburt vor aller Zeit (Andreas Fischer) Einleitung Es ist dies eine der grossen Fragen des Glaubens: Was die Geburt Jesu mit uns zu tun hat? Die Distanz zwischen damals und heute beträgt ja doch zweitausend Jahre. Und die Distanz zwischen Bethlehem und Zürich dreitausend Kilometer. Was also hat das eine mit dem anderen zu tun? Johannes Tauler, ein Dominikanermönch, der im 14. Jahrhundert lebte, gibt auf die Frage eine überraschende Antwort. Es gebe, sagt er, eine dreifache Geburt. Gewiss kam Gott zur Welt zu jener Zeit, «als es sich begab, dass von dem Kaiser Augustus ein Gebot ausging, dass alle Welt geschätzt würde», wie es in der lukanischen Weihnachtsgeschichte heisst. Gott kam zur Welt in Gestalt eines Kindes, das von seiner Mutter in Windeln gewickelt und in eine Futterkrippe gelegt wurde in einem Stall. Doch dies ist, gemäss dem Modell der dreifachen Gottesgeburt von Tauler, erst die zweite Geburt. Die erste ereignet sich vor aller Zeit «in der», wie Tauler sagt, «dunklen, verborgenen, unerkannten Gottheit». Das ganze werdende Universum kann als Geburtsgeschehen verstanden werden, in dem Gott «im Anfang», im Alpha-Punkt, aus sich hinausgeht und einst, am Punkt Omega, wieder zu sich selbst zurückkehrt. Denn Gott ist nicht statisch. Sein Wesen ist Liebe, und zur Liebe gehört wesentlich, dass sie sich ausgiesst, dass sie ausfliesst und Neues werden lässt. Die erste Geburt symbolisiert diese überfliessende Liebe Gottes vor aller Zeit und in Ewigkeit. Während die erste Geburt weit hinausweist, bis an den äussersten Rand des Universums, führt die dritte Geburt tief hinein, ins Innerste, in die anima, die Seele. Gott, der Mensch geworden ist, kommt auch in und durch uns zur Welt, er wird «allezeit, ohne Unterlass in uns geboren». Wir alle, sagt Tauler, nicht nur Maria, seien «Mütter der göttlichen Geburt». In einem Zyklus von drei Gottesdiensten sollen diese drei Phasen der Gottesgeburt dargestellt werden. Beginnen wir heute, in der Christnacht, mit der Gottesgeburt vor aller Zeit. In dieser Nacht haben die Engel ihr «Gloria» angestimmt: «Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden». In diesem Lobgesang wird deutlich: Was an Weihnacht geschieht, umfasst nicht nur uns Menschenkinder, es umfasst die ganze Welt, es ist ein universales Geschehen. Diese kosmische Dimension dessen, was sich in der Weihnacht ereignet, kommt nirgends deutlicher zur Sprache als im Christushymnus, der uns im Kolosserbrief überliefert ist.
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Jesus von Nazaret, Zimmermannssohn und Wander-prediger, dessen Geburt in einem Stall zu Bethlehem wir heute feiern, wird in diesem Text mit metaphysischen Begriffen als Ebenbild des unsichtbaren Gottes und Erstgeborener vor aller Schöpfung bezeichnet. Dieser Mensch, dessen kurze Lebenszeit vor 2000 Jahren zu Ende gegangen ist, umfasst zugleich das Universum, er, Christus, ist Ursprung, Ziel und Mitte des Alls. Hören wir aus dem 1. Kapitel des Kolosserbriefs die Verse 15-20:
Text: Das Geheimnis Gottes (Kol. 1, 15-20) 15 Er, Christus, ist das Ebenbild des unsichtbaren Gottes, der Erstgeborene vor aller Schöpfung. 16 Denn in ihm wurde alles geschaffen im Himmel und auf Erden, das Sichtbare und das Unsichtbare, ob Throne oder Herrschaften, ob Mächte oder Gewalten; alles ist durch ihn und auf ihn hin geschaffen. 17 Und er ist vor allem, und alles hat in ihm seinen Bestand. 18 Er ist das Haupt des Leibes, der Kirche. Er ist der Ursprung, der Erstgeborene aus den Toten, damit er in allem der Erste sei. 19 Denn es gefiel Gott, seine ganze Fülle in ihm wohnen zu lassen 20 und durch ihn das All zu versöhnen auf ihn hin, indem er Frieden schuf durch ihn, durch das Blut seines Kreuzes, für alle Wesen, ob auf Erden oder im Himmel.
Predigt «Christus ist das Haupt des Leibes, der (Leib aber ist die) Kirche», heisst es in dem Hymnus aus dem Kolosserbrief, den wir zuvor gehört haben. Schon lange ist der Forschung diese Formulierung «der (Leib aber ist die) Kirche» seltsam vorgekommen. Sie passt nicht zu dem, was der Hymnus vorher und nachher singt und sagt, da geht es um Himmel und Erde, um die Fülle, das All. Es geht um die Schöpfung als ganze und nicht um eine religiöse Gemeinschaft. – Ausserdem ist in der Antike der Leib selber ein Bild, eine Metapher für das Universum. Deshalb ist man in der neutestamentlichen Forschung der Ansicht, dass «die Kirche» ein späterer Zusatz ist, der die kosmisch weite Sicht nachträglich einengt auf die «Kirche» und die Versöhnung des Alls beschränkt auf die Versöhnung «eines Teiles der Menschheit» (Eduard Schweizer, Der Brief an die Kolosser, Zürich, Einsiedeln, Köln und NeukirchenVluyn, 3/1989, S. 69). Und noch eine Formulierung wirkt «merkwürdig nachgetragen» (ebd. S. 70): «Gott», heisst es in der Lesung, «schuf Frieden durch ihn, durch das Blut seines Kreuzes, für alle
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Wesen.» Auch hier vermutet man einen späteren Zusatz, der die unerhört weiten Vorstellungen von Allversöhnung und Einwohnung des ganzen Kosmos in Christus reduziert auf vertraute Konzepte. Gehen wir also, wie die Forschung es tut, davon aus, dass «Kirche» und «Kreuzesblut» spätere Zusätze seien. Dann bringt dieser Lobgesang gleichsam die kosmische Dimension dessen zur Sprache, was wir in der Weihnacht feiern: Das Werden der Welt ist ein Geburtsprozess, der durch den Erstgeborenen stattfindet, in ihm und auf ihn hin. Das ganze Weltgeschehen wird durch Christus angestossen und angezogen, alles hat in ihm seinen Bestand. Wissenschaftler sagen, dass das Universum ca. 14 Milliarden Jahre alt ist. Vor etwa viereinhalb Milliarden Jahren ist unsere Erde entstanden. Und jetzt stellen wir uns einmal vor, dass das Leben unseres Planeten auf einen Tag zusammenschrumpft. Es beginnt um Mitternacht. Und jetzt muss man sich vorstellen, dass die ersten 17 Stunden, also bis um 5 Uhr am darauf folgenden Nachmittag, auf unserem Planeten gar nichts geschah. Alles war flammender Vulkanismus und dampfender Regen. Erst um 5 Uhr beginnt das organische Leben. Die ersten Säugetiere tauchen eine halbe Stunde vor Mitternacht auf. – Und wann sind wir Menschen geworden? Eine Sekunde vor Mitternacht. Wir können dieselbe Rechnung noch einmal durchführen. Stellen wir uns vor, dass diese letzte Sekunde, seit der es Menschen gibt auf der Erde, dass diese letzte Sekunde wieder einen Tag dauert. Wenn wir uns die Geschichte der Menschheit also als einen Tag vorstellen, dann ist Jesus etwa 5 Sekunden vor Mitternacht zur Welt gekommen. Und all die dramatischen Veränderungen, die wir in unserem technologischen und globalisierten Zeitalter erleben, haben in den allerletzten Sekundenbruchteilen dieses Tages stattgefunden. Das längste Kapitel in der Geschichte der Menschheit hat darin bestanden, dass wir «am Rand der Wälder um unsere Feuer sassen, Körbe flochten und Geschichten spannen.» (nach Leonardo Boff, Unser Haus, die Erde, Düsseldorf 1996, S. 267) «Kommt mit zurück in eine Zeit, in eine Geschichte, die uns allen gemeinsam ist, eine Geschichte, deren Rhythmus noch in uns schlägt» Mit diesen Worten lädt Joanna Macy ein zu ihrer Meditation in der Tiefenzeit.
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Joanna Macy ist US-Amerikanerin, emeritierte Professorin für vergleichende Religionswissenschaft und Systemtheorie, und heute noch, im hohen Alter, Öko- und Sozialaktivistin. Die Meditation in der Tiefenzeit erinnert uns daran, dass wir keine getrennten Wesen sind: dass meine Seele weit wie die Welt ist. Dass die Geschichte des Universums meine eigene ist. Und dass diese Geschichte insgesamt die Geschichte des Christus ist, dass wir Teil der Fülle sind, die in Christus wohnt, dass wir hineingenommen sind in den kosmischen Geburtsprozess, der durch den Erstgeborenen geschieht, in ihm, auf ihn hin. Wenn wir eintauchen in die Meditation in der Tiefenzeit, dann erinnern wir uns daran, dass wir selber die Geburt des Universums im allerersten Feuer am Anfang der Zeit erlebt haben. Wir tragen in uns die Ewigkeiten des Lebens als Qualle, Schwamm und Koralle. Wir haben in uns die Festigkeit einer tektonischen Platte und die Leichtigkeit eines fliegenden Vogels. Mitten in der Hektik unserer Zeit fühlen wir noch immer die Ruhe der Tausenden von Generationen, in denen wir, vermutlich in Afrika, am Feuer sitzen, Körbe flechten und Geschichten spinnen. Erinnern wir uns also an diese unermessliche Weite des Universums, das ich selber bin, und die Christuswirklichkeit, die alles durchdringt und umfängt. Erinnern wir uns, wer wir wirklich sind. Feiern wir die Meditation in der Tiefenzeit…
Meditation in der Tiefenzeit Komm mit auf eine Reise in die Vergangenheit, eine Reise, die dich daran erinnert, wer du bist. Folge deinem Herzschlag – folg ihm zurück bis zu dem allerersten Feuer am Anfang der Zeit, dieser immens heissen Geburt des Universums vor etwa fünfzehn Milliarden Jahren. Du warst dabei. Ich war dabei. Heute noch brennt in unseren Zellen diese Energie. Damals begannen wir als heisse Spiralen aus Gasen und tanzenden Materieteilchen. Es formte sich unsere Galaxie, dann die Sonne und später, vor viereinhalb Milliarden Jahren, die Erde. Sie bestand aus Felsen und Kristallen. Darunter brannte ein grosses Feuer. Es dauerte Ewigkeiten, bis sich die Erde soweit abgekühlt hatte, dass das Wasser nicht mehr verdampfte und aus dem Regen die Ozeane geboren wurden. In diesen warmen Meeren, unter einem braunen Himmel, entstand durch den Tanz von Wind und Gestein, von Wasser und Feuer, das organische Leben. Als einzellige Geschöpfe treiben wir nun im Urmeer. Wir sind Bakterien, die sich von Mineralien aus dieser salzigen Brühe ernähren. Die Strömungen der warmen See, aufgewirbelt durch die Winde, tragen uns hierhin und dorthin. Wir vermehren uns durch Zellteilung, aus einer entstehen zwei identische Zellen, danach vier, dann acht usw. ... Jede Zelle in unserem Körper stammt von diesen ersten einfachen Lebewesen ab.
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Manche von uns lernen, die Energie der Sonne direkt zu verwerten; sie werden zu Pflanzen. Andere gewinnen ihre Energie daraus, dass sie andere auffressen; sie werden einzellige Tiere. Bei unserer ständigen Suche nach Nahrung dringen wir in andere Zellen ein und bringen unsere Zellkerne zusammen. Mit der Zeit entwickelt sich daraus die geschlechtliche Vermehrung als neue Form der Fortpflanzung. Wir tun uns also mit anderen Einzellen zusammen. So verbunden werden wir zu einem Schwamm, einer Qualle. Heute noch leben manche unserer Verwandten auf diese uralte Weise: Korallen, Meeresschnecken, Würmer, das Plankton ... Allmählich verfestigen sich unsere Muskeln zu einer Kette von Wirbeln und füllen die Länge unseres Körpers aus. Wir haben das erste Rückgrat entwickelt. Nun sind wir geschickte Schwimmer mit Flossen und Kiemen, die das Wasser durchströmen. Äonen verstreichen. Unsere Kiemen wandeln sich zu Lungen. Wir lernen, die Luft zu atmen, unsere Flossen wandeln sich in starke Stümpfe, die wir einsetzen, um durch den Schlamm der zurückweichenden Seen zu robben. Zum Laichen kehren wir wieder ins Wasser zurück, wie dies die Frösche, Kröten und Salamander heute noch tun. Millionen von Jahren vergehen. Sümpfe trocknen aus, und wir lernen, das Wasser für unsere Jungen in der Schale unserer Reptilieneier zu transportieren. Jetzt können wir ganz auf dem trockenen Land leben. Wir haben Gliedmassen entwickelt, die von unseren Körpern seitlich abstehen und sich gemeinsam bewegen, einmal rechts, einmal links. Manche von uns leben bis heute zufrieden als Eidechsen, Schildkröten, Krokodile und Schlangen. Andere lassen ihre Beine zu Flügeln werden, ihre Schuppen entwickeln sich zu Federn. Deren Kinder leben heute als Vögel. Wir gehen noch einen anderen Pfad. Wir fangen an, Felle zu tragen. Wir lassen unsere Jungen in unserem Körper wachsen, wo sie geschützt sind. Sie brauchen jetzt mehr Pflege, aber es überleben auch mehr von ihnen. Unsere Beine werden länger und beweglicher. Als frühe Säugetiere sind wir nachtaktiv, verstecken uns am Tag vor den Dinosauriern und gehen des Nachts auf die Jagd. Dann geht die Herrschaft der Dinosaurier zu Ende. Jetzt können wir Säuger uns auf der Erde ausbreiten. Einige von uns kehren zurück ins Wasser und werden zu Delphinen und grossen Walen. Andere bleiben an Land und entwickeln sich zu Gazellen und Kängurus, Mäusen und grossen Katzen. Unser Bauch berührt die Erde fast nur noch beim Ausruhen. Wir entwickeln uns zu Tausenden von Formen, probieren Tausende von Arten zu leben, und die, die erfolgreich sind, geben wir weiter. Heute finden wir überall um uns herum in den Nachkommen dieser Verwandten eine unendliche Fülle des Wissens und der Vielfalt. Mit immer grösserer Leichtigkeit bewegen wir uns auf Händen und Füssen. Wir springen und klettern. Wir laufen auf Ästen, schwingen uns von Ast zu Ast. Unsere präzise beidäugige Sicht erlaubt uns, den Abstand zwischen zwei Ästen exakt zu beurteilen. Unser
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starker Daumen, der den Fingern gegenüber steht, hilft uns zuzugreifen und wieder loszulassen. Mit unseren feinfühligen Fingern nehmen wir wahr, wie reif eine Frucht ist, und suchen unseren Freunden die Läuse aus dem Fell. Wir sind neugierig, verspielt, abenteuerlustig, wie es unsere nahen Verwandten, die Affen, heute noch sind. Dann findet eine weitere Veränderung statt. Unsere Wälder weichen allmählich der Savanne. Auf weiten Grasflächen lernen wir, aufrecht zu gehen. Ohne Bäume, auf die wir flüchten können, sind wir weniger geschützt vor Grosskatzen und anderen Räubern. Aber wir sind erfinderisch und anpassungsfähig. Wir lernen, komplizierte Laute von uns zu geben, die es uns erlauben, uns in der Gruppe abzusprechen. Wir entdecken die Arbeitsteilung. Die einen senden wir zum Jagen aus, andere sammeln Pflanzen für Nahrung und Medizin, halten das Lager instand und füttern die Jungen. Eine Entdeckung führt nun zur nächsten: Werkzeuge, Sprache, Feuermachen, Musik, Kunst, Geschichten erzählen. Wir schmücken unsere Toten mit Blumen und begraben sie mit Kopf Richtung Osten, damit sie so die Wiedergeburt aus dem Schoss der Mutter Erde erwarten können. Wir leben im Einklang mit den Zyklen und Jahreszeiten der Natur und in Verbundenheit mit all unseren Verwandten. Tausende von Generationen existieren wir als Jäger und Sammler. Erst vierhundert Generationen liegt es zurück, dass wir anfangen, Nahrung auf dem Boden anzubauen. Weitere Neuerungen folgen in schnellem Schritt: Haustiere, Städte, Märkte, Tempel, Regierungen, die Schrift, der Privatbesitz... Wir bauen Zäune und Befestigungsanlagen. Wir haben Häuser, in denen wir unsere Reichtümer aufbewahren und sicher voreinander sind, wenn wir schlafen. Jetzt kommen wir an in der industriellen Wachstumsgesellschaft der Gegenwart. Wir schieben uns durch das Gedränge der Fussgängerzonen. Da sind Autos, Schnellstrassen, Hochhäuser, Flugzeuge, Fernseher, endlose Regale in Supermärkten, angefüllt mit Konserven und Schachteln. Die Kräfte, die wir freigesetzt haben, verdunkeln die Luft. Bomben fallen, Wälder brennen. Alles geht ungeheuer schnell. Höre bitte weiter auf den Schlag der Trommel. Du wirst ihn in deinem Herzen hören. Und erinnere dich, wenn du ihn hörst, es ist auch der Herzschlag des Universums und der Erde, deinem Planeten. Wenn du in deinen Alltag zurückkehrst und dich dort engagierst, um «Nein» zur Maschinerie des Todes und «Ja» zum Leben zu sagen, dann erinnere dich an deine Geschichte, unsere Geschichte. Kleide dich in deine wahre Autorität – du sprichst nicht nur als einzelner oder einzelne oder in eigener Sache. Du bist nicht erst gestern geboren. Du bist durch viele Tode gegangen und trägst in deinem Herzschlag und deinem Gebein das Wissen um das empfindliche, gefährdete Gleichgewicht des Lebens. Aus diesem Wissen heraus kannst du sprechen und handeln. Und du wirst mit dem Mut und der Ausdauer sprechen und handeln, die in langen, schönen Zeitaltern deiner Lebensgeschichte als Erde dein eigen geworden sind.
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(nach: Joanna Macy, Die Wiederentdeckung der sinnlichen Erde, Zürich-München 1994, S. 264-268) Alternativ zur «Meditation in der Tiefenzeit» könnte auch «Eine neue Schöpfungsgeschichte» des amerikanischen Theologen und Pioniers der Schöpfungsspiritualität, Matthew Fox, vorgetragen werden; beide Texte leben m.E. von einer guten Performance, hier in Schwamendingen wird der Vortrag jeweils begleitet durch den Obertonmusiker und Perkussionisten («Schlag der Trommel»!) Ferdinand Rauber.
Eine neue Schöpfungsgeschichte Am Anfang war das Geschenk. Und das Geschenk war von Gott, und das Geschenk war Gott. Und das Geschenk kam und schlug sein Zelt unter uns auf, zuerst in Form eines Feuerballes, der 750 000 Jahre lang unvermindert brannte und in seinem ungeheuer heißen Ofen Hadronen und Leptonen kochte. Diese Gaben fanden gerade genug Stabilität, um die ersten atomaren Geschöpfe zu gebären, Wasserstoff und Helium. Eine Milliarde Jahre des Kochens und Brodelns, bis die Begabungen des Wasserstoffs und Heliums Galaxien gebaren – wirbelnde, sausende, lebendige Galaxien, die Billionen Sterne schufen, Lichter in den Himmeln und kosmische Brutöfen, die neue Geschenke entstehen ließen durch gewaltige Explosionen riesiger Supernovas, in einem Glühen aufflackernd heller als eine Million Sterne. Geschenke über Geschenke, Begabungen gebärende Gaben, explodierende Gaben, implodierende Gaben, Geschenke des Lichts, Geschenke der Dunkelheit, kosmische Begabungen und subatomare Begabungen. Treibend alles und wirbelnd, geboren und sterbend,
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in einem ungeheuren geheimnisvollen Plan – auch dieser ein Geschenk. Eine dieser Supernovas explodierte auf eigene Art und sandte eine einzigartige Gabe ins Universum – von später folgenden Geschöpfen genannt Erde, ihre Heimat, ihre Biosphäre, ein Geschenk für sie – hüllt sie ein in Schönheit und Würde und genau den rechten Schutz vor der Sonnenstrahlung, vor kosmischer Kälte und vor ewiger Nacht. Der so begabte Planet wurde als ein Juwel in eine ausgezeichnete Umgebung gesetzt, in genau 100 Millionen Meilen Entfernung von seinem Mutterstern, der Sonne. Neue Begabungen entstanden, in ihrer Gestalt neu im Universum – Felsen, Meere, Kontinente, vielzellige Geschöpfe, beweglich aus eigener Kraft. Leben war geboren! Geschenke aus dem Stoff von Feuerball und Helium, Galaxien und Sternen, Felsen und Wasser nahmen nun die Gestalt des Lebens an! Leben – ein neues Geschenk des Universums, eine neue Begabung im Universum. Blumen vielfältiger Farben und Düfte, aufrechte Bäume. Wälder entstanden und boten Raum für alle Formen kriechender und krabbelnder Wesen. Wesen, die fliegen und singen. Wesen, die schwimmen und rutschen. Wesen, die auf vier Füßen laufen. Und schließlich – Wesen, die stehen und auf zwei Beinen gehen. Mit beweglichen Daumen für weitergehende Kreativität – für noch mehr Begabungen. Der Mensch wurde ein Geschenk und eine Bedrohung. Denn seine Schöpferkräfte waren einzig in ihrem Potential
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zur Zerstörung und zur Heilung. Wie würde er diese Begabungen anwenden? Welche Richtung würde er einschlagen? Die Erde erwartet die Antwort auf diese Fragen. Und sie wartet noch. Zitternd. (aus: Matthew Fox, Schöpfungsspiritualität: Heilung und Befreiung für die Erste Welt, Stuttgart 1993)
Einleitung Abendmahl Ich bin also, in der Tiefenzeit, nicht erst gestern geboren. Ich trage in mir das heilige Feuer, aus dem wir alle entstanden sind, ich trage in meinem Herzschlag die Lebensgeschichte der Erde und des Universums. Jesus Christus ist nicht vor ca. 2000 Jahren geboren. Er ist vor aller Schöpfung, die ganze Schöpfung wohnt in ihm, das All entfaltet sich auf ihn hin. Der Leib Christi ist nicht nur die Kirche, sondern das grosse ganze Universum. Und wenn wir nun Abendmahl feiern, dann gilt auch hier: Christus ist keineswegs nur in, mit und unter diesen Brotstücklein gegenwärtig. –– Dieses Brot ist Zeichen, ist Symbol meiner selbst, der das Brot isst und darin eins wird mit Christus. –– Und dieses Brot ist Zeichen, ist Symbol des ganzen Universums. Der ganze Kosmos wird gleichsam christförmig, wird durchdrungen vom Geheimnis der Gottesgeburt, wenn wir Abendmahl feiern. Alle Ekstase, alle Freude, aller Schmerz meines Lebens; alle Ekstase, alle Freude, jeder Schmerz in «den langen, schönen Zeitaltern» der Welt – all dies ist enthalten im Saft der Trauben, den wir im Abendmahl trinken. Feiern wir also Abendmahl in Christus, dem Ursprung, dem Erstgeborenen vor aller Schöpfung, der in dieser Nacht zur Welt kommt! Predigtbausteine 2014/2015
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Predigt II: Gottesgeburt zu jener Zeit (Liv Kägi) Frohe Weihnachten euch allen, liebe Gemeinde! Willkommen zum grossen Fest der Gottesgeburt! Denn seht, ich verkündige euch grosse Freude, die allen Menschen widerfahren wird! Euch ist heut der Heiland geboren. Zu jener Zeit, vor zirka zweitausend Jahren, kam Gott in einem Stall durch Maria zur Welt. «Als es sich begab, dass von dem Kaiser Augustus ein Gebot ausging, dass alle Welt geschätzt würde. Da machte sich auf auch Joseph aus Galiläa, aus der Stadt Nazareth, in das jüdische Land zur Stadt Davids, die da heisst Bethlehem.»
Und dort kam Gott zur Welt, in Gestalt eines Kindes, das von seiner Mutter in Windeln gewickelt und in eine Futterkrippe gelegt wurde in einem Stall. Gemäss dem Modell der dreifachen Gottesgeburt von Tauler ist dies bereits die z weite Geburt Gottes. Die erste Geburt Gottes ereignet sich vor aller Zeit. Das ganze Weltgeschehen wird durch Christus angestossen und angezogen, alles hat in ihm seinen Bestand. Das Werden der Welt insgesamt kann als grosser Geburtsprozess verstanden werden, der durch den Erstgeborenen stattfindet, in ihm und auf ihn hin. Während also die erste Geburt weit hinausweist, bis an den äussersten Rand des Universums, führt uns die zweite Geburt Gottes tief in die Geschichte hinein, in die Geschichte konkreter Leben und konkreter Orte. Heute am Weihnachtsmorgen wollen wir diese zweite Geburt Gottes zu jener Zeit in der Welt bedenken: sie bringt uns nach Betlehem zu den Hirten auf dem Feld zu Maria und Joseph im Stall und dem Jesuskind in der Futterkrippe. Gott, gerade durch Maria geboren und zum ersten Mal Mensch kann als Neuankömmling wenig tun ausser zu wachsen und zu gedeihen. So lässt sich Gott pflegen und Maria kümmert sich um ihn, so steht‘s geschrieben: Und Maria wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Futterkrippe. Als kleiner, schutzbedürftiger, empfangender Säugling wird Gott – wie alle anderen Menschen auch – durch eine Andere in die Welt hineingeboren. Gott kommt nicht unabhängig und mächtig vom Himmel herab, sondern setzt sich in Beziehung, entsteht im Leib einer Anderen, wird berührbar und fassbar – ein kleines, schutz- und liebesbedürftiges, verletzliches Wesen hier auf Erden.
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Gott, das grosse Geheimnis, das alles umfassende, der Ewige – der Berge zu versetzen weiss und als stiller Geist über die Urflut schwebt, die oben im Himmel thront und souverän über das Schicksal der Welt bestimmt, ja der – der macht sich heute zum Thema, setzt sich der Welt aus und wird durch eine Andere in die Welt eingeführt. So ausgesetzt und eingeführt liegt das kleine Jesuskind, Gott, in der Futterkrippe und spürt kühle Luft, die Haut der Eltern, die Nähe und die Gerüche von Menschen und Tieren im Stall, die Zuwendung, die er bekommt und die Freude und Anteilnahme der Hirten. Gott liegt bloss da, im Stall in der Futterkrippe, tut nichts, schaut nach oben – und sieht und spürt Menschen. Und die Menschen neigen ihre Köpfe und Herzen und schauen das Bündel Gott. In den Blicken die Zuneigung, die Ehrfurcht und Liebe. Gott geschieht in diesen Beziehungen und Gott ist da in der Krippe; klein, ganz und gar abhängig, ohnmächtiges Bündel Gott, wehrlos und hilflos, wäre da nicht das fürsorgliche Erbarmen anderer, die ihn pflegen und lieben. Es ist eine Besonderheit des Lukasevangeliums, dass Gott rund um die Geburtsgeschichte und auch danach immer wieder Begegnungen zwischen Menschen initiiert. Menschen sehen das Gegenüber, so wie es ist. Keine Hemmungen und Vorurteile prägen diese Beziehungen. Es sind Bilder liebevoller menschlicher Beziehungen. Da ist die Begegnung von Maria und Elisabeth, die eine Zeit gemeinsamer Erwartung teilen und sich aneinander freuen. Da sind die Hirten, die Jesus im Stall begegnen und da sind die beiden Alten Hanna und Simeon. Sie beide sehen im Jesuskind, das Licht und das Heil. Die Heilige Nacht, der Stall, die Blicke – das ist der Ort, wo Gott selbst zum Menschen geboren und zur Begegnung für die Menschen wurde. Und die Hirten und Maria und Joseph und alle im Stall wendeten sich voll Liebe dem Menschenkind Gott zu. Als Bündel im Stall in der Futterkrippe liegt Gott da, nackt und bloss, schaut und sieht und nimmt wahr: «Da kommen die Hirten von draussen. Sie schwitzen regelrecht. Sie sehen mich mit Ehrfurcht an. Sie sind ja ganz ausser sich. Jetzt, wo sie mich mit ihren gegerbten Gesichtern anschauen, werden sie ganz still. Ich staune und lächle zurück in ihre licht vollen Gesichter. Da berichten sie, was sie von den Engeln gehört haben: Ehre sei Gott in der Höh und Frieden auf Erden unter den Menschen seines Wohlgefallen. Ganz atemlos sind sie, wohl noch erschrocken vom Himmelschor. Das musste sie gewaltig beeindruckt haben. Sie haben all ihre Arbeit stehen gelassen und machten sich sogleich auf, mich zu finden! Wären sie wohl auch gekommen, wenn ich im Palast geboren wäre? Wahrscheinlich nicht. Der Stall ist ihnen vertraut. Das ist wie ihr Arbeitsort und ihr daheim. Das ist der genau richtige Ort, um den Hirten hier zu begegnen. Zum Glück hab ich diesen Plan nicht anders überlegt; obwohl, Maria habe ich es nicht leicht gemacht damit. Zuerst ungewollt schwanger, dann der lange Weg hierher und dann die Geburt zwischen all den Tieren. Zum Glück ist sie so eine starke Frau! Die hält vielen Wassern stand. Und nichts scheint sie aus der Ruhe zu bringen.
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Und wie Maria und Joseph über das, was die Hirten sagten, staunen! Maria ist ganz bewegt und berührt. Ich spüre ihr Herz schlagen. Maria ist noch so jung. Doch ist sie stolz auf mich, sie strahlt! Trotzdem ist sie erschöpft und müde. Joseph steht etwas hilflos daneben. Er zweifelt noch an den Worten der Hirten und des Engels, den ich ihm sandte. All die Ereignisse in letzter Zeit haben ihn älter werden lassen. Vielleicht hat er auch Angst, wie das weitergehen kann. Zum Glück habe ich zu Beginn der Schwangerschaft einen Engel zu Joseph geschickt, sonst hätte er Maria ja fast verlassen. Endlich bin ich nicht mehr weit weg, wie manch einer gemeint hatte. Endlich kann ich den Menschen wirklich nahe sein! Wie sich doch diese Menschen immer wieder Gespenster ausdenken und mich damit in Verbindung bringen wollen! Jetzt bin ich ihnen Mensch geworden, um ihnen wirkliches und nahbares Gegenüber zu sein. Aber, was mich besonders freut, ist, dass die Menschen durch mich wieder Mut fassen. Nicht, dass ich irgendwas für sie tue, hier in der Futterkrippe kann ich ja nicht viel. Vielmehr sind sie es, die mich pflegen und bestaunen. Wenn sie mich aber hier drin im Stall ansehen, in dem Moment ist keine Angst, keine Furcht in ihren Augen – wie könnte ich ihnen denn Angst bereiten – da ist blosse, ungefilterte Freude und Liebe. Dann beginnen ihre Augen zu glänzen. Licht und Glanz auf ihren Gesichtern und in ihren Herzen. Ich glaube, wenn ich sie so anschaue, da geschieht etwas. Sie sehen in mir etwas, das noch nicht ist, das aber werden will. Sie spüren, dass das hier im Stall, noch lang nicht alles ist, was da kommt.» Amen.
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Predigt III: Gottesgeburt in dieser Zeit (Andreas Fischer) Gott kam zur Welt zu jener Zeit, «als es sich begab, dass von dem Kaiser Augustus ein Gebot ausging, dass alle Welt geschätzt würde. Da machte sich auf auch Joseph aus Galiläa, aus der Stadt Nazareth, in das jüdische Land zur Stadt Davids, die da heisst Bethlehem.» Dort wurde Gott geboren, in Gestalt eines Kindes, das von seiner Mutter in Windeln gewickelt und in eine Futterkrippe gelegt wurde in einem Stall. Doch dies ist, gemäss dem Modell der dreifachen Gottesgeburt von Tauler, erst die zweite Geburt. Die erste ereignet sich vor aller Zeit «in der», wie Tauler sagt, «dunklen, verborgenen, unerkannten Gottheit». Von dieser ersten Geburt singt Paulus in dem Christushymnus im Kolosserbrief, den wir im ersten unserer drei Weihnachtsgottesdienste gehört haben: «Er, Christus, ist das Ebenbild des unsichtbaren Gottes, der Erstgeborene aller Kreaturen. Denn durch ihn ist alles geschaffen im Himmel und auf Erden, das Sichtbare und das Unsichtbare, … alles ist durch ihn und auf ihn hin geschaffen.» Das ganze werdende Universum kann mithin als Geburtsgeschehen verstanden werden, in dem Gott «im Anfang», im Alpha-Punkt, aus sich hinausgeht. Denn Gott ist nicht statisch. Sein Wesen ist Liebe, und zur Liebe gehört wesentlich, dass sie sich ausgiesst, dass sie ausfliesst und Neues werden lässt. Die erste Geburt symbolisiert diese überfliessende Liebe Gottes vor aller Zeit. Heute nun wenden wir uns der dritten Geburt zu. Während die erste Geburt weit hinausweist, bis an den äussersten Rand des Universums, führt die dritte Geburt tief hinein, ins Innerste, in die anima, die Seele. Gott, der Mensch geworden ist, kommt in und durch uns Menschen zur Welt. Wir alle, sagt Tauler, nicht nur Maria, seien «Mütter der göttlichen Geburt». Hier, in dieser dritten Geburt, ist jede raumzeitliche Distanz überwunden; die Geburt geschieht in mir, durch mich. Und wenn ich mein Leben im Licht dieser Metaphorik betrachte, gewinnt es einen neuen, einen stillen, hellen, weihnächtlichen Glanz.
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Wir haben vor kurzem hier in der Kirche Abschied genommen von NN, der sich aus einer schwierigen Kindheit und Jugend herausgearbeitet hat, ein eigenes Malergeschäft erfolgreich führte, es zu bescheidenem Wohnstand brachte, ein wunderbarer Ehemann gewesen sei und der beste Götti von allen. Für dieses scheinbar unscheinbare Leben mit all seinen Kämpfen und Krämpfen, dem drohenden Absturz, dem beruflichen Aufstieg, dem Scheitern zuletzt im Kampf gegen den Krebs…, für all unsere Leben, die nach den Massstäben dieser Welt in aller Regel ebenfalls unscheinbar und scheinbar bedeutungslos sind – für sie alle, uns alle gilt: Es liegt ein weihnächtlicher Glanz über unserem Dasein. Er ist kaum wahrnehmbar, so wie der Glanz, der damals aus der Krippe im Stall hervorbrach, kaum wahrnehmbar war, doch einst, in jener Welt, in die NN uns nun vorangegangen ist, wird dieser Glanz heller leuchten als tausend Sonnen. In und durch uns kommt Gott zur Welt, sagt Tauler. Und Paul Gerhardt, in einer Variation desselben Motivs, sagt: «Eins aber, hoff ich, wirst du mir, / mein Heiland, nicht versagen: / dass ich dich möge für und für / in, bei und an mir tragen. / So lass mich doch dein Kripplein sein; / komm, komm und lege bei mir ein / dich und all deine Freuden.» Singen wir dieses innerlichste, intimste aller Weihnachtslieder, das wie kein anderes zur dritten Gottesgeburt passt: «Ich steh an deiner Krippe hier» (402, 1.2.4.6) «Da merkt und erkennet niemand, was Gott in dem Stall wirkt», sagt Martin Luther in einer Predigt zur Weihnachtsgeschichte. Und tatsächlich, wenn man sich die erste Szene der Weihnachtsgeschichte vor Augen führt, ist an keiner Stelle die Rede von Engeln und himmlischen Heerscharen, die grosse Freude und Friede auf Erden verkünden. All das bricht, scharf getrennt, erst in der zweiten Szene bei den Hirten auf dem Feld hervor. Nicht einmal von Gott ist im ersten Abschnitt die Rede. Das erinnert an eine Reihe von biblischen Büchern, die sich (neben einem hohen literarischen Niveau und einem weltoffenen Geist) dadurch auszeichnen, dass in ihnen Gott scheinbar nicht vorkommt: «Da merkt und erkennet niemand, was Gott wirkt». Es sind weltliche Geschichten, die erzählt werden «etsi Deus non daretur», als gäbe es keinen Gott, Geschichten ohne Zeichen und Wunder, ohne fallende Sterne, ohne apokalyptische Siegel und ohne Gang auf dem See. Es ist zum Beispiel das Rutbuch, das diesen Geist atmet, oder die Josefsnovelle – solche realistischen, radikal diesseitigen und in diesem Sinn auch modern anmutenden Erzählungen.
Predigtbausteine 2014/2015
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Noch krasser als das Rutbuch oder die Josefsnovelle ist das Buch Esther. Darin findet nämlich Gott vom Anfang bis zum Ende keine Erwähnung. Da ist kein Gott nirgends. Das gibt es nirgendwo sonst in der Bibel: dass Gott schlicht nicht genannt wird. Das Buch Ester ist von derber, deftiger Diesseitigkeit. Kein anderes biblisches Buch hat, zum Beispiel, «einen so herrlichen Schurken aufzuweisen wie den hinterlistigen Haman, eine so schöne und kluge Heldin wie Ester und eine komische Figur wie diesen König Ahasveros, der mit all seinen Miss-Wahlen und durchzechten Nächten hauptsächlich als Partylöwe von sich reden macht.» (Jonathan Magonet) Das Buch Ester erzählt vom Aufstieg der schönen Jüdin Esther zur Frau des persischen Königs Ahasveros. Sie und ihr Onkel Mordechai verhindern einen vom Grosswesier Haman in die Wege geleiteten Judenpogrom. Die Geschichte kulminiert im Purimfest, in dem die Rettung des Volks gefeiert wird. Bis heute wird beim Purimfest jeweils im Februar oder März das Buch Ester als Festlegende verlesen. Es würde den Rahmen einer Predigt sprengen, wenn ich nun die ganze Story erzählte, und es ist im Zusammenhang mit Weihnachten auch nicht nötig. Vielmehr gilt es, die einzige schmale Stelle im Estherbuch zu fokussieren, wo Gott mög licherweise in die reine Diesseitigkeit hineinbricht. An dieser Stelle, im 14. Vers des 4. Kapitels, wird Esther gesagt, wenn sie nicht helfe, dann werde die Hilfe «mimmakom acher», «von einem anderen Ort» kommen. Es wird in der Forschung diskutiert, ob diese Formel «makom acher», «ein anderer Ort» ein Gottesname sei. Und es spricht, scheint mir, viel dafür, dass «ein anderer Ort» tatsächlich ein Gottesname ist, ein sehr schöner Gottesname gar. «Makom acher», «ein anderer Ort» besagt, dass der Ort, wo wir sind, nie der letzte ist. Der Fixpunkt, zu dem Weihnachtsfest uns hinweist, ist der Stall. Dort, über dem Stall in Bethlehem, bleibt der Stern stehen. Der Komet wird gleichsam zum Fixstern. Doch auch dieser Ort ist, mit Verlaub, nicht wirklich ein Ort zum Bleiben. Es geht weiter, immer weiter. Das hier ist noch lange nicht alles. Wo aber befindet sich jener andere Ort, von dem her uns Hilfe kommt? Dass «der Helfer» nicht im Palast, sondern in einem Stall zur Welt kommt und nicht in Jerusalem, schon gar nicht in Rom, sondern in Bethlehem, das als klein gilt unter den Städten in Juda (vgl. Micha 5, 1), das mag anzeigen, dass «der andere Ort» sich irgendwo am Rand befindet. Am Rand meiner Seele vielleicht, in jenen unbewussten Zonen ausserhalb des Alltags, die auftauchen nachts in den Träumen. Oder auch verborgen bleiben in einem weisen NichtWissen, einer inspirierenden Leere.
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Der koreanische Philosoph Byung-Chul Han weist auf die Produktivität des Auslassens und Vergessens hin: «Sowohl das Denken als auch die Inspiration bedarf … einer Leere. Das Wort Glück rührt … von der Lücke her. Auf Mittelhochdeutsch heisst es noch gelücke. So wäre die Gesellschaft, die keine Negativität der Lücke mehr zuliesse, eine Gesellschaft ohne Glück.» (Transparenzgesellschaft, S. 11; kursiv im Original) In eben diese Zone des Dunkels und der Lücke weist die Weihnachtsgeschichte, mit ihrem Hinweis, dass es in der Herberge keinen Platz gibt, dass Gott im Zwielicht eines Stalls und eines Futtertrogs zur Welt kommt, im Beisein von Tieren, die in der Traumdeutung als Repräsentanten unbewusster Regungen gelten. Byung-Chul Han macht deutlich, dass diese Leere und Lücke nicht nur ein innerseelischer Ort ist. Dieser andere Ort, von dem her uns Hilfe kommt, ist auch von gesellschaftlicher und auch von globaler Bedeutung. Es geht nicht nur um mein eigenes, es geht um das Glück, das Gelücke der Gesellschaft und des gesamten Globus. Es gilt, Han zufolge und in der Nachfolge der Hirten, auf all jene Stellen und Ställe zu achten, wo Lücken entstehen in unserer durchrationalisierten, durchstrukturierten, durchleuchteten Leistungsgesellschaft. Lücken entstehen am ehesten an den undichten Rändern, an jenen «anderen Orten», an denen sich – zum Beispiel – das HEKS aufhält, das Hilfswerk unserer Kirche. Das HEKS, heisst es im Leitbild, hilft «bedürftigen Menschen, unabhängig von ihrer religiösen und ethnischen Zugehörigkeit.» Entsprechend sind «die thematischen Schwerpunkte für die Tätigkeiten im Ausland: Entwicklung ländlicher Gemeinschaften, Friedensförderung und Konfliktbewältigung… und humanitäre Hilfe. Für die Arbeit in der Schweiz stehen die soziale Integration und die Anwaltschaft für Asylsuchende und sozial Benachteiligte im Zentrum.» Die Weihnachtsbotschaft im Blick auf diese Tätigkeitsfelder des HEKS lautet: Es geht hier nicht bloss um Mitleid mit Bedürftigen im In- und Ausland. Es geht darum, sich an jene Orte zu begeben, die «in unserer Zeit» am ehesten dem Stall und dem Futtertrog «zu jener Zeit» entsprechen: Es sind allesamt Orte an den Rändern. Dort wird Gott geboren. Von dort, vom anderen Ort, wird uns Hilfe kommen, auch heute.
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