Bildung 4.0 – für die Arbeitswelt der Zukunft

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Bildung 4.0

Bildung ist ein lebensbegleitender Prozess. Die gedankliche Trennung zwischen Erstausbildung und Weiterbildung ist aufzuheben. Der Zugang zu Höherqualifizierung muss jeder Person entsprechend ihrer Leistungsfähigkeit jederzeit offenstehen.

"Wir dürfen kein Kind und keinen Jugendlichen mehr zurücklassen oder gar verloren geben." Prof. Dieter Weidemann

Bildung 4.0 – für die Arbeitswelt der Zukunft

Herausgeber Vereinigung der hessischen Unternehmerverbände e.V. Emil-von-Behring-Str. 4 | 60439 Frankfurt am Main | www.vhu.de


Gewidmet dem scheidenden Pr채sidenten der Vereinigung der hessischen Unternehmerverb채nde Prof. Dieter Weidemann


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Bildung 4.0 – für die Arbeitswelt der Zukunft | Wie wir unser Bildungssystem neu ausrichten müssen.

Bildung 4.0 – für die Arbeitswelt der Zukunft Wie wir unser Bildungssystem neu ausrichten müssen.

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Impressum Erschienen | Oktober 2014 Auflage | 2.000 Stück Vereinigung der hessischen Unternehmerverbände e. V. (VhU) Emil-von-Behring-Str.4 60439 Frankfurt am Main Redaktion Charlotte Venema cvenema@vhu.de Layout CREATUR Werbeagentur | Darmstadt www.creaturgrafik.de Bildnachweis Titel: Christian Grau | Innenteil: iStockphoto Druck mt druck Walter Thiele GmbH & Co. KG | Neu-Isenburg


Bildung 4.0 – für die Arbeitswelt der Zukunft | Wie wir unser Bildungssystem neu ausrichten müssen.

Inhalt Vorwort I.

Bildung 4.0 – für die Arbeitswelt der Zukunft Management Summary

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1.

Die Arbeitswelt der Zukunft

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2. 2.1. 2.2.

Das Ende einer Bildungsrevolution Blind für die Arbeitswelt Bildung wofür?

12 13 14

3.

Was ist berufliche Bildung?

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4.

Systeme definieren Chancen

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5.

Ziele und Inhalte der beruflichen Bildung

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6. 6.1 6.2 6.3

Trend zur Akademisierung und Fachkräftebedarf Bildungsstatistik im OECD-Vergleich Die demografische Entwicklung verschärft das Problem Bologna-Reform und duale Berufsausbildung

19 20 21 24

7. 7.1 7.2 7.3

Die duale Ausbildung verliert ihre Klientel Ausbildungsreife als normative Setzung Übergangssystem: keine Übergänge und wenig System Neue Wege zur Hochschulreife

26 27 28 28

8. 8.1 8.2 8.3

Akademische Ausbildung als gesellschaftliches Grundmodell Annäherung ohne Durchlässigkeit Hochschulzugang über berufliche Schulen Tabuthema Studienabbruch

29 29 30 30


9. 9.1 9.2 9.3

Integration der Systeme Gesucht: Hybridqualifikationen Fehlinvestition an Zeit und Geld Es ist Zeit für eine Bildungsreform!

32 32 33 37

10. 10.1 10.2 10.3

Betriebliche und akademische Weiterbildung Wissenschaftliche Weiterbildung für betriebliche Praktiker Hochschulzugang öffnen Digitalisierung verändert Lernen

41 41 42 42

11.

Fazit und Thesen

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Zukünftige Qualifikationsanforderungen 1 Zukünftige Qualifikationsanforderungen 2

34 38

II.

Was ist zu tun?

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1. 2. 3. 4. 5. 6.

Politik und Gesetzgebung Allgemeinbildende Schulen Unternehmen Berufliche Schulen und Aufstiegsfortbildung Hochschulen Sozialpartner

46 48 48 50 51 53

III.

Bildung als Ganzes sehen und jeden Einzelnen mitnehmen! Eine exemplarische Würdigung des bildungspolitischen Engagements des VhU-Präsidenten, Prof. Dieter Weidemann

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Abbildungsverzeichnis

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Exkurs Exkurs

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BILDUNG DEFINIERT LEBENSCHANCEN.

Volker Fasbender Hauptgeschäftsführer Vereinigung der hessischen Unternehmerverbände e. V. (VhU)

„WIR MÜSSEN DEN MUT HABEN, DIE GEWOHNTEN BILDUNGSPFADE ZU VERÄNDERN.“ Volker Fasbender

Bildung definiert Lebenschancen. In Deutschland verweisen wir gerne und mit Recht darauf, dass das duale Ausbildungssystem Jugendliche besonders erfolgreich in das Arbeitsleben integriert und Jugendarbeitslosigkeit weitgehend verhindert. Nicht nur unsere europäischen Nachbarn, sondern auch Länder wie die USA und China experimentieren gerade damit, duale Ausbildungskonzepte in ihre nationalen Systeme zu integrieren. Wir sind überzeugt, dass die duale Berufsausbildung ein wesentlicher Faktor für die Stärke des Wirtschaftsstandorts Deutschland ist. Leider sind wir gerade dabei, diese Stärke aus politischem Opportunismus zu verspielen. Denn in der öffentlichen Wahrnehmung ist die akademische Ausbildung der Königsweg, der Arbeitsplatzsicherheit, ein hohes Lebenseinkommen und gesellschaftliches Ansehen garantiert. Deshalb gehen jedes Jahr mehr Jugendliche unmittelbar im Anschluss an die Schule an die Hochschulen. Vieles an dieser Entwicklung ist positiv, denn die Qualifikationsanforderungen in der Wirtschaft steigen. Deshalb ist es prinzipiell zu begrüßen, dass Jugendliche sich anspruchsvolle Ziele setzen. Sorgen macht uns, dass als Spiegelbild der ständig steigenden Quote von Jugendlichen, die ein Studium beginnen, Jahr für Jahr weniger Jugendliche in eine betriebliche Ausbildung gehen. Der Wirtschaft fehlen die Bewerber um Ausbildungsstellen. Gleichzeitig weisen alle Prognosen darauf hin, dass in Zukunft gerade die beruflich-praktischen Qualifikationen auf dem Arbeitsmarkt gesucht sein werden, während Angebot und Nachfrage bei Akademikern überwiegend ausgeglichen sind.

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Der Wissenschaftsrat hat in einer kürzlich vorgelegten Analyse auf einen weiteren, aus unserer Sicht sehr wichtigen Aspekt hingewiesen. Auf dem Arbeitsmarkt der Zukunft werden vor allem Qualifikationsprofile nachgefragt werden, die ein hohes theoretisches Wissen mit praktischen Umsetzungsfähigkeiten verbinden. Kurz gesagt: Wir brauchen sowohl den betrieblichen Praktiker als auch den Akademiker, aber immer öfter in einer Person.

AUF DEM ARBEITSMARKT DER ZUKUNFT WERDEN VOR ALLEM QUALIFIKATIONSPROFILE NACHGEFRAGT WERDEN, DIE EIN HOHES THEROETISCHES WISSEN MIT PRAKTISCHEN UMSETZUNGSFÄHIGKEITEN VERBINDEN. Die Broschüre zeigt auf, wie wir dieses Dilemma lösen können. Wir brauchen strukturelle Veränderungen im Bildungssystem, die es mehr Menschen erlauben, ihre berufliche Qualifikation aus beiden Sektoren zu beziehen. Wir müssen den Mut haben, die gewohnten Bildungspfade zu verändern. Diese Broschüre steht damit in einer langen Reihe von Publikationen der VhU zu Bildungsfragen – von der frühkindlichen Förderung bis zur Weiterbildung. Für Prof. Dieter Weidemann, den scheidenden Präsidenten der VhU, war nicht nur die konstruktive Auseinandersetzung mit Bildungsfragen ein persönliches Anliegen. Vergleichbare Akzente setzte er auch in allen anderen wirtschaftsrelevanten Themenfeldern von Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik, Verkehr, Energie und Finanzen, Rechtspolitik und Umwelt bis zur Gesellschaftspolitik. Sein Engagement und seine Kompetenz waren richtungsgebend und werden auch von denjenigen anerkannt, die in der Sache andere Auff assungen vertreten. Seine Glaubwürdigkeit und seine ordnungspolitischen Überzeugungen prägten die Arbeit der VhU über mehr als zwei Jahrzehnte. Eine Würdigung seines bildungspolitischen Engagements finden Sie in dieser Broschüre.

Volker Fasbender Hauptgeschäftsführer der VhU

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BILDUNG 4.0 – FÜR DIE ARBEITSWELT DER ZUKUNFT Management Summary Die Wirtschaft durchläuft einen Strukturwandel, dessen Dynamik die Arbeitswelt grundlegend verändern wird. Daraus ergeben sich weitreichende Konsequenzen für die Ausbildung von Fachund Führungskräften und die Struktur des Bildungssystems: • Über 50 % der Schulabgänger eines Jahrgangs beginnen ein Studium, die Tendenz ist weiter steigend. Auf dem Arbeitsmarkt werden in Zukunft jedoch in besonderem Umfang beruflichpraktische Qualifikationen nachgefragt. Dieser Bedarf wird zunehmend ergänzt durch eine wachsende Nachfrage nach Hybridqualifikationen, die das Umsetzungs-Know-how aus einer beruflich-praktischen Ausbildung mit theoretischen Kenntnissen verbinden, wie sie typischerweise an einer Hochschule vermittelt werden. Das deutsche Bildungssystem beruht jedoch nach wie vor auf den zwei Säulen beruflicher Ausbildung (Facharbeiter, Meister, Techniker, Betriebswirt etc.) und akademischer Ausbildung, zwischen denen ein nur geringer Austausch stattfindet. Deshalb verstärkt das deutsche Bildungssystem in seiner heutigen Struktur den Fachkräftemangel. • Der stabile Trend zur Akademisierung führt dazu, dass das duale Ausbildungssystem, das in Deutschland mit zu einem hohen Qualifikationsniveau beiträgt und Lernen in und an der Praxis in idealer Form in die Ausbildung integriert, seine Klientel verliert. Immer mehr Jugendliche streben unmittelbar an die Hochschulen. Bei zurückgehenden Schulabgängerzahlen und steigender Akademisierungsquote gehen sowohl prozentual als auch absolut immer weniger Jugendliche in eine betrieblich-praktische Ausbildung. Wenn das akademische System zum Mehrheitssystem wird, dürfte sich dieser Trend nochmals verstärken. Da in den nächsten Jahren verhältnismäßig große Jahrgangsgruppen aus dem Arbeitsleben ausscheiden, die überwiegend über eine betriebliche Ausbildung verfügen, kann der Bedarf an beruflich qualifizierten Fachkräften immer weniger gedeckt werden. • Bisher haben Akademiker sowohl ein geringeres Arbeitslosigkeitsrisiko als auch ein höheres Lebenseinkommen. Deshalb gilt eine akademische Ausbildung im öffentlichen Bewusstsein als der Königsweg. Bei einem prozentualen Anteil von über 50 % werden diese Vorteile jedoch in Zukunft nur noch bei einem sehr hohen Leistungsniveau bestehen bleiben. Studienabbrecherquoten von bis zu 50 % zeigen außerdem ein hohes Maß an Fehlorientierung im Bildungssystem.

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• Um die Qualifikationen bereitzustellen, die der Arbeitsmarkt in Zukunft braucht, ist es zunächst erforderlich, die duale Ausbildung attraktiver zu gestalten. Dies wird so lange nicht gelingen, wie die bisherige Abschottung zum akademischen System bestehen bleibt. Jugendliche tendieren dazu, die Bildungswege zu wählen, die ihnen die meisten Optionen eröffnen. Deshalb muss der Zugang zur Hochschule für Facharbeiter ebenso kalkulierbar und planbar gestaltet werden wie für Gymnasiasten oder Absolventen vollschulischer Bildungsgänge an beruflichen Schulen. Um die Studierfähigkeit dieser Gruppe sicherzustellen, sind (je nach Vorqualifikation und angestrebtem akademischem Ausbildungsweg differenzierte) Zusatzmodule zu entwickeln, die bei einem erfolgreichen Abschluss den Zugang zu den Hochschulen eröffnen. Gleichzeitig ist es jedoch Aufgabe der Hochschule, ihr Lehrangebot so zu gestalten, dass beruflich Qualifizierten der Einstieg in ein Studium erleichtert wird. • Der Umbau des Bildungssystems von einem Zweisäulenmodell zu einem Gesamtsystem darf nicht das jeweilige Leistungsniveau absenken. Das Ziel sind die Aufhebung der Pfadabhängigkeit beim Erreichen von Bildungsabschlüssen und der Erhalt des Lernens in der Praxis bzw. die Option für Lernen in der Praxis auf allen Qualifikationsniveaus. • Das Berufsbildungssystem aus akademischer und betrieblicher Ausbildung ist in Zukunft so zu gestalten, dass ein Höchstmaß an Durchlässigkeit und unterschiedlichen Ausbildungswegen gefördert wird, die betrieblich-praktisches Lernen mit der Aneignung akademischer Qualifikationen kombinieren. Akademikern ist der Weg zu klassischen beruflichen Qualifizierungsinhalten (etwa aus der Aufstiegsqualifizierung) ebenso zu eröffnen wie Facharbeitern der Zugang zu akademischen Inhalten (als Module oder als Abschluss auf Bachelor- und MasterNiveau). Dieses Prinzip gilt nicht nur für die Erstausbildung, sondern muss im Sinne lebensbegleitenden Lernens während des gesamten Arbeitslebens zum Tragen kommen. Dazu sind neben dem dualen Studium weitere hybride Modelle zu entwickeln, die diesen Anforderungen entsprechen und auf unterschiedlichen Leistungsniveaus angesiedelt sind. Qualifizierungen müssen in vermehrtem Umfang auch berufsbegleitend oder modular möglich sein.

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1 DIE ARBEITSWELT DER ZUKUNFT Wie wird die Arbeitswelt der Zukunft aussehen? Mit dieser Frage beschäftigt sich eine Vielzahl von Studien, von denen wir in dieser Broschüre beispielhaft zwei aktuelle Publikationen zitieren: „Die Zukunft der Arbeitswelt – auf dem Weg ins Jahr 2030“ der Robert Bosch Stiftung (siehe Seite 34) und die „Empfehlungen zur Qualifizierung von Fachkräften vor dem Hintergrund des demographischen Wandels” des Wissenschaftsrats (siehe Seite 38).

BEI ALLEN UNTERSCHIEDEN IN DEN ANALYSEN GIBT ES HIERBEI EINE GEMEINSAME AUSSAGE: WIR BEFINDEN UNS IN EINEM STRUKTURWANDEL, DESSEN DYNAMIK UNSERE ARBEITSWELT KONSEQUENT UND NACHHALTIG VERÄNDERN WIRD. Zentrale Stichworte sind: neue, kaum vorhersehbare technologische Entwicklungen, Digitalisierung der Kommunikation, internationale Arbeitsteilung und in der Folge tiefgreifende strukturelle Veränderungen der Arbeitsorganisation. Daraus ergeben sich umfassende Konsequenzen für die Ausbildung von Fach- und Führungskräften. Diese letztgenannten Aspekte wurden bisher nur in ersten Ansätzen diskutiert. Die VhU möchte die Diskussionen mit diesem Konzept und eigenen Vorschlägen vertiefen.

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DAS ENDE EINER BILDUNGSREVOLUTION Vom Beginn des 19. bis in die fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts lag der Anteil der Akademiker an einem Altersjahrgang bei maximal 4 %. Dies ist der Zeitraum von der langsamen Entwicklung des Industriezeitalters bis zu seiner vollen Ausprägung. Akademiker waren eine gesellschaftliche Elite, die sich wiederum in jedem Jahrgang überwiegend aus der Oberschicht rekrutierte. Gesellschaftlicher Aufstieg aus anderen soziologischen Gruppen war möglich, aber eher eine Ausnahme. 1957 traf der „Sputnik-Schock“ die „klassischen“ Industrienationen. Die Sowjetunion, der Gegner im Kalten Krieg und industrieller Spätstarter, hatte im Zukunftsfeld Raumfahrt die Technologieführerschaft übernommen! 1964, also vor exakt 50 Jahren, veröffentlichte Georg Picht unter dem neuen Schlagwort „Die deutsche Bildungskatastrophe“ eine Sammlung von Artikeln, die bereits in einer Wochenzeitung erschienen war. Alle Themen, die die Bildungspolitik der nächsten 50 Jahre prägen sollten, wurden hier benannt: • zu wenig Abiturienten • zu geringe Bildungsausgaben • Bildungsunterschiede zwischen Stadt und Land • Bildungsunterschiede zwischen Jungen und Mädchen • Bildungsunterschiede zwischen Bürger- und Arbeiterkindern. Diese Analyse wurde zum „Programm“ einer neuen Bildungsrevolution, die unter dem Motto „Mehr und höherwertige Bildung für alle“ stand. Die wichtigste Forderung war die Verdoppelung (!) der Abiturientenzahlen. Das Ziel war also ein Anteil an Akademikern, der immer noch unter 10 % lag. Alle Strukturen, die heute die Bildungslandschaft prägen, entstanden in den fünfziger und sechziger Jahren in dem Bemühen, die damals benannten Defizite zu beseitigen. Ziel war, das allgemeine Bildungsniveau zu heben und Bildung gerechter zu verteilen. Obwohl die Forderung „Bildung für alle“ lautete, war Bildung in diesem Verständnis eher ein sich selbst genügendes Ziel. Der Akademiker mit klassischer humanistischer Vorbildung verkörpert die volle Ausprägung dieses Bildungsideals. Aus heutiger Sicht hat diese Bildungsrevolution jedoch eine ausgeprägte Schlagseite. Bei allem Bemühen, Bildung zu demokratisieren und eine neue, am Ausbau der Demokratie orientierte, staatstragende und zahlenmäßig breitere Elite von Akademikern zu entwickeln, bleibt sie einem sehr traditionellen Verständnis verhaftet. Das klassische Aufstiegsschema zum Akademiker wurde zu keiner Zeit in Frage gestellt.

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Andere Wege zu „Bildung“ oder gar ein anderes Verständnis von Bildung kamen nicht vor. Die Verwertbarkeit des akademischen Abschlusses als fundamentaler Teil des Erwerbslebens und die Karrierechancen waren kaum ein Thema, da die weiteren Berufswege dieser zahlenmäßig kleinen Elite als Beamte, Freiberufler und Führungskräfte vorgegeben waren.

2.1 Blind für die Arbeitswelt Diese gesamte Bildungsrevolution war blind für weite Teile der Schullandschaft, sie war völlig desinteressiert an der beruflichen Wirklichkeit des überwiegenden Teils der Bevölkerung. „Die Reformer der sechziger Jahre, die Picht folgten, vernachlässigten weite Bereiche der schulischen Wirklichkeit. Vor allem das berufliche Bildungswesen blieb ihnen fremd; es kommt in den Büchern von Picht, Dahrendorf und Edding schlechterdings nicht vor. Man starrte gebannt auf den Mangel an Gymnasiasten, Abiturienten, Studenten – ungeachtet der Tatsache, dass die Mehrzahl der Schüler (damals) Hauptschulen und berufliche Schulen besuchte und einen praktischen Beruf anstrebte [.…]. Die alte Minderbewertung der beruflichen Bildung (wurde) nicht aufgehoben“ (Prof. Dr. Hans Maier, FAZ, 15.09.2014). Man kann es auch so formulieren: Das wichtigste Anliegen der Bildungsreformer war, die akademische Bildung als höherwertiges System zu Lasten des Systems der beruflichen Ausbildung auszuweiten. Eine Aufwertung des beruflichen Ausbildungssystems (Facharbeiter, Techniker, Meister, Betriebswirt etc.) durch eine Steigerung des Niveaus oder eine Verbindung mit dem akademischen System (Stichwort Durchlässigkeit) war außerhalb der Vorstellungswelt der Reformer. Der Schwung, der die in den sechziger Jahren gestartete Bildungsrevolution vorantrieb, gestaltete die deutsche Bildungslandschaft tatsächlich grundlegend um, ließ jedoch gleichzeitig die grundlegenden Strukturen unverändert. Auf die immer noch gleichen Strukturen von der Hauptschule bis zur Universität verteilen sich Schüler- und Studentenströme in einem völlig veränderten Zahlenverhältnis. Die Hauptschule wurde marginalisiert, über 50 % eines Jahrgangs gehen unmittelbar nach der allgemeinbildenden Schule an die Hochschule. Von der Öffentlichkeit völlig unbeachtet bleibt eine weitere Veränderung: Bis zu 50 % der Studienanfänger erlangen ihre Hochschulberechtigung nicht mehr an Gymnasien, sondern an beruflichen Schulen, die sich in einem schleichenden Prozess zu einem Parallelsystem zum allgemeinbildenden Schulwesen entwickelt haben.

Der Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit und des weit überwiegenden Teils der öffentlichen Bildungsdebatten liegt jedoch immer noch auf der allgemeinbildenden Schule sowie der Hochschule und klammert die gesamte berufliche Bildung weitgehend aus. Im Gegensatz zur Wirklichkeit der sechziger Jahre und der folgenden Jahrzehnte entwickelt sich der Sektor der beruf-

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lichen Bildung allerdings gerade in Richtung eines Minderheitensystems, während der Weg an die Hochschule mit über 50 % eines Jahrgangs zum Standardweg wird. Die Bildungsrevolution hat sich selbst übertroffen. Wenn die Entwicklung weiter in diese Richtung geht, verschwinden die berufliche Bildung und das duale Ausbildungssystem in der Bedeutungslosigkeit, da sie nur noch die aufnehmen, die es nicht an die Hochschule geschafft haben. Obwohl der Prozess durch seinen eigenen Erfolg überholt wurde und damit kein sinnvolles Ziel mehr erreicht werden kann, ist die Politik kaum gewillt, über die Konsequenzen nachzudenken und ein neues, ähnlich ambitioniertes Bildungsziel zu definieren wie die junge Bundesrepublik. Nach vielen kleineren Experimenten im System wünscht man sich nichts mehr als „Schulfrieden“ und erklärt den Verzicht auf weitere Experimente.

2.2 Bildung wofür? Dabei verbreitete sich eine Neuerung nachhaltig im gesamten Bildungssystem: die Frage nach dem Nutzen schulischer, beruflicher und akademischer Bildung für die Lebensgestaltung, die Karrierechancen, das Einkommen und den gesellschaftlichen Status der Menschen. Diese funktionale Sichtweise war den Bildungsreformern fremd. Bildung führte zwar im Ergebnis in den Beruf, war aber durch einen vorgegebenen Bildungskanon auf der Basis des humanistischen Bildungsideals vorgegeben. Die Inhalte hielten mit der technologischen und wissenschaftlichen Entwicklung Schritt, ohne dass sich Hochschulstrukturen verändern mussten. Die funktionale Sichtweise ist das Spiegelbild der offensichtlichen Tatsache, dass zwar immer mehr Menschen einen akademischen Status erlangen, aber dieser mitnichten den Erfolg und die gesellschaftliche Anerkennung garantiert, die er vorangegangenen Generationen bot. Akademische Grade garantieren keinen Elitestatus mehr, sondern werden für die nachrückenden Generationen zum Standard, der Voraussetzung für ein erfolgreiches Berufsleben ist. Bessere Bildung führt zwar insgesamt zu einer höheren Leistungsfähigkeit der Gesellschaft. Sie verändert jedoch nichts Grundlegendes an der Normalverteilung der Intelligenz sowie der beruflichen Kompetenz und Leistungsfähigkeit. Eliten werden also in Zukunft nicht mehr durch den akademischen Grad definiert, sondern durch neu entstehende Binnendifferenzierungen im akademischen System. Es ist Zeit für eine neue Zielorientierung im Bildungssystem, die die unabhängige Selbstoptimierung der Teilsysteme ersetzt. Nur über die Definition eines neuen Bildungsziels können Substrukturen des Bildungssystems über ihre jeweiligen Partikularinteressen hinaus als Gesamtsystem agieren.

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WAS IST BERUFLICHE BILDUNG? Der Begriff „berufliche Bildung“ wird teilweise als „Bildung im beruflichen System“ verstanden und damit auf die duale Berufsausbildung und vergleichbare schulische Bildungswege reduziert. Aber auch die akademische Bildung will auf einen Beruf, d. h. eine Tätigkeit zum Erwerb des Lebensunterhalts, hinführen. Dies wurde durch die Bologna-Reform betont, die den Bachelor als erste Stufe akademischer Qualifikation ausdrücklich als berufsqualifizierend definiert. Gleiches gilt jedoch für jede weiterführende akademische Qualifikation, auch wenn hier weniger die konkrete Anwendung, sondern eher die theoretische Fundierung und Systematisierung im Mittelpunkt stehen. Bologna stieß im akademischen System einen Systemwandel an. Unter dem Begriff berufliche Bildung verstehen wir daher alle Bildungswege, die für eine berufliche Tätigkeit und den Übergang in den Arbeitsmarkt qualifizieren (Hochschulen, betriebliche Ausbildung und Angebote beruflicher Schulen, private Bildungsträger, betriebliche Weiterbildungsangebote, berufliche Aufstiegsfortbildung wie Meister, Fachwirt, Techniker, Spezialisten und Professionals). In dieser Broschüre behandeln wir die Schnittstelle zwischen Bildungssystem und Erwerbsleben und beziehen uns nur indirekt auf das allgemeinbildende Schulwesen, das Menschen auf eine berufliche Bildung vorbereitet.

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SYSTEME DEFINIEREN CHANCEN Das System der beruflichen Bildung bestimmt nicht nur, welche Qualifikationen für den Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen. Es entscheidet auch mit darüber, welche persönlichen Entwicklungschancen junge Menschen haben und in welchem Umfang eine Gesellschaft das Postulat der Chancengleichheit erfüllt. Dieses Verständnis bedarf einer weiteren Ergänzung. Berufsbildung findet nicht nur im Rahmen der Erstausbildung statt. Es ist in zunehmendem Maße für den Arbeitsmarkt wie für die Beschäftigungsfähigkeit der Arbeitnehmer von Bedeutung, ob und in welchem Umfang das Berufsbildungssystem Entwicklungsmöglichkeiten während der gesamten Dauer des Berufslebens ermöglicht. Die Weiterbildung (berufsbegleitende Qualifizierung und berufliche (Neu-)Qualifizierung von Erwachsenen) ist Teil des Berufsbildungssystems. Während früher der Bildungsabschluss, der unmittelbar vor dem ersten Eintritt in den Arbeitsmarkt erworben wurde, die weitere berufliche Entwicklung bestimmte, ist heute zumindest theoretisch jedes Bildungsniveau während des gesamten Berufslebens erreichbar.

DAS SYSTEM DER BERUFLICHEN BILDUNG ENTSCHEIDET MIT DARÜBER, WELCHE PERSÖNLICHEN ENTWICKLUNGSCHANCEN JUNGE MENSCHEN HABEN UND IN WELCHEM UMFANG EINE GESELLSCHAFT DAS POSTULAT DER CHANCENGLEICHHEIT ERFÜLLT.

Diese Entwicklung stellt eine Herausforderung für die betriebliche Aus- und Weiterbildung dar. Sie entspricht aber den Anforderungen einer Arbeitswelt, die mit ständigen technologischen und organisatorischen Umbrüchen zurechtkommen muss. Damit vervielfachen sich nicht nur die Schnittstellen zwischen der beruflichen Bildung und dem Arbeitsmarkt. In zunehmendem Umfang findet Berufsbildung auch parallel zur Erwerbstätigkeit statt oder wird bewusst in Arbeitsprozesse so weit integriert, dass Lernen und Arbeiten auch beim Erwerb formaler Qualifikationen nicht mehr eindeutig zu trennen sind. Das berufsbezogene Bildungssystem ist in den grundlegenden Strukturen mit einer faktischen Trennung von akademischen und beruflichen Ausbildungswegen seit Jahrzehnten unverändert. Die Anforderungen des Arbeitsmarktes und das Bildungsverhalten junger Menschen haben sich jedoch gravierend gewandelt. Das Ergebnis sind Disparitäten zwischen Angebot und Nachfrage und ineffiziente Bildungswege.

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ZIELE UND INHALTE DER BERUFLICHEN BILDUNG Wilhelm von Humboldt definierte Bildung als „die Anregung aller Kräfte des Menschen, damit diese sich über die Aneignung der Welt entfalten und zu einer sich selbst bestimmenden Individualität und Persönlichkeit führen.“ Das humanistische Bildungsideal, das die gesamte Persönlichkeit eines Menschen im Blick hat, prägt nach wie vor den deutschen Kulturkreis und die Bildungspolitik. In der aktuellen bildungspolitischen Diskussion steht allerdings der Kompetenzbegriff im Mittelpunkt. Die meistzitierte Definition stammt von Franz Weinert: Unter Kompetenz versteht er „die bei Individuen verfügbaren oder durch sie erlernbaren kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte Probleme zu lösen, sowie die damit verbundenen motivationalen, volitionalen und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten, um die Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können.“ Diese Definition wurde, u. a. weil sie auf die Lösung von Problemen fokussiert ist, als zu funktional kritisiert. Die Definition der OECD fasst den Bogen wesentlich weiter. Sie nennt das berufliche wie das private Leben, das Handeln als Staatsbürger ebenso wie das lebenslange Lernen. Bildung und Ausbildung im weitesten Sinne sollen den Menschen dazu verhelfen, den Anforderungen in all diesen Bereichen gerecht zu werden. Bildung dient in diesem Verständnis auch der rein persönlichen Lebensgestaltung. Wer unvoreingenommen fragt, was diese Anforderungen der relevanten Lebensbereiche sind, kommt zu sehr weitgehenden Fragestellungen: • Was braucht die Gesellschaft? • Was braucht die Kultur? • Was braucht die Wirtschaft? • Was macht ein selbstbestimmtes Leben aus? Dies schließt notwendigerweise nicht nur Fähigkeiten, Fertigkeiten und Wissen ein, sondern umfasst Einstellungen, Motive und Werthaltungen. Der Widerstand zahlreicher Lehrer und Erziehungswissenschaftler gegenüber einer Kompetenzorientierung in der Bildungsplanung und vor allem bei der Evaluation der Ergebnisse von Bildungsprozessen wird damit begründet, dass die Persönlichkeitsbildung (also das humanistische Bildungsideal) aus der Zieldefinition von Bildung beseitigt werde. Der Kompetenzbegriff sollte jedoch aus der jeweiligen Fragestellung heraus und mit Blick auf die Ebene der Diskussion bestimmt werden. Kompetenzmodelle sind ausgesprochen hilfreich, wenn es um die Verständigung über Ziele von Bildung, Aus-, Fort- oder Weiterbildung und Personalentwicklung im weitesten Sinne geht. Die Handlungskompetenz in einem konkreten be17 |


ruflichen Umfeld hat nicht im gleichen Umfang gesamtgesellschaftliche Ziele im Fokus wie die Definition eines gesellschaftlichen Bildungsziels, auch wenn sie notwendigerweise auf diesen Grundwerten basiert. Überfunktionalisierung und Reduzierung von Bildung auf einen konkreten Zweck ist letztlich dysfunktional. Der Kompetenzbegriff der beruflichen Bildung umfasst für uns daher im Sinne der OECD sowohl den Menschen und dessen persönliche Entwicklungschancen im Kontext der Gesellschaft als auch die engere Befähigung zu beruflichem Handeln, dem Aufbau einer wirtschaftlichen Existenzgrundlage und der Fähigkeit zur Problemlösung im Rahmen wirtschaftlicher Wertschöpfung. Das Bildungssystem muss mit seinen Angeboten nicht nur den Interessen des Individuums an persönlicher Entfaltung, gesellschaftlichem Ansehen und Lebensqualität gerecht werden. Vielmehr muss es in seiner konkreten Ausgestaltung auch im Blick behalten, im Rahmen welcher Wertschöpfungsprozesse sich Menschen eine Existenzgrundlage erarbeiten und lebenslang erhalten können. Vor allem die grundlegenden Strukturen des Bildungssystems müssen einem einheitlichen und umfassenden Bildungsbegriff verpflichtet bleiben, ohne die Realität des Berufslebens und dessen Gestaltungsmöglichkeiten aus dem Blick zu verlieren. Strukturen entscheiden über Lebenschancen.

BILDUNG UND AUSBILDUNG IM WEITESTEN SINNE SOLLEN DEN MENSCHEN DAZU VERHELFEN, DEN ANFORDERUNGEN IN ALL DIESEN BEREICHEN GERECHT ZU WERDEN. WER UNVOREINGENOMMEN FRAGT, WAS DIESE ANFORDERUNGEN DER RELEVANTEN LEBENSBEREICHE SIND, KOMMT ZU SEHR WEITGEHENDEN FRAGESTELLUNGEN: • WAS BRAUCHT DIE GESELLSCHAFT? • WAS BRAUCHT DIE KULTUR? • WAS BRAUCHT DIE WIRTSCHAFT? • WAS MACHT EIN SELBSTBESTIMMTES LEBEN AUS?

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TREND ZUR AKADEMISIERUNG UND FACHKRÄFTEBEDARF Die markanteste Veränderung des Bildungssystems zeigt sich aktuell in der Entscheidung für einen Ausbildungsweg. Traditionell waren Akademiker eine Leistungs- und Führungselite. Der Zugang zur Hochschule war lange Zeit so reglementiert, das ca. 10–12 % eines Jahrgangs einen Hochschulabschluss erreichten. Dies prägt bis heute das Bild des Akademikers als Mitglied einer kleinen gesellschaftlichen Oberschicht, obwohl die politisch gewollte und forcierte Erhöhung der Studierquote die Realität völlig veränderte: 1950 1970 1990 2010

begannen 5 % eines Jahrgangs ein Studium, waren es 12 %, 30 % und schon 45 %.

Da langfristige gesellschaftliche Trends sich nicht kurzfristig beeinflussen oder gar umkehren lassen, ist es realistisch, davon auszugehen, dass die Studienanfängerquote in wenigen Jahren bei ca. 60 % liegen wird. Abbildung 1: Studienanfänger 1950–2010 in Prozent pro Jahrgang 50% 45%

45% 40% 34%

35% 30%

30% 25% 20%

20% 15% 12% 10% 5%

5%

6%

1950

1960

0% 1970

1980

1990

2000

2010

Quelle: Deutsches Studentenwerk; Statistisches Bundesamt 19 |


2006 gab es 350.000 Studienanfänger, im Wintersemester 2011/2012 waren es bereits 516.000 (Statistisches Bundesamt 2011a und 2011b). Dieser Trend zur Akademisierung ist seit Jahren stabil. Er führt dazu, dass der prozentuale Anteil der dualen Berufsausbildung zurückgeht, während die Quote der Studienanfänger weiter steigt. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis nicht mehr die duale Berufsausbildung den größten Teil der Jugendlichen aufnimmt, sondern der akademische Sektor. Die Statistiken unterscheiden sich hier ein wenig. Nach anderen Berechnungen haben wir die Schwelle bereits überschritten. Entscheidend ist der langfristige Trend. Die akademische Ausbildung, die früher für eine kleine, selektierte Elite bestimmt war, wird zum Standardmodell. In Hessen liegt der Anteil der Hochschulzugangsberechtigten – die allerdings nicht alle studieren werden – aktuell bei 56,5 % und damit über dem Bundesschnitt. Abbildung 2: Ausbildungs- und Studienanfängerzahlen 650.000

600.000

550.000

500.000

450.000

400.000

350.000

300.000

250.000

200.000 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 Studienanfänger

Ausbildungsanfänger

Quelle: Deutsches Studentenwerk; Statistisches Bundesamt

6.1 Bildungsstatistik OECD-Vergleich Diese Entwicklung sollte allerdings im internationalen Kontext bewertet werden. Die Studierquote hat sich in den vergangenen Dekaden in fast allen OECD-Staaten deutlich erhöht. Deutschland wird bei dieser Entwicklung von manchen Bildungsexperten (z. B. OECD 2011) als Nachzügler betrachtet. Dabei bleibt aber außer Acht, dass die im OECD-Vergleich geringe Studierquote in Deutschland im Kontext der Berufsbildung zu interpretieren ist, die die Mehrzahl der OECD-Staaten nicht kennen: Die beruflich-betriebliche Bildung ist in Deutschland gesetzlich verankert und durch die kooperative Regulierung durch die Sozialparteien eng an 20 |


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den Arbeitsmarkt gebunden. Ihre Abschlüsse unterliegen einer nationalen Standardisierung. Das Berufsbildungssystem weist seine Absolventen beruflichen Tätigkeiten zu, die in anderen OECD-Staaten akademische Abschlüsse voraussetzen. Die relativ niedrigen Studierquoten hängen insofern in Deutschland – und in einigen europäischen Ländern wie Österreich und der deutschsprachigen Schweiz, die ebenfalls ein duales Ausbildungssystem besitzen – mit Folgendem zusammen: Der berufliche Ausbildungssektor bereitet hier zum Teil auf qualitativ sehr anspruchsvolle Berufstätigkeiten vor, für die in anderen OECD-Ländern Bachelor-Abschlüsse überwiegen. Beispielsweise finden sich Berufsbilder wie der Mechatroniker oder die Finanzdienstleistungsberufe in anderen Ländern in Kompetenzprofilen auf der Bachelor-Stufe eines Studiums wieder. Die Akademisierungsquote kann daher auf der europäischen Ebene nicht als alleiniger Vergleichsmaßstab herangezogen werden. Entscheidend ist die Qualität der Abschlüsse. Beachtet man diesen Gesichtspunkt, kann eine kritische Betrachtung der wachsenden Akademikerquote nicht mit dem Argument entkräftet werden, Deutschland sei lediglich ein Nachzügler im Rahmen der internationalen Entwicklung und habe nach wie vor Aufholbedarf. Entscheidend sind letztlich der Bedarf auf dem Arbeitsmarkt sowie Inhalt und Qualität der Abschlüsse. Die formale Zuordnung in das akademische System mag ein Indiz sein, es sollte allerdings auf dem Hintergrund des europäischen Qualifikationsrahmens kritisch darauf überprüft werden, auf welcher Kompetenzebene diese Abschlüsse tatsächlich einzuordnen sind. Bezieht man diese kritische Betrachtung der Wertigkeit von Bachelor-Abschlüssen in die Betrachtung der Akademikerquote mit ein, hat Deutschland keinen Aufholbedarf. Vielmehr besitzt es durch die ausgeprägtere Praxisorientierung dualer Abschlüsse im Verhältnis zu den meisten akademischen Abschlüssen einen Wettbewerbsvorteil in Bezug auf eine bessere Verwertung auf dem Arbeitsmarkt – und das, ohne relevante Abstriche beim theoretischen Niveau der Qualifizierung hinnehmen zu müssen.

6.2 Die demografische Entwicklung verschärft das Problem Die Auswirkungen des Trends zur Akademisierung werden durch die veränderte demografische Struktur in Deutschland weiter verschärft. Während die Gesamtbevölkerung von 2011 (= 100 %) bis 2020 auf 97,7 % zurückgeht, verringert sich der Anteil der 20- bis 29-Jährigen auf 86,4 %. Die Alterskohorte der 18- bis unter 20-Jährigen, aus der sich sowohl Studienanfänger als auch Einsteiger ins duale Berufsbildungssystem rekrutieren, geht von 926.000 auf nur noch 743.000 im Jahr 2020 zurück – dies entspricht einem Rückgang auf 80,3 %. Diese Zahlen sind bundesweiter Durchschnitt. Bezogen auf die Regionen kann die Entwicklung wesentlich gravierender sein; die Streuung reicht von einer Halbierung der Schulabgänger bis hin zu konstanten Zahlen in den Ballungsräumen.

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Dies hat für die Verfügbarkeit von Fachkräften im akademischen Bereich andere Folgen als für die Verfügbarkeit beruflicher Qualifikationen auf der Ebene von Facharbeitern sowie weiterführender beruflicher Qualifikationen. Im akademischen Bereich wird der demografisch bedingte Rückgang durch die kontinuierliche Erhöhung der Studierquote überkompensiert. Bei gleichbleibenden Rahmenbedingungen wird der Anteil der Akademiker an der Erwerbsbevölkerung bis 2030 um ein Viertel steigen, während derjenige der beruflich Qualifizierten um ein knappes Fünftel zurückgeht.

ES KOMMT ZU EINER SYSTEMISCHEN KONKURRENZ, DIE DAS DUALE BERUFSBILDUNGSSYSTEM ZUSÄTZLICH MARGINALISIEREN KÖNNTE.

Abbildung 3: Verhältnis berufliche und akademische Bildung Relation aus Anzahl an Schülern an Berufsschulen und Studierenden im Wintersemester 16,0 14,8 14,0

12,0

10,0

8,0

7,3

6,0 3,8

4,0

1,9 2,0

1,0

1,1

0,8

1990

2000

2010

0 1950

1960

1970

1980

Bis einschließlich 1990 nur früheres Bundesgebiet inklusive Berlin (West) Quelle: Statistisches Bundesamt, mehrere Jahrgänge; Berechnungen IW

Die Versorgung des Arbeitsmarktes mit Akademikern ist daher auch bei der erwarteten Nachfrage insgesamt voraussichtlich gesichert. Bei Engpässen in einzelnen Berufen ist zusätzlich zu berücksichtigen, dass der Arbeitsmarkt für höhere Qualifikationen zunehmend internationaler wird. Die vorliegenden Prognosen gehen daher davon aus, dass der Akademikerbedarf (auch im MINT-Bereich) gedeckt werden kann. Die internationale Mobilität dieser Gruppe kann jederzeit

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Abbildung 4: Entwicklung von Ersatzbedarf und Neuangebot an Erwerbspersonen Differenz zwischen aus dem Erwerbsleben ausscheidenden Personen und Neuangebot an Erwerbspersonen, in Millionen

1,00

0,55

0,49

0,50

0,36 0,25

0,00

-0,25 -0,50 -0,54

-1,00

Akademiker

-1,00

beruflich qualifiziert

-1,27 -1,50 2012-2015

2015-2020

2020-2025

2025-2030

Beruflich qualifiziert: inklusive Meister, Techniker, Fachhochschulabsolventen Quelle: Maier et al., 2014

dazu genutzt werden, Spitzenbedarfe, die der deutsche Arbeitsmarkt nicht abdecken kann, durch gezielte internationale Anwerbung abzudecken. Dies setzt allerdings eine mindestens gleichbleibende Attraktivität Deutschlands als Zuwanderungsland und die Entwicklung einer Willkommenskultur voraus, die in Deutschland noch nicht ausreichend ausgeprägt ist. In der Summe ist festzustellen, dass wir nicht von einem generellen Mangel an akademischen Qualifikationen ausgehen können. Im gleichen Zeitraum 2011 bis 2020 scheiden jedoch 11,5 Mio. beruflich qualifizierte Erwerbstätige (Facharbeiter) aus dem Arbeitsleben aus, während nur 7 Mio. qualifizierte Fachkräfte nachrücken. Internationale Mobilität oder Migration kann bei beruflichen Qualifikationen fehlende qualifizierte Fachkräfte nur bedingt ersetzen, da vergleichbare Systeme nur in Österreich und der Schweiz existieren. Diese Zielgruppe ist weniger mobil und wurde in anderen Systemen ausgebildet. So wird sich diese demografische Lücke nur schließen lassen, wenn sich das Bildungsverhalten in Deutschland verändert, weitere Zielgruppen erschlossen oder erhebliche Anstrengungen unternommen werden. Die folgende Abbildung zeigt die erwarteten Differenzen zwischen Nachfrage und Angebot in den einzelnen Sektoren. Der Engpass auf dem Arbeitsmarkt liegt im mittleren Qualifikationsbereich.

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Abbildung 5: Projizierte Differenz zwischen Fachkräfteangebot und -nachfrage nach Qualifikationsstufen 2010–2030 2,0

1,5

ohne abgeschlossene Berufsbildung 1,0 akademischer Abschluss 0,5

Fachschulabschluss, Meister/-in bzw. Techniker/-in 0,0

-0,5

mit abgeschlossener Berufsbildung -1,0 2010

2015

2020

2025

2030

Quelle: Bundesinstitut für Berufsbildung; Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung: Qualifikationsund Berufsfeldprojektionen des QuBe-Projekts, Ergebnisse der 3. Welle, 2014

6.3 Bologna-Reform und duale Berufsausbildung Der Trend zur Akademisierung wird durch die Einführung der gestuften Studiengänge Bachelor und Master weiter verschärft. Sowohl für Unternehmen als auch für Schulabgänger ist der 3-jährige Bachelor-Abschluss eine attraktive Alternative zur 2- bis 3,5-jährigen dualen Berufsausbildung. Er eröffnet die zusätzliche Option eines Masterabschlusses. Sowohl im zeitlichen Umfang als auch bei der Ausrichtung auf die Verwertbarkeit der Abschlüsse im Sinne einer Integration in den Arbeitsmarkt hat die betriebliche Ausbildung durch den Bachelor Konkurrenz bekommen. Betrachtet man außerdem die für Jugendliche wichtige Frage, welche späteren Optionen der jeweilige Ausbildungsweg für die Karriere eröffnet, wird der akademische Sektor noch attraktiver. Es kommt zu einer systemischen Konkurrenz, die das duale Berufsbildungssystem zusätzlich unter Druck setzt und es marginalisieren könnte. Bei der Bewertung des Akademisierungstrends sollte daher der Fokus nicht nur auf eine – abstrakt betrachtete – Steigerung des Ausbildungsniveaus gelegt werden. Es ist auch die Frage zu beantworten, wo die Berufschancen der so ausgebildeten Menschen liegen. Bessere theoretische Kenntnisse in einem wissenschaftlichen Sektor ohne ausgeprägte Kompetenzen in der praktischen Umsetzung dieses Wissens in Wertschöpfungsprozessen verschaffen den Hochschulabsolventen keine bessere Perspektive auf dem Arbeitsmarkt. Akademisches Wissen ist im Berufsleben nicht per se ein Wettbewerbsvorteil. 24 |


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Allerdings ist unter Kriterien der Verdienst- und Entwicklungsmöglichkeiten, der Arbeitsbedingungen und der beruflichen Sicherheit die Präferenz für ein Studium eindeutig. „Bei allen geprüften Indikatoren (Einkommen, berufliche Position, Ausbildungsadäquanz der Berufstätigkeit) bleiben die Effekte einer Berufsausbildung hinter denen eines Hoch- oder Fachhochschulstudiums deutlich zurück“ (M. Baethge, C. Kerst, M. Lesczensky und M. Wieck: Zur neuen Konstellation zwischen Hochschulbildung und Berufsausbildung. Forum Hochschule 3/2014, S. 50 sowie 23ff.). Abbildung 6: Anzahl der Engpassberufe nach Qualifikationsniveau 80 70

68

60 50 40 28

30

24

20 10 0 Personen mit abgeschlossener Berufsausbildung

Personen mit Fortbildungsabschluss

Akademiker

Quelle: Sonderauswertung der BA; Berechnungen IW

Diese Betrachtung und vor allem die Berechnung der Einkommenschancen basieren allerdings auf der aktuellen Angebots- und Nachfragerelation auf dem Arbeitsmarkt und den tatsächlichen Lebenseinkommen der in der Vergangenheit ausgebildeten Berufstätigen. Betrachtet man die weitere Entwicklung, wird deutlich, dass diese Erwartungen in Zukunft wahrscheinlich nicht mehr erfüllt werden. Bei einem Überangebot an akademisch-theoretischen Qualifikationen auf dem Arbeitsmarkt werden sich die Gewichte mit hoher Wahrscheinlichkeit entscheidend verschieben.

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7

DIE DUALE AUSBILDUNG VERLIERT IHRE KLIENTEL Die ständige Steigerung der Anfängerzahlen im akademischen System birgt jedoch nicht nur erhebliche Arbeitsmarktrisiken für die Absolventen. Da die Geburtenraten nicht steigen, sondern sich auf niedrigem Niveau stabilisieren und in der Folge die Zahl der Neuzugänge in den Arbeitsmarkt kontinuierlich zurückgehen wird, sinkt notwendigerweise auch der Anteil der Absolventen des Berufsausbildungssystems. Der Bedarf an praktischen Qualifikationen bleibt jedoch auf dem Arbeitsmarkt nach wie vor hoch. Die wesentlichen Stärken des dualen Ausbildungssystems sind: • die Integration Jugendlicher in den Arbeitsmarkt durch praxisverwertbare Qualifikationsprofile, die auch Leistungsschwächeren den Weg in eine qualifizierte Ausbildung ohne formale Anforderungen eröffnen • die ständige Anpassung der Qualifikationsprofile an technologische Entwicklungen und die veränderten betrieblichen Anforderungen • Transparenz und Verlässlichkeit der bundesweit einheitlich geregelten Profile. Die von den einzelnen Hochschulen entwickelten Inhalte von Bachelor und Master sind inzwischen nicht mehr überschaubar. Die Anpassung der Berufsbilder an neue Produktionskonzepte und Formen der Arbeitsorganisation ließen insgesamt anspruchsvollere Qualifikationsprofile entstehen. Als Reaktion auf den internationalen Konkurrenzdruck optimierten die meisten Branchen nicht nur ihre Produktionssysteme, sondern hoben auch ihre Qualifikationsanforderungen durch neue Berufsbilder bzw. die Neuordnung von Berufen an. Anspruchsvollere Berufsbilder sind auch eine Folge der bereits erwähnten Konkurrenz der Ausbildungssysteme der beruflichen und akademischen Bildung. Sie sind ein Versuch der Wirtschaft, das duale Ausbildungssystem für Schulabgänger attraktiv zu gestalten, denen auch der Weg zur Hochschule offen steht. Der Wettbewerb der Systeme um Schulabgänger geht zunehmend zu Lasten der dualen Berufsausbildung, da eine akademische Ausbildung in der Wahrnehmung von Schülern und Eltern die vielversprechendere Alternative darstellt. Die Entwicklung zu komplexeren Produktionssystemen hat weitere Folgen für den Arbeitsmarkt und die Qualifizierung. Während es früher eine klare Trennlinie zwischen qualifizierter Facharbeit und einfachen Tätigkeiten gab, enthalten aktuelle Anforderungsprofile auch bei einfacheren Tätigkeiten Elemente, die nur von qualifizierten Facharbeitern abgedeckt werden können (u. a. Kommunikation, selbstständiges Arbeiten). 26 |


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Diese Entwicklung hat gravierende Folgen für leistungsschwächere Bewerber, da als Reaktion auf die anspruchsvolleren Berufsbilder die Eingangsvoraussetzungen in die berufliche Erstausbildung von den Unternehmen angehoben werden mussten.

7.1 Ausbildungsreife als normative Setzung Obwohl die duale Berufsausbildung keine formalen Eingangsvoraussetzungen kennt, werden nur die Bewerber als ausbildungsgeeignet eingestuft, die auf Grund ihrer schulischen Leistungen geeignet erscheinen, die anspruchsvoller gewordene Ausbildung erfolgreich zu absolvieren. Der Begriff der „Ausbildungseignung“ ist jedoch nur eine normative Setzung vor dem Hintergrund der Rahmenbedingungen und kein absolut gültiger Maßstab. Die Ausbildungseignung Jugendlicher wird abhängig davon definiert, welche Klientel insgesamt als Bewerber zur Verfügung stehen und welche Anforderungen die einzelnen Berufsbilder stellen. Anspruchsvollere Berufsbilder gehen also zumindest dann zu Lasten der Integrationsfunktion der dualen Berufsausbildung, wenn der Wirtschaft keine Alternativen zur Verfügung stehen, die der Leistungsfähigkeit der tatsächlich vorhandenen Klientel entsprechen. In der Konsequenz können schwächere Bewerber, insbesondere in Zeiten von Ausbildungsplatzmangel, nur noch in das Übergangssystem ausweichen.

Abbildung 7: Anfänger im Übergangsbereich 2005–2013

Sektor: Integration in Ausbildung (Übergangsbereich)

2005

2006

2007

2008

2009

2010

2011

2012

2013

417.649

412.083

386.864

358.969

344.515

316.494

281.662

259.727

257.626

Allgemeinbildende Programme an Berufsfachschulen (Erfüllung der Schulpflicht bzw. Abschlüssen der Sek. I)

68.095

67.949

63.976

59.940

59.812

54.180

49.182

52.086

49.905

Berufsgrundbildungsjahr (Vollzeit/Schulisch)

48.581

46.446

44.337

42.688

32.473

30.620

28.144

26.938

27.352

Bildungsgänge an Berufsfachschulen, die eine berufliche Grundbildung vermitteln, ohne Anrechnung

29.106

27.811

31.947

29.841

28.226

24.790

21.816

17.682

21.127

Berufsvorbereitungsjahr (BVJ) inkl. einjährige (Berufs-)einstiegsklassen

58.432

55.339

46.841

42.571

41.973

40.661

38.479

41.061

42.347

Bildungsgänge an Berufsschulen für erwerbstätige/erwerbslose Schüler ohne Ausbildungsvertrag

27.035

28.671

25.789

21.364

20.875

19.186

16.250

16.285

15.748

Bildungsgänge an Berufsschulen für Schüler ohne Ausbildungsvertrag, die allgemeinbildende Abschlüsse der Sekundarstufe I anstreben

13.477

13.192

11.498

9.958

8.968

6.808

6.127

2.389

2.304

3.525

3.561

3.391

3.531

3.724

3.854

3.821

3.835

3.894

Pflichtpraktika vor der Erzieherausbildung an beruflichen Schulen Berufsvorbereitende Maßnahmen (BvB) der BA

91.811

86.171

80.193

78.080

77.934

69.933

58.389

51.274

47.496

Einstiegsqualifizierung (EQ) der BA

18.881

23.602

23.344

19.220

20.709

18.983

15.403

12.469

11.326

Quelle: Statistisches Bundesamt, Schnellmeldung Integrierte Ausbildungsberichterstattung

27 |


7.2 Übergangssystem: keine Übergänge und wenig System Das Übergangssystem wurde jedoch seinem ausdrücklichen Anspruch, Übergänge zu ermöglichen, zu keiner Zeit gerecht. Es bot zwar in der wirtschaftlichen Krisensituation um das Jahr 2005 Jugendlichen ohne Ausbildungsplatz eine vorübergehende Alternative und kompensierte somit das unzureichende Angebot an Ausbildungsplätzen. Doch bleibt es auch bei guter wirtschaftlicher Entwicklung, dem demografisch bedingten Rückgang der Schulabgängerzahlen, einem Überangebot an Ausbildungsstellen und beginnendem Fachkräftemangel auf hohem Niveau bestehen. Der teilweise Rückgang des Übergangssystems seit 2005 spiegelt nicht die völlig veränderte Situation auf dem Ausbildungsstellenmarkt wider. Es ist zu einer festen Institution im Rahmen des Bildungssystems geworden. Die Erwartung, der beginnende Fachkräftemangel würde Unternehmen zwingen, auch schwächere Jugendliche wieder in die Ausbildung zu integrieren, erfüllte sich nur zum Teil. Denn die Qualifikationsprofile veränderten sich, und viele einfache Tätigkeiten im industriellen Bereich existieren nicht mehr.

7.3 Neue Wege zur Hochschulreife Das Berufsschulsystem insgesamt (einschließlich des Übergangssystems) trägt inzwischen mit dazu bei, den Trend zur Akademisierung zu verstärken. Durch die Möglichkeit, sukzessive allgemeinbildende Schulabschlüsse zu erwerben, eröffnet es weitere Wege zur Hochschulreife neben dem Abitur. Damit werden Jugendliche auf rein schulischen Wegen zur Hochschulreife geführt, die auf Grund ihrer Leistungsprofile für eine betriebliche Ausbildung geeignet wären. Jugendliche, die dem allgemeinen Trend folgen, versuchen zunächst, einen möglichst hohen Schulabschluss zu erwerben. Logischerweise wird der Ausstieg aus dem Schulsystem in die duale Berufsausbildung dann zum Weg derer, die es nicht zur Hochschulzugangsberechtigung schaffen. Schüler verbleiben auch dann im Schulsystem, wenn sie reelle Chancen auf einen Ausbildungsplatz hätten. Das Übergangssystem hat sich in Verbindung mit weiterführenden Angeboten beruflicher Schulen zu einer Konkurrenz zum dualen Ausbildungssystem entwickelt. Das duale Ausbildungssystem gerät daher mehrfach unter Druck: • Der Zugang für schwächere Jugendliche wurde durch anspruchsvollere Berufsbilder erschwert, dadurch wird die Zielgruppe verkleinert. • Leistungsstarke Jugendliche, die früher anspruchsvollere Ausbildungsberufe besetzten, orientieren sich am gesellschaftlichen Trend zur Akademisierung und sehen im Bachelor die bessere Alternative. • Das Berufsschulsystem bietet auch für Jugendliche, deren Leistungsprofil grundsätzlich den Anforderungen der beruflichen Bildung entspricht, alternative Wege zur Hochschule (Fachoberschule, berufliches Gymnasium, 2-jährige höhere Berufsfachschule). 28 |


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AKADEMISCHE AUSBILDUNG ALS GESELLSCHAFTLICHES GRUNDMODELL Traditionell war (in den sechziger/siebziger Jahren) die akademische Ausbildung das Modell für eine zahlenmäßig kleine Elite von ca. 8–12 % eines Jahrgangs. Dies ist zwar faktisch nicht mehr zutreffend, prägt aber nach wie vor das positive Image der akademischen Berufe: Akademikern stehen mehr Karrierewege offen, sie sind weitgehend gegen Arbeitsplatzverlust und Dequalifizierung geschützt. Ein System, das über 50 % der Schulabgänger eines Jahrgangs aufnimmt, entwickelt jedoch notwendigerweise neue Formen der Binnendifferenzierung und ein breiteres Leistungsspektrum.

8.1 Annäherung ohne Durchlässigkeit Die Hochschullandschaft aus staatlichen oder privaten Universitäten und Fachhochschulen, Berufsakademien und Dualen Hochschulen bzw. dualen Studiengängen an Hochschulen bietet ein Ausbildungsniveau und Ausbildungswege, die sich am unteren Rand mit dem Anforderungsprofil dualer Ausbildungsberufe überschneiden. In diesem Überschneidungsbereich kann man von einer „Akademisierung“ der beruflichen Bildung durch höhere theoretische Anforderungen und einer „Verberuflichung“ der Hochschulausbildung sprechen. Diese Überschneidungen und Annäherungen führen jedoch nicht zu einer größeren Durchlässigkeit zwischen den beiden Systemen. Denn sie existieren nebeneinander, und ein Austausch von Lernern oder auch nur Inhalten zwischen den Systemen bleibt die seltene Ausnahme. Durch die Bologna-Reform hat das Hochschulsystem allerdings begonnen, die ständig wachsende Zahl der Absolventen durch eine Ausrichtung auf konkrete Berufsbilder besser für den Arbeitsmarkt zu qualifizieren. Obwohl die rechtlichen Hürden für den Übergang aus der beruflichen Bildung in das akademische System in allen Bundesländern gesenkt wurden, ist die bisher überwiegend bildungspolitisch motivierte Forderung nach Durchlässigkeit und Gleichwertigkeit der Systeme nicht erfüllt. Es gehen zwar mehr Absolventen der beruflichen Ausbildung, die nicht über eine schulisch erworbene formale Hochschulzugangsberechtigung verfügen, an die Hochschulen. Der Anteil liegt jedoch bundesweit nach wie vor bei unter 3 % der Studierenden. Ursachen dafür gibt es mehrere; zum einen die Unübersichtlichkeit der Zugangsvoraussetzungen, die Landesrecht unterliegen und den Zugang immer noch weniger planbar gestalten als über vollschulische Ausbildungswege (mehrjährige Berufspraxis und Hochschuleingangsprüfung). Zum anderen ist es 29 |


die Ausrichtung der Hochschulcurricula auf die Qualifikationen von Abiturienten, nicht aber auf die typischen Stärken und Defizite von Personen, die über eine betriebliche Ausbildung verfügen. Der Übergang vom akademischen System in das der beruflichen Bildung ist nur als Folge des Studienabbruchs existent, nicht aber als geplante Ergänzung eines Qualifizierungsweges.

8.2 Hochschulzugang über berufliche Schulen Dagegen ist der Erwerb der Hochschulzugangsberechtigung immer weniger an das Gymnasium gebunden. Insbesondere an Fachhochschulen haben rund 50 % der Studierenden ihre Hochschulzugangsberechtigung über vollschulische Bildungsgänge im Berufsschulsystem erworben (überwiegend Fachoberschule). DIE ABGRENZUNG DER SYSTEME MACHT ES FÜR JUGENDLICHE, DIE SICH DIE MÖGLICHKEIT EINER AKADEMISCHEN AUSBILDUNG OFFENHALTEN WOLLEN, NACH WIE VOR UNATTRAKTIV, EINE HOCHSCHULZUGANGSBERECHTIGUNG ÜBER EINE BETRIEBLICHE AUSBILDUNG ZU ERWERBEN.

Diese scheinbare Durchlässigkeit der Systeme ist jedoch nur oberflächlich betrachtet eine positive Entwicklung. Berufliche Schulen verlagern immer mehr Kapazität auf vollschulische Ausbildungsgänge, die zwar Praktika integrieren, jedoch in der Qualität und Intensität des Lernens in der Praxis nicht mit der dualen Ausbildung gleichzusetzen sind. Tatsächlich nähern sich berufliche Schulen also den allgemeinbildenden Schulen an und entwickeln ein Parallelsystem, das ebenfalls in die Hochschule führt. Der wachsende Anteil von Absolventen der beruflichen Schulen unter den Studierenden ist also bei näherer Betrachtung kein Indiz für eine wachsende Durchlässigkeit zwischen den Säulen des Bildungssystems. Die Abgrenzung der Systeme macht es für Jugendliche, die sich die Möglichkeit einer akademischen Ausbildung offenhalten wollen, nach wie vor unattraktiv, eine Hochschulzugangsberechtigung über eine betriebliche Ausbildung zu erwerben. Der vollschulische Weg über Abitur oder Bildungsgänge an beruflichen Schulen bietet eine weitaus höhere Sicherheit, das Ziel der Hochschulzugangsberechtigung zu erreichen und erfolgreich studieren zu können. Der schulische Abschluss enthält die Zugangsberechtigung zur Hochschule. Ein Facharbeiter ist dagegen nach wie vor der Ungewissheit ausgesetzt, ob er die Zugangsprüfung im Anschluss an die geforderte Berufspraxis besteht.

8.3 Tabuthema Studienabbruch Die hohe Akademisierungsquote hat bisher ebenfalls einen hohen Preis. Je nach Fachbereich und Hochschultyp liegen die Studienabbrecherquoten in technischen Studiengängen zwischen 30–40 % (bei Spitzen bis zu über 50 %) und im Durchschnitt aller Studiengänge bei 21 %.

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Bildung 4.0 – für die Arbeitswelt der Zukunft | Wie wir unser Bildungssystem neu ausrichten müssen.

Abbildung 8: Bachelor-Abbruchquoten für den Absolventenjahrgang 2012 in Prozent Universitäten

Fachhochschulen

Gesamt

Sprach- und Kulturwissenschaften

30 (32)

21 (--)

30 (35)

Rechts-, Wirtschafts- und Sozialwissenschaften

27 (24)

15 (6)

20 (12)

Mathematik/Naturwissenschaften - Mathematik - Informatik - Physik/Geowissenschaften - Chemie - Biologie Ingenieurwissenschaften - Maschinenbau - Elektrotechnik - Bauingenieurwesen

39 (39) 47 (55) 43 (47) 41 (39) 41 (43) 27 (20) 36 (48) 36 (53) 37 (53) 51 (51)

34 (30) -34 (27) ---31 (30) 31 (32) 40 (36) 33 (36)

37 (37) 47 (54) 37 (35) 41 (41) 40 (45) 30 (26) 33 (36) 33 (36) 40 (41) 40 (41)

BACHELOR GESAMT

33 (35)

23 (19)

28 (28)

BACHELOR

Werte für den Absolventenjahrgang 2010 in Klammern Quelle: BDA, 2014

Absolventen von vollschulischen Bildungsgängen der beruflichen Schulen (Fachoberschule) sind weit überproportional unter den Studienabbrechern vertreten. Durchschnittlich brechen 28 % der Studienanfänger im Bachelor-Studium ab. Bisher gibt es nur geringe Erfolge bei der Reduzierung der Abbruchquoten, die Zahlen verbleiben im Wesentlichen auf hohem Niveau. Da nach wie vor eine möglichst hohe Zahl an Hochschulzugängen als gesellschaftliches Ziel definiert wird und signifikante Veränderungen der Abbruchquoten nur bei gleichzeitiger Reduktion der Studierquote (im unmittelbaren Anschluss an die allgemeinbildende Schule) möglich sind, kollidieren beide Ziele miteinander. Abbildung 9: Schulart bei Erwerb der Hochschulzugangsberechtigung Abbrecher und Absolventen im Vergleich, Angaben in Prozent anderer Weg; 3 Fachoberschule; 5

anderer Weg; 6

Kolleg; 2 Fachgymnasium; 6 Fachoberschule; 26 Gymnasium; 46

Gesamtschule mit gymnasialer Oberstufe; 5

Kolleg; 2 Fachgymnasium; 9 Abendgymnasium; 5

Gesamtschule mit gymnasialer Oberstufe; 6

Quelle: HIS Hochschul-Informations-System GmbH

Gymnasium; 79

31 |


9

INTEGRATION DER SYSTEME Prognosen zum Fachkräftebedarf bestätigen generell den Bedarf nach höherwertigen Qualifikationen. Der Trend zur Akademisierung und die steigenden Anforderungen in der dualen Berufsausbildung haben daher trotz erheblicher negativer Effekte einen sehr realen Hintergrund.

Abbildung 10: Entwicklung des Anteils Beschäftigter in wissensintensiven Berufen 31%

30%

29%

28%

27%

26%

25% 1993

1996

1999

2002

2005

2007

Quelle: Leszczensky, M.; Frietsch, R.; Gehrke, B. et al., HIS Forum Hochschule 6, 2010

9.1 Gesucht: Hybridqualifikationen Bedarfsprognosen und tatsächliche Entwicklungen wie der schnell zunehmende Anteil dualer Studiengänge weisen aber auch darauf hin, dass der Arbeitsmarkt zunehmend Hybridqualifikationen benötigt, die sowohl theoretisches Wissen als auch die Fähigkeit zur praktischen Umsetzung miteinander verbinden. Der Wissenschaftsrat fasst seine Analyse des zukünftigen Fachkräftebedarfs wie folgt zusammen: „(Es) sind verstärkt Fachkräfte gefragt, die sowohl praktische Fertigkeiten und vertiefte Kenntnisse der Produktions- bzw. Arbeitsprozesse erworben haben als auch über die wissenschaftlich-reflexiven Kompetenzen verfügen, um zu Innovationen beitragen zu können. Personen mit einem derartigen Profil erweisen sich bei der Anpassung an neue Technologien als besonders flexibel“ (Wissenschaftsrat, Empfehlungen zur Gestaltung des

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Verhältnisses von beruflicher und akademischer Bildung, April 2014, S. 11, 44, siehe auch Seite 38 dieser Publikation). Die Trennung zwischen beruflicher und akademischer Qualifizierung ist dysfunktional für den Arbeitsmarkt. Das Bildungssystem begünstigt zwar ein – abstrakt betrachtet – höheres Qualifikationsniveau, aber nicht die Bildungskarrieren, welche am ehesten die in Zukunft dringend benötigten Profile liefern. Es führt immer mehr Berufseinsteiger über vollschulische Wege in akademische Ausbildungsgänge, die Praxiserfahrungen nur im geringen Umfang integrieren. Damit marginalisiert es tendenziell das duale Ausbildungssystem, das diese Integration von Theorie und Praxis in idealtypischer Form umsetzt.

9.2 Fehlinvestition an Zeit und Geld Die hohen Abbruchquoten im Studium bedeuten aus individueller wie volkswirtschaftlicher Sicht erhebliche Fehlinvestitionen. Das System liefert also nur bedingt die benötigten Qualifikationen und verlängert in der Tendenz die Ausbildungsdauer. Bei zurückgehenden Zahlen an Berufseinsteigern ist es dagegen erforderlich, jederzeit das volle Potenzial auszuschöpfen, Berufseinsteiger möglichst früh in den Arbeitsmarkt zu integrieren und die Qualifikationen ein Berufsleben lang aktuell zu halten. Ein zukunftsfähiges Modell beruflicher Ausbildung muss daher die dysfunktionale Trennung zwischen dualen beruflichen Ausbildungswegen und vollschulisch-akademischen Bildungsgängen aufheben. Die Forderung nach Durchlässigkeit und Gleichwertigkeit beruflicher und akademischer Bildung wurde bisher unter dem Aspekt der Chancengleichheit für breite Bevölkerungsschichten erhoben. Es geht jedoch auch darum, dass mehr beruflich Qualifizierte den Übergang in das akademische System schaffen, um ihre dringend benötigten Fähigkeiten nutzen zu können. Die Forderung nach Chancengleichheit wird unterstützt durch die Anforderungen des Arbeitsmarkts. Auf diese Anforderungen sind die bisherigen Zugangswege nach wie vor nicht ausgelegt. Das wichtigere Ziel ist ein Qualifizierungsmodell, das es ermöglicht, Aspekte beider Ausbildungswege auf allen Qualifikationsebenen zu integrieren und damit Praxisorientierung und theoretisches Wissen zu verbinden. Gleichzeitig gilt es, unabhängig von der Erstausbildung während des gesamten Berufslebens eine Weiterqualifizierung in beide Richtungen zu ermöglichen. Das bedeutet, dass Berufspraktiker mit dualer Ausbildung Zugang zum Studium und akademischer Weiterbildung erhalten und Akademiker Elemente der beruflichen Ausbildung integrieren oder zu ihrem Qualifikationsprofil addieren können.

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EXKURS ZUKÜNFTIGE QUALIFIKATIONSANFORDERUNGEN Aus den vielen Untersuchungen zur Arbeitswelt der Zukunft zitieren wir hier beispielhaft eine aktuelle Publikation.

Die Zukunft der Arbeitswelt Auf dem Weg ins Jahr 2030 Bericht der Kommission »Zukunft der Arbeitswelt« der Robert Bosch Stiftung mit Unterstützung des Instituts für Beschäftigung und Employability IBE Prof. Dr. Norbert Walter †, Prof. Heinz Fischer, Peter Hausmann, Dr. Hans-Peter Klös, Prof. Dr. Thomas Lobinger, Prof. Dr. Bernd Raffelhüschen, Prof. Dr. Jutta Rump, Prof. Dr. Susan Seeber, Michael Vassiliadis

Die Entwicklung zur Wissens- und Innovationsgesellschaft Vor dem Hintergrund einer derzeitigen Verdopplungsgeschwindigkeit des Wissens von etwa fünf Jahren und der damit einhergehenden zunehmenden Spezialisierung des Wissens gestaltet es sich heute bereits als schwierig, einzelne Wissenschaftsgebiete und deren neueste Entwicklungen zu überblicken. »Universalgelehrte«, wie es sie vor 200 Jahren noch gab, sind in dieser Wissensumwelt, in der sich Wissen rasant vermehrt und immer mehr fragmentiert wird, nicht mehr denkbar. Ebenso wird Wissen immer globaler, und die Grenzen zwischen entwickelten und weniger entwickelten Ländern im Hinblick auf die Generierung von wissenschaftlichem und technischem Fortschritt verschwimmen zusehends. Eine Prognose für das Jahr 2030 geht von einer weiter voranschreitenden Spezialisierung und (internationalen) Arbeitsteilung aus. Damit verbunden sind eine kontinuierlich steigende Bedeutung spezifischer Dienstleistungen sowie eine Verstärkung des begonnenen sektoralen Strukturwandels. Dieser betrifft jedoch nicht alle Branchen gleichermaßen. Man kann auch nicht per se von einer abnehmenden Bedeutung der Industrie sprechen, vielmehr bleibt diese ein Fundament der deutschen Wirtschaft. Zu den Gewinnern gehören die Branchen, die die Trends zur Arbeitsteilung zu verstärkter Forschung und Entwicklung sowie zur Intensivierung der Informations- und Kommunikationstechnologien für sich nutzen können, also insbesondere die technologieintensiven und damit wissens- und innovationsorientierten Branchen. So ist mit einer Ausweitung der deutschen Exporte im Bereich von Spitzentechnologien und virtuellen Gütern zu rechnen. Nach Meinung zahlreicher Experten konnte Deutschland gerade deshalb vergleichsweise unbeschadet die 2007/08 ausgebrochene

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Wirtschaftskrise überstehen, weil die Diversifizierungsstrategie der deutschen Volkswirtschaft zu einer adäquaten Mischung aus Industrie im Sinne von Hoch- und Spitzentechnologie sowie innovationsgetriebenen und forschungsintensiven Branchen einerseits und wissensintensiven sowie unternehmensnahen Dienstleistungen andererseits führte (vergleiche Kapitel 2.1.3). Die Industrie wiederum ist eine der Hauptvoraussetzungen für innovative Dienstleistungen und der größte Treiber der Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten. Zudem lösen sich die Grenzen zwischen Dienstleistungen und produzierendem Gewerbe zunehmend auf.

Die Globalisierung nimmt weiter zu Seit den 1970er Jahren hat die Globalisierung in drei Dimensionen – wirtschaftlich, sozial und politisch – zugenommen; insbesondere nach dem Ende des Kalten Krieges erlebte sie einen enormen Schub und führte zu erheblichen Wohlstandsgewinnen. Im weltweiten Vergleich belegt Deutschland Rang 18 der am stärksten globalisierten Länder. Schon vor fünf Jahren waren nur noch 37 von 100 größten europäischen Unternehmen in ihrem ursprünglichen Heimatland angesiedelt. Dieser Globalisierungsprozess wird vor allem durch die technologischen Entwicklungen wie Mikroelektronik, Computer- und Satellitennetze und Telekommunikation, befördert und führt dazu, dass jedes Produkt für jedermann an jedem Ort jederzeit verfügbar ist. Zwar gibt es regionalspezifische Ausprägungen, die Herstellung und der Vertrieb sind jedoch transnational. Durch die Vielfalt der Märkte ergeben sich Ausweichmöglichkeiten in andere Regionen. Eine Spezialisierung auf bestimmte Bereiche der Wertschöpfungskette und die Entwicklung von Kernkompetenzen bringen eine Verringerung der Wertschöpfungstiefe mit sich, erhöhen jedoch auch die Effizienz. In der praktischen Umsetzung wird dies vielfach über Outsourcing realisiert. Es kommt zu einer Entwicklung bestimmter Regionen mit spezifischem Profil, in denen Kompetenzen gebündelt sind und die zum Ziel der Auslagerung von Wertschöpfungsteilen werden. Treiber der Entwicklung sind die wachsende Innovationsdynamik, die Verkürzung und Dynamisierung der Produktlebenszyklen und der steigende Kostendruck, denen sich Unternehmen gegenübersehen. Arbeit wird dadurch zunehmend vom Ort ihrer Ausführung entkoppelt, das heißt, Produktionsschritte oder Dienstleistungen werden an Orten ausgeführt, an denen die Kosten vergleichsweise niedrig sind – unabhängig vom Sitz des Unternehmens. Ob Stellen in Deutschland geschaffen oder aber ins Ausland verlagert werden, hängt maßgeblich von der Wissens- und Kompetenzintensität der betreffenden Stelle ab. Es werden überwiegend Arbeitsplätze mit geringerer Qualifikation verlagert und gleichzeitig insbesondere Arbeitsplätze mit höherer Qualifikation geschaffen. Somit verbessern sich die Beschäftigungschancen für Qualifizierte. Diese erste Globalisierungswelle in Form der Auslagerung von Wertschöpfungsschritten aus dem Produktionsbereich und von einfachen Dienstleistungen wie Call Centern vor allem in Schwellenländer flaut jedoch allmählich ab. Inzwischen kann von einer zweiten Globalisierungswelle gesprochen werden. Diese bezieht sich auf nicht-produzierende Bereiche, ins-

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besondere Dienstleistungen, und wird in den kommenden Jahrzehnten weiter voranschreiten. Dazu tragen neue Zielländer mit entsprechend geringen Lohnkosten, Skaleneffekte, sinkende Transaktionskosten und eine Ausweitung des Spektrums an auslagerbaren Dienstleistungen durch Automatisierung und Standardisierung bei. Eine dritte Globalisierungswelle, die Unternehmensfelder wie Forschung & Entwicklung und Konstruktion umfasst, ist für die kommenden Jahrzehnte realistisch, zumal sich der Bildungsgrad der Bevölkerung in den Zielländern verbessert und Kommunikationskanäle eine immer größere Verbreiterung aufweisen. Neben diesem Offshoring ist auch mit einer Abwanderung kompletter Wertschöpfungsketten und Produktionsbereiche zu rechnen. Allerdings kann auch ein gegenteiliger Effekt eintreten: die Ausrichtung der Prozessgestaltung im Hinblick auf die Ressourcenoptimierung, das heißt, die optimale Nutzung der Ressourcen Zeit, Know-how, Rohstoffe, Energie und Finanzen anstelle der Kostenreduktion in den Fokus zu rücken. Obgleich derzeit die entwickelten Länder noch verstärkt in Schwellenländer investieren, werden sich die Kapitalströme zunehmend umkehren; es ist mit Auslandsinvestitionen dieser Staaten in Deutschland zu rechnen, vorwiegend im Bereich Forschung & Entwicklung, in den Konsumgüter- und Dienstleistungsmärkten sowie im Hinblick auf Wissen über lokale Märkte. Im Fokus stehen Länder wie Indien, China, Malaysia, Thailand und Südkorea, aber auch lateinamerikanische sowie mittel- und osteuropäische Staaten. Ebenso werden im Westen ausgebildete Migranten vermehrt in ihre Heimat zurückkehren, so dass der politische Einfluss dieser Länder dank einer positiven wirtschaftlichen Entwicklung zunimmt.

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9.3. Es ist Zeit für eine Bildungsreform! Während bisher Forderungen nach einer Integration beider Systeme überwiegend von Vertretern des Berufsbildungssystems erhoben wurden und der akademische Sektor Zugangshürden als notwendige Maßnahme zum Erhalt des Leistungsniveaus verteidigte, legte der Wissenschaftsrat im April dieses Jahres ein neues Konzept für ein integriertes System beruflicher Bildung vor. Dieses ist verbunden mit der Forderung nach weiterer Entwicklung hybrider Angebote in beiden Sektoren. Für das Wissenschaftssystem bedeutet dies, über das Konzept des dualen Studiums hinaus weitere Modelle einer Ausbildung auf akademischem Niveau zu entwickeln, die additiv oder integrativ Berufspraxis und Qualifikationswege beruflicher Bildung einbeziehen. Für das System der dualen Berufsbildung ist die Konsequenz, dass theoretisch anspruchsvolle Ausbildungsberufe Elemente akademischer Bildungsgänge oder Weiterbildungsangebote integrieren können. Nach der Bologna-Reform des Hochschulsektors und einer umfassenden Ausrichtung der Kompetenzprofile der dualen Berufsausbildung auf Handlungskompetenz im betrieblichen Kontext gibt es aktuell keinen politischen Reformansatz, der über Anpassungen in den jeweiligen Teilsystemen hinausgeht. Es ist jedoch nicht damit getan, Elemente beruflicher Praxis in das akademische System zu kopieren und umgekehrt das Berufsbildungssystem durch Elemente wissenschaftlicher Ausbildung aufzurüsten. Die Reformen der Teilsysteme führten zu der aufgezeigten Konkurrenz der Systeme und zu einer drohenden Marginalisierung des dualen Ausbildungssystems. Diese wurde nicht zuletzt dadurch verstärkt, dass die Wirtschaft das Anforderungsniveau kontinuierlich anhob, um für leistungsstarke Jugendliche attraktiv zu sein. Alle bisherigen Versuche der Optimierung folgen der Logik der Teilsysteme und sind daher nicht geeignet, das Gesamtsystem der beruflichen Qualifizierung neu zu justieren. Ein politischer Ansatz für eine übergreifende Reform ist zur Zeit nicht erkennbar, obwohl das Gesamtsystem auf die strukturellen Veränderungen, die auf dem Arbeitsmarkt als Ergebnis der demografischen Entwicklung noch bevorstehen, nicht ausgerichtet ist.

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EXKURS ZUKÜNFTIGE QUALIFIKATIONSANFORDERUNGEN Aus den vielen Untersuchungen zur Arbeitswelt der Zukunft zitieren wir hier beispielhaft eine aktuelle Publikation.

Wissenschaftsrat Drs. 3818-14 Empfehlungen zur Gestaltung des Verhältnisses von beruflicher und akademischer Bildung Erster Teil der Empfehlungen zur Qualifizierung von Fachkräften vor dem Hintergrund des demographischen Wandels Darmstadt, 11.04.2014

Die Ausweitung des gesellschaftlichen Fachkräftepotentials erfordert neben weitaus stärker fähigkeits- und interessengeleiteten Bildungsentscheidungen auch Optionen zur Neuorientierung entlang des gesamten post-schulischen Ausbildungspfades. Um eine Revision früherer Entscheidungen zu erlauben und persönlichen Entwicklungen Rechnung tragen zu können, sind dafür sowohl innerhalb der Erstausbildungsphase als auch zu späteren Zeitpunkten der Bildungsbiographie Übergangsmöglichkeiten zwischen dem beruflichen und dem akademischen Sektor erforderlich. Mit dem Beschluss der Kultusministerkonferenz von 2009 ist die Grundlage für eine deutliche Öffnung des Hochschulzugangs für beruflich Qualifizierte gelegt worden. Auch ohne Abitur oder Fachhochschulreife sollen Absolventinnen und Absolventen der beruflichen Bildung eine fachgebundene Studienberechtigung erhalten können, wenn sie mindestens zwei Jahre fachaffine Berufserfahrung erworben haben und erfolgreich eine Eignungsprüfung absolvieren. Personen mit Meister-, Techniker- oder Fachwirtabschluss wird sogar ein allgemeiner Hochschulzugang gewährt. Genutzt wird dieser sogenannte „dritte Bildungsweg“ von einer sehr kleinen Gruppe beruflich Qualifizierter, die eine hohe Bildungsaspiration mitbringt und sich in der Regel erst nach sorgfältiger Abwägung aller Chancen und Risiken für den Schritt an die Hochschule entscheidet. Um beruflich qualifizierten Studienbewerberinnen und -bewerbern – unabhängig von der Form der Studienberechtigung – unnötig lange Ausbildungszeiten zu ersparen und Redundanzen in

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den Ausbildungsinhalten zu vermeiden, wurden in Pilotprojekten und Förderwettbewerben Verfahren zur Anrechnung von beruflich erworbenen Kompetenzen auf Studienleistungen entwickelt. Hierbei haben sich vor allem pauschale Verfahren bewährt, in denen einmalig feste Anrechnungsregeln für spezifische Ausbildungsberuf-Studiengangkombinationen aufgestellt werden; die Entwicklung solcher Verfahren lohnt sich allerdings erst ab einer Mindestzahl von Bewerberinnen und Bewerbern. Auch für Übergänge von der akademischen in die berufliche Bildung wurden zuletzt verstärkt Programme aufgelegt, im Rahmen derer Studienabbrecherinnen und -abbrechern Verkürzungen der Ausbildungsdauer ermöglicht werden sollen. Die Reichweite der Programme und ihre Attraktivität für vorzeitig exmatrikulierte Studierende sind bisher allerdings noch begrenzt. Neben der Eröffnung von Bildungschancen dienen Übergangsmöglichkeiten zwischen beruflicher und akademischer Bildung – in beiden Richtungen – auch dazu, breite Qualifikationsprofile aufzubauen, die in etwa gleichen Teilen sowohl beruflich-handlungsorientierte als auch theoretisch-reflexionsorientierte Kompetenzen umfassen. Derartige Profile sind mutmaßlich in besonderer Weise geeignet, zukünftige Bedarfe des Arbeitsmarktes an Fachkräften, die ausführend und zugleich entwickelnd und innovativ tätig sind, zu befriedigen. Sie gehen darüber hinaus mit einer besonderen Adaptionsfähigkeit einher, die Perspektivwechsel sowie flexible Reaktionen auf neue Entwicklungen und Anforderungen ermöglicht. Breite – gleichermaßen handlungs- und reflexionsorientierte Kompetenzen umfassende – Qualifikationsprofile lassen sich nicht nur durch die Reihung beruflicher und akademischer Ausbildungsphasen, sondern auch im Rahmen hybrider Ausbildungsformate erwerben. Unter diesen hybriden Formaten entwickelt sich derzeit insbesondere das duale Studium hochdynamisch. Es zeigt sich in seinen verschiedenen Ausprägungen dabei als sehr erfolgreiches Instrument der regionalen Fachkräftesicherung. Daneben leisten weitere hybride Formate in gleicher Weise unverzichtbare Beiträge zur Befriedigung spezifischer Qualifikationsbedarfe. Bei der Weiterentwicklung dieser Formate ist ein besonderes Augenmerk auf die Qualitätssicherung und die Wahrung der Akkreditierungsstandards zu legen.

Die Veränderung von Qualifikationsprofilen Durch die Automatisierung und Technologisierung sowie die zunehmende Wissensbasierung vieler Arbeitsprozesse verändern sich auch die einzelnen Tätigkeitsprofile. Insbesondere im produzierenden Gewerbe haben Routinetätigkeiten stark an Bedeutung verloren; die Qualifikationspyramide mit vielen rein ausführenden und wartenden Arbeitskräften sowie einigen wenigen steuernd und entwickelnd bzw. innovativ tätigen Arbeitskräften hat sich in vielen Fällen aufgelöst.

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Entsprechend wird eine Aufteilung der Tätigkeitsprofile in Ausführung und Steuerung/Entwicklung zunehmend nicht mehr möglich sein. Stattdessen sind verstärkt Fachkräfte gefragt, die sowohl praktische Fertigkeiten und vertiefte Kenntnisse der Produktions- bzw. Arbeitsprozesse erworben haben als auch über die wissenschaftlich-reflexiven Kompetenzen verfügen, um zu Innovationen beitragen zu können. Personen mit einem derartigen Profil erweisen sich bei der Anpassung an neue Technologien als besonders flexibel und werden zudem mit größerer Wahrscheinlichkeit selbst unternehmerisch tätig. Das post-schulische Bildungssystem ist mit seiner beruflichen und seiner akademischen „Säule“ ursprünglich nicht darauf ausgerichtet, solche Qualifikationsprofile hervorzubringen. Die sich neu entwickelnden wirtschaftlichen Bedarfe werden daher sowohl über hybride Ausbildungsformate wie das duale Studium als auch über kognitive und reflexive Kompetenzen betonende Berufsausbildungsgänge oder praxisorientierte Studiengänge – insbesondere an Fachhochschulen – zu bedienen sein. Darüber hinaus lassen sich diese Qualifikationsprofile über die zeitliche Reihung von beruflichen und akademischen Ausbildungsphasen erwerben. Solche Doppelqualifikationen sind zugleich mit sehr guten und sich stetig verbessernden Karriereperspektiven verbunden. So hat sich beispielsweise der Anteil der oberen Führungskräfte mit Berufs- und Hochschulabschluss zwischen 1984 und 2008 auf 31,9 % verfünff acht. Aus der Perspektive der Arbeitgeber kann es zudem ein hochinteressantes Instrument der Personalentwicklung sein, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern den Aufbau gemischter Qualifikationsprofile zu ermöglichen. Über hybride Angebote lassen sich leistungsstarke Schulabsolventinnen und -absolventen gewinnen und bereits während der Ausbildung im Unternehmen sozialisieren. Sequentielle Modelle bieten sich an, um Fachkräften zu einem breiteren Kompetenzspektrum zu verhelfen und sie damit auf neue Aufgaben und erweiterte Einsatzfelder oder zusätzliche Verantwortlichkeiten vorzubereiten und zugleich längerfristig an das Unternehmen zu binden.

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BETRIEBLICHE UND AKADEMISCHE WEITERBILDUNG Bildung wird noch immer überwiegend mit Erstausbildung gleichgesetzt. Daneben hat sich jedoch der Begriff des „lebenslangen Lernens“ in den Bildungsdebatten etabliert. Es besteht ein gesellschaftlicher Konsens, dass Lernen während des gesamten Berufslebens erforderlich ist. Die Konsequenzen dieser Erkenntnis sind jedoch in der Struktur des Bildungssystems noch nicht angekommen. Junge Menschen planen ihre Bildungswege immer noch so, als sei die Wertigkeit des letzten allgemeinbildenden Abschlusses vor Eintritt in das Berufsleben entscheidend für die gesamte weitere Berufslaufbahn. Am Beispiel der Hochschulzugangsberechtigung für beruflich Qualifizierte wird deutlich, dass nach wie vor Hürden im System existieren, die es Menschen erschweren, das Prinzip des lebenslangen Lernens auch tatsächlich zu leben.

10.1 Wissenschaftliche Weiterbildung für betriebliche Praktiker Die wissenschaftliche Weiterbildung – lange ein Stiefkind der hochschulischen Bildung – wurde mit der Reform des Hochschulrahmengesetzes 1999 zum gesetzlichen Auftrag der Hochschulen und ist in fast allen Landeshochschulgesetzen enthalten. Der starke Zustrom an Schulabsolventen an die Hochschulen führte allerdings dazu, dass wissenschaftliche Weiterbildung an vielen Hochschulen noch nicht in hohem Umfang angeboten wird. Insbesondere fällt es vielen Hochschulen noch immer schwer, den besonderen Anforderungen von Weiterbildungsaspiranten zu genügen: Es geht in der Regel um berufsbegleitende Angebote mit spezifischen organisatorischen, curricularen und didaktischen Besonderheiten und hohem Beratungsbedarf, die sich von grundständigen Studienformaten erheblich unterscheiden. Einige Hochschulen bauen allerdings mit hohem Engagement der Leitungsgremien Einrichtungen für die wissenschaftliche Weiterbildung auf, die nur an akademische Teilnehmer gerichtet sind – die weiterbildungsaktivste Gruppe in der Bevölkerung. Die Beschränkung des Adressatenkreises wird möglicherweise in Zukunft nicht tragfähig sein: Viele beruflich Qualifizierte ziehen Hochschulabschlüsse beruflichen Fortbildungsabschlüssen als Upgrading ihrer Abschlüsse vor; geregelte berufliche Fortbildungsgänge verzeichnen zurückgehende Teilnehmerzahlen. Dies gilt besonders in den Berufen, in denen sich die Grundausbildung akademisiert oder die kognitiven Anforderungen signifikant erhöhen. Dazu zählen etwa Gesundheits- und Pflegeberufe. Erst in neuerer Zeit fanden einige private und teilweise auch staatliche Fachhochschulen und Hochschulen, die sich auf die Fernlehre spezialisiert haben, ein weites Betätigungsfeld darin, in berufsbegleitenden Studiengängen beruflich Qualifizierten ein akademisches Upgrading

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anzubieten. Sie rechnen dabei einschlägige berufliche Vorerfahrungen entsprechend den Beschlüssen der Hochschulrektorenkonferenz von 2009 mit bis zu 50 % der erforderlichen Lernleistungen an. Diese Studiengänge stoßen auch deswegen auf große Resonanz, weil beruflich Qualifizierte damit Akademisierungstrends in ihrem Berufsfeld individuell folgen können. Einige weiterbildende Studienangebote sind für Lernende ohne die übliche Studieneingangsqualifikation offen und bieten ihnen eine ergänzende akademische Qualifizierung, die auf ihre beruflichen Erfahrungen aufsetzt. Auch gibt es reguläre weiterbildende Studiengänge, die ein Studium neben dem Beruf ermöglichen.

ES BESTEHT EIN GESELLSCHAFTLICHER KONSENS, DASS LERNEN WÄHREND DES GESAMTEN BERUFSLEBENS ERFORDERLICH IST. DIE KONSEQUENZEN DIESER ERKENNTNIS SIND JEDOCH IN DER STRUKTUR DES BILDUNGSSYSTEMS NOCH NICHT ANGEKOMMEN.

10.2 Hochschulzugang öffnen Die Entwicklung im akademischen Sektor zeigt, dass hier die Übergänge zwischen den Systemen bereits installiert werden, weil es einen realen Bedarf am Arbeitsmarkt für die so qualifizierte Personengruppe gibt. Die Aufrechterhaltung der formalen Hürde „Hochschulzugangsberechtigung“ ist ein Anachronismus. Die notwendige Sicherung der Qualität der Lehre kann besser – und vor allen Dingen gerechter – durch eine Entscheidung der Hochschule ersetzt werden. Letztlich sollte es in der Kompetenz der Hochschule liegen zu entscheiden, wer in der Lage ist, einen akademischen Abschluss zu erreichen. Wenn beruflich Qualifizierte ohne formale Hochschulzugangsberechtigung in der Weiterbildung bereits Module akademischer Weiterbildung belegen und diese auch zu einem vollwertigen Hochschulabschluss führen können, gibt es keinen nachvollziehbaren Grund, weshalb der Zugang für diese Gruppe nicht bereits im Anschluss an die Erstausbildung möglich sein sollte.

10.3 Digitalisierung verändert Lernen Das beispiellose Wachstum von Onlinemedien in der Aus- und Weiterbildung, der freie Onlinezugang zu den Lehrinhalten international renommierter Hochschulen wie des MIT und vieler anderer sowie die Entwicklung neuer Formate wie Massive Open Online Courses (MOOC) zeigen zudem, dass der Zugang zu Wissen in einem bisher nicht gekannten Umfang durch technologische Entwicklungen geöffnet wird. Im Gegensatz zur Realität des letzten Jahrhunderts, in welchem die Bildungswege überschaubar und vor allem reglementierbar waren, haben sich inzwischen die möglichen Zugangswege vervielfacht. Letztlich kommt es für den Arbeitsmarkt nicht darauf an, wie jemand sein Wissen und seine Kompetenz erworben hat. Entscheidend ist, ob er über

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die erforderlichen Kompetenzen verfügt und sie produktiv einsetzen kann. Das Bildungssystem sollte sich folglich darauf umstellen, Qualifikationen zu erfassen und zu validieren, statt zusätzlich Wege und Lernzeiten festzulegen und nur diejenigen zu einer Prüfung zuzulassen, die Kenntnisse auf genau definierten Pfaden erworben haben.

Mit einer solchen Grundphilosophie wäre es auch denkbar, betriebliche, nicht standardisierte Lernprozesse im Rahmen individueller Qualifizierung nutzbar zu machen. Um es an einem Beispiel zu verdeutlichen: Führungsverantwortung in der Wirtschaft ist, auch wenn der Verantwortungsbereich Tausende von Arbeitsplätzen umfasst, an keine formalen Voraussetzungen oder Nachweise irgendeiner Art gebunden. Dies ist kein Argument für den Verzicht auf Qualifikationsnachweise. Aber es ist ein Beleg dafür, dass der Erwerb von Wissen, Qualifikationen und Kompetenzen nicht an bestimmte Bildungspfade gebunden ist. In einer digitalisierten Welt mit offenen Wissensressourcen sollte der Fokus auf den Nachweis, nicht auf den Weg des Erwerbs gelegt werden.

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FAZIT UND THESEN Das Bildungssystem ruht auf unterschiedlichen Säulen, die zwar durch Brücken verbunden sind, aber nach wie vor den Wechsel zwischen den Systemen sowie den flexiblen, leistungsorientierten und bedarfsorientierten Erwerb und Ausbau von Kompetenzen unnötig erschweren. Obwohl die Abschottung der Systeme abnimmt, reichen die Veränderungen an den Rändern des akademischen und beruflichen Sektors nicht aus. Das Modell der zwei Säulen erweist sie sich als nicht mehr zeitgemäßes Hindernis. Es bedarf einer Neugestaltung des Bildungssystems durch den Abbau von Zugangsbeschränkungen. Das Ziel sollte ein integriertes Gesamtsystem sein, das vielfältige Pfade nicht nur erlaubt, sondern begünstigt. Der freie Zugang zu Bildung beseitigt nicht die Notwendigkeit von standardisierten Leistungsnachweisen. Leistungsnachweise erfordern jedoch nicht notwendigerweise auch einen bestimmten Lernweg oder limitierte Lernwege. Der Zugang zu Bildung sollte nur in den Fällen pfadabhängig gestaltet werden, in denen dafür ein konkreter Bedarf besteht.

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Thesen 1. Wir brauchen Bildung, die auf einem humanistischen Menschenbild basiert. Bildung darf nicht nur funktional betrachtet werden. Sie muss Menschen in die Lage versetzen, Antworten auf grundlegende Fragen zu finden. Dazu gehören insbesondere gesellschaftliche Werte, kulturelle Identität, Verantwortung und Selbstbestimmung. Dieser Anspruch gilt für alle Bildungsangebote. 2. Wir brauchen eine grundlegende Neuorientierung des Bildungssystems, um die Kompetenzen zu entwickeln, die der Arbeitsmarkt in Zukunft braucht. Die beiden prägenden Säulen des gegenwärtigen Bildungssystems, die beruflich orientierte und die akademische Ausbildung, müssen (entsprechend dem Konzept des Wissenschaftsrates) in ein Gesamtsystem integriert werden, das unterschiedliche Pfade nicht nur gestattet, sondern begünstigt. 3. Bildung ist ein lebensbegleitender Prozess. Die gedankliche Trennung zwischen Erstausbildung und Weiterbildung ist aufzuheben. Der Zugang zu Höherqualifizierung muss jeder Person entsprechend ihrer Leistungsfähigkeit jederzeit offenstehen. 4. Das Bildungssystem verschärft in seiner heutigen Struktur den Fachkräftemangel. In Zukunft werden vermehrt Hybridqualifikationen gebraucht, die Elemente einer akademischen Ausbildung (Theorie) und Elemente des Lernens in der Praxis miteinander verbinden. Das Zweisäulenmodell aus beruflicher und akademischer Qualifizierung erschwert die Entwicklung dieser Qualifikationen. 5. Die duale Berufsausbildung ist ein wesentlicher Faktor für die Stärke des Wirtschaftsstandorts Deutschland. Wir sind dabei, diese Stärke aus politischem Opportunismus zu verspielen. 6. Parallel zu Änderungen im System müssen wir in der Öffentlichkeit ein Bewusstsein dafür schaffen, dass akademische und berufliche Bildung in der Gesellschaft den gleichen Stellenwert haben und die gleichen Entwicklungschancen bieten.

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WAS IST ZU TUN? Hessen braucht ein strategisches Konzept, wie die vier fachlich zuständigen Ministerien (Kultus-, Wirtschafts-, Wissenschafts- und Sozialministerium) gemeinsam und mit aufeinander abgestimmten Maßnahmen das Bildungssystem auf die neuen Anforderungen ausrichten können. Nur eine ressortübergreifende Gesamtstrategie kann die Weichen im Bildungssystem richtig stellen. Viele der erforderlichen Maßnahmen kann Hessen in eigener Kompetenz entscheiden und regeln. In einzelnen Fragen bedarf es einer Initiative auf Bundesebene. Aber auch Unternehmen und die Sozialpartner sind gefordert. Die aus Sicht der VhU wichtigsten Schritte im Rahmen eines Gesamtkonzepts sind:

1. Politik und Gesetzgebung 1. Gleichstellung des Facharbeiterabschlusses mit der allgemeinen Hochschulzugangsberechtigung Leistungsstärkere Jugendliche können entgegen dem Trend zur Akademisierung für eine duale Berufsausbildung nur dann gewonnen werden, wenn diese Ausbildung die gleichen Aufstiegs- und Höherqualifizierungschancen eröffnet wie der Weg über eine schulisch erworbene Hochschulzugangsberechtigung – und dies zu vergleichbaren und kalkulierbaren Rahmenkonditionen. Eine 2-jährige Berufspraxis und eine anschließende Hochschuleingangsprüfung, die in Hessen und einigen anderen Bundesländern für Absolventen einer betrieblichen Ausbildung erforderlich sind, entsprechen nicht diesen Kriterien. Die Studierfähigkeit kann in einem ca. 6-monatigen Zusatzmodul erworben und nachgewiesen werden. Dieses Modul kann, je nach Ausbildungsberuf unterschiedlich umfangreich sein oder ganz entfallen. Es kann die allgemeine Hochschulreife oder die Fachhochschulreife bieten, ausbildungsintegriert oder konsekutiv absolviert werden. Die bestehende Möglichkeit (FOS Form C) ist dagegen mit drei Jahren Dauer zu unflexibel und unattraktiv.

2. Bundesweit einheitliche Regelungen zum Hochschulzugang Solange die Zugangsberechtigung bundesweit nicht einheitlich geregelt ist, bleibt die Chance auf einen Hochschulzugang für beruflich Qualifizierte unübersichtlich und schwer kalkulierbar. Dies kann durch eine neue Rahmenregelung der Kultusministerkonferenz erreicht werden.

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3. Entwicklung von Initiativen und Kampagnen, um in der Öffentlichkeit auf eine Angleichung der Wertschätzung von akademischen und beruflichen Qualifikationen hinzuwirken Berufliche Qualifizierungswege sind weniger bekannt und haben in der Öffentlichkeit ein geringeres Sozialprestige als akademische Ausbildungswege, obwohl sie vergleichbare Karriere- und Verdienstmöglichkeiten eröffnen. Für viele Menschen sind diese Qualifizierungswege letztlich erfolgversprechender als eine theorieorientierte akademische Ausbildung. Daher sollte parallel zur Beseitigung von Zugangsbarrieren zur akademischen Ausbildung das Image beruflicher Abschlüsse verbessert werden. Dies ist jedoch nur in Verbindung mit einer konsequenten Umsetzung der Gleichstellung sinnvoll.

4. Rückbau des Übergangssystems zugunsten der Unterstützung der betrieblichen Ausbildung schwächerer Jugendlicher Die betriebliche Praxis ist für diese Gruppe der geeignetste und in der Regel auch erfolgversprechende Lernort. Andererseits sind Unternehmen nur bedingt dafür aufgestellt, soziale und kognitive Defizite aufzuarbeiten. Dazu ist qualifiziertes Ausbildungspersonal erforderlich (Sozialarbeiter, Therapeuten, Sonderpädagogen), die in den meisten Unternehmen nicht zur Verfügung stehen. Wenn die Ressourcen, die bisher in das schulische Übergangssystem investiert wurden, in ein ausbildungsbegleitendes Unterstützungsangebot für Unternehmen umgeleitet werden, das eng mit den Ausbildungsbetrieben und Berufsschulen kooperiert, kann die Integrationsfunktion betrieblicher Ausbildung auch für diese Jugendlichen wieder genutzt werden. Ergänzend bedarf es jedoch geeigneter Ausbildungsberufe oder modularer Qualifizierungsbausteine für diese Zielgruppe sowie geeigneter Arbeitsplätze.

5.Rückbau schulischer Angebote, die in direkter Konkurrenz zu dualen Ausbildungsberufen stehen Angebote beruflicher Schulen, die zur Hochschulzugangsberechtigung führen, werden von vielen Jugendlichen gegenüber der dualen Berufsausbildung bevorzugt, weil sie sich für ihre spätere berufliche Karriere mehr Optionen versprechen. Wenn jedoch die Hochschulzugangsberechtigung auch durch eine betriebliche Ausbildung erworben werden kann, sind diese Wege nicht mehr im bisherigen Umfang erforderlich. Berufliche Schulen sollten den Zugang zu vollschulischen Bildungswegen mit einer Beratung verbinden, die den Interessenten die Vor- und Nachteile dieser Bildungswege im Vergleich zum Erwerb eines dualen Abschlusses bewusst macht (z. B. Verdienstmöglichkeiten eines Facharbeiters, Optionen für eine weiterführende Ausbildung im Verhältnis zu einer schulischen Qualifikation ohne einen berufsqualifizierenden Abschluss). Hier liegt ein erhebliches Einsparpotenzial auf Seiten der öffentlichen Hand, das nicht mit einem Verlust an Qualität verbunden ist.

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2. Allgemeinbildende Schulen 1. Berufsorientierung an allen allgemeinbildenden Schulen als Regelangebot in den letzten drei Schuljahren Schulabgänger haben häufig nur sehr begrenzte Kenntnisse von den möglichen Berufsbildern. Sie orientieren sich daher oft an den Empfehlungen aus ihrer unmittelbaren sozialen Umgebung oder am gesellschaftlichen Image der Ausbildungswege. Orientierung findet oft erst nach der Wahl des Bildungsweges statt. Diese Zufälligkeiten können nur durch bessere Kenntnisse der Arbeitswelt aufgehoben werden.

2. Potenzialorientierte Berufs- und Qualifizierungsberatung für Schüler Sowohl Über- als auch Unterforderung sollten bei der Wahl des Ausbildungsweges vermieden werden. Das System der Ausbildungswege ist so komplex, dass eine Beratung durch Fachleute die eigene Orientierung ergänzen sollte. Diese Beratung sollte nicht nur in Form einer allgemeinen Information über Bildung erfolgen, sondern auch eine Unterstützung bei der persönlichen Zielorientierung umfassen.

3. Qualifizierung der Lehrer für eine Berufsorientierung, die sich an der beruflichen Praxis und den Potenzialen der Schüler orientiert Berufsorientierung ist bisher kein fester Teil des Lehrplans allgemeinbildender Schulen und daher auch kein Bestandteil der Lehrerausbildung. Lehrer sollten daher in ihrer eigenen Ausbildung auf diese Aufgabe vorbereitet werden bzw. entsprechende Weiterbildungsangebote erhalten.

3. Unternehmen 1. Betriebliche Ausbildungsangebote für schwächere Jugendliche Die Integrationsfunktion der dualen Berufsausbildung kann nur erhalten werden, wenn sie im Rahmen der betrieblichen Möglichkeiten als gesellschaftliche Aufgabe akzeptiert wird. In vielen Unternehmen wurden bereits die Einstellungskriterien an das Bewerberpotenzial angepasst. Es wird in Zukunft immer weniger Möglichkeiten geben, auf andere Zielgruppen auszuweichen. Daher sollten auch die Chancen geprüft werden, Jugendliche ohne die erwünschte „Ausbildungsreife“ für den Einstieg in eine Ausbildung zu qualifizieren.

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2. Entwicklung von Arbeitsplatzprofilen, die Beschäftigungschancen für Qualifikationen unterhalb des Facharbeiterniveaus bieten Arbeitsplatzbeschreibungen sind in vieler Hinsicht flexibel. Es ist bei drohendem Mangel an Facharbeitern sinnvoll zu überprüfen, ob durch eine veränderte Arbeitsorganisation die Möglichkeit besteht, differenzierte Anforderungsprofile zu entwickeln und dadurch Hilfstätigkeiten wieder zu integrieren.

3. Ausgewogene Personalpolitik bei der Einstellung und Ausbildung von Facharbeitern, dualen Studenten und klassischen Hochschulabsolventen Potenziale zu erschließen bedeutet nicht nur, die Besten für das Unternehmen zu gewinnen. Es bedeutet auch, aus dem vorhandenen Angebot die Personen und Qualifikationsprofile auszuwählen, die zu den betrieblichen Funktionen passen. Bei einer Verknappung des Angebots ist die Ausweitung der Zielgruppen die bessere Alternative zu einer Verengung auf eine Leistungselite.

4. Berufsbegleitende Personalentwicklungskonzepte, die gleichwertige Entwicklungsmöglichkeiten für alle Beschäftigtengruppen eröffnen Die Erschließung der vorhandenen Potenziale ist gleichzeitig ein Signal an die Mitarbeiter, das die Bindung an den Arbeitgeber erhöht. Investitionen in die Qualifikation sind nur dann sinnvoll, wenn Arbeitnehmer im Unternehmen bleiben. Beides zusammen kann die Personalfluktuation senken und damit Personalkosten sparen.

5. Kooperation mit beruflichen Schulen und Hochschulen im Rahmen der betrieblichen Ausbildung, des dualen Studiums, der Praktika und Examensarbeiten von Studenten sowie der Nachwuchsakquise Die genannten Institutionen brauchen eine enge Kooperation mit der Wirtschaft, um bedarfsund praxisorientiert auszubilden. Diese Kooperationen benötigen Ressourcen, sind aber auf Dauer eine lohnende Investition in die eigene Zukunft. Auf Unternehmensseite bieten diese Kooperationen den Vorteil des ständigen Wissenstransfers zwischen Unternehmen und ausbildenden Institutionen sowie die Chance zur Optimierung des Ausbildungsprozesses.

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6. Einbeziehung von Angeboten beruflicher Schulen und Hochschulen in unternehmensinterne Qualifizierungskonzepte Kooperationen in der unternehmensinternen Weiterbildung können effizienter sein als der Aufbau eigener Ressourcen. Sie erweitern aber auch die Möglichkeiten betrieblicher Weiterbildung und bringen neues Wissen ins Unternehmen. Zudem entsteht die Möglichkeit, betriebliche Weiterbildung so zu konzipieren, dass einzelne Module auf eine formale Qualifikation angerechnet werden können.

4. Berufliche Schulen und Aufstiegsfortbildung 1. Priorität von dualen vor vollschulischen Ausbildungsgängen Berufliche Schulen werben oft für ihre vollschulischen Bildungsgänge und sind damit erfolgreich, weil der Zugang einfacher ist als die Suche nach einem Ausbildungsplatz und ein höherer Schulabschluss erreicht wird. Damit verschärfen sich Engpässe auf dem Markt für Ausbildungsstellenbewerber. Insbesondere kleinere Unternehmen können in Regionen mit einem demografisch bedingten Rückgang an Schulabgängern keine geeigneten Bewerber mehr finden und stellen daher mit Blick auf die Kosten-Nutzen-Relation die betriebliche Ausbildung ein. Im Ergebnis verstärkt sich der Trend zu einer schulischen Ausbildung und zum Studium, berufliche Schulen bauen die für sie erfolgreichen vollschulischen Ausbildungsgänge weiter aus. Dieser Trend ist nur zu stoppen, wenn sich Berufsschulen als Kooperationspartner der lokalen Wirtschaft verstehen, deren Aufgabe es vor allem ist, die duale Berufsausbildung zu stärken. Berufsschulen sollten primär daran gemessen werden, wie weit es ihnen gelingt, das Ausbildungsplatzpotenzial einer Region zu nutzen. Der Rückbau von vollschulischen Ausbildungsgängen kann allerdings nicht einseitig ohne Blick auf die Ausbildungsangebote in der Region erfolgen.

2. Angebote der beruflichen Schulen zur Erlangung der Studierfähigkeit parallel zur dualen Berufsausbildung Die Vermittlung einer Hochschulzugangsberechtigung gehört zum Profil einer beruflichen Schule. Sie sollte jedoch gezielt dafür werben, dass dieses Ziel mit einer betrieblichen Ausbildung ebenso zu erreichen ist wie über die Fachoberschule oder das berufliche Gymnasium. Dazu gehört das Angebot von Modulen, die eine eventuelle Lücke zwischen den Eingangsvoraussetzungen einer Hochschule und den Inhalten der Ausbildungsordnungen schließen.

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3. Kooperation von beruflichen Schulen und Hochschulen im Rahmen der dualen Berufsausbildung Wenn die duale Berufsausbildung die Studienberechtigung mit umfasst, kann auch das Curriculum (optional) um Elemente einer Hochschulausbildung erweitert werden. Dies ist besonders für leistungsstarke Jugendliche ein wichtiger Aspekt bei der Entscheidung für einen Ausbildungsvertrag. Unternehmen erhalten Mitarbeiter mit Zusatzqualifikationen, die bereits auf ein späteres Studium angerechnet werden können.

4. Angebote für Studienabbrecher, die bereits erworbene Qualifikationen auf eine duale Ausbildung anrechnen Die Anrechnung von Lernleistungen ist zwischen den beiden Systemen noch im Entwicklungsund Experimentierstadium. Überschaubare und verlässliche Regeln würden Ausbildungszeiten verkürzen und die Korrektur von Fehlentscheidungen erleichtern.

5. Kooperation im Rahmen der Ausbildung für Techniker, Meister, Fach- und Betriebswirte mit Hochschulen, Bereitstellen von Modulen für Akademiker Die Tatsache, dass Durchlässigkeit bisher weit überwiegend in eine Richtung – von der beruflichen Bildung in eine akademische Ausbildung – thematisiert wird, ist letztlich nur ein Ausdruck der Auff assung, die akademische Ausbildung könne als „höherwertiges Modell“ nicht von der beruflichen Ausbildung profitieren. Aber auch die Hochschule und Hochschulabsolventen können wertvolle Impulse aus der Praxis erhalten.

5. Hochschulen 1. Integration von Inhalten beruflicher Ausbildung in die Hochschulausbildung als Regelangebot (duale Ausbildungsberufe, Techniker, Meister, Fachwirt) Das duale Studium integriert teilweise den Kammerabschluss in den Bachelor. Die vom Wissenschaftsrat vorgeschlagene Entwicklung hybrider (additiver und integrativer) Ausbildungswege eröffnet jedoch noch andere Möglichkeiten der Kooperation. Letztlich ist es eine Frage der Anforderungen des Arbeitsmarktes, welche Modelle darüber hinaus entstehen können.

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2. Ausbau des dualen Studiums und Entwicklung neuer, hybrider Ausbildungsgänge für Bachelor- und Master-Studenten Das duale Studium hat bereits vielfältige Modelle für eine Integration von Theorie entwickelt. Darüber hinaus sind jedoch noch vielfältige Formen konsekutiver, additiver und integrierter Hybridmodelle mit unterschiedlichen Kooperationspartnern aus der Wirtschaft oder mit anderen Bildungsträgern denkbar, die gleichzeitig zur Profilbildung von Hochschulen und Fachbereichen beitragen.

3. Gegenseitige Anrechnung von Lernleistungen im Rahmen eines kalkulierbaren Gesamtmodells Die Anrechnung von Lernleistungen bedarf einer Standardisierung, da eine individuelle Bewertung nicht im Voraus kalkulierbar und zu aufwändig ist. Beide Systeme müssen gemeinsame Standards und Musterregelungen vereinbaren, um die Vorteile der Anrechnung erkennbar zu machen.

4. Ausrichtung akademischer Curricula auf das Qualifikationsprofil beruflich Qualifizierter 3-jährige duale Ausbildungsberufe erfordern ein dem Abitur vergleichbares Leistungsniveau, das aber nicht auf Studierfähigkeit ausgerichtet ist. Die Hochschulen müssen daher ihre Eingangscurricula auf diese Klientel einstellen.

5. Ausbau von berufsbegleitenden Studiengängen und Zertifikatslehrgängen im Rahmen akademischer Weiterbildung für berufliche Praktiker Qualifizierungsangebote sollten generell das gesamte Berufsleben begleiten. Dies gilt für Studiengänge, aber auch für Weiterbildungsangebote auf akademischem Niveau.

6. Entwicklung modularer Konzepte für die Erlangung eines akademischen Abschlusses Weiterbildung wird attraktiver, wenn sie in der Summe modularer Angebote einen akademischen Abschluss ermöglicht. Auch diese Form des berufsbegleitenden Studiums ist ein möglicher Baustein einer Profilbildung der Hochschule und des Ausbaus von Kooperationen mit der Wirtschaft.

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6. Sozialpartner 1. Verbesserung der Einstiegschancen schwächerer Jugendlicher durch die Entwicklung neuer Berufsbilder und Teilqualifikationen, die ihrem Leistungsprofil entsprechen Die Entwicklung neuer und die Aktualisierung bestehender Berufe ist Aufgabe der Sozialpartner. Bisher verweigern die Gewerkschaften jedoch die Zustimmung zur Entwicklung 2-jähriger Berufe mit geringeren Leistungsanforderungen. Der Verordnungsgeber kann die Berufe auch ohne Zustimmung der Gewerkschaften in Kraft setzen und hat dies bereits mehrfach getan. Alle neueren 2-jährigen Berufe sind anschlussfähig an 3- oder 3,5-jährige Berufsbilder. Es wäre sinnvoll, diese Brückenfunktion über tarifvertragliche Vereinbarungen zu regeln, um die Vorbehalte zu reduzieren und durch ein Gesamtkonzept Transparenz herzustellen.

2. Entwicklung (oder Beschreibung) von Zusatzqualifikationen, die für einzelne Berufsbilder die Studierfähigkeit sicherstellen (theoretische Kenntnisse und Methodik), als Teil des Ordnungsverfahrens Die Sozialpartner haben keine Regelungskompetenz für den Hochschulzugang. Sie können jedoch bei der Ordnung von Berufsbildern eine spätere Höherqualifizierung mit berücksichtigen und im Rahmen des Ordnungsverfahrens beschreiben, in welchem Umfang das Berufsbild bereits die Qualifikationen umfasst, die für einen Hochschulzugang erforderlich sind. Dies wären wichtige Hinweise für die Entwicklung von Zusatzqualifikationen im Rahmen der dualen Ausbildung und von Eingangscurricula an Hochschulen.

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III

BILDUNG ALS GANZES SEHEN UND JEDEN EINZELNEN MITNEHMEN! Eine exemplarische Würdigung des bildungspolitischen Engagements des VhU-Präsidenten, Prof. Dieter Weidemann

Die Position der VhU zur beruflichen Bildung schließt eine Lücke in der verbandlichen Konzeptarbeit zu einem Thema, das von allen Kräften in der Gesellschaft als zentrales Zukunftsfeld gesehen wird. „Bildung“ war und ist ein Megathema – und wird es in Zukunft mehr denn je sein. Globalisierung und internationaler Wettbewerb, aber auch demografischer Wandel und ökologische Wertmuster definieren neue Herausforderungen, die nicht nur aus dem nationalen Blickwinkel bewältigt werden können.

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Bildung als Ganzes sehen Es wächst die Einsicht, dass Bildung nicht mehr als in Blöcken strukturiertes und in seinen Teilen abgegrenztes System gestaltet werden kann, das der Einzelne mehr oder weniger erfolgreich „durchläuft“: frühkindliche Bildung, Schule, Berufsausbildung oder Hochschule und schließlich Weiterbildung. Das Fünfsäulenmodell als Bildungsparcours für jeden ist zu statisch wie selektiv angelegt. Prof. Michael Hüther, Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln, hat die daraus folgende „Pfadabhängigkeit“ von individuellen Bildungsverläufen und -erfolgen als einen der größten negativen Effekte des Gesamtsystems herausgestellt. Es überlässt weitgehend dem Bildungsteilnehmer, welchen Bildungs(säulen)weg er wählt und ob er dort mit dem relativ starren Angebot zurechtkommt. Geschieht das nicht, muss der Bildungsteilnehmer in der Regel demotiviert in eine andere und meist – im Sinne eines empfundenen „Abstiegs“ – niederrangige Bildungsebene wechseln. Die Akzeptanz dieser negativen Folgen im Zeichen von Chancengerechtigkeit konnte nur durch den Aufbau eines nachgelagerten Teilsystems, des sogenannten Zweiten Bildungsweges, erreicht werden.

Ergebnisorientierung: heute ein Muss! Erfolg oder Misserfolg der Teilnehmer waren jahrzehntelang kein relevanter Erfolgsfaktor für bildungspolitische Entscheidungen. Ganz im Gegenteil: Leistungssteigerungen des Systems wurden allenfalls planwirtschaftlich beschlossen. Der Picht’sche Ruf zur Steigerung der Abiturientenzahlen vor über 45 Jahren ist quantitativ zwar umgesetzt, gilt aber mit Blick auf das seinerzeitige Ziel einer breiten Qualitätssteigerung als gescheitert. Die auf Picht folgenden Reformen waren nach heutiger allgemeiner Erkenntnis nicht erfolgreich: weder mit Blick auf die seinerzeit formulierten Ziele einer größeren gesellschaftlichen Einbindung bildungsferner Schichten oder einer besseren individuellen Förderung noch gemessen an der heute bedeutsamen Kompetenzorientierung in internationalen Bildungsvergleichen. Erst seit wenigen Jahren gewinnt die Erkenntnis Raum, dass ein erfolgreiches Bildungssystem anders angelegt sein sollte. Es muss Bildung als lebensbegleitenden Prozess jedes Einzelnen verstehen, quasi von der Wiege bis zur Bahre. Bildungsangebote dürfen auf dieser Lebensachse als „Bildungsbiografie“ nicht mehr in teilweise konkurrierenden Teilsystemen und dort vorrangig gruppenbezogen, selektiv und altersgebunden angelegt sein. Erst die Offenheit der Angebote – auf der Achse der Lebenszeit und vor den konkreten individuellen Bedingungen des Umfelds – ermöglicht es, die heterogenen und höchstpersönlichen Potenziale von Eignung, Begabung und insbesondere Entwicklung erfolgreicher wie effektiver zu nutzen. Die internationalen Vergleichsstudien zur Bildung haben den Erkenntnishorizont in Deutschland seit 1997 deutlich erweitert. Der individuelle, wirtschaftliche und damit gesellschaftliche Mehrwert eines Bildungsangebots steigt erheblich, wenn es auf jeden Einzelnen bezogen ist und dessen Lebensbedingungen wie persönliche Entwicklung aufnimmt. 55 |


Stärkere Individualisierung ohne Absenken des Leistungsniveaus Dabei geht es nicht um eine Verwässerung von „Bildungsbedarfen“ oder Leistungsanforderungen und schon gar nicht um die Einführung einer lernoffenen „Kuschelpädagogik“. Ganz im Gegenteil: Eine stärkere Individualisierung von Bildung setzt die Definition präziser Bildungsziele, heute neudeutsch als Kompetenzziele bezeichnet, voraus. Erst diese klaren Standards ermöglichen die Rücknahme der Gruppenbezogenheit in der Umsetzung und die stärkere Berücksichtigung des Einzelnen. Das alte Prinzip des Forderns und Förderns erhält eine neue Ausrichtung und Ausgestaltung. Dem entspricht dann eine stärkere – bisher im deutschen Bildungswesen noch als fremd und neu empfundene – messbare Ergebnisverantwortung aller: des einzelnen Teilnehmers, der Lehrenden, der unterstützenden Institutionen und derjenigen, die Standards, Wissensinhalte und Vermittlungsformen festlegen. Diese zugegeben stark komprimierte Zusammenfassung der Herausforderungen an das Bildungswesen in Deutschland und seinen Ländern findet ihr Pendant in der Welt des betrieblichen Lernens. Das Corporate Learning steht dabei unter noch höherem Druck als die staatliche Bildungswelt: Was mit der Suche nach einem greifbaren Bildungscontrolling begann, entwickelt heute neue Formen des digitalen Lernens, sucht individuelle Lösungen statt standardisierter Angebote und fokussiert auf Wirksamkeit und Effizienz. Die Unternehmen müssen zudem in einer Zeit des zunehmenden Fachkräftemangels Mitarbeiter gewinnen und halten. Motivation, Anreize und variable wie messbare Gegenleistung sind (wieder) starke Anlässe, die Profile von Arbeitsplatzentwicklung und Mitarbeiterkompetenz aufeinander abzustimmen. Human Resources (HR) steht heute als Synonym für die Verschmelzung von betrieblicher Qualifizierung mit der Personal- und Organisationsarbeit. Neue Begriffe wie Talentmanagement zeigen konkrete Trends und Modelle auf.

Konzeptionelle Verbandsarbeit Verbände und Dachverbände der Wirtschaft haben die Aufgabe, diese Entwicklungen zu begleiten und zu fördern. Dabei reicht die Spannweite heute von der Begleitung und Förderung betrieblicher Trends bis hin zur Mitgestaltung staatlicher Bildungsangebote in Verbünden, und das von der Kita bis zur Hochschule. Die Politik erwartet zudem Konzepte, die ihr Impulse geben und Innovationen befördern. Es gehört zum traditionellen Selbstverständnis der Verbände der Wirtschaft, eigene Bedarfe an Grundbildung, Ausbildung und Studium zu definieren und mit einem Umsetzungsvorschlag als Konzept an Politik und Staat weiterzugeben. Darüber hinaus wirkt die Wirtschaft mit ihren Verbänden immer wieder darauf hin, ideologische Ansätze in der Bildungspolitik zu dämpfen und die großen staatlichen Bildungssysteme nicht mit so heftigen

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wie kurzfristigen Kursänderungen in der Steuerung zu überfordern. Der jahrzehntelange Streit um ein differenziertes versus integriertes Schulsystem ist hierbei eine bis heute nachwirkende Belastung.

Eine herausragende Person: Prof. Weidemann Für diese Aufgaben bedarf es in den Verbänden der Wirtschaft als Partner der Politik und Motor für Reformen nicht nur der Kompetenz und Nachhaltigkeit, sondern auch glaubwürdiger Personen und eines langen Atems. Das gilt in besonderem Maß für eine Spitzenorganisation der Wirtschaft, ob auf Bundes- oder Landesebene. Die Vereinigung der hessischen Unternehmerverbände nutzte mit ihrem Präsidenten Prof. Dieter Weidemann hier eine herausragende Chance für Kompetenz, Kontinuität und Konsequenz. Im Herbst 2014 wird Prof. Weidemann nicht mehr zur Wahl antreten. Seit 1992 führt er die VhU und bildet seit 1993 überdies die Brücke zur Bundesebene als Mitglied des Präsidiums der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) in Berlin. Seine Präsidentschaft über 22 Jahre hinweg prägte die VhU in all ihren Aufgabenfeldern ebenso nachhaltig wie erfolgreich. Sowohl bei der Verleihung des Bundesverdienstkreuzes am Bande im Jahr 1998 als auch bei der des Bundesverdienstkreuzes 1. Klasse 2004 wurde deutlich, für welche Verdienste Präsident Weidemann konsequent steht: als Impulsgeber, Integrator und Moderator. Wie Politik, Öffentlichkeit, Unternehmer und Verbändewelt ihn sehen, macht die kurze Skizzierung seiner Biografie anlässlich seines siebzigsten Geburtstags deutlich: Maschinenbauer – Hochschullehrer – Unternehmer – Arbeitgeberpräsident der Metall- und Elektroindustrie in Hessen – Unternehmerpräsident in Hessen – Vizepräsident von Gesamtmetall und Präsidiumsmitglied der BDA – stellv. Vorsitzender des Rundfunkrats Hessen – Familienmensch – Sportler – Musiker.

Impulse zur Bildung Wir nehmen das neue Konzept der VhU zur beruflichen Bildung in dieser Broschüre zum Anlass, die Impulse und das Wirken von Prof. Weidemann im Themenfeld der Bildung exemplarisch zu würdigen. Wir können so – stellvertretend für viele andere wirtschaftsrelevante Felder – zeigen, wie seine Präsidentschaft der VhU das heute allseits anerkannte Format gab, das ihr auch diejenigen zugestehen, die eine andere Auff assung vertreten.

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Gerade bei bildungspolitischen Themen kommt es auf Glaubwürdigkeit, ein klares Wertegerüst, beständige ordnungspolitische Überzeugungen und persönliches Engagement an. Prof. Weidemann verkörpert diese Tugenden konsequent – vom persönlichen Lebensraum als Familienvater bis hin zum Hochschullehrer und Unternehmer. Integrität ist dabei sein herausragendes Merkmal, auch wenn man dann gelegentlich mit seiner Organisation wider den Strom schwimmt und gegen allzu modernistische Trends Front machen muss. Das politische Wertemuster und Ordnungsgefüge des scheidenden VhU-Präsidenten ähnelt dem Grundansatz der christlichen Soziallehre: Bezogen auf die Bedeutung, die Wertschätzung und die Verantwortung des Einzelnen setzte Prof. Weidemann immer auf die Subsidiarität staatlichen Handelns. Er glaubt an die Befähigung und die Chancen der Menschen in dieser Gesellschaft und stellt jeden Einzelnen in den Mittelpunkt seines und unseres Handelns. Er erwartet von jedem Engagement, Bereitschaft zum persönlichen Einsatz und zur permanenten Arbeit an sich selbst. Aber er ist auch immer bereit, in Solidarität die Hand zur Hilfe zu reichen, wenn Menschen in ihren Lebenslagen und Lebensbereichen trotz aller eigenen Mühen nicht zurechtkommen sollten. Sein persönliches Wertegerüst und seine ordnungspolitischen Überzeugungen prägten die Impulse der VhU in der Bildungsarbeit über mehr als zwei Jahrzehnte hinweg. Aus der Vielzahl der Aktivitäten von Prof. Weidemann seien hier nur einige Beispiele mit nachhaltiger Wirkung genannt: • Computer für Hessens Schulen Bereits in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre erkannte der Ingenieur Weidemann, dass die Schulen den Anschluss an den informationstechnischen Aufbruch zu verpassen drohten. Er initiierte einen Verein als Sammelstelle in der Wirtschaft, der bei Unternehmen um aufbereitete Computer warb und diese dem staatlichen Schulwesen zur Verfügung stellte. Aus dieser praktischen Initiative wurde in kurzer Zeit eine politische Konzeption, die Millionen an EDV-Investitionen bereitstellte: In der „Schwalbacher Erklärung“ von 2001 verpflichtete sich das Land Hessen, den Schulträgern 30 Millionen DM als Sonderleistung bereitzustellen. Schulträger und Wirtschaft besiegelten dies in einer gemeinsamen Partnerschaft. • Kuratorium motivierte Wirtschaft, ihre Erwartungen zu formulieren Gleichzeitig fokussierte Prof. Weidemann ebenfalls in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre die gewachsene Unzufriedenheit der hessischen Wirtschaft mit den Entwicklungen im hessischen Schulwesen. Er gründete das Kuratorium „Schule der Zukunft“ und gewann eine große Zahl von Vorständen und Vorsitzenden namhafter Unternehmen in Hessen, sich auch persönlich für die Erwartungen der Wirtschaft an die Schulbildung zu engagieren und für diese gegenüber der Politik einzutreten.

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Bildung 4.0 – für die Arbeitswelt der Zukunft | Wie wir unser Bildungssystem neu ausrichten müssen.

• Position aller Wirtschaftsorganisationen gebündelt Mit dem grundlegenden Regierungswechsel in Hessen im Jahr 1999 veränderte Prof. Weidemann auch die Zielbestimmung des Kuratoriums. Nach dem Grundsatz „Getrennt marschieren – gemeinsam schlagen“ sah er als einer der ersten die Chancen der neuen Regierungsbildung für die hessische Wirtschaft. Erstmals in der Geschichte der Bundesländer bündelte er Sachverstand und Kraft der Landesvereinigung mit den hessischen Industrie- und Handels- sowie den Handwerkskammern. 2000 legten die drei Präsidenten gemeinsame schulpolitische Positionen vor, die die Reformerwartungen der Wirtschaft beschrieben. • Fünf Konzepte wider den PISA-Schock! Im Jahr 2001 erschütterten die schlechten Ergebnisse der ersten PISA-Studie Bund und Länder. Wochenlang dominierte das Thema die Schlagzeilen aller großen Medien. Prof. Weidemann erkannte auch hier sofort die Chance für einen Aufbruch. Er veranlasste, dass sich die VhU schnell und tiefer als jede andere Wirtschaftsorganisation in Deutschland in das Thema, seinen wissenschaftlichen Hintergrund und die möglichen Konsequenzen einarbeitete. Von 2001 bis 2002 legte die VhU in schneller Folge fünf tiefgreifende Konzepte für Reformen in allen Bildungsbereichen vor, die Prof. Weidemann auch in den Medien konsequent vertrat und 2003 als gedruckte Gesamtversion „Projekt Bildung“ der damaligen Kultusministerin „zum besten Wirken“ überreichte. Seine Analyse war und ist dabei bis heute bestechend: „Mittelmäßig, unverbindlich, schwerfällig – unser Bildungssystem hat noch große Hürden auf dem Weg in die Zukunft vor sich. Die qualitative Aufrüstung unseres Bildungssystems wird damit zum Motor für Zukunftsfähigkeit. Wie niemals zuvor stehen Arbeitsmarkt-, Sozial- und Bildungspolitik in einem direkten und wechselseitigen Bezug.“ • Pionier der Sensibilisierung für frühkindliche Bildung Im Kontext dieser Entwicklungen galt das Augenmerk von Prof. Weidemann vor allem der frühkindlichen Phase. Trotz des Erstaunens der Politik und zu Beginn manch‘ freundlichen Fragezeichens betonte er als Pionier der Wirtschaftsorganisationen mit vielen Vorschlägen die Bedeutung von Bildung in Kindergärten und Kindertagesstätten. Er erkannte bei diesem jungen Alter die Begeisterung der nachwachsenden Generation für naturwissenschaftliche Themen und Gegenstände und kritisierte die Vernachlässigung im schulischen Primarbereich und vor allem in den ersten Jahren der Sekundarstufe. Ordnungspolitisch konsequent prägte Prof. Weidemann dann auch den Kurs der Bildungsfinanzierung: vom Kopf auf die Füße stellen. Er kritisierte ein kostenloses Studium, aber teure Kindergartengebühren. Er verlangte einen grundlegenden Paradigmenwechsel mit guter und kostenloser Bildung in den Kigas und Kitas, aber Eigenbeiträgen beim späteren Aufstieg in den Bildungswegen, vor allem beim Studium. • Frühes Konzept der „Selbstständigen Schule“ – heute Gesetzesrealität Mit der Öffnung der Landespolitik für Reformen nach PISA konzentrierte Prof. Weidemann die Reformvorschläge der VhU vor allem auf die Änderungen organisatorischer Rahmenbedingun-

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gen im schulischen Qualitätsmanagement. Er erkannte schnell die Glaubwürdigkeit der Wirtschaft bei evidenzbasierten Systemvorschlägen und veranlasste die Vereinigung, sich mit der Erfahrung ihrer Mitglieder und Unternehmen auf das Ziel von kompetenz- wie wissensbasierten Qualitätsstandards sowie das Profil einer flexibleren und selbstständigen Schule zu konzentrieren. Von 2004 bis 2009 legte die VhU unter seiner Regie eine Vielzahl gestaffelter Konzepte vor und absolvierte dazu eine Anhörung nach der anderen im Landtag. Schließlich erreichte Prof. Weidemann nach einer ersten direkten Vereinbarung der VhU mit der Landesregierung im Jahr 2005, dass sich alle hessischen Fraktionen für eine „Selbstständige Schule“ in Hessen aussprachen und ein solches System zu Beginn dieses Jahrzehnts in die Regelungen des Schulgesetzes aufgenommen wurde. Seitdem gilt sein Leitgedanke als verfasste Maxime der hessischen Schulorganisation: Freiheit in Verantwortung meint gute Bildungsziele bei größtmöglichem Freiraum in der Umsetzung, aber klarer und messbarer Ergebniskontrolle. • Für gerechte Studiengebühren gekämpft – und verloren Im Hochschulwesen setzte Prof. Weidemann ebenfalls nachhaltige Akzente. Er veranlasste in der VhU im Rahmen der Diskussion um Studiengebühren die Entwicklung eines spezifischen Landesmodells. Außerdem brachte er die Interessen der hessischen Wirtschaft in den Hessischen Hochschulpakt 2011–2015 ein und initiierte als Pilotmodell auf der Leitungsebene eine regelmäßige Gesprächsrunde der hessischen Wirtschaft mit der Konferenz der hessischen Fachhochschulpräsidien. • Zum Abschluss: eine Neukonzeption der beruflichen Bildung Prof. Weidemann konzentrierte die Aktionen der VhU angesichts der Rahmenregelungen der Bundesebene auf die gestalterischen Möglichkeiten im Land. Vieles mündet in das in dieser Broschüre vorgestellte Konzeptpapier. Die Spannweite der konkreten Ansätze ist breit. Sie reicht von langjährigen Marken wie dem Innovationspreis für berufliche Schulen über die Initiierung von Kampagnen für das Duale Studium bis hin zu innovativen Pilotprojekten, etwa der virtuellen Berufsschule. Politisch engagierte sich Prof. Weidemann mit der VhU vor allem bei mehreren hessischen Ausbildungspakten. Immer wieder brachte er dabei auch Forderungen der Wirtschaft ein, über die die Politik wegen der schwierigen Umsetzung gerne locker hinweggegangen wäre. Sein Motto war dabei eindeutig: Er wollte als Stimme der hessischen Wirtschaft lieber ein eckiges Etwas als ein rundes Nichts sein. Die Liste der vielfältigen Impulse von Prof. Weidemann in der Bildungs-, Berufsbildungs- und Hochschulpolitik ließe sich noch weiter fortsetzen. An dieser Stelle sollten jedoch vor allem die „Leuchttürme“ seines Wirkens in der Bildung sowie die Bezüge zur Verankerung des neuen Reformkonzeptes der VhU in der beruflichen Bildung im Vordergrund stehen. Und wie gesagt: Bildung ist hier pars pro toto für die vielen weiteren Politikfelder gemeint, in denen sich Prof. Weidemann als VhU-Präsident ebenso erfolgreich wie nachhaltig engagierte.

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Bildung 4.0 – für die Arbeitswelt der Zukunft | Wie wir unser Bildungssystem neu ausrichten müssen.

Fasst man die Überzeugungen von Prof. Weidemann und seine Impulse für die VhU im Gesamtfeld der Bildung zusammen, ergibt sich eine deutliche Richtung: • Herausforderungen an das Bildungssystem betreffen dieses immer als Ganzes, wenn auch mit unterschiedlicher Schärfe in den Teilen. Für die gesamthafte Sicht auf die Bildung spricht, dass die fortschreitende Intensivierung des Wissens in der Arbeitswelt dazu führt, dass Bildung heute noch weniger als früher den Charakter eines abgeschlossenen Prozesses haben kann. • Lebenslanges bzw. -begleitendes Lernen ist zudem in einer schrumpfenden und alternden Gesellschaft von qualitativ anderer Bedeutung als noch vor ein bis zwei Jahrzehnten. • Damit verbindet sich auch eine Neustrukturierung der Bildungsverantwortung im Zeichen von individuellem Engagement und staatlicher Vorhaltepflicht. Bürger wie Unternehmen erhalten hier zunehmend höhere Anteile, die bestimmt werden müssen. Wenn dabei die Bildungsbiografie als Ganzes zu sehen ist, bedeutet das, die scharfe Trennung zwischen Ausbildung und Weiterbildung aufzugeben und Bildungsprozesse bereits dort zu intensivieren, wo wir traditionell nur von Betreuung bzw. Verwahrung im frühkindlichen Bereich reden. Daraus folgt analytisch: Es fehlt bisher eine für die Länder wie den Bund und auch die Kommunen unverzichtbare gesamtstaatliche Sicht. Es fehlt ein auf die gesamte Bildungsbiografie bezogener Ansatz. Und es fehlt eine konsistente ökonomische Perspektive. Daraus folgt praktisch, dass wir das nun gezielt in Angriff nehmen sollten. Wer welche Aufgaben dabei zu übernehmen hat, haben wir in dieser Publikation erarbeitet und die Wirtschaft dabei natürlich ebenfalls in die Pflicht genommen. Der VhU wird es daher in den nächsten Jahren in der Bildungspolitik nicht an Herausforderungen und Bedarf für Lösungsvorschläge fehlen. Dass sie dafür bestens aufgestellt und gerüstet ist, verdanken wir maßgeblich dem klugen, engagierten und langjährigen Wirken ihres scheidenden Präsidenten. Danke, Prof. Dieter Weidemann!

Wolf W lf Matthias M tthi Mang M Vizepräsident VhU

Volker Fasbender Hauptgeschäftsführer VhU

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Abbildungsverzeichnis Abbildung 1: Studienanfänger 1950–2010 Abbildung 2: Ausbildungs- und Studienanfängerzahlen Abbildung 3: Verhältnis berufliche und akademische Bildung Abbildung 4: Entwicklung von Ersatzbedarf und Neuangebot an Erwerbspersonen Abbildung 5: Projizierte Differenz zwischen Fachkräfteangebot und -nachfrage Abbildung 6: Anzahl der Engpassberufe nach Qualifikationsniveau Abbildung 7: Anfänger im Übergangsbereich 2005–2013 Abbildung 8: Bachelor-Abbruchquoten für den Absolventenjahrgang 2012 in Prozent Abbildung 9: Schulart bei Erwerb der Hochschulzugangsberechtigung Abbildung 10: Entwicklung des Anteils Beschäftigter in wissensintensiven Berufen

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Bildung 4.0

Bildung ist ein lebensbegleitender Prozess. Die gedankliche Trennung zwischen Erstausbildung und Weiterbildung ist aufzuheben. Der Zugang zu Höherqualifizierung muss jeder Person entsprechend ihrer Leistungsfähigkeit jederzeit offenstehen.

"Wir dürfen kein Kind und keinen Jugendlichen mehr zurücklassen oder gar verloren geben." Prof. Dieter Weidemann

Bildung 4.0 – für die Arbeitswelt der Zukunft

Herausgeber Vereinigung der hessischen Unternehmerverbände e.V. Emil-von-Behring-Str. 4 | 60439 Frankfurt am Main | www.vhu.de


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