Glaubenszweifel

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Jesus hat den Tod besiegt und ewiges Leben gebracht. Wir sind Herolde dieser guten Nachricht. 2. Tim 1,10-11

68. Jahrgang · Nr. 02 (806) Februar 2024 erscheint monatlich VK: 7716


Vorwort

Lieber Herold-Leser, wer hat nicht schon mit Zweifel zu kämpfen gehabt? Dabei gibt es Zweifel unterschiedlichster Art. Zweifel an uns selbst, an unseren Entscheidungen, unserem Durchhaltevermögen, unserer Ernsthaftigkeit, Zweifel, die vielleicht berechtigt sein mögen, die aber dennoch verunsichern. Und es gibt Zweifel, die man nicht auszusprechen wagt. Gerade als Christ ist es oftmals schwer, mit Zweifeln umzugehen, sie sich selbst oder anderen einzugestehen. Wie denkt Gott überhaupt über unsere Zweifel? Os Guinness, ein Mann, der schon seit über sechzig Jahren Jesus Christus voller Leidenschaft nachfolgt, und einer der größten Denker unserer Zeit ist, sagte diesbezüglich: „Der Glaube ist viel mehr als nur die Abwesenheit von Zweifeln; aber Zweifel zu verstehen, ist der Schlüssel zu einem starken Glauben, einem gesunden Verstand und einem ruhigen Herzen.“ Vom Zweifel zur Gewissheit kommen, kann man erst, wenn man wirkliche Antworten auf die wesentlichen Fragen hat; wenn man erfahren hat, dass es einen gibt, der höher ist als alle menschliche Vernunft, einen, bei dem wir unsere Herzen ausschütten können, der uns nicht dem Zweifel überlässt, sondern uns ewige, bleibende Hoffnung und Gewissheit gibt. Wir beten, dass diese Ausgabe dazu beiträgt, diesen Einen zu ehren und auf ihn hinzuweisen.

Der verdammungswürdige Zweifel von J. D. Greear

m Prinzip braucht jede Religion den Zweifel und die Unsicherheit als Druckmittel, um Gehorsam zu erzeugen. Nicht so das Evangelium. Denn Gott geht es nicht um bloßen Gehorsam, sondern um einen Gehorsam, der aus einem bestimmten Verlangen erwächst, einen Gehorsam, der gehorchen möchte und der nicht nur gehorcht, weil er es muss. Zu Martin Luthers Zeit glaubte die Kirche, dass Menschen nur dann gehorsam sind, wenn ihnen harte Strafen für ihren Ungehorsam angedroht werden. Luther nannte dies „die verdammte Zweifelslehre“. Und tatsächlich wird die Angst vor dem Gericht zumindest ein oberflächliches Festhalten am Gesetz bewirken – das wusste auch Luther. Aber unter der Oberfläche dieses Gehorsams fließt ein Strom von Angst, Stolz und Eigennutz. Der einzige Weg, um echte Liebe für Gott zu entwickeln, besteht darin, diese Furcht zu beseitigen. Den Schlüssel dazu gibt uns der Apostel Johannes. Er sagt: Gottes Liebe zu uns bewirkt, dass unsere Furcht vor der Strafe ver- (Fortsetzung auf Seite 3, rechte Spalte)

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Zweifel bei Jesus zur Ruhe bringen von Benjamin Schmidt

iest man den Bibelabschnitt über das öffentliche Auftreten von Johannes dem Täufer in Johannes 1, dann kann man nur darüber staunen, mit welchem demütigen Selbstverständnis Johannes der Kritik und den Fragen der Pharisäer begegnet. Johannes war sich seiner göttlichen Berufung absolut sicher. Menschenfurcht und Zweifel schienen ihm völlig fremd gewesen zu sein. Diese Zuversicht lässt sich auch relativ leicht erklären, denn immerhin waren bereits Johannes’ Zeugung und Geburt von außergewöhnlichen Ereignissen begleitet gewesen (vgl. Lk 1). Bisher war es nur zweimal vorgekommen, dass ein Engel des HERRN die Geburt eines Kindes angekündigt hatte (Ismael – 1Mo 16,11; Simson – Ri13,3). Natürlich hatte Johannes die Ankündigung seiner Geburt durch den Engel und die Umstände um die Stummheit seines Vaters mit seinem anschließenden Lobpreis nach Johannes Geburt nicht bewusst miterlebt. Aber die Tatsache, dass seine Eltern mit hineingenommen worden waren in seine spezielle Berufung, und ihn so immer wieder bestärken und ermutigen konnten, vor allem, dass er schon im Mutterleib mit dem Heiligem Geist erfüllt war (Lk 1,41), das waren sicherlich entscheidende Aspekte für sein starkes Bewusstsein, der Vorläufer des Messias, der Wegbereiter Jahwes zu sein. Er würde „unserem Gott eine Straße“ bereiten, damit Jahwe selbst zu seinem Volk, in seine Schöpfung kommt, unter ihnen wohnt und sie von ihrer Schuld erlöst (vgl. Jes 40,1-5; Joh 1,23). Johannes nahm seinen Auftrag ernst. So ernst, dass er nicht nur das gemeine Volk zur Umkehr aufruft, sondern auch die Regierenden, wie den König Herodes. Wir wissen nicht, ob Johannes damit gerechnet hatte, dass ihn seine Kritik letztendlich ins Gefängnis bringen würde, aber das Risiko war ihm zweifellos bewusst, und er ging es ein. Umso überraschender ist es, dass wir dann im Gefängnis einem Johannes begegnen, der zu zweifeln beginnt, ob Jesus wirklich der ist, für den er ihn die ganze Zeit gehalten hat (vgl. Mt 11; Lk 7). Er fragt sich, ob Jesus wirklich der Messias ist, so wie er es den Menschen verkündet hat: „Siehe, das ist das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt wegnimmt“, und: „er war eher als ich“, und: „Ich habe gesehen und bezeuge, dass dieser der Sohn Gottes ist“ (Joh 1,29.30.34). All diese Überzeugungen fangen bei Johannes an zu wackeln. Das bedeutet auch, dass Johannes seine gesamten Erfahrungen, sein Leben hinterfragte – seine außergewöhnliche Entstehungsgeschichte, die Momente, in denen er deutlich Gottes Stimme gehört hatte und als er den Himmel geöffnet sah und sah, wie der Geist Gottes auf Jesus herabkam (vgl. Joh 1,33) – all das hatte für ihn jetzt nicht mehr dieselbe Bedeutung wie noch vor ein paar Wochen.


Was hatte sich geändert? Die Tatsache, dass Johannes im Gefängnis saß und das Böse scheinbar siegte. Wäre Jesus wirklich der, für den Johannes ihn bisher immer gehalten hat, müssten doch die Umstände anders sein, oder? Müsste dann nicht das Königtum des Herodes beendet, vernichtet, zerbrochen sein und Jesus als der göttliche König herrschen? War es nicht ein Kennzeichen des Messias, „dass die Gefangenen freigelassen und die Gefesselten befreit werden“ (Jes 61,1)? (Interessanterweise lässt Jesus nachher genau dieses letzte Kennzeichen aus, als er später Jesaja 61,1 zitiert.) Johannes’ Zweifel dringen so tief ein, dass er Freunde, die ihn im Gefängnis besuchen und ihm von Jesu Taten erzählen, auffordert, Jesus zu fragen: „Bist du der, der kommen soll, oder sollen wir auf einen anderen warten?“ (Mt 11,2). Der im griechischen Text verwendete Begriff ἔργα (Erga) weist darauf hin, dass die Freunde Johannes zwar von Jesu Taten, nicht aber von seinen Wundern berichtet hatten, die im Matthäusevangelium mit δυνάμεις (Wundern) oder mit σημεῖον (Zeichen) wiedergegeben werden.* Warum, ist nicht ersichtlich. Jesu Taten und Worte waren an sich auch schon außergewöhnlich, aber sie waren nicht das, womit Johannes gerechnet hatte. Weder die Geistestaufe noch die Ausgießung des göttlichen Zorns hatte stattgefunden, so wie er, Johannes, es doch dem Volk ankündigen sollte (vgl. Mt 3,10-12). Daher sind die Verwirrung und der aufkommende Zweifel des Johannes durchaus verständlich; traurig, aber verständlich, und auch ermutigend. Denn ermutigend ist die Tatsache, wie Johannes in seinem Zweifel vorgeht und auch, wie Jesus auf den Zweifel des Johannes reagiert. Als Johannes’ Freunde zu Jesus kommen und ihm die Frage überbringen, ist Jesus nicht enttäuscht. Jesu Worte über Johannes sind voller Wertschätzung und seine Worte an ihn voller Geduld und Trost. Jesus lässt Johannes stichhaltige Beweise dafür ausrichten, dass er der Messias ist; Beweise, die sich, wenn auch nicht mit Johannes Erwartungen, so doch mit Gottes Wort decken und mit denen Johannes, der das Wort Gottes gut kannte, seine Zweifel leicht besiegen konnte. Er stellt im Wesentlichen fest: „Ich tue, was die Propheten vom Messias angekündigt haben: Blinde sehen, Lahme gehen, Aussätzige werden gereinigt, Taube hören, Tote wer-

den auferweckt, und die Armen hören die gute Nachricht“ (V. 4-5). Und zuletzt sagt Jesus: „Glückselig ist, wer an mir keinen Anstoß nimmt.“ Es ist, als würde Jesus Johannes eine freundliche Ermahnung mitgeben: „Johannes, pass auf, dass deine unangemessenen Erwartungen nicht dazu führen, dass du mich in Frage stellst.“ Dieser Rat ist für uns heute enorm wichtig! Wie Johannes können wir schnell dazu neigen, mit Gottes Wegen unzufrieden zu sein. Anstatt auf das zu schauen, was Jesus in seinem Erlösungswerk vollbracht hat, dass er alles Notwendige getan hat, um uns für alle Ewigkeit zu retten, um uns eine ewige Herrlichkeit bei Gott zu garantieren, sind wir oft unzufrieden, wenn er bestimmte Erwartungen, die wir an ihn haben, nicht erfüllt. Christus ist uns nichts schuldig und zu nichts verpflichtet. Das, wozu er sich selbst verpflichtet hat, hat er bereits vollbracht und mehr als das. Wenn er heute unser Leben beenden würde, hätten wir keinen Grund, ihn anzuklagen, sondern sind verpflichtet ihn für seine Gnade zu preisen. Andererseits ist es aber auch eine tröstliche Wahrheit, dass in der Bibel „große Gottesmänner“ (und „-frauen“) so dargestellt werden, wie sie sind: schwach und fehlbar. Auch so treue Propheten wie Elia oder Johannes können von Zweifeln befallen werden (vgl. 1Kön 18-19). Wir dürfen uns dessen nicht schämen, sondern müssen, wie Johannes, uns an den Einen wenden, der uns die Zweifel nehmen kann. Gerade dort, wo wir vielleicht hohes Ansehen genießen und die Angst haben, dieses Ansehen zu verlieren, sobald wir Zweifel zugeben, müssen wir lernen aufrichtig zu sein und mehr um unsere Seele und unsere Stellung vor Gott besorgt sein als um unser Ansehen vor Menschen. Lernen wir deshalb von Johannes, dass wir nicht beim Zweifel stehen bleiben, sondern ihn bekennen und ihn von Jesus zur Ruhe bringen lassen. Benjamin Schmidt ist verheiratet mit Hanna und dreifacher Vater. Er ist Leiter der Herold-Schriftenmission und verantwortlich für die Zeitschrift „Herold“.

(Fortsetzung von Greear, Seite 2) schwindet und Liebe zu Gott entsteht in uns. Das ist auch der Grund, weshalb John Bunyan, der Autor der „Pilgerreise“, von den englischen Kirchenführern des 17. Jahrhunderts ins Gefängnis geworfen wurde: Er hatte das Evangelium von Gottes freier Gnade für Sünder gepredigt. Das Argument seiner Ankläger war, dass durch diese Botschaft die nötige Furcht vor dem göttlichen Gericht fehlen und die Menschen dadurch unmoralisch und hemmungslos würden. Bunyan erwiderte:

„Wenn die Menschen wirklich verstehen, dass Christus die Furcht vor der Strafe beseitigt hat, indem er die Strafe selbst auf sich nahm, dann werden sie nicht länger nur das tun, was sie wollen, sondern sie werden das tun wollen, was Er will.“ Das Evangelium von der Gnade Gottes erschafft in uns das Verlangen, Gott gehorsam zu sein. Meine vier Kinder (die zur Zeit der Abfassung des Buches alle unter zehn Jahre alt sind) wissen, dass ich sie schrecklich vermisse, wenn ich auf Reisen bin. Wenn ich dann nach Hause komme, rennen sie aus dem Haus, sobald sie mich kommen sehen. Noch bevor ich es geschafft habe, aus dem Auto zu steigen, öffnen sie die Fahrertür, klettern auf meinen Schoß und fragen voller Erwartung: „Papa, was hast du uns mitgebracht?“ Ganz anders läuft die Sache jedoch, wenn sie glauben, dass ich sauer auf sie bin oder schlechte Laune habe. Dann meiden sie mich und ziehen es vor, in ihren Zimmern zu spielen – oder dort, wo ich gerade nicht bin. Auch in diesen Fällen werden sie meinen Anweisungen vielleicht gehorchen, aber sie wollen nicht in meiner Nähe sein. Ähnlich ist es in Bezug auf Gott. Wenn wir wissen, dass er Freude an uns hat, wollen wir bei ihm sein. Fürchten wir uns aber vor ihm, dann treibt uns diese Furcht weg von ihm – selbst, wenn wir seinen Geboten gehorchen. Gott möchte das Vertrauen von Kindern und nicht den Dienst von Sklaven. Dieser Artikel ist ein Auszug aus unserem Herold-Buch »Hör auf, dich zu bekehren, glaube!« von J. D. Greear. Das Buch richtet sich nicht gegen Bekehrungen, sondern ist ein Aufruf, seine Zuversicht allein in in Gottes Verheißungen zu suchen, die Christus in seinem Leben, Sterben und Auferstehen vollbracht hat. Best.-Nr. 40 | Preis: 9,99 €

*Vgl. Charles L. Quarles: „Matthew - Evangelical Biblical Theology Commentary“, Bellingham: Lexham, 2022, S. 268.

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Ich bin dann mal weg – Wie gehen wir mit „Entkehrungen“ um? von Ron Kubsch

ie Kirchengemeinden in den USA haben seit vielen Jahren ein unübersehbares Problem. 70 Prozent der Jugendlichen verlassen ihre Gemeinden im Alter von 18 bis 22. Sie kommen meist aus gläubigen Familien, besuchen immer seltener Gottesdienste oder die Jugendkreise und irgendwann sind sie in den Kirchengemeinden überhaupt nicht mehr zu sehen. Eine besondere Wirkung entfalten sogenannte „Entkehrungen“ von Persönlichkeiten, die einst eine Vorbildfunktion innehatten. Ich erinnere mich noch sehr gut an den Sommer 2019. Damals gab der bekannte Autor und Pastor Joshua Harris bekannt, dass er sich von seiner Frau getrennt habe und kein Christ mehr sei. Er entschuldigte sich sogar für einige seiner Bücher, die auch in Deutschland innerhalb der evangelikalen Szene, Bestseller gewesen sind. Bei mir meldeten sich etliche Leute, die in positiver Weise durch Harris geprägt worden sind. Sie haben die Welt nicht mehr verstanden und waren spürbar angefochten. Sollten auch sie ihre Nachfolge Jesu überdenken? Vielleicht folgen sie ja einer falschen Spur? In Deutschland entfaltete Torsten Hebels Abkehr vom christlichen Glauben ebenfalls eine starke Wirkung. Er war jahrelang als Evangelist für Jesushouse (bis zum Jahr 2022 die Jugendinitiave von ProChrist) unterwegs. Evangelikale Medienhäuser boten ihm interessanterweise eine Plattform dafür, die Entdeckung seines „neuen Glaubens“ missionarisch zu verbreiten. Amerikanische Soziologen haben sich im Jahr 2008 versammelt, um die Gründe für diesen Trend ausfindig zu machen. Woran liegt es, dass so viele junge Erwachsene ihrer Gemeinde den Rücken kehren? Ist das Gemeindeleben für die jungen Leute zu langweilig (die Musik zu leise und die Texte zu lang)? Wirken die hohen

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moralischen Ansprüche der Christen abschreckend? Sind es die attraktiven Freizeitangebote oder Freunde, die die Jugendlichen vereinnahmen? Fehlen die Vorbilder? Obwohl diese Faktoren eine Rolle spielen mögen, liegen die maßgeblichen Gründe woanders. Es sind Zweifel, die den kindlichen Glauben der Jugendlichen auffressen. Sie sind nicht mehr überzeugt davon, dass es wahr und richtig ist, Jesus Christus zum Mittelpunkt ihres Lebens zu machen. Sie können es einfach nicht mehr glauben. Viele trauen sich nicht, ihre Zweifel auszusprechen. Andere bekommen – wenn sie sich offenbaren – weniger hilfreiche Antworten. Und so meldet sich eine innere Stimme: „Vielleicht bilde ich mir das alles nur ein? Warum soll ich glauben, was meine Eltern glauben? Ist die Sache mit Jesus wirklich so wichtig, dass sie mein ganzes Leben bestimmen soll?“ Jemand hat mal darauf hingewiesen, dass es eine Gemeinsamkeit zwischen dem Rost und dem Zweifel gibt. Beide können zerstören. So wie der Rost am Metall nagt und es auffrisst, kann der Zweifel den Glauben eines Menschen zersetzen. Jakobus beschreibt in seinem Brief so einen Mann (Jak 1,6b–8): „… denn wer zweifelt, gleicht den Wogen des Meeres, die vom Wind gepeitscht und dahin und dorthin geschlagen werden. Ein solcher Mensch bilde sich ja nicht ein, er werde vom Herrn etwas empfangen! Er ist ein Mann mit gespaltener Seele, unstet und haltlos auf all seinen Wegen.“ Der griechische Grundtext gebraucht hier den bemerkenswerten Begriff dipsychos. Wir können das Wort auch mit „zwei Seelen habend“ übersetzen. Der Zweifler hat zwei miteinander streitende Seelen in sei-

ner Brust. Das verwirrt, das „zerreißt“ einen Menschen. Viele Christen sind so einem vorübergehenden Zweifel schon begegnet. Ich selbst kann mich beispielsweise gut daran erinnern, wie ich mich als junger Christ nach einer langen Diskussion mit meinen skeptischen Freunden einmal fragte: „Bilde ich mir das alles vielleicht nur ein? Vielleicht haben sie ja recht und wir Menschen haben die Sache mit Gott nur erfunden, um dem Leben einen Sinn zu geben. Kann es sein, dass Gott ein Geschöpf des Menschen ist?“ In den meisten Fällen legen sich die Zweifel und die Glaubensfreude kehrt wie von selbst allmählich zurück. Wenn allerdings der Zweifel siegt und die Glaubensgewissheit „auffrisst“, beschert das schlaflose Nächte. Doch nicht nur das. Ein Mensch, der durch Zweifel im Innern gespalten wurde, kehrt oft nicht nur Gott und seiner Gemeinde den Rücken, sondern wirbt mehr oder weniger missionarisch für seine neue Sicht der Dinge.

Zur Wahrheit umkehren? Was machen wir, wenn sich ein Freund „entkehrt“? Können wir jemanden, der „vom Weg abgekommen ist“, zu Jesus Christus zurückführen? Um es klar zu sagen: Wir können einen Menschen weder bekehren noch „umkehren“. Das kann nur Gott. Trotzdem gebraucht Gott seine Kinder, wenn er Strauchelnde zurückholt. Und er erteilt den klaren Auftrag, Menschen, die von der Wahrheit abgekommen sind, dabei zu helfen, zu ihr zurückzukehren. Bevor wir uns anschauen, was wir konkret tun können, müssen wir allerdings kurz die Unterscheidung zwischen einem Verirrten und einem Irrlehrer erörtern.

Irrlehrer oder Verirrter? Der neutestamentliche Judasbrief enthält nur 25 Verse, geht aber darin ausführlich auf den Umgang mit so genannten Irrlehrern ein. Demnach gibt es gottlose Lehrer, die sich in die Gemeinden einschleichen und „die Gnade unseres Gottes ins Gegenteil verkehren, in bare Zügellosigkeit, und die den einzig wahren Herrscher, unseren Herrn Jesus Christus, verleugnen“ (Jud 4). Auf diese Verführer


wartet ein schreckliches Gericht (vgl. Jud 13-15), denn sie sind nicht bereit, auf der Grundlage der Schrift nach Wahrheit zu suchen, sondern sind Feinde der Wahrheit und verbreiten ihre eigene Sichtweise um ihres eigenen Vorteils willen. Wir merken: Irrlehrern fehlt die Gesprächsbereitschaft. Sie haben gar kein Interesse am Dialog. Sie hören nicht zu, sondern wollen Christen mit ihren Pseudoevangelien verwirren. Sie verdrehen die Schrift und verbreiten eine fremde Lehre, die nicht die Lehre von Jesus Christus ist (vgl. 1Tim 6,3–5). Solche Leute sollen ein bis zweimal ermahnt werden, und wenn sie sich nicht korrigieren lassen, hat die Gemeinde sich von ihnen zu distanzieren (vgl. Tit 3,10; Röm 16,17–19; 2Tim 3,1–9). Ganz anders sollen wir freilich mit Hin- und Hergerissenen umgehen: Der sonst so strenge Judasbrief sagt: „Erbarmt euch derer, die zweifeln!“ (Jud 22). Der Jakobusbrief, der dieses Thema ebenfalls aufgreift, wird noch deutlicher. Er verknüpft die Hilfe bei der „Zurückführung“ mit einer Verheißung: „Meine lieben Brüder und Schwestern: Wer einen unter euch, der von der Wahrheit abgeirrt ist, zur Umkehr bewegt, darf wissen: Wer einen Sünder auf seinem Irrweg zur Umkehr bewegt, wird dessen Seele vom Tod erretten und eine Menge Sünden zudecken“ (Jak 5,19–20).

Vier Handreichungen

Es ist also nicht nur erlaubt, Zweifelnden nachzugehen, es ist sogar ein Gebot der Liebe, sie nicht allein zu lassen. Was können wir nun konkret für Menschen tun, die sich verirrt haben? Ich will nachfolgend einige Empfehlungen in vier Handreichungen zusammenfassen: Lass den Kontakt nicht abreißen! Während wir uns von Irrlehrern distanzieren (vgl. 2Thess 6,6; 1Tim 6,5; 2Tim 3,5; 2Joh 10), erhalten wir den Kontakt mit Strauchlern möglichst aufrecht. Ich weiß, dass das nicht immer einfach ist; manchmal ist es sogar unmöglich. Doch sogar dann, wenn Freunde nicht mehr über Glaubensfragen sprechen wollen, müssen wir nicht aufgeben. Wir können ihnen indirekt „nachgehen“, zum Beispiel, indem wir ihnen bei passender Gelegenheit ein gutes Buch zukommen

lassen oder sie zu einem interessanten Vortrag einladen. Das führt selten zu schnellen Erfolgen. Aber rückblickend hat sich manchmal gezeigt, dass solche kleinen Gesten entscheidende Anstöße sein können. Versuche, die Gründe für die „Entkehrung“ zu verstehen! Menschen, denen wir helfen wollen, brauchen unsere Aufmerksamkeit. Wir hören also zu und machen uns auf die Suche nach den Ursachen ihre Abkehr. Für Entkehrungen gibt es sehr unterschiedliche Ursachen. Wenn wir nicht im Trüben fischen wollen, brauchen wir daher eine handfeste Diagnose. Die bekommen wir nur über den ehrlichen Austausch. Wim Rietkerk unterscheidet zwischen drei unterschiedlichen Arten des Zweifels.* Der Verstandeszweifel tritt auf dem Feld der intellektuellen Auseinandersetzung auf. Dort geht es um Wissen, Argumente und Begründungen. Manchmal blockieren uns bestimmte Gedanken und so ist das Vertrauen zu Gott eingetrübt. Beim Willenszweifel geht es weniger um Argumente, sondern um willentliches Interesse oder Desinteresse an Erkenntnis. Der Willenszweifler will nicht; er klammert sich an Vorurteilen fest, weil er Gott nicht glauben möchte. Ich habe manchmal Leute getroffen, die nicht mehr glauben wollten, weil sie es zu anstrengend fanden, Gott in einem bestimmten Punkt zu gehorchen. Sie wollten nicht mehr glauben, um ihren eigenen Weg gehen zu können. Schließlich haben wir den Gefühlszweifel. Manche Christen fehlt die Gewissheit und Freude, auf dem richtigen Weg zu sein. Sie haben eher das Gefühl, Gott sei ganz weit weg; manche haben sich mit einer anhaltenden Unsicherheit arrangiert. Inwiefern helfen uns diese Unterscheidungen weiter? Ganz einfach. Sie helfen uns, zu verstehen, weshalb ein Freund vom Weg abgekommen ist. Bei einem intellektuellen Zweifel sollten wir uns um eine vernünftige Lösung bemühen, also studieren. Wir brauchen keine Angst haben, es gibt solide Antworten auf viele Fragen, die uns plagen. Wenn wir selbst nicht weiterkommen, können wir uns an jemanden wenden, der uns möglicherweise weiterhelfen kann. *Wim Rietkerk: „Ich fühle ganz anders!“, in: Ron Kubsch (Hg.), Im Zweifel für den Zweifel?, Bonn: VKW, 2010, S. 151–168.

Verschreibt man einem Gefühlszweifler eine ähnliche „Therapie“ wie einem Verstandeszweifler, hilft das aber selten weiter. Auch wenn die akademischen Fragen beantwortet sind, sitzen dem Gefühlszweifler Ängste im Nacken. Sie überfallen ihn, manchmal aus heiterem Himmel. Bücher allein helfen da kaum, auch wenn hinter den Ängsten meist bestimmte Gedanken oder Erfahrungen stecken. Ich habe mal jemanden kennengelernt, der als Jugendlicher von einem Gemeindemitarbeiter so schwer enttäuscht wurde, dass es ihm schwerfiel, Gott und anderen Christen zu vertrauen. Für ihn waren alle Christen von da an Heuchler. Wenn wir einem solchen Menschen helfen, zwischen der Schuld, die ihm widerfahren ist und seiner Verantwortung, auf diese Erfahrungen angemessen zu reagieren, unterscheiden, ist Besserung in Sicht. Vielleicht wird er irgendwann auch zugeben, dass sein gezogenes Fazit aus seiner schlimmen Erfahrung, „alle sind so“, keinesfalls zwingend ist. Denn die Tatsache, dass es schlechte Vorbilder gibt, heißt nicht, dass alle Christen klägliche Beispiele abliefern. Vor allem aber gründet sich unser Glaube nicht auf Christen, sondern auf Christus. Schwierig ist der Willenszweifel. Wenn jemand nicht will, dann bleibt oft nur die Fürbitte, und manchmal hilft nur ein schmerzhafter Einschnitt. Mark Talbot ist einer der brillantesten christlichen Gelehrten, die ich kennenlernen durfte. Er kam mit 12 Jahren zum Glauben, hat sein Christsein aber nicht besonders ernst genommen, sondern vielmehr zwischen zwei Welten gelebt. Christ zu sein war für ihn ein Krampf. Im Alter von 17 hatte er einen schweren Unfall und brach sich dabei das Rückgrat. Seitdem ist er querschnittsgelähmt. Was dieses schlimme Erlebnis so bedeutsam macht, ist sein Bekenntnis: „Seit dem Moment, als der Unfall passierte, habe ich ein tiefes Empfinden für Gottes Liebe.“ Überzeugt von Gottes Güte, Fürsorge und Gegenwart, entschied er sich für den anstrengenden Beruf eines christlichen Philosophen. Und bis heute ist er für viele Leute ein großer Segen. Wir merken, wie wichtig es ist, zu verstehen, weshalb jemand „von der Wahrheit abirrt“. Insbesondere intellektuelle Zweifel kann man nicht ein-

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fach „wegsingen“ oder „wegbeten“. Sie wollen beantwortet werden. Bring biblisch fundierte Antworten ins Gespräch! Wenn unsere Freunde ehrliche Fragen stellen, brauchen sie auch ehrliche Antworten. Deshalb müssen wir aufmerksam zuhören und ihre Denk- und Lebensmuster verstehen lernen. Da wir alle in die eine Welt Gottes gestellt sind, können solche Gespräche gelingen. Da ist „etwas“, das unser Gegenüber daran hindert, an Gott zu glauben. Dieses Hindernis interessiert uns besonders. Aus seinem Blickwinkel gibt es viele Gründe dafür, kein Christ zu sein. Sobald wir die Gründe kennen, sind wir in der Lage, ehrliche und fundierte Antworten zu geben. Wir sollten von solchen Gesprächen nicht zu viel auf einmal erwarten. Der christliche Apologet Gregory Koukl hat einmal gesagt, dass es nicht darum geht, Menschen auf einen Schlag zu überzeugen, sondern vielmehr darum, ihnen „Steine in den Schuh“* zu legen. Diese Steine drücken, sie stören gewohnte Gedankengänge und zwingen damit unsere Freunde zum Überdenken ihrer Sichtweisen. Wir streuen auf diese Weise Samen aus, die im Leben unserer entkehrten Freunde hoffentlich irgendwann aufgehen. Ein Beispiel: Seitdem ein Freund an der Universität studiert, kann er nicht mehr glauben, dass Wunder möglich sind. Die inzwischen gefestigte Überzeugung hält ihn nicht nur davon ab, zu glauben, dass hin und wieder ein Wunder geschieht. Tragisch ist, dass er die gesamte biblische Überlieferung in Frage stellt und nicht mehr daran glauben kann, dass Jesus Christus tatsächlich auferstanden ist. Die Bibel ist für ihn inzwischen eine Sammlung von alten Mythen und Legenden. Erfreulicherweise weicht er Gesprächen zu diesem Thema nicht aus. Und so können wir ihm zeigen, dass es gar nicht Aufgabe der Naturwissenschaft ist, darüber zu entscheiden, ob es Wunder geben kann oder nicht. Die Naturwissenschaft beschäftigt sich mit der Natur, vielleicht auch damit, ob ein Ereignis ein Wunder ist oder nicht. Aber die Feststellung: „Es gibt keine Wunder!“, ist keine naturwissen*Vgl. Gregory Koukl: „Tactics“, Zondervan, 2019.

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schaftliche Aussage, sondern eher eine philosophische. Deshalb versorgen wir ihn mit hilfreicher Literatur und so kommt es, dass er Wunder nicht mehr kategorisch ausschließt. Jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, die Bibel ins Gespräch zu bringen. Ich kann mit ihm darüber reden, dass ein Gott, der das ganze Universum geschaffen hat, in der Lage ist, den Menschen Jesus Christus von den Toten aufzuwecken. Vorausgesetzt, Wunder sind nicht kategorisch auszuschließen, können wir die Auferstehungsgeschichte im Neuen Testament mit ganz anderen Augen und Ohren lesen. Tatsächlich sind die Zeugnisse für die Auferstehung nämlich so überwältigend, dass schwerwiegende Argumente vorgebracht werden müssen, um zu begründen, dass es nicht so gewesen sein kann. Betet! Wir sollten uns davor hüten, zu meinen, es gehe ausschließlich um die besseren Argumente. Der Theologe August Tholuck (1799–1877) wies im Zusammenhang mit intellektuellen Zweifeln gern auf den Stellenwert der Sünde hin. Er war überzeugt, „daß die Sünde ein für die Vernunft nicht durchschaubares Faktum darstellt, das der Mensch selbst nicht aufzuheben vermag, zu dessen Aufhebung es vielmehr des göttlichen Versöhnungshandelns bedarf“.** Er machte deutlich, dass Apologetik nicht nur eine Frage des Verstandes, sondern in erster Linie ein geistlicher Kampf ist. Wenn ein Mensch von der Wahrheit abirrt, geht es um mehr als ein verirrtes Denken. Der bereits erwähnte Bibeltext im Jakobusbrief 5,20 spricht auch davon, dass ein „Sünder von seinem Irrweg zur Umkehr“ geführt wird. Durchaus kann jemand auch durch sündiges Verhalten vom Weg abkommen. Aber selbst dort, wo ein Mensch rein verstandesmäßig strauchelt, ist das kein geistlich neutraler Vorgang. Wir Menschen sind eingebunden in eine geistliche Wirklichkeit. Wir kämpfen nicht mit Fleisch und Blut, „sondern gegen die Mächte, die Gewalten, die Fürsten dieser Finsternis, gegen die Geister des Bösen in den Himmeln“ (Eph 6,12). Deshalb brauchen wir auch eine geistliche Waffenrüstung (vgl. Eph 6,14– 18). Zu dieser Rüstung gehören Wahrheit, Gerechtigkeit, Wort Gottes und

Glaube. Zu diesen „Waffen“ gehört aber auch das Gebet. Wenn Paulus schreibt „Von Gebet und Fürbitte lasst nicht ab: Betet allezeit im Geist und dazu seid wach!“ (V. 6,18), dann gilt das auch im Blick auf „verirrte Schafe“. Deshalb ist es von großer Wichtigkeit, dass wir darum bitten, dass Gott ihre Herzen erleuchtet und sein Geist sie von der Wahrheit, Schönheit und Kraft des Evangeliums überführt (vgl. Joh 16,13; Röm 1,16).

Die Rückkehr feiern

Wenn ich höre, dass ein Freund ins Straucheln geraten ist, muss ich oft an das 15. Kapitel des Lukasevangeliums denken. Jesus illustriert dort anhand von drei Gleichnissen die innige Liebe des Vaters für die Verlorengegangenen. Besonders gern kommt mir Jesu Gleichnis vom verlorenen Schaf in den Sinn: „Wer von euch, der hundert Schafe hat und eines von ihnen verliert, lässt nicht die neunundneunzig in der Wüste zurück und geht dem verlorenen nach, bis er es findet? Und wenn er es findet, nimmt er es voller Freude auf seine Schultern und geht nach Hause, ruft die Freunde und die Nachbarn zusammen und sagt zu ihnen: Freut euch mit mir, denn ich habe mein verlorenes Schaf gefunden“ (V. 4-6). Spüren wir, wie wichtig Gott den Einzelne nimmt, der sich verirrt hat? Merken wir, wie groß die Freude über einen ist, der umkehrt? Deshalb: Erbarmt euch derer, die zweifeln! Man wird „sich freuen im Beisein der Engel Gottes über einen Sünder, der umkehrt“ (V. 10).

Ron Kubsch ist Studienleiter am Martin Bucer Seminar in München, Dozent für Apologetik und Neuere Theologiegeschichte sowie 2. Vorsitzender und Generalsekretär bei Evangelium21. Ron ist mit Dorothea verheiratet. Sie haben drei erwachsene Kinder.

* Ron Kubsch: „Wundern über Wunder: Wunder, Jungfrauengeburt, Auferstehung – heute noch zu Glauben?“ Bibel und Gemeinde, Nr. 1 (2020), S. 27–40. **Jan Rohls: „Protestantische Theologie der Neuzeit“, Bd. 1, 1997, S. 419.


Warum ich immer noch Jesus nachfolge von Andreas Münch

arum folge ich heute immer noch Jesus nach? Diese Frage stelle ich mir immer wieder. Warum bin ich heute mit fast vierzig Jahren immer noch überzeugter Christ, gehe gerne in die Gemeinde und das, obwohl ich als Pastorensohn in einem konservativchristlichen Umfeld aufgewachsen bin? Vielleicht bist du jetzt stutzig geworden und meinst, ich habe mich vertippt. Nein, habe ich nicht. Ich weiß, dass viele Menschen folgende Gleichung aufstellen: Du kommst aus einem christlichen Elternhaus und dein Vater ist sogar Pastor - es überrascht mich überhaupt nicht, dass du heute noch am christlichen Glauben festhältst und gerne zur Gemeinde gehst. Schließlich kennst du nichts anderes. Menschen, die so denken, haben oftmals keine realistische Vorstellung davon, wie es für mich war, als Pastorensohn in einem christlich-konservativen Umfeld aufzuwachsen. Hier ein Einblick: Meine Eltern gründeten Anfang der 90er Jahre eine Gemeinde. Wir lebten als sechsköpfige Familie von einem sehr mickrigen Pastorengehalt. Die Väter meiner Freunde hatten „richtige“ Jobs und verdienten entsprechend und konnten sich schicke Klamotten und Spielzeug leisten, was bei uns einfach nicht drin war. Nahezu alle meine Freunde waren keine Christen, und auch wenn es durchaus gute Kameradschaft gab, so war ich doch immer „der Pastorensohn“ – also irgendwie anders, irgendwie ein bisschen merkwürdig, weil ich an bestimmte Dinge glaubte, bzw. nicht glaubte und meine Eltern nicht alles erlaubten, was ihre Eltern ihnen erlaubten. Da meine Eltern damals dabei waren, eine neue Gemeinde zu gründen, hatte ich lange Zeit keine christlichen

Freunde, die mich im Glauben ermutigt hätten. Gute geistliche Freundschaften mit reifen Christen aus derselben Altersgruppe kamen erst viel später. Gemeindegründung ist auch nichts für Weicheier. Sicherlich war damals auch nicht alles schlecht und meine Eltern mögen eine andere Sichtweise über die Zeit haben, aber ich erinnere mich immer noch lebhaft an Situationen, in denen ich meinen Vater niedergeschlagen und müde erlebte, weil die Gemeinde(-mitglieder) ihn viel Kraft kosteten. Ich wurde oft von Leuten gefragt: „Und, willst du auch einmal Pastor werden?“ Ich weiß nicht mehr, ob man es mir äußerlich angesehen hat, aber zumindest innerlich bin ich oft zusammengeschreckt und hätte am liebsten geschrien: „Auf gar keinen Fall!“ Ich bleibe also bei meiner Formulierung: Warum bin ich heute immer noch dabei, obwohl der christliche Glaube mich so oft zum Außenseiter gemacht hat und die Ortsgemeinde so anstrengend war? Für mich liegt die Antwort auf der Hand: Es war der authentisch gelebte Glaube meiner Eltern, den Gott gebraucht hat, um mich (und meine drei Geschwister) davon zu überzeugen, dass Jesus es wert ist, ihm in der Ortsgemeinde nachzufolgen – trotz all der negativen Erfahrungen. Konkret denke ich da an vier Dinge.

1. Wir durften den Glauben hinterfragen

Ich kann mich rückblickend an keinen Moment erinnern, in dem ich die Existenz Gottes komplett angezweifelt hätte. Doch es gab viele Fragen und Zweifel. Warum glauben wir an einen Schöpfergott, statt an eine materialistische Evolution, wie es in der Schule gelehrt wurde? Warum ist die Bibel Gottes unfehlbares Wort, wenn der Religionslehrer das anders sah? Warum sollten wir mit Sex bis zur Ehe warten, wenn das außer uns Christen nahezu niemand für vernünftig, logisch oder überhaupt umsetzbar hielt? Es war nicht so, dass meine Eltern immer sofort auf alles eine hilfreiche Antwort hatten. Aber schon allein die Tatsache, dass es nicht tabu war, Fragen über die Bibel oder den christlichen Lebenswandel zu stellen, war enorm hilfreich. Ich wurde nicht da-

für verurteilt, wenn ich Zweifel hatte oder Dinge anders sah. Leider weiß ich heute, dass eine solche offene Gesprächskultur, wie sie bei uns zu Hause herrschte, in christlich-konservativen Kreisen keine Selbstverständlichkeit ist. Das ist sehr bedauerlich. Denn die Generation meiner Kinder braucht diese Offenheit noch viel nötiger, weil unsere Gesellschaft noch weiter vom christlichen Glauben entfernt ist, als dies noch vor dreißig Jahren der Fall war.

2. Keine falsche Scheu vor der „Welt“

Wie bereits oben erwähnt, haben meine Eltern viele Dinge anders gesehen als die Eltern meiner ungläubigen Freunde. Es gab vieles, was wir nicht durften, doch der Punkt war, dass meine Eltern sich die Mühe machten, uns genau zu erklären, warum eine Sache nicht gut war. Wer in den 90er Jahren aufwuchs kam mit ziemlicher Sicherheit mit der Jugendzeitschrift BRAVO in Berührung. Ich weiß noch, wie die Friseurin meiner Mutter, mit deren Sohn ich in eine Klasse ging, wie selbstverständlich davon ausging, dass auch ich die BRAVO las. Weder meine Mutter noch ich kommentierten das. Aber ich wusste, dass meine Eltern dieses Jugendmagazin alles andere als „bravo“ fanden, weil die Zeitschrift eine antibiblische Sexualethik propagierte – von den Nacktdarstellungen mal ganz abgesehen. Meine Eltern waren nicht naiv. Sie rechneten damit, dass ich die BRAVO heimlich bei Freunden las. Und das tat ich auch! Doch ich werde nie den Tag vergessen, an dem mein Vater meine Schwester und mich – die wir damals zur Zielgruppe gehörten – beiseite nahm und eine BRAVO hervorholte. Ich war schockiert! Dann ging mein Vater gemeinsam mit uns die Zeitschrift durch und erklärte, dass sie nichts gegen Infos aus der Musikszene, gegen Schminktipps und dergleichen hätten – aber bei der sexuellen Aufklärung zogen meine Eltern klare Grenzen, und sie hatten vollkommen recht. Zugegeben, diese Lektion hat mich nicht davor bewahrt, die BRAVO, oder später sogar den Playboy zu lesen – die sündige Natur bringt es nun mal mit sich, dass Kinder Regeln brechen – aber ich wusste ganz genau, warum eine

FEBRUAR 2024

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Sache nicht in Ordnung war. Gerade dieses Wissen gebrauchte der Heilige Geist immer wieder, um mich zur Umkehr zu führen. Auch in anderen Bereichen, die mit christlichen Lehren oder Werten in Konflikt gerieten, waren meine Eltern relativ entspannt und vertrauten auf das stetige Wirken des Heiligen Geistes, anstatt eine falsche Furcht vor „der Welt“ zu schüren. Als Junge gab es nichts Cooleres, als sich mit toten Tieren zu beschäftigen; damit meine ich natürlich ausgestorbene Tiere, sprich: Dinosaurier. Obwohl meine Eltern eine klassische JungeErde Position vertreten, die im krassen Gegensatz zur Evolutionslehre steht, gingen sie trotzdem mit uns ins Museum, damit wir Dino-Skelette sehen konnten und kauften mir einen Haufen Bücher über Dinosaurier, obwohl darin die Evolutionslehre gelehrt wurde. Ganz nach dem Motto: Prüfet alles, das Gute behaltet. Die Art und Weise, wie meine Eltern mit Büchern, Musik und Filmen umgingen, die eben nicht explizit unmoralisch oder antichristlich waren, sondern nur einen anderen Standpunkt vertraten, half mir dabei, Dinge nicht von vornherein zu verteufeln, sondern Dinge sorgfältig zu prüfen. Das ist eine Haltung, von der ich heute immer noch sehr profitiere und die mir in der Nachfolge Jesu eine wirklich große Hilfe ist.

3. Meine Eltern konnten um Verzeihung bitten Meine Eltern waren wirklich gute Eltern, aber sie waren natürlich nicht unfehlbar. Und das bekamen wir als Kinder zu spüren, und zwar nicht nur in ihrem Versagen, sondern auch in der Art und Weise, wie sie damit umgingen. Mein Vater war für mich nie der unfehlbare Pastor, sondern ein Papa, der mich auch mal zu Unrecht beschuldigte oder der in seinem berechtigten Urteil zu zornig war. Doch wenn, dann konnte er dies auch zugeben. Wir erlebten einen Vater, der in der Lage war, seine Kinder, seine Frau und seine Gemeinde um Ver-

gebung zu bitten. Das hat mich tief beeindruckt. Heute würde ich sagen, dass der Charakter meines Vaters mich mehr geprägt und beeindruckt hat als seine Predigten.

4. Meine Eltern haben gebetet Der vierte und letzte Punkt, den ich dafür verantwortlich mache, dass ich heute dem Glauben nicht den Rücken gekehrt habe, ist die Tatsache, dass meine Eltern gebetet haben – und zwar mit uns Kindern in der Abendandacht, aber auch für uns Kinder und zu zweit als Ehepaar. Ich würde meine Eltern nicht als „Gebetshelden“ bezeichnen, aber dennoch gehörte für sie das Gebet zu einem wesentlichen Aspekt unseres Lebens. Ich wusste, dass meine Eltern sich in schwierigen Situationen im Gebet an Gott wandten, ob ich sie nun dabei beobachten konnte oder nicht. Es war eine natürliche Reaktion, und mehr als einmal hat meine Mutter mich „zum Beten geschickt“, wenn ich selbst nicht mehr weiter wusste.

Ein Zeugnis der Gnade Gottes Rückblickend sehe ich hinter alledem Gottes Kraft und seine Gnade, durch die er mich nicht nur errettet, sondern im Glauben bewahrt hat und auch bis zum Ende bewahren wird (vgl. 1Petr 1,5; Joh 10,27-29). Er hat

das Zeugnis, die Gebete, die Weisheit und auch die Fehler meiner Eltern gebraucht, um mich zu sich zu ziehen. Das Zeugnis meiner Eltern macht mir noch heute Mut und sollte dich auch ermutigen. Wir mögen als Eltern, Großeltern, Freunde, Pastoren oder Gemeindemitarbeiter nicht auf alles eine Antwort haben. Wir machen Fehler und versündigen uns. Doch was unsere Generation dringend braucht, sind Christen, die im Alltag Jesus nachfolgen, die zuhören, anstatt vorschnell zu verurteilen, die Verständnis für Zweifel und Anfechtungen haben und die bestrebt sind, Lösungen zu finden. Christen, die offen und ehrlich mit ihren Fehlern und Schwachheiten umgehen und nach Heiligung streben. Folgen wir mutig Jesus nach und vertrauen wir darauf, dass Gottes Geist unseren Lebenswandel gebraucht, um in vielen anderen Menschen den Wunsch zu wecken, Jesus nachzufolgen.

Andreas Münch ist Mitarbeiter der Herold-Schriftenmission. Er ist verheiratet mit Miriam und Vater von drei Söhnen.

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