Jahrgang 44 / Heft 1 / 2016
Gesch채ftsf체hrende Herausgeberin Beate Herpertz-Dahlmann Herausgeber Martin Holtmann Benno Schimmelmann Tobias Banaschewski (DGKJP)
Zeitschrift f체r Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie Forensische und juristische Probleme in der Kinder- und Jugendpsychiatrie und weitere Beitr채ge
Zeitschrift fĂźr
Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie
44. Jahrgang/Heft 1/2016
Themenschwerpunkt Forensische und juristische Probleme in der Kinder- und Jugendpsychiatrie
Geschäftsführender Herausgeberin
B. Herpertz-Dahlmann, Aachen
Herausgeber
M. Holtmann, Hamm B. Schimmelmann, Bern T. Banaschewski, Mannheim (DGKJP)
Gegründet von
H. Stutte und H. Harbauer
Frühere Herausgeber
B. Blanz, G. Lehmkuhl, H. Remschmidt, M. Schmidt, P. Strunk, A. Warnke, J. Hebebrand
Beirat
K. Becker, Marburg S. Bender, Köln H. Christiansen, Marburg A. Dempfle, Kiel M. Döpfner, Köln J. M. Fegert, Ulm G. Fink, Köln H.-H. Flechtner, Magdeburg C. M. Freitag, Frankfurt a. M. M. Gerlach, Würzburg A. von Gontard, Homburg S. Herpertz, Heidelberg A. Hinney, Essen K. von Klitzing, Leipzig K. Konrad, Aachen T. Legenbauer, Hamm
Verlag
Hogrefe AG, Postfach, Länggass-Strasse 76, 3000 Bern 9, Telefon ++41 (0)31 300 45 00 zeitschriften@hogrefe.ch, www.hogrefe.ch
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Satz
punktgenau GmbH, Am Froschbächle 21, 77815 Bühl, www.punktgenau-buehl.de
Druck
AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten im Allgäu
ISSN
1422-4917 (Print), ISSN 1664-2880 (Online), ISSN-L 1422-4917
Library of Congress Catalog Number
73-76150
Erscheinungsweise
6 Hefte jährlich
Bezugsbedingungen
Jahresabonnement Institute: CHF 482.–/€ 375.– Jahresabonnement Private: CHF 216.–/€ 160.– Abbestellungen spätestens drei Monate vor Ablauf des Abonnements Einzelheft CHF 72.50/€53.50 + Porto und Versandgebühren, Unverbindliche Preisempfehlung
Indexierung
Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie ist gelistet in Medline, Social Sciences Citation Index, Social Scisearch, Current Contents/Social and Behavioral Sciences, Journal Citation Reports/Social Sciences Edition, EMBASE, EMCARE, PsycINFO, PsyJOURNALS, Europ. Reference List for the Humanities (ERIH), IBZ, IBR und Scopus. Impact Faktor (2014) 0.943 (Journal Citation Reports® Social Science Edition, Thomson Reuters, 2015)
Elektronischer Volltext
www.psyjournals.com
Umschlagfoto
© Prof. B. Herpertz-Dahlmann, Aachen Die Zeitschrift ist das offizielle Organ der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie.
M. M. Nöthen, Bonn L. Poustka, Wien T. Renner, Tübingen F. Resch, Heidelberg V. Roessner, Dresden M. Romanos, Würzburg G. Romer, Münster A. Rothenberger, Göttingen K. Schmeck, Basel F. Schneider, Aachen S. Schneider, Bochum G. Schulte-Körne, München M. Schulte-Markwort, Hamburg R. Thomasius, Hamburg S. Walitza, Zürich
Inhalt
Editorials
5
Neuerungen und Veränderungen der Zeitschrift Beate Herpertz-Dahlmann, Martin Holtmann, Benno Schimmelmann, Tobias Banaschewski (für die DGkJP) Danksagung Gutachterinnen und Gutachter 2015
6
Gewaltkriminalität bei Jugendlichen und Heranwachsenden
7
Helmut Remschmidt Übersichtsarbeiten
9
Suizid und Suizidalität unter adoleszenten Häftlingen Daniel Radeloff, Thomas Lempp, Amna Ruf, Katharina Bennefeld-Kerster, Mattias Kettner und Christine M. Freitag Kinder an die Macht? – Machiavellismus im Kindes- und Jugendalter
21
Marc Allroggen, Mitja D. Back und Paul L. Plener
Originalarbeiten
Wie du mir, so ich dir? Die Entwicklung von prosozialem Verhalten und der Zusammenhang mit externalisierenden und internalisierenden Auffälligkeiten
31
Unterbringung von Kindern und Jugendlichen mit freiheitsentziehenden Maßnahmen
39
Eine rechtstatsächliche Untersuchung zur familiengerichtlichen Genehmigung der Unterbringung bei Minderjährigen in der Jugendhilfe, Kinder- und Jugendpsychiatrie und der Justiz nach § 1631b BGB Michael Kölch und Harald Vogel Psychische Auffälligkeiten von Kindern und Jugendlichen in familienrechtlichen Verfahren
51
Empirische Analysen aus psychologischen Sachverständigengutachten Jelena Zumbach, Florian Kolbe, Bärbel Lübbehüsen und Ute Koglin 65
Psychosoziale Belastungen bei inhaftierten Mädchen und Jungen Belinda Plattner, Cornelia Bessler, Gunnar Vogt, Susanne Linhart, Leonhard Thun-Hohenstein und Marcel Aebi Mitteilungen
Gemeinsame Stellungnahme der kinder- und jugendpsychiatrischen Fachgesellschaft und der Fachverbände DGKJP, BAG KJPP, BKJPP
75
Erarbeitet durch die Gemeinsame Kommission Jugendhilfe, Arbeit, Soziales und Inklusion zur Zusammenarbeit mit der Kinder- und Jugendpsychiatrie/-psychotherapie mit der Kinder- und Jugendhilfe im Rahmen des §35a SGB VII sowie im Rahmen von §27 SGB VIII und § 1631b BGB Michael Kölch, Jörg Fegert, Gundolf Berg und Martin Jung
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Inhalt
Rezensionen
Wie das Prinzip Leistung unsere Kinder überfordert
81
Dr. med. Michael Kroll Handbuch Kinder - und Jugendpsychiatrie Prof. Dr. Franz Petermann Kongressankündigung
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Psychopharmakologie-Tage in Berlin, 17. bis 18. Juni 2016
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Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie (2016), 44(1)
Editorial
Liebe Frau Kollegin, lieber Herr Kollege, liebe Leser, wir freuen uns, Ihnen zu Beginn des Jahres einige wichtige Veränderungen und Neuheiten der Zeitschrift für Kinderund Jugendpsychiatrie und Psychosomatik mitteilen zu können. So sind wir sehr glücklich, dass die Herren PD Dr. Michael Kaess und PD Dr. Paul Plener unsere Einladung angenommen haben, das Team der Herausgeber als Junior-Editoren zu unterstützen. Eine solche Junior-Editorenschaft soll zukünftig alle zwei Jahre vergeben werden. Habilitierten, wissenschaftlich aktiven Kolleginnen und Kollegen soll so die Möglichkeit gegeben werden, die Aufgaben des Herausgebers einer wissenschaftlichen Zeitschrift kennenzulernen. Um unsere Nachwuchsforscher auf unsere Zeitschrift aufmerksam zu machen und ihre Funktion als «Talentschmiede» zu nutzen, wollen wir zukünftig besonders gute Artikel von Erstautoren, die jünger als 40 Jahre sind, auszeichnen. Die Redaktion der Zeitschrift wird Artikel, die im Jahr 2016 von entsprechenden Autoren veröffentlicht werden, sichten und den besten Artikel mit einem Preisgeld von 500 € prämieren, welches der Hogrefe Verlag zur Verfügung stellt. Der Preisträger 2016 wird auf dem Kongress der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie
(DGKJP) in Ulm Anfang 2017 bekannt gegeben werden. Wir hoffen, dass dies einen besonderen Anreiz für unsere jüngeren Leser und Autoren darstellt, in unserer Zeitschrift zu publizieren. Ab sofort haben wir auch die Möglichkeit, umfangreiches Datenmaterial als «Electronic Supplementary Material» zu veröffentlichen. Wir würden uns freuen, wenn Sie von diesem Angebot zukünftig Gebrauch machen würden. Aufgrund der verlagsbedingten Neuerungen und Veränderungen werden Artikel jetzt in der Online-First-Form frühzeitiger erscheinen können. Zu allen englischsprachig verfassten Artikeln hat uns der Verlag «free access» zugesagt. Im Übrigen freuen wir uns sehr über Anregungen von Ihrer Seite. Wie Ihnen sicherlich aufgefallen ist, haben wir sehr unterschiedliche Autoren um ein Editorial zu aktuellen Themen gebeten. Hierzu haben wir von mehreren Seiten positives Feedback erhalten. Für weitere Hinweise, selbstverständlich auch Kritik, sind wir dankbar.
Die Herausgeber
Beate Herpertz-Dahlmann Martin Holtmann Benno Schimmelmann Tobias Banaschewski (für die DGKJP)
Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie (2016), 44(1), 1 DOI 10.1024/1422-4917/a000391
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Danksagung Gutachterinnen und Gutachter 2015 Herausgeber und Verlag danken den nachfolgend genannten Gutachterinnen und Gutachtern, die durch ihre Gutachtertätigkeit im Jahr 2015 (bis zum Stichtag 31.11.2015) maßgeblich an der Gestaltung der Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie mitgearbeitet haben. Dipl. Psych. Julia Asbrand Dr. Claus Barkmann Prof. Dr. Katja Becker Prof. Dr. Bernhard Bogerts Prof. Dr. Hanna Christiansen Prof. Dr. Martina de Zwaan Prof. Dr. Astrid Dempfle Prof. Dr. Manfred Doepfner Prof. Dr. Hans-Henning Flechtner Prof. Dr. Christian Fleischhaker Dr. Manuel Föcker Priv.-Doz. Dr. Dr. Jan Froelich Prof. Dr. Dr. Dr. Dominik Gross Prof. Dr. Martin Häusler Dipl.-Psych. Wolfgang Ihle PD Dr. Michael Kaess Dr. Martin Knollmann Prof. Dr. Michael G. Kölch Prof. Dr. Kerstin Konrad Prof. Dr. Thomas Kubiak PD Dr. Ekkehardt Kumbier Prof. Dr. Tanja Legenbauer Dr. Christoph Lenzen Prof. Dr. F. Petermann
PD Dr. Paul Lukas Plener Dr. Daniel Radeloff PD Dr. Brigitte Ramsauer Prof. Dr. Dr. Helmut Remschmidt Prof. Dr. Franz Resch Prof. Dr. Georg Romer Prof. Dr. Klaus Sarimski Dr. Robert Schlack Prof. Dr. Klaus Schmeck Prof. Dr. Martin Schmidt Prof. Dr. Gerd Schulte-Körne Dr. Christina Schwenck MSC Anne Schwenzfeier Prof. Dr. Kathrin Sevecke Prof. Dr. Christina Stadler Prof. Dr. Waldemar von Suchodoletz PD Dr. Frank Theisen PD Dr. Timo D. Vloet Prof. Dr. Alexander von Gontard Prof. Dr. Susanne Walitza Dr. Daniel Walter Prof. Dr. Christoph Wewetzer Prof. Dr. Silke Wiegand-Grefe Prof. Dr. Florian Daniel Zepf
Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie (2016), 44(1), 1 DOI 10.1024/1422-4917/a000392
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Editorial
Gewaltkriminalität bei Jugendlichen und Heranwachsenden Helmut Remschmidt Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie, Universitätsklinikum Gießen und Marburg – Standort Marburg
Datenlage Medienberichte über Gewalttaten junger Menschen erwecken immer wieder den Eindruck, als habe die Jugendgewalt kontinuierlich zugenommen. Ob dies zutrifft, kann nur anhand der Datenlage überprüft werden. Die Daten über die Verbreitung von Straftaten Jugendlicher und Heranwachsender ergeben sich aus der polizeilichen Kriminalstatistik, der Verurteiltenstatistik und aus Dunkelfelduntersuchungen. Gemäß der polizeilichen Kriminalstatistik (die eine Verdächtigenstatistik ist) sind Kinder, Jugendliche und Heranwachsende als Tatverdächtige an allen Straftaten in folgendem Umfang beteiligt: Kinder in einer Größenordnung von etwa 5 %, Jugendliche und Heranwachsende in einer Größenordnung von jeweils über 10 %. Bezogen auf die Gewaltkriminalität (Mord, Totschlag, Vergewaltigung, Raubdelikte, gefährliche und schwere Körperverletzung) sind Jugendliche und Heranwachsende zu jeweils 14 % beteiligt, am höchsten ist ihr Anteil bei Raubdelikten, der sich bei Jugendlichen auf 21 % und bei Heranwachsenden auf 18 % beläuft (Polizeiliche Kriminalstatistik, 2013). Von einer Zunahme der Gewaltkriminalität junger Menschen im Zehnjahreszeitraum bis 2013 kann aber nicht die Rede sein. Betrachtet man die Verurteiltenstatistik, so lässt sich im Hinblick auf die schwerwiegendsten Straftaten (Mord und Totschlag) keine Zunahme feststellen. Hingegen zeigt sich bei gefährlichen und schweren Körperverletzungen im vergangenen Fünfzehnjahreszeitraum eine leichte Zunahme, die bei Jugendlichen und Heranwachsenden am stärksten ausgeprägt ist. Ob es sich hierbei um einen echten Häufigkeitsanstieg oder um das Resultat eines erhöhten Anzeigeverhaltens handelt, lässt sich aus der Verurteiltenstatistik nicht ableiten. Ergebnisse der Dunkelfelduntersuchungen zeigen, dass Straftaten von Jugendlichen ubiquitär sind (die Prävalenz für Gewaltdelikte liegt im Jugendalter zwischen 15 und 20 %, für Sachbeschädigung bei rund 25 %), dass es mit zu-
nehmendem Lebensalter zu einem Rückgang der Delikthäufigkeit kommt und dass eine kleine Gruppe von Mehrfachbzw. Intensivtätern (etwa 5 % aller Täter) existiert, die ihre delinquenten Aktivitäten als chronische Straftäter im Erwachsenenalter fortsetzen. Im Hinblick auf die Dunkelfeldbelastung von jungen Menschen mit Migrationshintergrund divergieren die Ergebnisse verschiedener Studien.
Ursachen und Hintergründe Was die Ursachen von Straftaten, insbesondere Gewalttaten junger Menschen betrifft, so sind drei Faktorenbündel zu diskutieren: 1. neurobiologische Risikofaktoren (z. B. männliches Geschlecht, Auffälligkeit der vegetativen Reagibilität), 2. psychologische und soziale Risikofaktoren (z. B. Intelligenzminderung, Schulversagen, ungünstige Familienverhältnisse, neuropsychologische Defizite) und 3. situative Einflüsse (z. B. Alkohol- und Drogenkonsum, Waffenbesitz, Gruppendynamik). Für alle drei Faktorenbündel ist der Einfluss auf die Verursachung und/oder Auslösung gewalttätigen Verhaltens nachgewiesen, ohne dass ihr Beitrag, nicht zuletzt wegen zahlreicher Wechselwirkungen, quantitativ festlegbar ist. Wie aus zahlreichen Studien bekannt ist, stehen die drei Faktorenbündel miteinander in unterschiedlichen Wechselbeziehungen. Als Resultante wirken sie sich bei der Mehrzahl der jungen Straftäter dahingehend aus, dass sie dissoziales Verhalten begünstigen, welches den Charakter der Prädelinquenz hat. Dies ist der häufigste Entwicklungspfad. In der weiteren zeitlichen Folge kommt es zur Begehung von Straftaten, bei vielen jungen Straftätern zunächst ohne Gewaltkomponente, und im weiteren Verlauf dann häufig zu Gewaltdelinquenz, die sich in Vandalismusdelikten und auch in der Gewaltausübung gegen Personen
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8
H. Remschmidt: Editorial
äußern kann, die aber etwa ab dem 25. Lebensjahr einen deutlichen Abschwung erfährt (auf Adoleszenz begrenzte Delinquenz oder sogenannter Diskontinuitätstyp). Ein zweiter Entwicklungspfad ist seltener, er führt nicht über prädelinquentes Verhalten zu einer oft schwerwiegenden Gewalttat. Dieser Verlauf ist typisch für Affekt- und Impulstaten, bei denen die Gewalttat oft die einzige Straftat im Leben bleibt. Der dritte Entwicklungspfad schließlich führt zur Manifestation gewalttätigen Verhaltens im Rahmen einer Gewaltspirale. Sie beginnt mit dissozialem Verhalten, gefolgt von Eigentumsdelikten und Vandalismus, um dann (in manchen Fällen) über Körperverletzung, schwere Körperverletzung und Raub schließlich in den schwerwiegendsten Straftaten (Mord und Totschlag) zu kulminieren. Dieser Verlaufstyp trifft auf die Mehrzahl derjenigen jungen Menschen zu, die ihre kriminelle Karriere fortsetzen und sich zu chronischen Straftätern entwickeln (sogenannter Kontinuitätstyp).
Aufgaben für uns Kinderund Jugendpsychiater Für unser Fachgebiet stehen, neben der Schuldfähigkeitsbegutachtung, hauptsächlich zwei Aufgabengebiete im Vordergrund: • die Reifebeurteilung Heranwachsender nach § 105 Jugendgerichtsgesetz (JGG) und • die Mitwirkung an Behandlungs- und Rehabilitationsmaßnahmen. Was die Reifebeurteilung nach § 105 JGG betrifft, so haben die Neurowissenschaften die klare Erkenntnis zutage gefördert, dass verschiedene Hirnregionen in unterschiedlichem Tempo ausreifen (sogenannte Ungleichgewichtshypothese), wobei die langsamste Ausreifung die kortikalen Regionen betrifft. Und in diesen Regionen (im präfrontalen Kortex und in der temporo-parietalen Hirnregion) sind die stammesgeschichtlich jüngsten Areale lokalisiert, die u. a. die exekutiven Funktionen beherbergen, welche mit Planung, Vorausschau, Abwägungs- und Entscheidungsprozessen zu tun haben. Da Straftaten Heranwachsender vielfach mit einer mangelnden Ausreifung der exekutiven Funktionen, verbunden mit Impulsivität und einer geringen Fähigkeit zur Vorausschau, assoziiert sind, plädieren Herpertz-Dahlmann, Konrad, Lehmkuhl und Warnke (2008), den § 105 JGG unbedingt beizubehalten und nicht aufgrund unbedachter Forderungen in der Öffentlichkeit aufzugeben. Der Verfasser dieses Editorials geht noch weiter. Er ist der Meinung, dass das Jugendstrafrecht generell auf Heranwachsende ausgedehnt werden sollte. Die Erkenntnisse der Neurowissenschaften haben auch in anderen Ländern bereits dazu beigetragen, dass Heranwach© 2016 Hogrefe
sende bzw. junge Erwachsene nach Jugendstrafrecht beurteilt werden, so in den Niederlanden, wo seit dem 01.04.2014 als obere Altersgrenze für die Anwendung des Jugendstrafrechts das 23. Lebensjahr gilt (Übersicht bei Dünkel & Geng, 2014). In Deutschland hätte ein Umdenken in dieser Richtung allerdings zur Folge, dass im JGG der Erziehungsgedanke vom Interventionsgedanken abgelöst werden müsste. Fragt man Heranwachsende, die in Jugendstrafanstalten einsitzen, so ist die einhellige Antwort, dass sie als Volljährige nicht mehr erzogen, wohl aber angeleitet, ausgebildet, unterstützt, beraten oder sogar behandelt werden wollen. Zur Beteiligung von Kinder- und Jugendpsychiatern an Therapie- und Rehabilitationsmaßnahmen haben wir an anderer Stelle (Remschmidt, 2012, 2008) ausführliche Vorschläge gemacht. Zu ihnen gehören: (1) Vorbeugung und Aufklärung von Gewalttaten durch Überwachungsmaßnahmen, (2) Verkürzung der Zeitspanne zwischen Tat und Begutachtung bzw. Verurteilung, (3) Alternativen zur Untersuchungshaft bei jüngeren Straftätern, (4) Alternativen zur Strafhaft (Fußfesselprojekte, Förderung von Qualifikationsmaßnahmen unter geschlossenen Bedingungen), (5) Verbesserung der Förderungs- und Behandlungsbedingungen im Jugendstrafvollzug, (6) bessere Vorbereitung auf die Entlassung und die Wiedereingliederung in die Gesellschaft (7), absolutes Alkoholverbot in öffentlichen Verkehrsmitteln und in sozialen Brennpunkten und (8) mehr Polizeipräsenz in kriminogenen Bezirken. Niemand wird sich der Illusion hingeben, dass durch diese Maßnahmen die Gewaltkriminalität behoben werden kann, sie dürften aber ganz sicher zu deren Reduzierung beitragen.
Literatur Dünkel, F. & Geng, B. (2014). Neuere Erkenntnisse der Neurowissenschaften zur Gehirnentwicklung («brain maturation») und Implikationen für ein Jungtäterstrafrecht. Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform, 97, 387–397. Herpertz-Dahlmann, B., Konrad, K., Lehmkuhl, G. & Warnke, A. (2008). Plädoyer für die Beibehaltung des § 105. Erkenntnisse zur Hirnentwicklung. Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, 36, 149–150. Remschmidt, H. (2008). Möglichkeiten der Beeinflussung von jungen Gefangenen – Acht Thesen. Zeitschrift für Jugendkriminalrecht und Jugendhilfe, 19, 336–342. Remschmidt, H. (2012). Tötungs- und Gewaltdelikte junger Menschen. Heidelberg: Springer-Verlag. Prof. Dr. med. Dr. phil. Dr. h. c. Helmut Remschmidt Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie Universitätsklinikum Gießen und Marburg – Standort Marburg Hans-Sachs-Str. 6, 35039 Marburg, Deutschland remschm@med.uni-marburg.de
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Übersichtsarbeit
Suizid und Suizidalität unter adoleszenten Häftlingen Daniel Radeloff1, Thomas Lempp1, Amna Rauf1, Katharina Bennefeld-Kersten2, Mattias Kettner3 und Christine M. Freitag1 1
Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters, Klinikum der Goethe-Universität Frankfurt am Main 2 Institut für Suizidforschung, Restorf/Höhbeck 3 Institut für Rechtsmedizin, Klinikum der Goethe-Universität Frankfurt am Main
Zusammenfassung: Suizid ist nach dem Unfalltod die zweithäufigste Todesursache in der Adoleszenz. Das Jugendalter ist der Lebensabschnitt mit der höchsten Rate an Suizidversuchen. Neben psychisch kranken Jugendlichen und Heranwachsenden stellen Delinquente eine Risikopopulation für suizidales Verhalten und für Suizid dar. Insbesondere die Gruppe der Inhaftierten weist als Extremform der Jugenddelinquenz ein hohes Suizidrisiko auf, das verglichen mit der Allgemeinbevölkerung gleichen Alters 16- bis 18-fach erhöht ist. Da sich die Insassenstruktur im Jugend- und Erwachsenenhaftvollzug erheblich unterscheidet, sind altersspezifische Forschungsansätze und Präventionsprogramme nötig. Diese Aufgabe kann nicht von Jugendhaftanstalten alleine geleistet werden. Eine enge interdisziplinäre Kooperation von Ärzten der Kinder- und Jugendpsychiatrie, von Psychologen, Gefängnismedizinern, Juristen und Justizvollzugsbeamten ist erforderlich, um die Chance, die der Jugendhaftvollzug für die Suizidprävention mit sich bringt, zu nutzen. Schlüsselwörter: Suizid, Delinquenz, Haftvollzug, Adoleszenz, Gefängnis
Suicide and suicide tendencies in adolescent detainees Abstract: Following accidents, suicide is the second leading cause of death in adolescence. This stage of life has the most suicide attempts of all age groups. In addition to mentally ill juveniles, adolescent delinquents represent a high-risk group for suicidal behavior and completed suicide. In particular, the population of detainees, an extreme form of juvenile delinquency, have a 16- to 18-fold higher risk of suicidal behavior and suicide compared to the general population. Because the composition of juvenile detainees differs greatly from that of detained adults, age-specific scientific approaches and prevention programs are needed. This task cannot be addressed by juvenile detention staff alone, but rather demands close cooperation between adolescent psychiatrists, psychologists, prison medical staff, legal experts and prison officers to use the opportunity for suicide prevention in juvenile detention facilities. Keywords: suicide, delinquency, detention, adolescence, prison
Einleitung Jeder sechste Todesfall in der Altersgruppe der 15- bis 20-Jährigen war im Jahr 2013 ein Suizid. Damit nimmt die Selbsttötung unter Adoleszenten nach dem Unfalltod die zweite Stelle in der altersbezogenen Todesursachenstatistik ein (Statistisches Bundesamt, 2014c). Ein beträchtlicher Anteil der adoleszenten Suizidenten war vor dem Tod psychisch krank. Der Anteil derer, die psychiatrische Hilfe in Anspruch nehmen, ist jedoch gering: Laut einer britischen Studie hatten nur etwa 14 % aller Suizidenten (Alter: 10–19 Jahre, N = 1722) im Vorjahr des Suizids Kontakt zu einem Psychiater oder Psychotherapeuten (Windfuhr et al., 2008). Damit suchten sich Suizidenten vor der letalen Handlung deutlich seltener Hilfe als Patienten, die Suizidversuche durchführten
(Nock et al., 2013). Das Bild, das Kinder- und Jugendpsychiater von dieser Klientel erhalten, basiert also auf den Erfahrungen mit einer Inanspruchnahme-Population, die nur einen kleinen Ausschnitt aller adoleszenten Suizidenten darstellt. Es erscheint zweifelhaft, ob sie repräsentativ ist. Es empfiehlt sich also, neben der Frage nach der optimalen klinischen Versorgung suizidaler Patienten die komplementäre Frage zu stellen: Welche Jugendlichen sehen wir nicht und warum nicht? Während in der Bevölkerung das Bild des depressiven Menschen prototypisch für Suizidalität steht, entzieht sich die Risikogruppe der impulsiv-aggressiven und delinquenten Jugendlichen weitgehend der öffentlichen Wahrnehmung. Delinquente Jugendliche zeichnen sich durch eine geringe aktive Inanspruchnahme von psychiatrischen Behandlungsangeboten aus; ihre Behandlung und insbeson-
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D. Radeloff et al., Suizid und Suizidalität unter adoleszenten Häftlingen
dere die dauerhafte therapeutische Anbindung ist eine große Herausforderung. Dabei stellen gerade junge Straftäter – neben Jugendlichen, die psychisch krank sind, deren gesellschaftliche Einbettung reduziert ist oder die einen missbräuchlichen Substanzkonsum betreiben (Bridge, Goldstein & Brent, 2006) – eine wichtige Risikogruppe für Suizid dar (Evans, Hawton & Rodham, 2004; Thompson, Ho & Kingree, 2007). Insbesondere die Population der Inhaftierten weist als Extremform der Jugenddelinquenz ein hohes Suizidrisiko auf (World Health Organization, 2007), das verglichen mit der Allgemeinbevölkerung gleichen Alters 16- bis 18-fach erhöht ist (Fazel, Benning & Danesh, 2005; Radeloff et al., 2014). Das relative Risiko für Suizid ist für adoleszente Häftlinge höher als für erwachsene (Fazel & Benning, 2009; Fazel et al., 2005; Opitz-Welke, Bennefeld-Kersten, Konrad & Welke, 2013; Radeloff et al., 2014). Jugendhaftanstalten sind somit in besonderem Maße durch Suizidversuche und Suizide herausgefordert. Mit dieser Übersichtsarbeit möchten wir dazu beitragen, dass Suizidalität in Haftanstalten eine höhere Aufmerksamkeit auch im Fachgebiet der Kinder- und Jugendpsychiatrie erfährt, die hier neben anderen beteiligten Helfersystemen entscheidend an Interventionen beteiligt sein sollte.
Methodik Zunächst sollen auf der Grundlage einer selektiven Literaturrecherche die rechtlichen und kriminologischen Hintergründe und Bedingungen für Suizidalität und Suizid in Jugendhaftanstalten erläutert werden. Anschließend wird in den Abschnitten Suizidalität und Suizid in Haft die aktuelle empirische Datenlage separat für beide Entitäten auf der Grundlage einer systematischen Literaturrecherche dargestellt. Hierzu wurde eine Literaturrecherche in PubMed und PsycINFO durchgeführt (Stand: 01.04.2015). Dabei wurde nach Artikeln in Fachzeitschriften gesucht, die folgenden Suchkriterien genügen: (1) Verwendung des Begriffs «suicide» oder des Präfixes «suicid» im Titel, (2) Verwendung von englischsprachigen Synonyma für «Haftanstalt» / «Häftling» / «inhaftiert» im Titel sowie (3) Verwendung von englischsprachigen Synonyma für «Adoleszente» / «Adoleszenz» / «adoleszent» in Titel oder Abstract. Die Suche erzielte 79 Treffer. Von diesen wurden 13 Studien ausgeschlossen, weil die Publikationen nicht die gesuchte Thematik aufgriffen (7 Studien), die Ergebnisse nicht auf westliche Industriestaaten übertragbar erschienen (5 Studien) oder die Publikationen sich auf die Darstellung einzelner Fallvignetten beschränkten (1 Studie). © 2016 Hogrefe
Neben der systematischen Literaturrecherche wurden Leitlinien zur Suizidprävention in Haftanstalten der Weltgesundheitsorganisation (WHO, World Health Organization, 2007) und der US-amerikanischen Fachgesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie (AACAP, Penn & Thomas, 2005) berücksichtigt. Leitlinien zur Suizidprävention im Jugendhaftvollzug sind uns aus dem deutschsprachigen Raum nicht bekannt. Weiterhin fanden Publikationen des Statistischen Bundesamts und den Autoren bekannte Veröffentlichungen in Fachbüchern Eingang in diesen Artikel. Für den Abschnitt Suizidprävention in Haft lagen nur wenige Originalarbeiten über den Altersabschnitt der Adoleszenten vor. Hier wird vorwiegend auf Veröffentlichungen in Fachbüchern und auf Leitlinien zurückgegriffen.
Rechtlicher Hintergrund: neue Jugendvollzugsgesetze Am 31.05.2006 stellte das Bundesverfassungsgericht fest, dass der Strafvollzug für Jugendliche auf eine eigene gesetzliche Grundlage zu stellen sei (Bundesverfassungsgericht, 2006; Kühl, 2012). Zuvor existierte in Deutschland zwar ein allgemeines Strafvollzugsgesetz, der Jugendstrafvollzug hingegen wurde über bundeseinheitliche Verwaltungsvorschriften geregelt. Mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts wird den spezifischen Anforderungen der in Entwicklung befindlichen Jugendlichen Rechnung getragen: Um das Haftziel eines künftig straffreien Lebens zu ermöglichen, sei in der Vollzugsgestaltung ein besonderer Schwerpunkt auf «soziales Lernen sowie die Ausbildung von Fähigkeiten und Kenntnissen, die einer künftigen beruflichen Integration dienen» zu setzen (Bundesverfassungsgericht, 2006). Auch auf die besondere Haftempfindlichkeit Jugendlicher sei angemessen einzugehen, etwa in Form einer Unterbringung in differenzierten Wohngruppen und einer Besuchsregelung, die eine altersentsprechende Kontaktpflege zu Familienangehörigen erlaube. Im Rahmen der Föderalismusreform gingen wesentliche Gesetzgebungskompetenzen an die Bundesländer über, die sukzessive bis zum 01.01.2008 erstmalig Jugendstrafvollzugsgesetze verabschiedeten (Kühl, 2012).
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D. Radeloff et al., Suizid und Suizidalität unter adoleszenten Häftlingen
Die Population der adoleszenten Häftlinge Epidemiologische und kriminologische Aspekte des Jugendstrafvollzugs Im Jahr 2012 wurden rund 90 000 Jugendliche und Heranwachsende auf der Grundlage des Jugendgerichtsgesetzes verurteilt (Statistisches Bundesamt, 2014a). Von diesen traten 9.7 % eine Haftstrafe an (Statistisches Bundesamt, 2014b). Der Anteil der adoleszenten Strafgefangenen an der altersentsprechenden Allgemeinbevölkerung beträgt etwa 0.1 % (Statistisches Bundesamt, 2014b). Um das Phänomen Suizid in Haft zu verstehen, ist es wichtig zu erkennen, dass die Insassenstruktur im Jugendstrafvollzug also keinen repräsentativen Ausschnitt der Bevölkerung darstellt. Es handelt sich vielmehr um eine Population, die sowohl im Hinblick auf die Allgemeinbevölkerung als auch in Bezug auf die Gruppe der Delinquenten hoch selektiert ist und sich in vielfältiger Weise von der altersentsprechenden Allgemeinbevölkerung unterscheidet. Betrachtet man die Altersstruktur der Insassen, so ist der Begriff Jugendstrafvollzug irreführend: Jugendliche, im Sinne des Strafgesetzbuches also 14- bis 18-Jährige, stellen nur etwa 10 % der Haftpopulation in Jugendstrafvollzugsanstalten dar; Heranwachsende (Alter: 18–21 Jahre, Anteil: etwa 50 %) und junge Erwachsene (Alter: 21–24 Jahre, Anteil: etwa 40 %) bilden die weitaus größeren Gruppen (Dünkel & Geng, 2007). Jungen und Männer sind in Jugendhaftanstalten mit etwa 96 % der Insassen deutlich überrepräsentiert (Statistisches Bundesamt, 2014b). Entsprechend sind Erkenntnisse über vollzogene Haftsuizide in der Regel gleichzusetzen mit Erkenntnissen über Suizide männlicher Gefangener. Aus Untersuchungen über Suizidversuche unter Häftlingen ist aber zu vermuten, dass durchaus geschlechtsspezifische Unterschiede bestehen, beispielsweise im Hinblick auf die assoziierte Psychopathologie (Plattner et al., 2007). Das Bildungsniveau unter Strafgefangenen im Jugendhaftvollzug ist gering: Nur etwa die Hälfte hat einen Schulabschluss erworben, die überwiegende Mehrheit hat keine Ausbildung abgeschlossen. Vor dem Haftantritt waren 80 bis 90 % der Gefangenen arbeitslos (Kerner & Janssen, 1996; Walter, 1999). Die Deliktstruktur adoleszenter Häftlinge unterlag in den letzten Jahren einem Wandel (Dünkel & Geng, 2007; Kühl, 2012): Während der Anteil der Tötungsdelikte weitgehend konstant blieb (2000: 4.5 %, 2010: 4.8 %), verdoppelte sich der Anteil der Körperverletzungsdelikte in den
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letzten Jahren nahezu (2000: 13.9 %; 2010: 24.3 %). Der Anteil der Insassen, die wegen Diebstahls verurteilt wurden, war hingegen rückläufig. Etwa 50 % der Insassen wurden wegen einer Gewaltstraftat inhaftiert. Diese gewaltbereite Klientel stellt eine große Herausforderung für den Jugendstrafvollzug dar. Vergleicht man den Jugendstrafvollzug mit dem Erwachsenenstrafvollzug, so ist festzustellen, dass sich die Insassen- und Deliktstruktur sowie die Haftdauer unterscheiden (Dünkel, 2011; Statistisches Bundesamt, 2014a). Ursache könnte zum einen sein, dass einige Straftaten gehäuft in spezifischen Lebensphasen auftreten. Zum anderen prägt das zugrunde liegende Strafrecht die Zusammensetzung der Haftpopulation: Da nach dem Jugendstrafgesetz der geschlossene Strafvollzug als Ultima Ratio gilt, ist diese Population einer starken Selektion unterworfen. Dies führt möglicherweise zu einem hohen Anteil von Seriendelikten, hoher Impulsivität und Intensität der Straftaten im Jugendstrafvollzug. Naheliegend ist deshalb, dass Erkenntnisse der Suizidprävention aus dem Erwachsenenstrafvollzug nicht notwendigerweise im Jugendstrafvollzug Gültigkeit haben.
Theorie der importierten Risikofaktoren Die erhöhte Suizidalität unter Inhaftierten wird durch zwei Theorien, der Theorie der importierten Risikofaktoren und der Theorie der suizidfördernden Haftfaktoren (Dye, 2010; Frottier, Frühwald, Ritter & König, 2001; Gallagher & Dobrin, 2006a; Hayes, 2012), erklärt. Auf diese Theorien soll in diesem und im folgenden Abschnitt eingegangen werden. Nach erstgenannter Theorie zeigen inhaftierte Jugendliche bereits vor dem Haftantritt überdurchschnittlich häufig Verhaltensweisen und Persönlichkeitsmerkmale, die mit einem erhöhten Risiko für Suizidalität verbunden sind. Diese Vulnerabilität wird mit dem Haftantritt in die Haftumgebung importiert. Das Suizidrisiko wäre für diese Population also auch dann erhöht, wenn keine Inhaftierung erfolgt wäre. Im Folgenden werden Daten gezeigt, die diese Theorie unterstützen. In der Allgemeinbevölkerung westlicher Industriestaaten sind nachstehend aufgeführte Risikofaktoren für vollzogenen Suizid wesentlich (Bridge et al., 2006; Pitman, Krysinska, Osborn & King, 2012): männliches Geschlecht, psychische Störungen einschließlich Substanzmissbrauch oder -abhängigkeit und Suizidversuche in der Vorgeschichte. Auch für junge Gefangene konnte ein Zusammenhang zwischen suizidalem Verhalten und diesen Risikofaktoren belegt werden (Freedenthal, Vaughn, Jenson & Howard, 2007; Goss, Peterson, Smith, Kalb & Brodey, 2002; Howard, Lennings & Copeland, 2003;
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Kiriakidis, 2008; Putnins, 2005; Wasserman & McReynolds, 2006). Die Prävalenz dieser Faktoren ist in Jugendhaftanstalten ausgesprochen hoch. So liegt der Anteil männlicher Gefangener wie bereits erwähnt bei etwa 96 % (Alter: 16–21 Jahre, Zeitraum: 2000–2010) (Statistisches Bundesamt, 2014b). Suizidversuche in der Vorgeschichte gelten als Faktor mit dem höchsten prädiktiven Wert für einen vollzogenen Suizid (Bridge et al., 2006). Zwischen 11 und 23 % der adoleszenten Häftlinge berichten, vor Haftantritt bereits einen Suizidversuch durchgeführt zu haben (Abram et al., 2008; Bhatta, Jefferis, Kavadas, Alemagno & Shaffer-King, 2014; Howard et al., 2003; Wasserman, McReynolds, Schwalbe, Keating & Jones, 2010). Substanzkonsum ist in Haft ein ubiquitär vorkommendes Phänomen (Teplin, Abram, McClelland, Dulcan & Mericle, 2002). Nach einer deutschen Studie wiesen rund 64 % der Häftlinge im Jugendstrafvollzug einen «risikohaften Alkoholkonsum» auf; bei rund 67 % wurde ein missbräuchlicher Gebrauch von Drogen oder eine Substanzabhängigkeit festgestellt (Retz et al., 2007). Laut einer US-amerikanischen Studie befanden sich 17 % der jugendlichen Häftlinge bereits vor dem Haftantritt wegen Substanzkonsums in Behandlung, 13 % berichteten von Substanzkonsum innerhalb der Familie (Bhatta et al., 2014). Auch die Prävalenz psychischer Störungen ist unter adoleszenten Häftlingen wesentlich höher als in der Allgemeinbevölkerung (Fazel, Doll & Långström, 2008). Die Kriterien für eine Sozialverhaltensstörung werden auch wegen der hohen Symptomüberlappung mit Delinquenz von etwa 50 % der inhaftierten Jugendlichen erfüllt (Fazel et al., 2008). Die Prävalenz von Persönlichkeitsstörungen im Jugendhaftvollzug liegt ungeachtet des Alterskriteriums zwischen 36 und 92 % (Gosden, Kramp, Gabrielsen & Sestoft, 2003; Lader, Singleton & Meltzer, 2003; Kaszynski et al., 2014). Dabei ist die dissoziale Persönlichkeitsstörung mit einer Prävalenz von etwa 90 % an erster Stelle zu nennen, gefolgt von der Borderline-Persönlichkeitsstörung (m: 12.5 %, w: 41.4 %), die zumeist komorbide auftritt. Aber auch dann, wenn Sozialverhaltens- und Persönlichkeitsstörungen unberücksichtigt bleiben, erfüllen etwa 60 % der inhaftierten Adoleszenten die Kriterien für eine oder mehrere psychische Störungen (Teplin et al., 2002). Komorbide psychische Störungen sind sehr häufig (Abram, Teplin, McClelland & Dulcan, 2003). Eine Metaanalyse vorwiegend anglo-amerikanischer Daten über adoleszente Häftlinge (Fazel et al., 2008, N = 16750, Durchschnittsalter: 15.6 Jahre) gibt die Prävalenz für psychotische Störungen mit 3 % an; eine depressive Störung lag bei 11 % der männlichen und 29 % der weiblichen Häftlinge vor. Die Prävalenz der Aufmerksamkeitsdefizit- / Hyperaktivitätsstörung (ADHS) war in dieser Studie interessanterweise bei Mädchen (18.5 %) höher als bei Jungen © 2016 Hogrefe
(11.7 %) (Fazel & Danesh, 2002). In einer deutschen Erhebung wird die Prävalenz von ADHS im Jugendstrafvollzug jedoch mit 45 % angegeben (Rösler et al., 2004). Die Persönlichkeitsmerkmale Impulsivität und Neurotizismus gelten als Risikofaktoren für suizidales Verhalten unter Jugendlichen (Bridge et al., 2006). Im Jugendhaftvollzug zeigen Gefangene signifikant erhöhte Werte für Impulsivität (Zhou et al, 2014). Angesichts der hohen Dichte von Risikofaktoren für Suizid stellen adoleszente Häftlinge eine große Herausforderung dar. Neben kinder- und jugendpsychiatrischen Kliniken und Praxen gibt es wohl keine zweite Institution, die eine adoleszente Klientel mit einem ähnlich hohen Suizidrisiko betreut, wie die Jugendhaftanstalten.
Theorie der suizidfördernden Haftfaktoren Mit Beginn des Haftvollzugs wird die vulnerable Population der Straftäter mit unterschiedlichen haftspezifischen Stressoren konfrontiert, die eine hohe Anpassungsleistung verlangen (Dye, 2010; Gallagher & Dobrin, 2006a; Hayes, 2012). Zu diesen Stressoren gehört die Trennung von wichtigen, Stabilität und Identität stiftenden Bezugspersonen (Freunde, Peergroup, Familie) (Roberts & Bender, 2006). Weiterhin gelten das Scheitern der bisherigen Lebensführung und die damit verbundene Phase der Perspektivlosigkeit als belastend. Die Inhaftierung geht in vielen Fällen mit Gefühlen von Kontroll- und Autonomieverlust einher sowie mit Ängsten vor Mithäftlingen und Gewalt (World Health Organization, 2007). Schuld- und Schamgefühle werden häufig seitens der Gefangenen berichtet (Hayes, 2005b). Für einige Häftlinge stellt der nächtliche Einschluss eine große Herausforderung dar. Bei Gefangenen in Untersuchungshaft besteht ein hohes Maß an Unsicherheit im Hinblick auf Urteil und Strafmaß, aber auch hinsichtlich der vermuteten Lebensbedingungen nach Überstellung in die Strafhaft. Betrachtet man die Bedingungen für Suizid aus einer gesamtgesellschaftlichen Perspektive, so sind nach der interpersonell-psychologischen Theorie nach Joiner (Joiner, 2007) diejenigen einem hohen Suizidrisiko ausgesetzt, die ein geringes soziales Zugehörigkeitsgefühl («low belongingness») empfinden und sich gleichzeitig als Belastung für Familie und Freunde wahrnehmen («perceived burdensomeness»). Es ist anzunehmen, dass beide Faktoren unter Häftlingen vermehrt vorkommen. Aus Erhebungen an erwachsenen Häftlingen weiß man, dass einzelne Haftabschnitte mit einem besonders hohen Suizidrisiko verbunden sind. So gelten die ersten Hafttage besonders im Untersuchungshaftvollzug als Risikoperiode für Suizidhandlungen (Bennefeld-Kersten, 2009). Dies ist
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möglicherweise dem unvermittelten Umbruch der Lebensumstände bei unvorhergesehener Aufnahme in Untersuchungshaft zuzuschreiben. Eventuell spielen dabei auch Drogenentzugssymptome eine Rolle (Humber, Piper, Appleby & Shaw, 2011). Als zweiter kritischer Abschnitt gilt der Zeitraum um die Urteilsverkündung. Im Erwachsenenstrafvollzug wird Überbelegung in Haftanstalten als möglicher Risikofaktor kontrovers diskutiert (Bennefeld-Kersten, 2009; Frühwald, Frottier, Ritter, Eher & Gutierrez, 2002; Hayes, 2005b; Rabe, 2012). Im Jugendhaftvollzug war in den 1990er Jahren ein starker Anstieg der Gefangenenzahlen zu verzeichnen (Statistisches Bundesamt, 2014b), welcher einerseits durch gestiegene Gewaltdelikte, andererseits durch eine restriktivere Entlassungspraxis erklärt wird (Dünkel & Geng, 2007). Inzwischen sind die Gefangenenzahlen rückläufig, was u. a. im demografischen Wandel begründet ist. Auch die Auslastung der Jugendhaftanstalten ist infolge der geringeren Belegung und der durch die neue Gesetzgebung angestoßenen baulichen Maßnahmen rückläufig (Belegungsauslastung: 2001: 104.5 %, 2010: 86.5 %) (Dünkel & Geng, 2011; Kühl, 2012). In dieser Zeit nahm die Zahl der Suizide in deutschen Jugendhaftanstalten zwar ab, jedoch nicht stärker als in der Allgemeinbevölkerung (Radeloff et al., 2014). Eine positive Entwicklung nahm seit Inkrafttreten der Landesjugendstrafvollzugsgesetze (2008) die personelle Ausstattung der Haftanstalten. Während die Personalstellen zwischen 2006 und 2010 um 8 % anstiegen, war der Zuwachs der Berufsgruppen, die einen Auftrag in Behandlung oder Resozialisierung erfüllen, erfreulich hoch (Sozialpädagogen / -arbeiter: + 65.4 %, Psychologen + 22.6 %). Im Jahr 2010 kamen auf eine Stelle für einen Sozialarbeiter durchschnittlich 17.3 Gefangene (Dünkel & Geng, 2006).
Suizidalität in Haft Suizidales Verhalten ist unter inhaftierten Jugendlichen weit stärker verbreitet als bei nicht-inhaftierten Gleichaltrigen. So berichteten junge Häftlinge dreimal häufiger von Suizidgedanken als gleichaltrige Schüler (Suk et al., 2009). In der Selbstauskunft geben zwischen 21 und 33 % der Häftlinge an, in den vergangenen 12 Monaten Suizidgedanken gehabt zu haben (Abram et al., 2008; Suk et al., 2009). Etwa jeder zehnte adoleszente Häftling hatte im Jahr vor Haftantritt einen Suizidversuch unternommen (Abram et al., 2008). Die Lebenszeitprävalenz von Suizidversuchen unter adoleszenten Häftlingen liegt zwischen 14 % und 24 % (Howard et al., 2003; Wasserman et al., 2010). Analog zur Allgemeinbevölkerung ist die Häufig-
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keit von Suizidgedanken und Suizidversuchen unter adoleszenten Häftlingen beim weiblichen Geschlecht höher als beim männlichen Geschlecht (Abram et al., 2008; Wasserman & McReynolds, 2006). Unter Serienstraftätern fand sich laut einer US-amerikanischen Studie eine erhöhte Prävalenz von Suizidversuchen (Wasserman et al., 2010). Der hohen Prävalenz von Suizidgedanken steht ein zurückhaltendes Kommunikationsverhalten der Häftlinge gegenüber: Nur wenige Insassen berichten dem Personal der Jugendhaftanstalten aktiv von Suizidgedanken (Hales, Freeman, Edmondson & Taylor, 2014; Way, Kaufman, Knoll & Chlebowski, 2013). Weniger als die Hälfte der Jugendlichen mit Suizidideen teilte diese einer anderen Person mit (Abram et al., 2008). Ein wichtiger Baustein institutioneller Präventionsstrategien ist daher die Erhebung suizidaler Gedanken und Verhaltensweisen unmittelbar bei Haftantritt und im Rahmen regelmäßiger Verlaufsuntersuchungen (Roberts & Bender, 2006). Der Zusammenhang zwischen Psychopathologie und Suizidversuchen in Jugendhaft unterliegt deutlichen Geschlechtsunterschieden (Plattner et al., 2007). Bei Mädchen scheint das Spektrum der mit Suizidversuchen assoziierten Störungen umschriebener zu sein. Insbesondere spielt hier das Vorliegen einer Posttraumatischen Belastungsstörung eine zentrale Rolle (Abram et al., 2008). In Übereinstimmung berichteten weibliche Häftlinge, die Suizidversuche durchgeführt hatten, häufiger von einschneidenden Lebensereignissen (Rohde, Seeley & Mace, 1997; Suk et al., 2009). In anderen Erhebungen wurde für beide Geschlechter ein Zusammenhang zwischen erlebtem sexuellen Missbrauch in der Vorgeschichte und Suizidversuchen in Haft genannt (Bhatta et al., 2014). Beim männlichen Geschlecht sind depressive Störungen besonders bedeutsam (Abram et al., 2008; Putnins, 2005; Wasserman & McReynolds, 2006): Das Risiko für Suizidversuche unter männlichen depressiven Häftlingen war ebenso hoch wie das weiblicher Gefangener (Wasserman & McReynolds, 2006). Darüber hinaus werden ADHS und die generalisierte Angststörung in Zusammenhang mit Suizidversuchen in Jugendhaft gebracht (Abram et al., 2008; Putnins, 2005). Weiterhin werden von suizidalen Häftlingen häufig inadäquate Copingstrategien (Chagnon, 2007; Rohde et al., 1997) angewendet. Auch auf der Handlungsebene sind dysfunktionale Bewältigungsstrategien mit Suizidversuchen assoziiert: Selbstverletzendes Verhalten in nicht-suizidaler Absicht kommt in Haft häufiger vor als in der Allgemeinbevölkerung und ist besonders bei hoher Frequenz der Selbstverletzungen mit Suizid assoziiert (Hawton, Linsell, Adeniji, Sariaslan & Fazel, 2014). Ein weiterer wichtiger Einflussfaktor ist Gewalt – sowohl als Opfer als auch als Täter. So werden Suizidversuche
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zum einen häufiger von Häftlingen durchgeführt, die körperlicher Gewalt ausgesetzt sind oder waren (Buttar, Clements-Nolle, Haas & Reese, 2013; Howard et al., 2003; Kiriakidis, 2008). Zum anderen finden sich unter jungen Gewaltstraftätern höhere Raten von Suizidversuchen (Kiriakidis, 2008; Wasserman & McReynolds, 2006). Impulsivität wird als möglicher gemeinsamer, zugrunde liegender Einflussfaktor auf Suizidversuche in Jugendhaftanstalten diskutiert (Carli et al., 2010; Putnins, 1995, 2005; Rohde et al., 1997).
Suizide in Haft Suizid ist die häufigste Todesursache in Jugendhaftanstalten (Gallagher & Dobrin, 2006a). Während vergleichsweise viele Studien das Thema Suizidgedanken und Suizidversuche in Haftanstalten aufgreifen, sind verlässliche Daten zu Todesfällen durch Suizid rar. Bisher setzen sich zehn Originalarbeiten in der Hauptsache mit dem Thema adoleszenter Haftsuizide auseinander (Dooley, 1997; Farand, Chagnon, Renaud & Rivard, 2004; Fazel et al., 2005; Flaherty, 1983; Gallagher & Dobrin, 2006a; Hayes, 1994, 2005a, 2009; Memory, 1989; Radeloff et al., 2014), weitere sechs Studien streifen das Thema unter anderer wissenschaftlicher Schwerpunktsetzung (Bird, 2008; Fazel & Benning, 2009; Humber et al., 2011; Roberts & Bender, 2006; Webb, Långström, Runeson, Lichtenstein & Fazel, 2011; Webb et al., 2013). Dabei sind die vorliegenden Studien sehr heterogen: Sie unterscheiden sich hinsichtlich Größe und Vollständigkeit der untersuchten Population, Art der untersuchten Einrichtungen und Einschluss von Kontrollgruppen. Darüber hinaus ist das Phänomen Haftsuizid erheblich von nationalen gesellschaftlichen Einflüssen abhängig. So unterscheidet sich die Strafgesetzgebung in westlichen Industriestaaten deutlich, z. B. im Alter der Strafmündigkeit (Hazel, 2008). Dies spiegelt sich in der Zusammensetzung der Haftpopulation wider. Eine Vergleichbarkeit ist also nur bedingt gegeben. Zunächst soll der Frage nachgegangen werden, welchen Anteil Delinquente und Häftlinge an der Gesamtzahl der Suizidtoten haben. In einer Totalerhebung aller dänischen Suizide im Jugendalter und jüngeren Erwachsenenalter (15–41 Jahre; N = 2384) zeigte sich, dass bei rund der Hälfte aller Suizidenten ein Eintrag im nationalen kriminologischen Register vorlag (Webb et al., 2013). Eine schwedische Erhebung zeigt, dass 31 % der Suizidenten (N = 1482), die sich im jungen Erwachsenenalter das Leben nahmen, im Alter zwischen 15 und 19 Jahren verurteilt worden waren (Bjorkenstam, Bjorkenstam, Vinnerljung, Hallqvist & Ljung, 2011). Etwa ein Drittel aller adoleszenten Suizidenten (N = 177) im kanadischen Bundestaat Quebec hatte © 2016 Hogrefe
Kontakt zur Jugendgerichtsbarkeit oder zu Einrichtungen der Jugendhilfe (Farand et al., 2004). In einer deutschen Erhebung mit einer vergleichsweise kleinen Stichprobe (N = 78) zeigte sich, dass bei 15 % aller adoleszenten Suizidenten eine Straftat vorlag (Radeloff et al., 2012). In einer deutschen Totalerhebung aller adoleszenten Haftsuizide (N = 79) konnte gezeigt werden, dass 2.3 % aller Suizide (N = 3484) im Alter zwischen 16 und 21 Jahren von Häftlingen durchgeführt wurden, während nur etwa 0.1 % dieser Altersgruppe inhaftiert waren (Radeloff et al., 2014). Der hohe Anteil delinquenter Jugendlicher unter den Suizidenten verdeutlicht, dass dieser Population im Rahmen nationaler Präventionsansätze besondere Beachtung zukommen sollte. Zwei Totalerhebungen untersuchten das relative Risiko für Suizid unter adoleszenten gegenüber erwachsenen Gefangenen (Fazel et al., 2005; Radeloff et al., 2014). Übereinstimmend fand sich in der englisch-walisischen und der deutschen Erhebung, dass das höchste relative Risiko für Haftsuizide in der Adoleszenz vorliegt. Das Suizidrisiko männlicher adoleszenter Gefangener war im Vergleich zu Gleichaltrigen der Allgemeinbevölkerung 18-fach (GB, Alter: 15–18 Jahre) bzw. 16-fach (D, Alter: 16–21 Jahre) erhöht. Unter männlichen erwachsenen Häftlingen hingegen war das Suizidrisiko im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung nur etwa 5-fach erhöht (Fazel et al., 2005; Opitz-Welke et al., 2013; Radeloff et al., 2014). Zwei US-amerikanische Studien berichten ein lediglich 3- bzw. 4.6-fach erhöhtes Suizidrisiko unter adoleszenten Gefangenen (Gallagher & Dobrin, 2006a; Memory, 1989). Dabei ist zu beachten, dass die Fallzahlen dieser beiden Studien relativ gering (Gallagher: N = 20, Memory: N = 28) und die Kontrollgruppen hinsichtlich des Alters ungenau abgestimmt waren. Geschlechtsspezifische Unterschiede sind schwer zu untersuchen, da weibliche Gefangene eine Minderheit im Jugendhaftvollzug darstellen. Zwar wurden alle Suizide jugendlicher Häftlinge, über die berichtet wurde, ausschließlich vom männlichen Geschlecht durchgeführt (Fazel & Benning, 2009; Radeloff et al., 2014). Dies ist aber zunächst auf die geringe Anzahl weiblicher Gefangener zurückzuführen. Über das Altersspektrum hinweg betrachtet, weisen Frauen im jungen Erwachsenenalter das höchste relative Risiko mit einer 44-fach erhöhten Suizidhäufigkeit in Haft auf (Fazel & Benning, 2009). Insgesamt scheint Delinquenz bei Frauen stärker mit Suizid assoziiert zu sein als bei Männern: Waren Frauen im jungen Erwachsenenalter in einem Zentralregister des Justizsystems gemeldet, erhöhte sich das Risiko für Suizid stärker als bei Männern gleichen Alters (Webb et al., 2013). Erkenntnisse aus dem Erwachsenenstrafvollzug können nicht unmittelbar auf Jugendhaftanstalten übertragen werden. Dies wird beispielsweise an einer Erhe-
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bung deutlich, die den Einfluss des Haftmodus (Untersuchungshaft oder Strafhaft) auf das Suizidrisiko untersuchte. Bei erwachsenen Häftlingen waren die Suizidraten (SR) im Untersuchungshaftvollzug (SR = 320.2) 5-fach höher als in Strafhaft (SR = 64.7). Unter jungen Gefangenen zeigten sich im Hinblick auf den Haftmodus nur geringe Unterschiede (Untersuchungshaft: SR = 144.0; Strafhaft: SR = 95.9) (Radeloff et al., 2014). Es sind also weitere Anstrengungen nötig, um altersspezifische Risikoprofile zu entwickeln und daraus empirisch gesicherte Präventionsmaßnahmen für adoleszente Häftlinge abzuleiten zu können.
Suizidprävention im Haftvollzug Suizidprävention im Haftvollzug ist eine vielschichtige und herausfordernde Aufgabe für alle beteiligten Berufsgruppen. Im Mittelpunkt steht dabei die Installation einer Präventionskultur, die alle Mitarbeiter erreicht. In den aktuellen WHO-Richtlinien wird empfohlen, verschiedene Schlüsselkomponenten zu etablieren (World Health Organization, 2007): Teil des Präventionskonzepts der einzelnen Vollzugsanstalten ist die regelmäßige Schulung der Mitarbeiter zum Thema Suizid; es wird empfohlen, Kommunikationswege und Handlungsanweisungen verbindlich zu definieren, um im Umgang mit Inhaftierten, die einem hohem Suizidrisiko ausgesetzt sind, Orientierung zu geben. Weiterhin sollen schwere Suizidversuche und Suizide regelhaft nachbesprochen werden. Haftbedingungen seien so zu gestalten, dass der haftimmanente Stress reduziert wird, etwa in der Betonung von unterstützenden Beziehungen zwischen Gefangenen und dem Personal sowie einem möglichst umfassenden Schutz vor Gewalt unter Gefangenen. Bauliche Maßnahmen können zum Gelingen der Präventionsstrategien beitragen, indem beispielsweise die Möglichkeit von Erhängungsversuchen reduziert wird (vollverglaste Fenster anstelle von Gittern und Fensterflügeln, Belüftung und Wärmetauscher anstelle von Heizkörpern) (Rademacher, 2015). Eine zentrale Stellung in der Suizidprävention der Haftanstalten nimmt der Mental-Health-Ansatz der Suizidprävention (Wolfersdorf, 2014) ein, also die konsequente Diagnostik und Behandlung psychisch kranker Häftlinge (Hayes, 2009). Mit Screening-Untersuchungen zum Zeitpunkt des Haftantritts wird das Ziel verfolgt, das initiale Suizidrisiko einzuschätzen und Hinweise auf schwere psychische Störungen zu erhalten (Lohner, 2015; Penn & Thomas, 2005; Roberts & Bender, 2006). Ein besonders frühzeitiges Screening erscheint deshalb notwendig, da gerade die ersten 48 Stunden in Untersuchungshaft mit dem höchsten
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Suizidrisiko einhergehen, wie zumindest Erhebungen im Erwachsenenstrafvollzug nahelegen (Bennefeld-Kersten, 2009; Cox & Morschauser, 1997; World Health Organization, 2007). In einer US-amerikanischen Studie über adoleszente Häftlinge konnte gezeigt werden, dass Einrichtungen, die ein frühzeitiges Screening durchführen, niedrigere Suizidraten aufweisen (Gallagher & Dobrin, 2006b). Einrichtungen, die ein Screening innerhalb der ersten 24 Stunden durchführten, verzeichneten zudem geringere Raten schwerer Suizidversuche als solche, in denen die Aufnahmeerhebung im Laufe der ersten Haftwoche stattfand (Gallagher & Dobrin, 2005). In Krisensituationen wird ausgehend vom anglo-amerikanischen Raum im Erwachsenenstrafvollzug (Junker, Beeler & Bates, 2005) zunehmend der Ansatz der «peer suicide prevention» (Hall & Gabor, 2004) in Form von Listener-Modellen verfolgt (Breuer & Pecher, 2015). Dabei werden Neuzugänge, bei denen durch Fachdienste eine «latente Suizidalität» festgestellt wurde, mit einem speziell ausgebildeten, engmaschig betreuten Gefangenen für kurze Zeit gemeinschaftlich untergebracht. Berater («Listener») und Ratsuchender teilen dabei eine ähnliche Lebenserfahrung, was die Identifikation des Häftlings mit dem Listener erleichtert und damit den Austausch über die Herausforderungen des Haftlebens fördert. Das Vorliegen von akuter Suizidalität schließt einen Einsatz von Listeners jedoch kategorisch aus (Breuer & Pecher, 2015). Nach der initialen Screening-Untersuchung bei Haftantritt sollten regelmäßige Verlaufsuntersuchungen durchgeführt werden, um die aktuelle psychische Gesundheit des einzelnen Gefangenen zu erfassen (Hayes, 2013; Penn & Thomas, 2005). Ergeben sich Hinweise auf eine psychiatrische Erkrankung oder auf eine Substanzabhängigkeit sollte eine fachärztliche Vorstellung des Gefangenen erfolgen (Penn & Thomas, 2005). Darüber hinaus erscheinen folgende Maßnahmen sinnvoll, um die Versorgung der Häftlinge sicherzustellen (Abram et al., 2008; Lempp & Radeloff, 2015): Schulung der Mitarbeiter in Jugendhaftanstalten mit dem Ziel, altersspezifische Symptome jugendpsychiatrischer Störungen im Haftalltag zu erkennen; Fortbildung von Gefängnismedizinern und Anstaltspsychologen in der Diagnostik jugendpsychiatrischer Störungen sowie der Auf- und Ausbau von niederschwelligen jugendpsychiatrischen Behandlungsmöglichkeiten innerhalb der Jugendhaftanstalten (Penn & Thomas, 2005; Roberts & Bender, 2006). Weiterhin sollte mit dem Ziel der Behandlungskontinuität eine jugendpsychiatrische und / oder psychotherapeutische Anschlussbehandlung für die Zeit nach der Haftentlassung gebahnt werden, damit der Jugendliche die Phase der gesellschaftlichen Reintegration in möglichst stabiler psychischer Gesundheit bewältigen kann (Penn & Thomas, 2005).
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Fazit für die Praxis Adoleszente Häftlinge bilden eine wichtige Hochrisikopopulation für suizidales Verhalten und vollendete Suizide. Neben kinder- und jugendpsychiatrischen Kliniken und Praxen gibt es wohl keine zweite Institution, die eine adoleszente Klientel mit einem ähnlich hohen Suizidrisiko betreut, wie die Jugendhaftanstalten. Dass Jugendvollzugsanstalten eine Vielzahl von jungen Gefangenen beherbergen, die psychisch erkrankt sind, ist Chance und Herausforderung zugleich: Hier können Jugendliche behandelt werden, die außerhalb des Haftvollzugs nur in geringem Umfang Hilfsangebote wahrnehmen würden. Präventionsmaßnahmen können effektiv eingesetzt werden, weil die Zielgruppe vergleichsweise klein und prinzipiell örtlich gebunden ist. Diese Chance sollte im Sinne der Suizidprävention unbedingt genutzt werden.
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Manuskripteingang: 09.02.2015 Manuskript angenommen: 13.04.2015 Interessenskonflikt: Nein Dr. med. Daniel Radeloff Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters Klinikum der Goethe-Universität Frankfurt am Main Deutschordenstr. 50 60528 Frankfurt/Main Deutschland daniel.radeloff@kgu.de
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D. Radeloff et al., Suizid und Suizidalität unter adoleszenten Häftlingen
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CME-Fragen 1. Frage: Welche Aussage trifft nicht zu? a. In einer britischen Studie (Windfuhr et al.) hatte etwa 14 % aller 10–19 jährigen Suizidenten (Personen, die einen Suizid vollendet haben) im Vorjahr Kontakt zu einem Psychiater oder Psychotherapeuten. b. Patienten, die Suizidversuche durchführen, nehmen häufiger fachliche Hilfe in Anspruch als Suizidenten. c. Delinquente Jugendliche zeichnen sich durch eine geringe Inanspruchnahme von psychiatrischen Behandlungsangeboten aus. d. Junge Straftäter stellen eine wichtige Risikogruppe für Suizid dar, insbesondere die Population der Inhaftierten. e. Das relative Risiko für Suizid ist für adoleszente Häftlinge kleiner als für erwachsene Häftlinge. 2. Frage: Welche Aussage zur Epidemiologie trifft nicht zu? a. In 2012 wurden etwa 90.000 Jugendliche und Heranwachsende auf der Grundlage des Jugendgerichtsgesetzes verurteilt; davon traten 9.7 % eine Haftstrafe an, etwa 0.1 % der Allgemeinbevöllkerung. b. Im Jugendstrafvollzug bilden Jugendliche (14–18 Jährige) den größten Teil der Haftpopulation. c. Jungen und Männer sind mit 96 % überrepräsentiert. d. Das Bildungsniveau unter Strafgefangenen ist gering: die überwiegende Mehrheit hat keine Ausbildung abgeschlossen, etwa die Hälfte keinen Schulabschluss erlangt. e. Die Insassen- und Deliktstruktur sowie die Haftdauer im Jugendstrafvollzug unterscheiden sich deutlich von der des Erwachsenenstrafvollzuges; Erkenntnisse aus der Suizidprävention im Erwachsenenstrafvollzug haben nicht notwendigerweise Gültigkeit im Jugendstrafvollzug. 3. Frage: Welche Aussage zu Risikofaktoren trifft nicht zu? a. Nach der Theorie der importierten Risikofaktoren zeigen Jugendliche schon vor Haftantritt Merkmale und Verhaltensweisen, die mit einem erhöhten Suizidrisiko assoziiert sind. b. Wichtige Risikofaktoren für Suizid in der Allgemeinbevöllkerung ebenso wie für junge Gefangene sind männliches Geschlecht, psychische Störungen einschließlich Substanzmittelgebrauch und Suizidversuche in der Vorgeschichte. c. Zwischen 3 % und 6 % der adoleszenten Häftlinge berichten, vor Haftantritt einen Suizidversuch durchgeführt zu haben.
d. Nach der Theorie der suizidfördernden Haftfaktoren gehören folgende Merkmale zu Stressoren, die eine hohe Anpassungsleistung verlangen: Trennung von wichtigen Bezugspersonen, Gefühle von Kontroll- und Autonomieverlust, Ängste vor Mithäftlingen und Gewalt. e. Die ersten Hafttage im Untersuchungshaftvollzug gelten als Risikoperiode für Suizidhandlungen. 4. Frage: Welche Aussage trifft nicht zu? a. Junge Häftlinge berichten dreimal häufiger von Suizidgedanken als gleichaltrige Schüler. b. Analog zur Allgemeinbevölkerung sind Suizidgedanken und Suizidversuche bei weiblichen adoleszenten Häftlingen häufiger als bei männlichen adoleszenten Häftlingen. c. Eine wichtige Maßnahme der Suizidprävention in Haftanstalten ist die Erhebung suizidaler Gedanken und Verhaltensweisen bei Haftantritt und bei Verlaufsuntersuchungen. d. Suizidversuche werden häufig von Opfern körperlicher Gewalt, aber auch von jungen Gewaltstraftätern durchgeführt. e. Suizid ist die zweithäufigste Todesursache in Jugendhaftanstalten. 5. Frage: Welche Aussage zu Suizidprävention in Jugendhaftanstalten trifft nicht zu? a. In den aktuellen WHO-Richtlinien zur Suizidprävention werden u. a. empfohlen, Kommunikationswege und Handlungsanweisungen verbindlich zu definieren, um im Umgang mit Inhaftierten Orientierung zu geben. b. Bauliche Maßnahmen können zum Gelingen von Präventionsstrategien beitragen. c. In einer Studie konnte gezeigt werden, dass Haftanstalten, die ein frühzeitiges Screening (Suizidrisiko, psychische Gesundheit) durchführten, niedrigere Suizidraten aufwiesen. d. Im Rahmen der «peer suicide prevention» werden als akut suizidal eingeschätzte Neuzugänge mit einem speziell ausgebildeten, eng betreuten Mitgefangenen gemeinschaftlich untergebracht. e. Weitere präventive Maßnahmen bzgl. jugendpsychiatrischer Störungen beinhalten: Schulung der Mitarbeiter im Erkennen altersspezifischer Symptome, Fortbildung von Gefängnismedizinern und Anstaltspsychologen in der Diagnostik sowie Auf- und Ausbau niederschwelliger Behandlungsmöglichkeiten innerhalb von Jugendhaftanstalten.
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D. Radeloff et al., Suizid und Suizidalität unter adoleszenten Häftlingen
Um Ihr CME-Zertifikat zu erhalten (min. 3 richtige Antworten), schicken Sie bitte den ausgefüllten Fragebogen mit einem frankierten Rückumschlag bis zum 29.02.2016 an die nebenstehende Adresse. Später eintreffende Antworten können nicht mehr berücksichtigt werden.
Marie Louise Cox-Hammersen Klinik für Psychiatrie, PSychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters Neuenhofer Weg 21 52074 Aachen Deutschland
Fortbildungszertifikat Die Ärztekammer Niedersachsen erkennt hiermit 2 Fortbildungspunkte an. Stempel
Suizid und Suizidalität unter adoleszenten Häftlingen Die Antworten bitte deutlich ankreuzen! 1
Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie 01/2016
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Ich versichere, alle Fragen ohne fremde Hilfe beantwortet zu haben. Name Berufsbezeichnung, Titel Straße, Nr. PLZ, Ort Datum
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Unterschrift
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Übersichtsarbeit
Kinder an die Macht? – Machiavellismus im Kindes- und Jugendalter Marc Allroggen1, Mitja D. Back2 und Paul L. Plener1 1 2
Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, Universitätsklinikum Ulm Abteilung für Psychologische Diagnostik und Persönlichkeitspsychologie, Westfälische Wilhelmsuniversität Münster
Zusammenfassung: Der Wunsch nach Macht und sozialer Dominanz spielt bei der Entstehung von sozialer Aggression bei Kindern und Jugendlichen eine bedeutsame Rolle. Obwohl das Konstrukt Machiavellismus diese Aspekte gut abbildet, hat es im deutschsprachigen Raum kaum Verbreitung gefunden. In diesem Übersichtsartikel wird daher das Konstrukt Machiavellismus dargestellt. Bisherige Untersuchungen zum Zusammenhang von Machiavellismus und insbesondere aggressivem Verhalten werden kritisch diskutiert und Implikationen für zukünftige Studien abgeleitet. Schlüsselwörter: Machiavellismus, Kinder, Jugendliche, aggressives Verhalten
Power to the children? – Machiavellianism in children and adolescents Abstract: The desire for power and social dominance plays a significant role in the development of social aggression. Although the construct of Machiavellianism reflects these aspects well, it has hardly been recognized in Germany. In this review article the construct of Machiavellianism will be presented. Previous research on the relationship between Machiavellianism and particularly aggressive behavior in children and adolescents are critically discussed and implications for future studies are derived. Keywords: Machiavellianism, children, adolescents, aggressive behavior
«A lot of people think bullies are born awesome, but the fact is, we have to train.» Jimbo Jones, The Simpsons, The great wife hope.
«The only thing more satisfying than convincing someone to do what I want is failing to persuade them on purpose. It´s like a do not enter sign. It just begs you to walk in the door.» Frank Underwood, House of Cards
Einleitung Mit dem Begriff des Machiavellismus wird ein Persönlichkeitskonstrukt bezeichnet, das durch manipulatives und ausbeuterisches Verhalten, Streben nach Dominanz sowie durch eine zynische Einstellung gegenüber der Umwelt gekennzeichnet ist (Christie & Geis, 1970). Obwohl diese Verhaltensweisen und Einstellungen bei der Entstehung
von aggressivem Verhalten bei Kindern und Jugendlichen eine bedeutsame Rolle spielen (Fossati, Borroni, Eisenberg & Maffei, 2010), sind sie im Vergleich zu anderen Persönlichkeitsaspekten wie sogenannten callous-unemotional traits (cu-traits) (Lahey & Waldmann, 2012), aber auch Impulsivität oder Narzissmus (Feilhauer & Cima, 2013) wenig beachtet worden. In dieser Übersichtsarbeit soll daher das Konzept Machiavellismus erläutert werden und die sich aus bisherigen Arbeiten ergebenden Implikationen für die Behandlung und Untersuchung insbesondere von aggressivem Verhalten im Kindes- und Jugendalter diskutiert werden. Grundlage der selektiven Übersichtsarbeit ist eine Literaturrecherche zu dem Begriff «machiavellianism» im Dezember 2014 in den internationalen Datenbanken PubMed (insgesamt 433 Treffer) und PsycARTICLES (insgesamt 76 Treffer). Ergänzend wurden assoziierte Arbeiten, insbesondere solche, auf die in Originalarbeiten verwiesen wurden, berücksichtigt. Aufgrund der noch zum Teil lückenhaften Erkenntnisse bei Kindern und Jugendlichen werden auch relevante Arbeiten zum Thema Machiavellismus bei Erwachsenen berücksichtigt.
Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie (2016), 44(1), 1–10 DOI 10.1024/1422-4917/a000395
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M. Allroggen et al., Machiavellismus im Kindes- und Jugendalter
Definition Der Begriff Machiavellismus wurde von Christie und Geis (1970) geprägt und führt zurück auf den florentinischen Diplomaten Niccolò Machiavelli und dessen Hauptwerk Der Fürst (Machiavelli, 2011). In diesem Buch empfiehlt Machiavelli Herrschern einen pragmatischen, taktischen und strategischen Führungsstil, bei dem der Zweck die Mittel heiligt. Obwohl diese Empfehlungen im Wesentlichen dazu dienen sollen, nicht nur die Macht zu sichern, sondern auch die Gemeinschaft zu schützen und Stabilität zu gewährleisten, werden in der öffentlichen Wahrnehmung vor allem die negativen Aspekte von Machiavellis Werk wahrgenommen. Aufgrund dieser negativen und wertenden Konnotation ist kritisch zu diskutieren, inwieweit der Begriff Machiavellismus für die Beschreibung von Einstellungen und Verhaltensweisen bei Kindern und Jugendlichen geeignet ist und ob insbesondere im klinischen Kontext nicht eher von «(Wunsch nach) sozialer Dominanz» gesprochen werden sollte. Im Rahmen dieser wissenschaftlichen Arbeit werden wir aber zunächst in Übereinstimmung mit der internationalen Literatur den Begriff Machiavellismus beibehalten, auch um nicht vorzeitig das prinzipiell mehrdimensionale Konstrukt sprachlich auf einen Aspekt zu reduzieren. Menschen mit machiavellistischen Eigenschaften seien dementsprechend dadurch gekennzeichnet, dass sie andere Personen ungünstiger in Bezug auf Freundlichkeit, zwischenmenschliche Kompetenzen oder Selbstbewusstsein beurteilen, selbst aber gleichzeitig manipulativ, machtorientiert und opportunistisch agieren. In Gruppensituationen gelingt es ihnen gut, Machtverhältnisse zu identifizieren und eine dominierende Position einzunehmen. Allerdings gelten sie als wenig teamfähig und nur führungstauglich, wenn Gruppen- und individuelle Ziele korrespondieren, letztlich also die Gruppe die eigene Zielerreichung unterstützt (Christie & Geis, 1970; Knecht, 2004). Mit Machiavellismus werden zudem eine zynische Grundeinstellung und moralische Defizite in Verbindung gebracht. Zusammengenommen kann Machiavellismus als soziale Strategie angesehen werden, Dominanz mittels einer manipulativen Beziehungsgestaltung zu erreichen. Es überrascht daher wenig, dass das Konstrukt Machiavellismus vor allem im Bereich der Wirtschafts- und Sozialpsychologie breite Resonanz gefunden hat (Wilson, Near & Miller, 1996).
Diagnostik Machiavellismus wurde von Christie und Geis (1970) ursprünglich als mehrdimensionales Konstrukt beschrieben, das sowohl Verhaltensweisen (interpersonal tactics), © 2016 Hogrefe
als auch Einstellungen (cynical view, disregard for conventional morality) umfasst. Untersuchungen mit dem von den Autoren dementsprechend entwickelten Fragebogen MACH-IV, dem weltweit am häufigsten eingesetzten Instrument zur Erfassung von Machiavellismus, ergaben jedoch sehr unterschiedliche Faktorenlösungen, zudem zeigten sich zum Teil Schwächen in Bezug auf psychometrische Eigenschaften und Validität der Skala (Rauthman & Will, 2011; Rauthmann, 2013). Fehr, Samson und Paulhus (1992) gehen aufgrund ihrer Übersichtsarbeit aber letztlich von dem Vorliegen einer 2-Faktorenlösung aus («Taktik» und «Ansichten zur menschlichen Natur»). Der Fragebogen MACH-IV liegt auch als deutsche Übersetzung vor. In einer Untersuchung an einer repräsentativen deutschen Stichprobe mit Teilnehmern ab 16 Jahren ergab sich zwar ebenfalls eine 2-Faktorenlösung, diese umfasst allerdings die Dimensionen «Zustimmung zu machiavellistischen Einstellungen» und «Ablehnung nichtmachiavellistischer Prinzipien». Inhaltlich würde dies bedeuten, dass eine machiavellistische Einstellung nicht unbedingt damit verbunden wäre, antimachiavellistische Tendenzen abzulehnen (Shajek, 2007). Trotz der prinzipiell ursprünglich mehrdimensionalen Konzeption wird in den meisten Untersuchungen Machiavellismus als unidimensionales Konstrukt erfasst (Rauthmann & Will, 2011). Neuere Fragebogeninstrumente erfassen Machiavellismus insbesondere als unidimensionales Konstrukt gemeinsam mit Narzissmus und Psychopathie, der sogenannten Dunklen Triade (Paulhus & Williams, 2002). Hier sind vor allem die Instrumente «Dirty Dozen» (Jonason & Webster, 2010), von dem auch eine Version für Kinder und Jugendliche als Selbst- und Fremdbeurteilungsverfahren existiert (Muris, Meesters & Timmermann, 2013), sowie die «Short Dark Triad» (SD3) (Jones & Paulhus, 2014) zu nennen. Wie valide diese Instrumente zur Erfassung von Machiavellismus sind, wird sich in weiteren Untersuchungen zeigen müssen (Maples, Lamkin & Miller, 2014). In deutscher Sprache existiert eine volle 12-Item-Version der «Dirty Dozen», das «Dreckige Dutzend», sowie eine kurze 9-Item-Version, die «Niederträchtigen Neun», die mit jeweils 4 bzw. 3 Items neben Machiavellismus auch Psychopathie und Narzissmus erfasst (Küfner, Dufner & Back, 2015). Für die Erfassung von Machiavellismus bei Kindern liegt die vom MACH-IV abgeleitete Kiddie Mach Scale vor (Christie & Geis, 1970). Eine deutsche Version der Kinderversion existiert unseres Wissens nach bislang nicht, obwohl der Fragebogen ansonsten weltweit eingesetzt wird (z. B. Andreou, 2004; Geng, Qin, Xia & Ye, 2011). Dabei zeigen sich auch bei der Kiddie Mach Scale unterschiedliche Faktorenstrukturen. In der englischsprachigen (Sutton & Keogh, 2001) und der chinesischen Version (Geng et al., 2011) fand sich bei 9–12-Jährigen bzw. 9–13-Jährigen eine
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3-Faktorenstruktur (lack of faith in human nature, dishonesty, distrust). In einer griechischen Version bei 9–12-Jährigen ergab sich jedoch eine 4-Faktorenstruktur, bei der neben den drei oben genannten Faktoren zusätzlich ein Faktor manipulation bestand (Andreou, 2004). Zu beachten ist, dass es sich bei den beschriebenen Verfahren überwiegend um Selbstbeschreibungsinstrumente handelt, die für die Untersuchung in nichtklinischen und nichtforensischen Stichproben entwickelt wurden. Die damit verbundenen Schwierigkeiten einer möglicherweise sozial erwünschten Antworttendenz, aber auch der mangelnden Reflexion eigener problematischer Verhaltensweisen, stellen wie bei den meisten Selbstauskunftsverfahren einen limitierenden Faktor dar.
Machiavellismus, Psychopathie und die Dunkle Triade Gemeinsam mit Psychopathie und Narzissmus wird Machiavellismus häufig zur sogenannten Dunklen Triade zusammengefasst (Paulhus & Williams, 2002). Die Dunkle Triade kann als soziale Strategie gesehen werden, die kurzfristig ausbeuterisches und eigennütziges Handeln ermöglicht (Jonason & Webster, 2010). Immer wieder wird in diesem Zusammenhang auch diskutiert, inwieweit sich die einzelnen Konstrukte der Dunklen Triade tatsächlich unterscheiden bzw. inwieweit es sinnvoll ist, diese drei Konstrukte zu einem übergeordneten Aspekt zusammenzufassen. So werden von manchen Autoren Narzissmus und Machiavellismus als Teilaspekte von Psychopathie angesehen (Glenn & Sellbom, 2014), von anderen werden Machiavellismus und Psychopathie als identisch bzw. Machiavellismus als Maß für Psychopathie in der Allgemeinbevölkerung oder für subklinische Psychopathie gewertet (Lee & Ashton, 2005; McHoskey, Worzel & Szyarto, 1998). In einer aktuellen Analyse einer internationalen Erwachsenenstichprobe (USA, Polen und Singapur, N = 626) zeigte sich eine positive Korrelation zwischen Machiavellismus und Psychopathie (r = 0,64; p < 0,01) bzw. Machiavellismus und Narzissmus (r = 0,63; p < 0,01), wobei die Korrelationen in der Stichprobe aus den USA signifikant höher waren als die Korrelationen in den Stichproben aus Singapur und Polen (Jonason, Norman & Czarna, 2013). Dabei stellt auch Psychopathie kein eindimensionales Konzept dar, sondern besteht aus einer affektiven und einer interpersonellen Komponente (Faktor 1 oder core dimensions) und impulsivem und antisozialem Verhalten (Faktor 2 oder behavioral dimensions). Machiavellismus korreliert bei Untersuchungen mit Erwachsenen dabei vor allem mit dem Faktor 1 der Psychopathie (Lee & Ashton,
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2005; Jakobwitz & Egan, 2006). Bei Kindern und Jugendlichem werden vor allem sogenannte callous-unemotional traits (gleichgültig-unemotionale Persönlichkeitszüge), pathologischer Narzissmus und Impulsivität als wesentliche Bestandteile von Psychopathie angesehen (Frick et al., 2000; Kölch, Schmid, Rehmann & Allroggen, 2012). Eine Studie an Jugendlichen (n = 615; Durchschnittsalter 16,9 Jahre) zeigte allerdings nur eine moderate Korrelation zwischen callous-unemotional traits und Machiavellismus (r = 0,32 für Jungen; r = 0,23 für Mädchen) sowie zwischen Machiavellismus und Narzissmus (r = 0,39 für Jungen; r = 0,28 für Mädchen) (Chabrol et al., 2009). Jones und Figueredo (2013) sehen als gemeinsames Kernkonstrukt der Dunklen Triade sowohl manipulatives Verhalten als auch affektive Defizite an. Während jedoch Psychopathie im Unterschied zu den anderen Konstrukten zusätzlich durch impulsives und antisoziales Verhalten gekennzeichnet sei und Narzissmus durch einen egoistischen Stil, stehe bei Machiavellismus ein strategisches und berechnendes Verhalten im Mittelpunkt.
Entwicklung und biologische Korrelate von Machiavellismus Sowohl genetische als auch Umweltfaktoren spielen bei der Entwicklung von Machiavellismus eine Rolle. Bereits die Studie von Kraut und Price (1976) zeigte, dass väterlicher und kindlicher Machiavellismus positiv miteinander korrelieren und dass der Erfolg von Kindern in einem «Schwindelspiel», in dem es um Täuschung des Gegenübers geht (machiavellistisches Handeln), zusammenhängt mit einer machiavellistischen Orientierung der Eltern. Gleichzeitig bestand kein Zusammenhang zwischen machiavellistischer Einstellung und machiavellistischem Handeln des Kindes, sodass die Autoren davon ausgehen, dass beides unabhängig voneinander erlernt wird und sich manifestiert. Diese Ergebnisse werden auch zum Teil durch verhaltensgenetische Untersuchungen zur Dunklen Triade bestätigt. Narzissmus und Psychopathie zeigen eine mittlere bis große Vererblichkeit, während diese bei Machiavellismus deutlich kleiner ist und hier auch geteilte Umwelteinflüsse neben nicht geteilten Umwelteinflüssen eine bedeutsamere Rolle spielen. Dies kann ein Hinweis darauf sein, dass Machiavellismus in stärkerem Maße erlernt ist als die anderen Aspekte der Dunklen Triade (Vernon, Villani, Vickers & Harris, 2008; Veselka, Aitken Schermer & Vernon, 2011). Die Korrelation zwischen Machiavellismus und Psychopathie scheint dabei vor allem auf einem gemeinsamen genetischen Einfluss zu beruhen (Vernon et al., 2008).
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Im Rahmen einer strukturellen Bildgebungsstudie wurden morphologische Korrelate des Machiavellismus untersucht. Die Autoren gingen davon aus, dass Individuen mit hohen Machiavellismus-Werten sensibler für das Streben nach einem hohen sozialen Status sind und sich daher im Rahmen der Neuroplastizität Veränderungen der Hirnmorphologie darstellen lassen. Im Rahmen einer Voxelbasierten morphometrischen Magnetresonanztomographie-Studie an 43 Verkäufern zeigten sich im Vergleich zwischen Probanden mit hohen und mit niedrigen Werten im MACH-IV Unterschiede in den Basalganglien, frontalen Arealen, im linken präfrontalen Kortex, der Insula, im rechten Hippocampus sowie im linken parahippocampalen Gyrus. Dabei ließ sich eine positive Korrelation zwischen Volumen in diesen Regionen und MACH-IV Werten feststellen. Diese Ergebnisse können laut den Autoren als morphologische Abweichungen in Systemen, die mit Belohnung, Planung, dem Unterdrücken von Emotionen, sozialem Lernen und der Prozessierung kontextualer Informationen assoziiert sind, verstanden werden und geben erste Hinweise auf mögliche neurobiologische Grundlagen des Machiavellismus (Verbeke et al., 2011).
Machiavellismus und andere Persönlichkeitsaspekte Zentrales Persönlichkeitskorrelat von Machiavellismus ist egoistisches und wenig prosoziales Verhalten, was im Fünf-Faktoren-Modell (FFM) durch eine negative Korrelation mit der Domäne Verträglichkeit abgebildet wird. Diese negative Korrelation mit Verträglichkeit teilen alle Dimensionen der Dunklen Triade (Paulhus & Williams, 2002). Eine Metaanalyse zum Zusammenhang zwischen Persönlichkeitsfaktoren und der Dunklen Triade bei Erwachsenen zeigte, dass Machiavellismus negativ mit Verträglichkeit (r = –0,39) und Gewissenhaftigkeit (r = –0,21) korreliert. Aufgrund der nahezu identischen Konstellation bei Psychopathie in Bezug auf die Domänen des FFM bestehen zumindest Zweifel, dass es sich hierbei um unterschiedliche Konstrukte handelt (O’Boyle, Forsyth, Banks, Story & White, 2014). Insgesamt konnte eine deutliche Varianzaufklärung durch das FFM von 30 % für Machiavellismus und 41 % für Psychopathie erzielt werden. In einer Studie mit Kindern und Jugendlichen (n = 117; Durchschnittsalter 13,9 Jahre; 56 % weiblich) zeigte sich ebenfalls, dass Machiavellismus negativ mit Verträglichkeit und Gewissenhaftigkeit korrelierte, darüber hinaus auch positiv mit Neurotizismus und negativ mit Offenheit. Auch hier zeigte sich bei Psychopathie ein ähnliches Profil und Psychopathie und Machiavellismus korrelierten deut© 2016 Hogrefe
lich miteinander (r = 0,56), zeigten aber Unterschiede auf phänotypischer Ebene (Muris et al., 2013). Eine weitere Studie mit zwei jugendlichen Stichproben (Durchschnittsalter 16,79 und 12,79 Jahre; 54.2 % bzw. 48.3 % weiblich; n = 611 bzw. 302) fand neben einem negativen Zusammenhang zwischen Machiavellismus mit Verträglichkeit und Gewissenhaftigkeit auch einen positiven Zusammenhang mit Extraversion (Klimstra, Sijtsema, Henrichs & Cima, 2014). Untersuchungen mit Erwachsenen, die andere Persönlichkeitsmodelle berücksichtigen, konnten die Unterschiede zwischen Psychopathie und Machiavellismus klarer herausstellen. Im HEXACO-Modell, das neben den FFM auch einen Faktor Honesty/Humility berücksichtigt, der egozentrisches und manipulatives Verhalten und damit antagonistische Strategien gut abbildet, zeigen sich deutliche Unterschiede zwischen Psychopathie und Machiavellismus. So waren gerade die antagonistischen Verhaltensweisen mit Machiavellismus verbunden (Jonason & McCain, 2012). Allerdings liegen unseres Wissens nach noch keine Untersuchungen zum Zusammenhang zwischen dem HEXACO-Modell und Machiavellismus oder anderen Aspekten der Dunklen Triade bei Kindern oder Jugendlichen vor. Insgesamt lassen die Befunde erhebliche Zweifel aufkommen, inwieweit sich auf Ebene von Persönlichkeitsfaktoren tatsächlich Psychopathie und Machiavellismus unterscheiden, was auch mit der möglichen gemeinsamen genetischen Grundlage der beiden Konstrukte korrespondiert. Zudem erscheint das von Jones und Figueredo (2013) angenommene Kriterium der Fähigkeit der strategischen Planung zur Unterscheidung von Psychopathie und Machiavellismus wenig überzeugend, wenn man berücksichtigt, dass Machiavellismus negativ mit dem Persönlichkeitsfaktor Gewissenhaftigkeit korreliert (Miller & Lynam, 2014) und Machiavellismus wie alle Faktoren der Dunklen Triade mit einer geringen Selbstkontrolle zusammenhängt (Jonason & Tost, 2010). Gleichzeitig finden sich aber Hinweise darauf, dass es erwachsenen Machiavellisten durchaus gelingt, strategisch zu handeln. So wird prosoziales Verhalten bei Machiavellisten insbesondere dann gezeigt, wenn dieses von Dritten wahrgenommen wird (Bereczkei, Birkas & Kerekes, 2010), und in sozialen Konfliktsituation handeln Machiavellisten zudem erfolgreicher in Bezug auf materiellen Gewinn (Czibor, Vincze & Bereczkei, 2014). Ebenso unklar scheint zum jetzigen Zeitpunkt noch der Zusammenhang zwischen Machiavellismus und Empathie bzw. Theory of Mind, also der Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen. Obwohl man davon ausgehen könnte, dass erfolgreiches manipulatives Verhalten ein Mindestmaß an zumindest kognitiver Empathie voraussetzt, sind die bisherigen Ergebnisse noch nicht eindeutig. Barnett
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und Thompson (1985) zeigten in einer Untersuchung mit Kindern der 4. und 5. Jahrgangsstufe, dass zwar affektive Empathiedefizite, nicht aber Defizite in der Theory of Mind mit Machiavellismus verbunden waren. Die Untersuchung von Al Ain et al. (2013) an jungen Erwachsenen (Durchschnittsalter 23,9 Jahre; 18–30 Jahre) betont hingegen, dass die Dimensionen von Machiavellismus, gemessen mit dem MACH-IV, unterschiedliche Zusammenhänge zu kognitiver und affektiver Empathie sowie zu Theory of Mind zeigen. So hingen Defizite in affektiver Empathie mit dem Einsatz von Täuschungsstrategien (interpersonal tactics) zusammen, Defizite in kognitiver Empathie und Theory of Mind hingegen mit einem zynischen Blick auf die Menschheit, moralische Defizite lediglich mit Alexithymie. Andere Untersuchungen fanden einen Zusammenhang zwischen Machiavellismus und geringer emotionaler Intelligenz bei Kindern (Barlow, Qualter & Stylianou, 2010) oder keinen Zusammenhang zwischen Machiavellismus und Theory of Mind-Aufgaben bei Kindern (Slaughter, 2011). Zusammenfassend lassen sich die heterogenen Befunde damit erklären, dass Machiavellisten möglicherweise eher Schwierigkeiten haben, eigene Emotionen zu erkennen als fremde, und bestimmte Aspekte von Machiavellismus durchaus mit einer zumindest guten Fähigkeit verbunden sind, die emotionalen Zustände anderer zu erkennen.
Machiavellismus und Aggression Machiavellismus bei Kindern und Jugendlichen ist bislang vor allem in Zusammenhang mit sozialer Aggression wie Bullying untersucht worden. Dabei wird davon ausgegangen, dass das Streben nach Dominanz im Sinne eines systematischen Missbrauchs von Macht bei der Entstehung von Aggression eine Rolle spielt (Sutton, Smith & Swettenham, 1999). So zeigte sich bei Kindern, dass Machiavellismus mit Wunsch nach sozialem Erfolg verbunden war (Sutton & Keogh, 2000). In einer Studie mit jungen Erwachsenen fand sich aber auch ein negativer Zusammenhang zu der eigenen Überzeugung, Macht in interpersonellen Beziehungen zu haben (Anderson, John & Keltner, 2012). Tatsächlich konnten einige Studien mit Jungen und Mädchen im Alter zwischen 8 und 12 Jahren zeigen, dass Kinder mit Bullying-Verhalten, auch wenn sie gleichzeitig Opfer von Bullying waren, machiavellistischer waren als ausschließliche Opfer von Bullying oder Kinder, die nicht in Bullying involviert waren (Andreou, 2000; Andreou, 2004; Sutton & Keogh, 2000). Lediglich in einer der oben geannten Untersuchungen (Andreou, 2004) wurden die
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Daten für Jungen und Mädchen getrennt ausgewertet. In dieser Studie (n = 186; 48.4 % weiblich, Durchschnittsalter 10,4 Jahre) fand sich nur für Jungen ein positiver Zusammenhang zwischen Bullying und dem MachiavellismusGesamtwert der Kiddie Mach Scale sowie zwischen Bullying und einer zynischen Einstellung, bei Mädchen lediglich zwischen Bullying und manipulativem Verhalten. In einer weiteren Studie (n = 806; Durchschnittsalter 13,37 Jahre; 43.8 % männlich) fand sich zwar ein Zusammenhang zwischen Machiavellismus und selbst berichtetem Bullying bei Jungen (r = 0,25), nicht jedoch bei Mädchen oder bei Bullying in der Fremdeinschätzung. Beim Vergleich verschiedener, mittels Clusteranalyse gebildeter Gruppen von Bullies zeigte sich zudem, dass Machiavellismus in diesen Gruppen unterschiedlich stark ausgeprägt ist. Bei Jungen zeigten populäre und sozial intelligente Bullies niedrigere Werte für Machiavellismus im Vergleich zu Nichtbullies, bei Mädchen höhere Werte. Bei mittelmäßig beliebten und unbeliebten Bullies ergaben sich keine Unterschiede bei machiavellistischen Überzeugen im Vergleich zu Nichtbullies (Peeters, Cillessen & Scholte, 2010). Weitere Studien untersuchten den Zusammenhang zwischen machiavellistischen Persönlichkeitszügen und delinquentem und aggressivem Verhalten. Die Untersuchung von Chabrol, Van Leeuwen, Rodgers und Séjourné (2009) ergab zwar für Jungen (n = 382; Durchschnittsalter 16,8 Jahre) einen Zusammenhang zwischen Delinquenz und psychopathischen und sadistischen Traits, aber nicht zu narzisstischen und machiavellistischen Traits. Bei Mädchen (n = 233; Durchschnittsalter 17,1 Jahre) stellte Machiavellismus sogar einen protektiven Faktor für Delinquenz dar. Es wäre möglich, dass machiavellistische Kinder insgesamt weniger anfällig sind für Einflüsse von außen und eher ihren eigenen Weg gehen, was bei Kontakt zu einer delinquenten Gleichaltrigengruppe auch einen protektiven Faktor darstellen kann (Kerr, Van Zalk & Stattin, 2012; Stellwagen, 2011). In einer Untersuchung an 117 Jugendlichen (12–18 Jahre) ergaben sich einige zum Teil widersprüchliche Befunde (Muris et al., 2013). Mit einer für Jugendliche adaptierten Version der «Dirty Dozen» fand sich, dass Psychopathie einen exklusiven Zusammenhang zeigte zu aggressivem Verhalten und Machiavellismus zu delinquentem Verhalten, wenn Persönlichkeitsfaktoren kontrolliert wurden. Beide Faktoren zeigten zudem einen Zusammenhang zu pro- und reaktiver Aggression. Bei Kontrolle für gemeinsame Varianz der Dunklen Triade zeigte Machiavellismus keinen Zusammenhang zu aggressivem und delinquentem Verhalten im Fremdurteil, Psychopathie hingegen schon. Dies könnte so interpretiert werden, dass Psychopathie mit eindeutigeren, offeneren dissozialen Handlungen verbunden ist, die auch von Außenstehenden wahrgenommen werden, Machiavellismus jedoch eher mit
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verdeckten Handlungen, die lediglich in der Selbstbeurteilung erfasst werden. Ähnliche Ergebnisse brachte die oben genannte Untersuchung von Klimstra et al. (2014), bei der Machiavellismus vor allem mit indirekter Aggression, die mittels Selbstbeurteilung erfasst wurde, verbunden war, nicht jedoch mit aggressivem Verhalten im Fremdurteil. Kerig und Stellwagen (2010) konnten ebenfalls nachweisen, dass Machiavellismus, erfasst über Fremdbeurteilung, insbesondere bei der Erklärung von relationaler Aggression bei Kindern (6.–8. Jahrgangsstufe; n = 252; 56 % weiblich) eine Bedeutung hat, während Narzissmus und cu-traits größere Bedeutung für die Entstehung von körperlicher Aggression haben. Alle drei Konstrukte waren zudem positiv mit proaktiv aggressivem Verhalten verbunden. In einer weiteren Studie mit Jugendlichen im Alter zwischen 11 und 17 Jahren zeigte sich hingegen, dass Machiavellismus, wenn er über eine Selbstbeurteilung erfasst wird, im Gegensatz zu Narzissmus und cu-traits keinen zusätzlichen Beitrag zur Entstehung von aggressivem und delinquentem Verhalten liefert (Lau & Marsee, 2013). Es zeigte sich lediglich ein Zusammenhang zu emotionaler Dysregulation, nicht jedoch zu problematischem Verhalten. Fasst man diese ersten Untersuchungen zusammen, so ergeben sich Hinweise darauf, dass Machiavellismus vor allem bei sozialer und eher verdeckter Aggression eine Rolle spielt. Problematisch ist allerdings, dass in den meisten Studien Machiavellismus als unidimensionales Konstrukt angesehen wird und Geschlechtsunterschiede nur unzureichend berücksichtigt werden.
Folgerungen Machiavellismus ist ein mehrdimensionales Persönlichkeitskonstrukt, das durch manipulative Verhaltensweisen zur Erreichung sozialer Dominanz, aber auch durch eine zynische Einstellung und moralische Defizite gekennzeichnet ist. Bisherige Befunde bei Kindern und Jugendlichen beziehen sich vor allem auf den Zusammenhang zwischen Machiavellismus und aggressivem Verhalten. Ebenso wie bei Untersuchungen zu Machiavellismus bei Erwachsenen sind die Ergebnisse aber noch teilweise widersprüchlich. Ein möglicher Grund dafür ist, dass das eigentlich mehrdimensionale Konstrukt Machiavellismus, das sich sowohl aus Verhaltensweisen als auch aus Einstellungen zusammensetzt, in der Regel als eindimensionales Konstrukt untersucht wird. Die wenigen Studien, die dies nicht tun, zeigen allerdings, dass bedeutsame Unterschiede bestehen zwischen den einzelnen Aspekten, zum Beispiel in Bezug auf Empathie (Al Ain et al., 2013) oder © 2016 Hogrefe
Bullying bei Mädchen und Jungen (Andreou, 2004). Dementsprechend sollte in zukünftigen Studien stärker zwischen manipulativem Verhalten zur Gewinnung sozialer Dominanz, zynischer Einstellung und moralischen Defiziten differenziert werden, wobei Ersteres unseres Erachtens das Kernkonstrukt von Machiavellismus darstellt. Auch entwicklungspsychopathologische Aspekte können die heterogenen Befunde begründen. So scheinen machiavellistische Handlungen und Einstellungen teilweise unabhängig voneinander zu sein (Kraut & Price, 1976). Man kann annehmen, dass machiavellistische Handlungen bei Kindern sehr viel früher zu beobachten sind als eine machiavellistische Einstellung. Während Handlungen von jüngeren Kindern, die beispielsweise bei machiavellistischen Eltern aufwachsen, möglicherweise zunächst primär imitiert werden, werden Einstellungen erst ab dem Grundschulalter bedeutsam, wenn soziale Beziehungen zu Gleichaltrigen, Stellung in der Gruppe und der Wunsch nach Anerkennung an Bedeutung gewinnen (Harter, 2006). Wenn diese oben genannte Limitation beachtet wird, kann die Berücksichtigung von Machiavellismus bei Untersuchungen zur Entstehung und Prävention bzw. Behandlung von sozialer Aggression wie Bullying wichtige zusätzliche Erkenntnisse bieten (Juvonen & Graham, 2014). Obwohl Machiavellismus eine große Überschneidung mit anderen problematischen Persönlichkeitskonstrukten wie Psychopathie und pathologischem Narzissmus zeigt, unterscheidet es sich von diesen in Bezug auf a) den Grad der Vererblichkeit, b) motivationale Aspekte und c) eine stärkere Abhängigkeit von situativen Charakteristika. Bei Machiavellismus scheinen in der Entwicklung Umwelt und insbesondere familiäre Faktoren eine deutlich größere Rolle zu spielen als beispielsweise bei Psychopathie (Vernon et al., 2008; Veselka et al., 2011). Dies bedeutet, dass es sich möglicherweise um sehr viel stärker erlernte, und damit auch eventuell stärker veränderbare Verhaltensweisen handelt, auch wenn beide Konstrukte eine gleiche genetische Grundlage haben. Das ist insbesondere therapeutisch relevant, da gezeigt werden konnte, dass Jungen mit cu-traits weniger auf verhaltenstherapeutische Interventionen ansprechen (Hawes & Dadds, 2005), aufgrund des stärker durch die persönliche Lerngeschichte beeinflussten Anteils beim Machiavellismus aber psychotherapeutische Maßnahmen eventuell einen größeren Erfolg erzielen. Dies könnte dazu beitragen, Therapieangebote für aggressives Verhalten auch für Kinder und Jugendliche sehr viel stärker nach einem RiskNeed-Responsivity-Prinzip (Hanson, Bourgon, Helmus & Hodgson, 2009) auszurichten, also einer stärker nach Bedarf und Möglichkeiten des Betroffenen ausgerichteten Behandlung. Hierbei sollte aber auch berücksichtigt werden, dass machiavellistische Verhaltensweisen bei-
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spielsweise auch im Rahmen einer beginnenden Persönlichkeitsstörung (z. B. Borderline oder narzisstische Persönlichkeitsstörungen) beobachtet werden können. In diesem Falle müsste die Behandlung stärker auf die zugrunde liegende Störung ausgerichtet werden. Wichtig für das Verständnis der Entstehung aggressiven Verhaltens ist aber auch eine stärkere Berücksichtigung motivationaler Aspekte wie das Streben nach sozialer Dominanz. Dieser Aspekt ist bislang bei Untersuchungen zur Entstehung von aggressivem Verhalten vor allem im klinischen Kontext nur unzureichend berücksichtigt worden. Hinzu kommt, dass machiavellistische Verhaltensweisen stark von äußeren, situativen Faktoren bestimmt sind (Bereczkei et al., 2010). So zeigt auch eine aktuelle Studie an Erwachsenen, dass mittels Hirnstimulation machiavellistisches Handeln in dem Sinne ausgelöst werden kann, dass durch die Stimulation verstärkt prosoziales Verhalten gezeigt wird, wenn Bestrafung droht, durch die gleiche Stimulation jedoch egozentrisches Verhalten verstärkt wird, wenn keine Bestrafung droht (Ruff, Ugazio & Fehr, 2013). Machiavellisten können dementsprechend ihr Verhalten möglicherweise flexibel an die äußeren Gegebenheiten anpassen und somit aggressive und manipulative Verhaltensweisen besser verbergen, wofür es auch bei Jugendlichen erste Hinweise gibt (Muris et al., 2013). Die ersten Befunde einer bildgebenden Studie bei Erwachsenen zeigen eine Assoziation zwischen Machiavellismus-Werten und Gehirnregionen, die u. a. mit Planung und dem Unterdrücken von Emotionen sowie sozialem Lernen in Zusammenhang gebracht werden. Die Anwendbarkeit dieser Befunde auf das Jugendalter ist nur begrenzt möglich, da gerade Regionen wie der präfrontale Cortex erst spät in der Gehirnentwicklung voll ausgereift sind (Giedd et al., 2009). Hier wäre eine Vergleichsstudie unter diesem Entwicklungsaspekt bei Jugendlichen mit hohen bzw. niedrigen Machiavellismus-Werten von Interesse. Im klinischen Alltag scheint das Konzept vor allem bei Kindern und Jugendlichen bedeutsam, die als Täter oder auch als Täter/Opfer in Bullying, aber auch möglicherweise anderen Formen von sozialer Aggression wie sexuell belästigendem Verhalten (Allroggen, Rau & Fegert, 2014) involviert sind. Die Ergebnisse zur Lerngeschichte machen deutlich, dass in der therapeutischen Arbeit mit diesen Kindern auch der elterliche Einfluss im Sinne eines Rollenmodells einen wesentlichen Anteil am Selbstverständnis, mit dem soziale Aggression gegenüber anderen gelebt wird, haben dürfte. Dies unter Einbezug der Eltern zu reflektieren, scheint angesichts der vorgelegten Forschungsbefunde angezeigt. Die Tatsache, dass Machiavellisten ihre Verhaltensweisen flexibel anpassen können, stellt dabei für die Forschung sicherlich eine Herausforderung, aber auch eine Chance dar, die Interaktion zwischen Individuum und situativen Faktoren bei der Entstehung
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von aggressiven Verhaltensweisen stärker zu beleuchten. Weitere Forschung ist jedoch notwendig, um die Frage zu klären, inwieweit sich tatsächlich Machiavellismus und Psychopathie bei Kindern und Jugendlichen unterscheiden, was aufgrund der aktuellen Studienlage nur unzureichend gelingt. Eine stärkere Berücksichtigung beider Konzepte (und auch von Narzissmus) bei der Auseinandersetzung mit der Entstehung aggressiven Verhaltens könnte dazu beitragen.
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Manuskript eingereicht: 05.03.2015 Nach Revision angenommen: 01.06.2015 Interessenkonflikt: Nein Dr. med. Marc Allroggen Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie Universitätsklinikum Ulm Steinhövelstr. 5 89075 Ulm Deutschland marc.allroggen@uniklinik-ulm.de
CME-Fragen 1. Frage: Welcher Aspekt gehört nicht zur Definition des Begriffs «Machiavellismus» nach Christie & Geis (1970)? a. manipulative, machtorientierte Verhaltensweisen b. grundsätzlich aggressives Verhalten gegenüber Mitmenschen c. Mitmenschen werden ungünstiger in Bezug auf Freundlichkeit und zwischenmenschliche Kompetenzen beurteilt d. starke Tendenz, in Gruppensituationen die dominierenden Position einzunehmen e. manipulative, machtorientierte, opportunistische Verhaltensweisen
e. Selbsteinschätzungsbögen zur Erfassung von Machiavellismus können aufgrund von sozial erwünschten Antworttendenzen oder mangelnder Reflexion eigener Verhaltensweisen problematisch sein.
2. Frage: Welche Aussage zum Machiavellismus trifft nicht zu? a. Der Zusammenhang zwischen Machiavellismus und Narzissmus ist kultur- und altersabhängig b. Machiavellismus ist ein mehrdimensionales Persönlichkeitskonstrukt. c. Für die Entwicklung machiavellistischer Persönlichkeitszüge spielen Umwelt und familiäre Faktoren eine größere Rolle als z. B. bei Psychopathie. d. Machiavellismus ist gleichzusetzen mit einer schwächeren Ausprägung von Psychopathie.
4. Frage: Welche Aussage zum Zusammenhang zwischen Aggression und Machiavellismus ist nach der aktuellen Studienlage korrekt? a. Für den Zusammenhang zwischen Aggression und Machiavellismus gibt es keine Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen. b. Kinder, die Opfer von Bullying sind, zeigen machiavellistische Persönlichkeitszüge, Täter mit Bullyingverhalten jedoch nicht. c. Machiavellismus spielt vor allem bei sozialer und eher verdeckter Aggression eine Rolle.
3. Frage: Welche Begriffe werden nach Paulhus & Williams (2002) zur sog. «Dunklen Triade» zusammengefasst? a. Machiavellismus – Aggression – Psychopathie b. Psychopathie – Narzissmus – Delinquenz c. Narzissmus – Delinquenz – Aggression d. Delinquenz – Machiavellismus – Aggression e. Machiavellismus – Narzissmus – Psychopathie
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d. Das eigene Erleben körperlicher Aggression führt zu machiavellistischen Persönlichkeitszügen. e. Machiavellistische Persönlichkeitszüge haben geschlechterübergreifend einen eindeutigen Zusammenhang mit delinquentem und aggressivem Verhalten. 5. Frage: Welche der folgenden Aussagen ist falsch? a. Machiavellistische Handlungen bei Kindern sind nicht gleichbedeutend mit einer machiavellistischen Einstellung, d. h. machiavellistische Handlungen und Einstellungen sind teilweise unabhängig voneinander. b. Erste Bildgebungsbefunde bei Erwachsenen beschreiben eine Assoziation zwischen Machiavellismus und
Um Ihr CME-Zertifikat zu erhalten (min. 3 richtige Antworten), schicken Sie bitte den ausgefüllten Fragebogen mit einem frankierten Rückumschlag bis zum 29.02.2016 an die nebenstehende Adresse. Später eintreffende Antworten können nicht mehr berücksichtigt werden.
Gehirnregionen, die für Belohnung, Planung, soziales Lernen und Unterdrückung von Emotionen wichtig sind. c. Machiavellistische Verhaltensweisen bei Kindern und Jugendlichen können auch im Rahmen einer beginnenden Persönlichkeitsstörung beobachtet werden. d. Machiavellismus lässt sich als soziale Strategie beschreiben, um Dominanz mittels einer manipulativen Beziehungsgestaltung zu erreichen. e. Das Konzept «Machiavellismus» lässt sich bei Kindern und Jugendlichen klar abgrenzen von den Konzepten «Narzissmus» und «Psychopathie»
Marie Louise Cox-Hammersen Klinik für Psychiatrie, PSychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters Neuenhofer Weg 21 52074 Aachen Deutschland
Fortbildungszertifikat Die Ärztekammer Niedersachsen erkennt hiermit 2 Fortbildungspunkte an. Stempel
Kinder an die Macht? – Machiavellismus im Kindes- und Jugendalter Die Antworten bitte deutlich ankreuzen! 1
Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie 01/2016
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Ich versichere, alle Fragen ohne fremde Hilfe beantwortet zu haben. Name Berufsbezeichnung, Titel Straße, Nr. PLZ, Ort Datum
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Unterschrift
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Übersichtsarbeit
Wie du mir, so ich dir? Die Entwicklung von prosozialem Verhalten und der Zusammenhang mit externalisierenden und internalisierenden Auffälligkeiten Lisa Schröder1, Sabine Seehagen2, Norbert Zmyj3 und Johannes Hebebrand1 1
Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters, LVR-Klinikum Essen, Medizinische Fakultät, Universität Duisburg-Essen 2 AE Klinische Kinder- und Jugendpsychologie, Fakultät für Psychologie, Ruhr-Universität Bochum 3 Institut für Psychologie, Technische Universität Dortmund
Zusammenfassung: Andere Menschen zu unterstützen, ist ein grundlegender Bestandteil der menschlichen Gesellschaft. Dieses sogenannte prosoziale Verhalten kann sich durch Hilfeverhalten, Kooperation und Teilen ausdrücken. In diesem Artikel wird ein Überblick über die Entwicklung von Prosozialität in der Kindheit gegeben sowie über den Zusammenhang von Prosozialität und externalisierenden und internalisierenden Auffälligkeiten. Insbesondere externalisierende Auffälligkeiten sind negativ mit prosozialem Verhalten assoziiert. Dagegen ist die Befundlage für internalisierende Auffälligkeiten heterogener. In Untersuchungen von individuellen Entwicklungsverläufen wird jedoch deutlich, dass prosoziales Verhalten und externalisierende Auffälligkeiten nicht gegensätzliche Enden eines Kontinuums darstellen, sondern vielmehr zwei unabhängige Dimensionen, die in der Entwicklung auch gemeinsam auftreten können. Dies gilt auch für internalisierende Auffälligkeiten, die sowohl mit stark als auch schwach ausgeprägter Prosozialität einhergehen können. Schlüsselwörter: Prosoziales Verhalten, Teilen, externalisierende Auffälligkeiten, internalisierende Auffälligkeiten, Entwicklungsverläufe
“Tit for Tat?” The development of prosocial behavior and its relationship to externalizing and internalizing problems Abstract: Supporting other human beings is a fundamental aspect of human societies. Such so-called prosocial behavior is expressed in helping others, cooperating and sharing with them. This article gives an overview both of the development of prosocial behavior across childhood and of the relationship between prosociality and externalizing and internalizing problems. Especially externalizing problems are negatively associated with prosocial behavior, whereas the relationships with prosocial behavior are more heterogeneous for internalizing problems. Studies investigating developmental trajectories demonstrate that prosocial behavior and externalizing problems are not opposite ends of a continuum. Rather, they are two independent dimensions that may also co-occur in development. The same applies to internalizing problems, which can co-occur with pronounced prosociality as well as with low prosociality. Keywords: prosocial behavior, sharing, externalizing problems, internalizing problems, developmental trajectories
Prosoziales Verhalten ist für das menschliche Zusammenleben von großer Bedeutung, weil Gesellschaften auf Kooperation und Hilfeverhalten aufbauen. Der Begriff «prosozial» wurde als Antonym zu «antisozial» eingeführt (z. B. Wispé, 1972). Prosoziales Verhalten wird definiert als «freiwillige Handlungen, die darauf abzielen, einem anderen Individuum oder einer Gruppe von Individuen zu helfen oder zu nutzen» (Eisenberg & Mussen, 1997, S. 3; Übersetzung durch die Autoren); hierzu zählen auch Trösten, Kooperieren und Teilen. Der vorliegende Übersichtsartikel stellt in seinem ersten Teil die Entwicklung prosozialen Verhaltens ab der frühen Kindheit bis ins Jugendalter dar. Im Fokus stehen dabei Hilfeverhalten, Kooperation und Teilen von Ressourcen (s. Abb. 1). Hierbei wurde primär über PsycINFO recherchiert.
Im zweiten Teil wird dem Zusammenhang von prosozialem Verhalten und externalisierenden und internalisierenden Auffälligkeiten in der Kindheit nachgegangen. Die Literaturrecherche hierfür wurde durch PubMed mit dem folgenden Suchterm durchgeführt: (prosoc* behav* OR prosoc*) AND (internaliz* OR externaliz* OR probl*). Die Suche beschränkte sich auf den Zeitraum 1990 bis 2014 und ergab 524 Treffer. Im nächsten Schritt trafen die Autoren eine Auswahl basierend auf den Titeln der Artikel, wobei von 49 Artikeln nach Sichtung der Zusammenfassungen 15 selektiert wurden. Für die 34 nicht berücksichtigten Artikel gab es vier Ausschlussgründe. Artikel wurden ausgeschlossen, wenn sie, erstens, sich auf Erwachsene bezogen, es sich, zweitens, um Interventionsstudien handelte, drittens der Fokus auf der Entwicklung eines Testinstru-
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L. Schröder et al., Die Entwicklung prosozialen Verhaltens und psychische Auffälligkeiten
ments lag oder viertens, es nicht um Prosozialität und Verhaltensauffälligkeiten ging. Von zunächst 15 ausgewählten Artikeln wurden nach Durchsicht weitere 8 ausgeschlossen, da in diesen der Zusammenhang von Prosozialiät und psychischen Auffälligkeiten (Symptomen) nicht untersucht wurde. Basierend auf den Referenzen der 7 inkludierten Artikel wurden 15 weitere Artikel gesichtet und eingeschlossen. Das heißt, es werden 22 Artikel zum Zusammenhang von Prosozialität und Auffälligkeiten in diesem Artikel aufgeführt und beleuchtet.
Die Entwicklung prosozialen Verhaltens in Kindheit und Jugend Frühes Hilfeverhalten Kinder zeigen Hilfeverhalten situationsübergreifend ab etwa der Mitte des zweiten Lebensjahres. In einer Studie mit 18 Monate alten Kleinkindern halfen 92 % der Kinder einer unbekannten erwachsenen Person in wenigstens einer Situation, beispielsweise beim Beseitigen von Hindernissen oder dem Anreichen von Gegenständen (Warneken & Tomasello, 2006). In Ansätzen war dieses Hilfeverhalten bereits mit 14 Monaten nachweisbar (Warneken & Tomasello, 2007). Hilfeverhalten konnte zwar auch bei einem unserer nächsten genetischen Verwandten, den Schimpansen, beobachtet werden, jedoch weniger robust und in weniger unterschiedlichen Situationen (Warneken & Tomasello, 2006). Einige Ergebnisse deuten darauf hin, dass das Hilfeverhalten von Kindern auf eine intrinsische Motivation zurückzuführen ist. Wenn 20 Monate alte Kinder im Vorfeld für Hilfeverhalten belohnt wurden, sank die Wahrscheinlichkeit, dass sie wiederholt halfen. Wurden sie nicht belohnt, verhielten sich die Kinder kontinuierlich hilfsbereit (Warneken & Tomasello, 2008). Die extrinsische Belohnung untergrub demnach die ursprünglich intrinsisch vorhandene Tendenz zum Hilfeverhalten der Kinder. Darüber hinaus zeigte eine Studie, dass Kinder flexibel auf das Hilfeverhalten anderer reagierten. Es kam Zweijährigen nicht in erster Linie darauf an, selbst Hilfe zu leisten, solange sie beobachteten, dass einer bedürftigen Person geholfen wurde, beispielsweise von einer weiteren Person (Hepach, Vaish & Tomasello, 2012). Es wird jedoch in der Literatur kontrovers diskutiert, ob Kinder tatsächlich «von Natur aus» hilfsbereit sind und ihr Verhalten als altruistisch bezeichnet werden kann oder inwiefern ihr Verhalten durch kulturelle Erfahrungen geprägt ist (z. B. Tomasello, 2012). © 2016 Hogrefe
Kooperation Bereits im dritten Lebensjahr zeigen Kinder eine starke Motivation für kooperatives Verhalten. Kinder bevorzugten beispielsweise, eine Belohnung nach Zusammenarbeit mit einer anderen Person zu erhalten, gegenüber dem Erhalt der gleichen Belohnung nach alleiniger Anstrengung (Rekers, Haun & Tomasello, 2011). Noch früher reagieren Kinder bereits auf eine Unterbrechung kooperativer Aktivitäten: Unterbrach ein Partner die Teilnahme, so bemühten sich Kleinkinder ab 14 Monaten darum, den Partner zur Wiederaufnahme der gemeinsamen Aktivität zu animieren (Warneken, Chen & Tomasello, 2006; Warneken & Tomasello, 2007). Dies war selbst dann der Fall, wenn die Kinder die Aktivität auch alleine hätten durchführen können (Warneken, Gräfenhain & Tomasello, 2012). Es kann von einer direkten Auswirkung empfundener Empathie auf kooperatives Verhalten ausgegangen werden, wenn die Bedürfnisse einer anderen Person berücksichtigt werden, obwohl die eigenen Bedürfnisse bereits erfüllt sind. Diese Tendenz ist schon bei Vorschulkindern beobachtbar. Arbeiteten 3,5-jährige Kinder gemeinsam mit einem Partner an einer Aufgabe, für die beide Beteiligten eine Belohnung bekommen sollten, so setzten sie ihr Engagement für die Aufgabe nach Erhalt ihrer Belohnung so lange fort, bis auch der Partner seine Belohnung bekam (Hamann, Warneken & Tomasello, 2012). Einzelne Facetten kooperativen Verhaltens lassen sich demnach bereits im zweiten Lebensjahr feststellen. Im Vorschulalter ist eine hohe Motivation für kooperatives Verhalten sowie die explizite Berücksichtigung von Bedürfnissen anderer im Rahmen von Kooperationen dokumentierbar.
Das Teilen von Ressourcen Andere Menschen bei einer Verteilung von Ressourcen zu berücksichtigen, gilt als eine ausschlaggebende Fähigkeit des Menschen, in großen sozialen Gruppen, auch mit Nicht-Verwandten, kooperativ zu interagieren (z. B. Bowles, 2004). Dabei werden bestimmte Verteilungsrelationen zwischen sich und anderen als fair erlebt. In Untersuchungen zur Entwicklung einer FairnessNorm in der Kindheit sind in den letzten Jahren vermehrt Paradigmen der experimentellen Ökonomie zum Einsatz gekommen: das Diktator-Spiel und das Ultimatum-Spiel (z. B. Engel, 2010; Thaler, 1988). In beiden Spielen geht es um die Verteilung von Ressourcen. Eine Person teilt einen Geldbetrag zwischen sich und einer zweiten, meist unbekannten Person auf. Beim Diktator-Spiel hat der Rezipient keinen Einfluss auf die Verteilung. Der Sender (Diktator)
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L. Schröder et al., Die Entwicklung prosozialen Verhaltens und psychische Auffälligkeiten
verteilt das Geld und der Rezipient muss diese Aufteilung akzeptieren. Im Ultimatum-Spiel wird ein Geldbetrag ebenfalls nach Ermessen des Senders aufgeteilt. Allerdings kann der Rezipient anschließend die Verteilung annehmen oder ablehnen. Lehnt er das Angebot ab, bekommt weder er noch der Sender seinen Teil. Im Diktator-Spiel gaben jüngere Kinder weniger ab als ältere Kinder, wenn sie die Gelegenheit erhielten, Sticker oder gegen Geld und Spielsachen einlösbare Tokens zwischen sich und einem anonymen Mitspieler zu teilen (Benenson, Pascoe & Radmore, 2007; Harbaugh, Krause & Liday, 2002). Ein Alterseffekt zeigte sich jedoch nicht, wenn kleine Geldbeträge als zu teilende Ressource verwendet wurden (Gummerum, Keller, Takezawa & Mata, 2008). Die Autoren vermuten, dass Geldbeträge für jüngere Kinder weniger attraktiv sind als Süßigkeiten bzw. Tokens, die unmittelbar anschließend gegen Süßigkeiten eingetauscht werden können. Jüngere Kinder geben allerdings nicht nur weniger beim Diktator-Spiel ab, sie sind auch eher bereit, geringere Angebote beim Ultimatum-Spiel zu akzeptieren als ältere Kinder. Gemeinsam ist allen Altersgruppen, dass sie strategisch vorgehen: Im Ultimatum-Spiel machen Kinder größere Angebote als im Diktator-Spiel (Harbaugh et al., 2002; Kogut, 2012). Fehr und Kollegen zeigten, dass Vorschulkinder Ressourcen vorrangig zu ihren eigenen Gunsten aufteilten, während Grundschulkinder eine egalitäre Verteilung präferierten, sodass beide gleich viel erhielten. Adoleszente teilten Ressourcen sogar manchmal zugunsten des anderen. Kinder teilten jedoch nicht über alle Personen gleich, sondern unterschieden zwischen Personen der eigenen und einer fremden Gruppe (Fehr, Bernhard & Rockenbach, 2008; Fehr, Glätzle-Rützler & Sutter, 2013). Ab einem Alter von ca. 14 Jahren teilten Jugendliche zwar auch uneigennützig zugunsten anderer, aber nur mit jemandem, den sie zu ihrer eigenen Gruppe zählten; diese Großzügigkeit fand sich nicht gegenüber jemandem, der einer fremden Gruppe angehörte (Fehr et al., 2013). Dieser sogenannte In-Group-Bias war bereits ab dem Grundschulalter zu verzeichnen, wobei Kinder Personen einer fremden Gruppe weniger gönnten als Personen ihrer eigenen Gruppe. Allerdings gönnten sie auch Personen ihrer eigenen Gruppe nur so viel, wie sie selbst erhielten. Eine Differenzierung zwischen Eigen- und Fremdgruppe war im Teilverhalten von jüngeren Kindern hingegen weniger stark ausgeprägt (Fehr et al., 2008). Das heißt, großzügigeres Teilverhalten entwickelt sich mit zunehmendem Alter parallel mit einem zunehmenden In-Group Bias (Buttelmann & Böhm, 2014; Fehr et al., 2008, 2013). Insgesamt zeigen sich paradigmenübergreifend markante altersbedingte Veränderungen im Teilverhalten von Kindern. Die Bereitschaft, Ressourcen zu teilen, steigt mit
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Abbildung 1. Verlauf der Entwicklung prosozialer Verhaltensweisen über die Kindheit. Anmerkung. Die abgebildeten Altersabschnitte stellen grobe Richtlinien dar, da es große interindividuelle Variationen im Entwicklungsverlauf gibt.
dem Alter. Ab der Adoleszenz ist zunehmend auch großzügigeres Teilverhalten beobachtbar, bei dem ein Nachteil für sich selbst in Kauf genommen wird, um einer anderen Person Ressourcen zukommen zu lassen. Hierbei wird darauf geachtet, dass ein Mitglied der eigenen Gruppe Nutznießer des Teilverhaltens ist (s. Abb. 1).
Psychische Auffälligkeiten und die Entwicklung von Prosozialität Prosozialität ist positiv mit Wohlbefinden und Anpassungsfähigkeit assoziiert (z. B. Eisenberg & Fabes, 1998; Eisenberg, Spinrad & Morris, 2014). Wie zuvor beschrieben und in Abbildung 1 zusammenfassend dargestellt, sind prosoziale Verhaltensweisen bereits im Kleinkindalter im zweiten Lebensjahr zu beobachten (Hay & Cook, 2007, für ein Review), nehmen mit fortschreitendem Alter zu (Eisenberg & Fabes, 1998) und werden gleichzeitig komplexer (Fehr et al., 2008). Diese allgemeinen Entwicklungstrajektorien des prosozialen Verhaltens weisen jedoch interindividuelle Unterschiede auf (Hay, 1994), die sich als über die Zeit stabil erweisen (Côté, Tremblay, Nagin, Zoccolillo & Vitaro, 2002; Nantel-Vivier, Pihl, Côté & Tremblay, 2014). Längsschnittstudien haben gezeigt, dass spontanes Hilfeverhalten im Vorschulalter Prosozialität in der Adoleszenz vorhersagt (Eisenberg et al., 1999). Ebenfalls nachgewiesen wurde, dass geringes prosoziales Verhalten in der Kindheit prädiktiv für spätere psychopathologische Auffälligkeiten ist (z. B. Hämäläinen & Pulkkinen, 1996). Allerdings ist die Befundlage zum Zusammenhang von psychischer Gesundheit und prosozialem Verhalten heterogen und komplex, wie im Folgenden ausgeführt wird.
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L. Schröder et al., Die Entwicklung prosozialen Verhaltens und psychische Auffälligkeiten
Prosoziales Verhalten und externalisierende Auffälligkeiten Für den Zusammenhang von externalisierenden Auffälligkeiten und Prosozialität wird weitgehend ein negativer Zusammenhang gefunden. Kinder, die externalisierende Auffälligkeiten zeigen, verhalten sich also tendenziell weniger prosozial als Kinder, die diese nicht zeigen. Basierend auf Fremdeinschätzungen durch Eltern oder Lehrer wurde ein negativer Zusammenhang zwischen Verhaltensproblemen (z. B. ADHS, Aggressivität, Hyperaktivität/Impulsivität, Störung des Sozialverhaltens) und prosozialem Verhalten bereits im Vorschulalter (Hay, Hudson & Liang, 2010: r = –.53 bis –.70 basierend auf Lehrerurteil, r = –.20 bis –.47 basierend auf Elternurteil) sowie im Grundschulalter festgestellt (Andrade & Tannock, 2014: r = –26 bis –.59; Paap et al., 2013: β = –12 bis –.35 basierend auf Lehrerurteil, β = –07 bis –.27 basierend auf Elternurteil; Vinnick & Erickson, 1992: r = –.29). In einer Längsschnittuntersuchung war niedrige Prosozialität mit 5 Jahren mit Verhaltensproblemen im Alter von 12 Jahren assoziiert (Perren, ForresterKnauss & Alsaker, 2012: β = –.19). Prosoziales Verhalten ging in der Grundschulzeit mit sozialer Anpassungsfähigkeit einher. Das gemeinsame Auftreten von ausgeprägter Aggressivität und niedriger Prosozialität war besonders problematisch für spätere soziale Anpassungsfähigkeit (Crick, 1996). Eine Studie von Hämäläinen und Pulkkinen (1996) zeigt, dass die Wahrscheinlichkeit, im Erwachsenenalter (Erhebung mit 27 Jahren) straffällig zu werden, umso geringer war, je stärker Personen prosoziales Verhalten in ihrer Kindheit gezeigt hatten (Odds-Ratio = 1.54). 41 % der Männer, die sich mit 8 Jahren wenig prosozial verhielten, befanden sich später in Haft. Beobachtungsstudien, die Prosozialität auf der interaktiven Verhaltensebene einschätzen und nicht basierend auf Fragebögen Dritter, kommen zu ähnlichen Ergebnissen. Kinder, die in ihrem Verhalten als klinisch auffällig eingeschätzt wurden, zeigten in verschiedenen Situationen weniger prosoziales Verhalten im Vergleich zu verhaltensunauffälligen Kindern, z. B. in einer Situation, in der jemand Leid erfuhr (Hastings, Zahn-Waxler, Robinson, Usher & Bridges, 2000: d = 2.27) oder während einer Spielsituation mit einem Gleichaltrigen (Hughes, White, Sharpen & Dunn, 2000: d = .90). Größere Sorge um andere im Vorschulalter moderierte die Stabilität sowie den Schweregrad externalisierender Probleme in der Grundschulzeit (Hastings et al., 2000: β = –.20 bis –.29). Ebenso zeigte sich in einer Längsschnittstudie ein negativer Zusammenhang zwischen externalisierenden Verhaltensweisen und kooperativem Verhalten mit 4 Jahren (r = –.18) sowie externalisierenden Verhaltensweisen und prosozialem Verhalten mit 11 Jahren (r = –.56). Auch über die Zeit war kooperatives Verhalten im Alter von 4 Jahren negativ mit externalisierenden Verhal© 2016 Hogrefe
tensweisen mit 11 Jahren assoziiert (β = –.19). Auf Gruppenebene zeigten Kinder mit einer Störung des Sozialverhaltens (disruptive behavior disorder nach DSM-IV-Kriterien) weniger prosoziales Verhalten als Kinder ohne eine solche Diagnose (Hay & Pawlby, 2003: d = .81). Externalisierende Verhaltensweisen und prosoziales Verhalten schließen sich auf individueller Ebene jedoch nicht aus. In einer Studie mit 7- bis 12-jährigen Jungen mit und ohne ADHS wurde das Verhalten der Kinder während einer Interaktion mit jüngeren Kindern eingeschätzt. Die Zielkinder hatten die Aufgabe, eine Gruppe von jeweils zwei bis vier ihnen unbekannten Kindern anzuleiten. Das Verhalten der Zielkinder wurde dabei in Bezug auf prosoziales (z. B. soziale Verantwortung, Lob, Ermutigung, Empathie oder Erklärungen geben) und antisoziales Verhalten (z. B. feindlicher Affekt, störendes Verhalten oder Kritik) eingeschätzt (Buhrmester, Whalen, Henker, MacDonald & Hinshaw, 1992). Es wurden drei Gruppen miteinander verglichen: Jungen ohne ADHS (Vergleichsgruppe), Jungen mit ADHS, wenn sie keine Medikamente einnahmen, und wenn sie 0.6 mg/kg Methylphenidat einnahmen. Jungen mit ADHS ohne medikamentöse Behandlung zeigten gleichermaßen prosoziales Verhalten wie die unauffällige Vergleichsgruppe. Allerdings zeigten sie gleichzeitig mehr antisoziales Verhalten als die Vergleichsgruppe (d = 1.14) und waren deshalb bei den anderen Kindern weniger beliebt. Jungen mit ADHS zeigten jedoch weniger prosoziales Verhalten als die Vergleichsgruppe (d = .89), wenn sie Methylphenidat einnahmen. Es zeigt sich demnach, dass sich prosoziales und antisoziales Verhalten nicht ausschließen und somit nicht zwei Enden eines Kontinuums darstellen. Dies bestätigen auch groß angelegte Längsschnittstudien, die den sogenannten «developmental trajectory approach» zur Datenanalyse angewendet haben. Dabei werden viele Datenpunkte über die Zeit sowie von verschiedenen Verhaltensdimensionen gleichzeitig berücksichtigt und Subgruppen von Personen identifiziert, die ähnliche Entwicklungsverläufe nehmen (z. B. Côté et al., 2002; Nantel-Vivier et al., 2014). Ebenso wird dabei das gemeinsame Auftreten von Entwicklungsverläufen verschiedener Verhaltensdimensionen untersucht. Auch hier wurde eine negative Assoziation zwischen prosozial geprägten und von Aggressivität geprägten Verläufen festgestellt (Kokko, Tremblay, Lacourse, Nagin & Vitaro, 2006: r = –.07 bis –.18). 79 % der Jungen, die über die Zeit ausgeprägte Aggressivität zeigten, waren wenig prosozial. Allerdings wurde auch eine kleine Subgruppe von Jungen gefunden, die Entwicklungsverläufe von Aggressivität und gleichzeitiger Prosozialität aufwiesen (Kokko et al., 2006). In einer anderen Studie erwies sich das Problemverhalten von Kindern mit externalisierenden Auffälligkeiten, die gleichzeitig prosoziales Verhalten zeigten, als weniger stabil als von Kindern, die sich gleichzeitig wenig prosozial verhielten (z. B. Hastings et al., 2000).
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Fazit Die negative Assoziation zwischen externalisierenden Auffälligkeiten und Prosozialität zeigt sich in den hier dargestellten Studien als recht stabil, und zwar unabhängig davon, ob einzelne Störungsbilder, spezifische Symptomdimensionen oder eine allgemeine externalisierende Dimension im Fokus stehen. Primär zeigen sich mittlere bis große Effekte (nach Cohen, 1988). Allerdings untersuchen die meisten Studien keine Störungsbilder basierend auf klinischen Diagnosen, sondern vielmehr übergeordnete Dimensionen (z. B. externalisierende Auffälligkeiten) oder bestimmte Verhaltensdimensionen (z. B. Aggressivität). Auch bei den Analysen werden häufig korrelative Zusammenhangsmuster über Gruppen hinweg untersucht und nicht spezifische Entwicklungsverläufe von klinisch auffälligen und unauffälligen Kindern. Die negative Assoziation zwischen externalisierenden Auffälligkeiten und Prosozialität könnte auf zugrunde liegende kognitive Fähigkeiten zurückzuführen sein. Insbesondere exekutive Funktionen (die Fähigkeit, das eigene Verhalten zu regulieren, z. B. Drechsler, 2007) sind bei Kindern mit externalisierenden Auffälligkeiten weniger stark ausgebildet als bei Kindern ohne Auffälligkeiten (z. B. Happé, Booth, Charlton & Hughes, 2006; Hughes et al., 2000; Perner, Kain & Barchfeld, 2002). Exekutive Funktionen stehen wiederum in Zusammenhang mit prosozialem Verhalten (z. B. Moore, Barresi & Thompson, 1998). So könnten bei externalisierenden Störungen mangelnde Fähigkeiten exekutiver Funktionen einer verringerten Prosozialität zugrunde liegen. In einer Gesamtstichprobe von auffälligen und unauffälligen Vorschülern gab es Hinweise darauf, dass exekutive Funktionen Varianz im prosozialem Verhalten aufklärten (Hughes et al., 2000). Allerdings bestand dieser Zusammenhang nicht innerhalb der Gruppe von auffälligen Kindern (basierend auf Einschätzungen der Eltern). Zudem handelte es sich nicht um eine klinische Stichprobe. Die Untersuchung von Mediator- oder Moderator-Effekten im Zusammenhang von externalisierenden Auffälligkeiten und Prosozialität in verschiedenen Altersgruppen sowie in klinischen Stichproben wäre ein interessanter zukünftiger Untersuchungsgegenstand. Prosoziales Verhalten wirkt sich positiv auf die Entwicklung externalisierender Auffälligkeiten aus (z. B. Hastings et al., 2000). Die Reduzierung unerwünschter Verhaltensweisen (z. B. bei der Störung des Sozialverhaltens) könnte sich insbesondere dann positiv auswirken, wenn gleichzeitig prosoziale Verhaltensweisen im Rahmen therapeutischer Maßnahmen gefördert werden. Denn insbesondere, wenn Kinder nicht nur antisoziales Verhalten unterlassen, sondern auch prosoziales Verhalten zeigen, reduzieren sich soziale Einschränkungen und verbessern sich positive
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Beziehungen mit Gleichaltrigen (Andrade, Browne & Tannock, 2014).
Prosoziales Verhalten und internalisierende Auffälligkeiten Hinsichtlich eines Zusammenhangs zwischen internalisierenden Auffälligkeiten und Prosozialität ist die Befundlage heterogener als bei externalisierenden Auffälligkeiten. Hay und Pawlby (2003) fanden in ihrer bereits erwähnten Längsschnittstudie keinen Zusammenhang zwischen kindlichem prosozialem Verhalten (fragebogenbasiert) sowie Kooperationsverhalten (basierend auf Beobachtung) im Vorschulalter und internalisierenden Auffälligkeiten mit 11 Jahren. Auch andere Studien fanden keinen Zusammenhang zwischen prosozialem Verhalten und internalisierenden Symptomen, wenn diese als übergeordnete Dimension erfasst wurden (Chen, Li, Li, Li & Liu, 2000; Vinnick & Erickson, 1992). Die Befundlage variiert zum einen in Abhängigkeit von der Kongruenz zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung: Jugendliche waren insbesondere dann gefährdet, eine emotionale Störung (ICD-10-Diagnose für eine Angst- oder depressive Störung) zu entwickeln, wenn sie sich selbst zwar als sehr prosozial einschätzten, ihre Mütter sie aber als wenig prosozial (Tayler & Wood, 2013: Odds-Ratio für Interaktion = .49). Zum anderen zeigen sich Zusammenhänge zwischen internalisierenden Auffälligkeiten und prosozialem Verhalten, wenn spezifische internalisierende Symptome in den Blick genommen werden. In mehreren Studien war Prosozialität (oder spezifische Formen davon wie Kooperationsbereitschaft) negativ mit depressiven Symptomen assoziiert (Bandura, Pastorelli, Barbaranelli & Caprara, 1999: r = –.26 bis –.51; Chen et al., 2000: r = –.12 bis –.15; Perren et al., 2012: r = –.11; Zimmer-Gembeck, Hunter & Pronk, 2007: r = –.27). In einer Studie mit 6- bis 7-Jährigen zeigte sich, dass die negative Assoziation zwischen prosozialem Verhalten und depressiven Symptomen durch Mobbing Gleichaltriger mediiert wurde: Der Zusammenhang zwischen depressiven Symptomen und Prosozialität (β = –.21) bestand nicht mehr, nachdem die Variable Mobbing Gleichaltriger in das Regressionsmodell aufgenommen wurde. Das heißt, ein Defizit in prosozialem Verhalten war insbesondere dann mit depressiven Symptomen assoziiert, wenn Kinder von anderen Kindern gemobbt wurden (Perren & Alsaker, 2009). Es gibt jedoch auch Befunde zu positiven Zusammenhängen zwischen prosozialem Verhalten und internalisierenden Symptomen. In der bereits erwähnten Studie von Hay und Pawlby (2003) waren Kinder, die große Sorge um andere zeigten (davon erfüllten 69 % Kriterien einer
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DSM-IV-Diagnose), prosozialer als Kinder ohne diese ausgeprägten Sorgen (d = .66). In einer weiteren Längsschnittstudie war Prosozialität mit 6 Jahren mit einem Anstieg emotionaler Symptome (depressive Symptome und Überängstlichkeit) zwischen 6 und 9 Jahren assoziiert (Groeben, Perren, Stadelmann & von Klitzing, 2010: Wald χ2 = 5.5). Perren und Kollegen zeigten, dass sehr prosoziale 5-jährige Kinder mit ausgeprägten emotionalen Problemen ein Jahr später die größten emotionalen Probleme hatten. Kinder mit wenig emotionalen Problemen und ausgeprägter Prosozialität hatten hingegen am wenigsten emotionale Probleme nach einem Jahr (Perren, Stadelmann, von Wyl & von Klitzing, 2007: GLM-Analyse, F = 5.74 für die Interaktion emotionale Probleme × Prosozialität; R2 für das gesamte Modell = .29). Auch für internalisierende Probleme gibt es eine Studie, die den Zusammenhang mit dem zuvor beschriebenen Ansatz des «developmental trajectory» untersucht hat. Hierbei zeigte sich zum einen, dass bei kindlichen Entwicklungsverläufen über die Zeit von 2 bis 11 Jahren sowohl sehr niedrige Depressivität als auch starke Depressivität mit geringer Prosozialität auftreten kann (54 % und 42 %)1. Zum anderen ließ sich nachweisen, dass der Anteil von Kindern mit geringer Ängstlichkeit und der von Kindern mit großer Ängstlichkeit gleich groß war in einem stark prosozial geprägten Entwicklungsverlauf (NantelVivier et al., 2014: 46 % und 41 %)2.
Fazit Insgesamt zeichnen sich beim Zusammenhang zwischen Prosozialität und internalisierenden Auffälligkeiten kleine bis mittlere Effekte ab (Cohen, 1988). Zusammenhangsmuster variieren hierbei stark in Abhängigkeit von unterschiedlichen Symptomen oder Störungsbildern. Dies könnte erklären, warum Studien, die eine übergeordnete internalisierende Dimension untersuchen, oftmals keine Zusammenhänge finden. Über die Studien hinweg zeichnet sich ab, dass Depressivität mit niedrigerer Prosozialität assoziiert ist. Dies könnte durch den geminderten Antrieb, der mit diesem Störungsbild einhergeht, zu erklären sein. Denkbar ist, dass depressiven Kindern und Jugendlichen die Energie fehlt, sich prosozial zu verhalten (Nantel-Vivier et al., 2014). Eine weitere Erklärung könnte eine für chronisch Depressive charakteristische Ich-Zentrierung sowie ein Mangel an Empathiefähigkeit sein (McCullough, 2000).
Im Gegensatz dazu ist Ängstlichkeit eher mit ausgeprägter Prosozialität assoziiert. Dies könnte in einer großen Sorge um andere begründet sein (Hay & Pawlby, 2003). Allerdings ist auch hier zu erwarten, dass je nach Art der Ängstlichkeit (z. B. soziale Ängstlichkeit und Trennungsangst) Unterschiede auftreten können. Soziale Ängstlichkeit könnte das Interagieren mit anderen Personen ebenfalls hemmen und damit auch prosoziales Verhalten. Spezifische Ängste wurden in den hier dargestellten Studien allerdings nicht in den Blick genommen. Angenommen werden kann auch, dass bei internalisierenden Auffälligkeiten der jeweilige Kontext, in dem prosoziales Verhalten erfasst wird, eine Rolle spielt. Im Kontext Schule zeigte sich, dass Ängstlichkeit negativ mit prosozialem Verhalten assoziiert war (LaFrenière, Provost & Dubeau, 1992: r = –.49). Unter bestimmten Bedingungen (Ausmaß der Strukturiertheit eines Settings) verhielten sich Vorschulkinder mit internalisierenden Auffälligkeiten sogar weniger prosozial als Gleichaltrige mit externalisierenden Auffälligkeiten (Del’Homme, Sinclair & Kasari, 1994: d = .92). Demnach zeigen Kinder mit bestimmten internalisierenden Auffälligkeiten unter unterschiedlichen Rahmenbedingungen mehr oder weniger prosoziales Verhalten. Einige Studien differenzieren allerdings nicht zwischen Depressivität und Ängstlichkeit, was neben einer großen Methodenvielfalt in den aufgeführten Studien zu den heterogenen Ergebnissen beitragen könnte. Prosoziales Verhalten hängt insbesondere dann positiv mit internalisierenden Problemen zusammen, wenn selbst-orientierte Sozialkompetenzen gleichzeitig gering ausgeprägt sind (Groeben et al., 2010; Perren et al., 2012). Diese Art der Sozialkompetenz beinhaltet beispielsweise das Initiieren und Aufrechterhalten sozialer Interaktionen, soziale Teilhabe, Durchsetzungsvermögen oder die Fähigkeit, Grenzen zu setzen. Das heißt, insbesondere bei Kindern mit internalisierenden Problemen könnte es bei therapeutischen und präventiven Maßnahmen wichtig sein, eine Balance zwischen den selbstorientierten und fremdorientierten (prosozialen) Verhaltensweisen im Blick zu haben (Perren & Alsaker, 2009).
Ausblick Die meisten hier gesichteten Untersuchungen erfassen prosoziales Verhalten als übergeordnete Dimension, während drei der insgesamt 22 Studien neben einer allgemei-
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Prozentzahlen beziehen sich auf die jeweilige Gesamtheit der Gruppe von Kindern mit (1) sehr niedriger Depressivität und (2) starker Depressivität im Entwicklungsverlauf. 2 Prozentzahlen beziehen sich auf die Gesamtheit der Gruppe von Kindern in einem stark prosozial geprägten Entwicklungsverlauf.
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nen prosozialen Dimension die Kooperationsbereitschaft als Variable separat erfassen. Für zukünftige Studien wäre es empfehlenswert, die unterschiedlichen Bereiche prosozialen Verhaltens separat in den Blick zu nehmen (z. B. Helfen, Teilen, Kooperieren). Darüber hinaus hat ein Großteil der Studien Prosozialität durch Fremdurteile, basierend auf Fragebögen, erfasst und nur vier Studien basierend auf Beobachtungen. Hierbei wurden mehr oder weniger standardisierte Interaktionen in den Blick genommen. Es wäre aufschlussreich, in zukünftigen Untersuchungen auch mit klinischen Stichproben standardisierte Aufgaben durchzuführen, z. B. die oben erwähnten Diktator- und Ultimatum-Spiele. Im Hinblick auf die Erfassung psychischer Auffälligkeiten wurden in den hier aufgeführten Studien kaum klinische Stichproben einbezogen und in nur drei Studien wurden klinische Diagnosen berücksichtigt. Selbst wenn klinische Interviews oder klinische Urteile einbezogen wurden, haben die meisten Untersuchungen einen korrelativen Ansatz gewählt und keine Gruppenvergleiche durchgeführt. Es wäre unseres Erachtens wichtig, klinische Stichproben zukünftig zu inkludieren und dabei spezifische klinische Diagnosen sowie deren Komorbiditäten zu berücksichtigen. Außerdem wäre es hinsichtlich therapeutischer Interventionen aufschlussreich, zugrunde liegende Mechanismen, die Prosozialität bedingen, in klinischen Stichproben zu untersuchen. Für zukünftige klinische und entwicklungspsychologische Studien ergeben sich daher noch zahlreiche Untersuchungsaspekte.
Danksagung Die Arbeit an diesem Artikel wurde unterstützt durch eine Förderung des Mercator Research Center Ruhr – eine Initiative der Stiftung Mercator und der Universitätsallianz Metropole Ruhr (An-2013-0031).
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Manuskripteingang: 03.12.2014 Nach Revision angenommen: 01.07.2015 Interessenkonflikt: Nein Dr. Lisa Schröder Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters, LVR-Klinikum Essen, Medizinische Fakultät Universität Duisburg-Essen Wickenburgstr. 21 45147 Essen Deutschland lisa.schroeder@uni-due.de
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Originalarbeit
Unterbringung von Kindern und Jugendlichen mit freiheitsentziehenden Maßnahmen Eine rechtstatsächliche Untersuchung zur familiengerichtlichen Genehmigung der Unterbringung bei Minderjährigen in der Jugendhilfe, Kinder- und Jugendpsychiatrie und der Justiz nach § 1631b BGB Michael Kölch1,2 und Harald Vogel3 1
Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie, Universitätsklinikum Ulm Kliniken für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik, Vivantes Netzwerk für Gesundheit Berlin GmbH 3 Weiterer aufsichtsführender Richter am Amtsgericht Tempelhof-Kreuzberg a. D., Berlin 2
Zusammenfassung: Sowohl in der Kinder- und Jugendpsychiatrie als auch in der Jugendhilfe können Kinder und Jugendliche gegen ihren Willen durch gesetzliche Vertreter freiheitsentziehend untergebracht werden. Dies bedarf der familiengerichtlichen Genehmigung nach § 1631b BGB. Genauere repräsentative Untersuchungen zu Anzahl, Gründen und zu den Charakteristika der untergebrachten Minderjährigen sind rar. Ziel der Arbeit war es, eine genauere Analyse in einem Amtsgerichtsbezirk durch eine Vollerhebung aller Verfahren nach § 1631b BGB über mehrere Jahre hinsichtlich soziodemografischer Charakteristika und der Unterbringungsgründe sowie der inhaltlichen Aspekte des Verfahrens, wie Beteiligung der Minderjährigen und der Eltern, durchzuführen. Von 474 Verfahren in den Jahren 2008 bis 2011 blieben nach Bereinigung um Verfahren z. B. zu Inobhutnahmen nach § 42 SGB VIII, 376 Verfahren übrig. Von diesen Verfahren wiederum erledigten sich 249 aufgrund z. B. Abweisung oder Rücknahme bzw. Aufhebung des Beschlusses. Die meisten der verbleibenden 127 Verfahren betrafen Mädchen (n = 68), die zum Verfahrenszeitpunkt etwas jünger waren als die Jungen (14.5 Jahre vs. 15.1 Jahre). Zwei Drittel der Verfahren betrafen deutsche Staatsangehörige. In der Mehrzahl der Verfahren lebten die Jugendlichen zum Zeitpunkt des Verfahrens im familiären Kontext, bei 15 % aller Verfahren lebten die Jugendlichen aber auf der Straße. Die meisten Unterbringungen fanden in der Kinder- und Jugendpsychiatrie statt, die häufigsten Unterbringungsgründe waren Substanzmissbrauch, Suizidalität und Weglaufen von zu Hause/Auf-der-Straße-Leben. Schlüsselwörter: freiheitsentziehende Unterbringung von Minderjährigen, familiengerichtliche Genehmigung, § 1631b BGB, Unterbringungsgründe, Kinder- und Jugendpsychiatrie, Jugendhilfe
Placement of children and adolescents following seclusion and restraint actions – a study on family-court approvals of minors in youth welfare, child and adolescent psychiatry and jail according to Para. 1631 German Civil Code Abstract: According to German law (Para. 1631b German Civil Code), the placement of children and adolescents following seclusion and restraint actions must be approved by a family court. We analyzed the family court data of a court district in Berlin (Tempelhof-Kreuzberg) concerning cases of “placement of minors” between 2008 and 2011. A total of 474 such procedures were discovered. After data clearing and correction of cases (e. g., because of emergency interventions of the youth welfare system taking children into custody according to Para. 42, German Civil Code VIII), 376 cases remained. Of these 376 procedures in the years 2008 to 2011, 127 cases concerned children and adolescents according to Para. 1631b German Civil Code, and 249 procedures were settled either by dismissal, withdrawal or by repealing the initial decision to place the child with restrain or seclusion by means of an interim order or by filing an appeal against the final decision. Of the 127 procedures, 68 concerned girls, who were on average slightly younger than boys (14.5 years vs. 15.1 years). In two thirds of the procedures, the children and adolescents were German citizens. The majority of youths involved were living at home at the time of the procedure, but in 15 % of the case the youths were homeless. Most of the adolescents were treated with restraint in child and adolescent psychiatry. The most frequently quoted reasons for seclusion were substance abuse, suicide risk and running away from home/being homeless. Keywords: seclusion and restraint of minors, Para. 1631b German Civil Code, reasons for seclusion, court decision, child and adolescent psychiatry, justice
Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie (2016), 44(1), 1–11 DOI 10.1024/1422-4917/a000397
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M. Kölch & H. Vogel: Unterbringung von Kindern und Jugendlichen mit freiheitsentziehenden Maßnahmen
Einleitung Sowohl in der Kinder- und Jugendpsychiatrie als auch in der Jugendhilfe können Minderjährige gegen ihren Willen nur mit richterlicher Genehmigung freiheitsentziehend untergebracht werden. Anders als bei Erwachsenen besteht bei Minderjährigen jenseits der landesrechtlichen Unterbringungsgesetze die Möglichkeit, im Rahmen zivilrechtlicher Verfahren eine Genehmigung zu erlangen. Sorgeberechtigte müssen sich Eingriffe in das Freiheitsrecht der Minderjährigen nach § 1631b BGB genehmigen lassen. Voraussetzung für eine freiheitsentziehende Unterbringung eines Kindes oder Jugendlichen gegen seinen Willen müssen (akute) Gefährdungsmomente sein, die geeignet sind, das Kindeswohl nachhaltig und entscheidend zu gefährden. Wenn andere Mittel möglich und aussichtsreich sind, die Gefährdung des Kindeswohls abzuwenden, sind diese zu wählen (§ 1631b BGB). Hinsichtlich der Geeignetheit der Maßnahme, die Gefährdung abzuwenden, gibt es in der Praxis oftmals zwischen den Professionen Dissens (Kommission Jugendhilfe, Arbeit, Soziales und Inklusion, 2014). Hier entstehen vielfach Delegationsketten zwischen der Medizin und der Jugendhilfe in Fällen, die Bedarf an Unterstützung aus beiden Professionen haben. Typisch sind hierfür delinquente Jugendliche oder Jugendliche mit dissozialer Entwicklung, die auf der Straße leben («Trebegänger») und Substanzabusus betreiben. Die Hoffnung der Jugendhilfe ist oft, dass eine Therapie in der Kinder- und Jugendpsychiatrie das Verhalten ändert, während aus kinder- und jugendpsychiatrischer Sicht eher langfristige pädagogische Maßnahmen in der Jugendhilfe angezeigt sind. Letztlich handelt es sich um Minderjährige, die der Hilfe aus beiden Systemen bedürfen (Schmid, 2008). Zwangsmaßnahmen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie und Jugendhilfe sind ethisch und rechtlich sehr sensible Situationen. Freiheitsbeschränkende oder -entziehende Maßnahmen bergen einerseits die Gefahr von Grundrechtsverletzungen, andererseits sind Aggression und Gewalt oftmals zumindest einer der Behandlungsgründe der Patienten, denen im Behandlungskontext mit Zwangsmaßnahmen begegnet wird (Fetzer, Steinert, Metzger & Fegert, 2006; Schnoor et al., 2006; Libal, Plener, Fegert & Kölch, 2006; Fegert, Späth & Salgo, 2001). In den letzten Jahren wurde zudem die Debatte zu freiheitsentziehenden Maßnahmen1 (Menk, Schnorr & Chrapper, 2013) durch zwei Ereignisse aktualisiert: einmal aufgrund der Vorgänge um die Einrichtungen der Haasenburg GmbH in Bran-
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denburg (Hoffmann et al., 2013; Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie, 2013) und zum anderen durch den Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 07.08.2013 (vgl. Deutsches Institut für Jugendhilfe und Familienrecht, 2013; Salgo, 2013; Moll-Vogel, 2013), wonach eine nächtliche Fixierung eines Kindes in einer offenen heilpädagogischen Einrichtung keine genehmigungsbedürftige Unterbringungsmaßnahme im Sinne des § 1631b BGB sei. Dabei fehlen systematische Untersuchungen zu Gründen für die Unterbringung von Minderjährigen weitgehend. Eine inzwischen ältere Untersuchung (Rüth, Noterdaeme, Wentzel & Freisleder, 2003) zeigte, das psychische Auffälligkeiten der häufigste Grund (60.4 %) für Maßnahmen nach § 1631b BGBG waren, gefolgt von Weglaufen (49.5 %), Delinquenz (47.5 %), Problemen beim Schulbesuch (39.6 %), sexuellen Gefährdungssituationen (19.8 %) und körperlichen Krankheiten (3.0 %). Diese Autoren schlussfolgerten damals, dass Substanzmissbrauch allein hinsichtlich der Häufigkeit kein relevanter Grund für geschlossene Unterbringungen sei. Hoops und Permien (2006, 2008) untersuchten 112 Stellungnahmen des Jugendamts in Verfahren nach § 1631b BGB hinsichtlich der genannten Gründe für eine Unterbringung gegen den Willen des Minderjährigen. In dieser Untersuchung wurden bei den Jungen als Gründe für den Antrag in absteigender Häufigkeit genannt: Delinquenz (86 %), Aggressivität (74 %), Schulprobleme/-absenz (67 %), Weglaufen (56 %), Fehlen/Verweigern anderer Maßnahmen (54 %), belastete Familiensituation/Erziehungsprobleme (51 %), Alkoholund Drogengefährdung (39 %), gefährdendes Umfeld (20 %), Selbstverletzung/Suizidneigung (11 %) und Prostitutionsgefährdung/sexualisiertes Verhalten (7 %). Bei den Mädchen stand das Weglaufen (79 %) an erster Stelle, gefolgt von Schulproblemen/-absenz (77 %), Delinquenz (72 %), belastete Familiensituation/Erziehungsprobleme (70 %), Fehlen/Verweigern anderer Maßnahmen (65 %), Prostitutionsgefährdung/sexualisiertes Verhalten (61 %), Alkohol- und Drogengefährdung (56 %), Aggressivität (49 %), gefährdendes Umfeld (44 %) und Selbstverletzung/Suizidneigung (21 %). Beide Untersuchungen fanden also in der Häufigkeit der einzelnen Gründe Unterschiede, jedoch waren trotz einer unterschiedlichen Terminologie und Definition der Gründe diese insgesamt sehr ähnlich. Dissoziales Verhalten, Substanzabusus und vor allem «Auf-der-Straße-Leben» waren häufige Gründe im Sinne der Kindeswohlgefährdung für die Eingriffe in die Persönlichkeitsrechte der Minderjährigen.
In der Praxis werden freiheitsentziehende Maßnahmen verkürzend und vereinfachend oft «geschlossene Unterbringung» genannt. Dies sollte aber vermieden werden, da damit eine statische Form der Unterbringung suggeriert wird, die weder gewünscht ist noch der Realität entsprechen sollte (vgl. hierzu auch Vogel, 2014).
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Die bisherigen, wenigen Untersuchungen zeigen, dass Kinder und Jugendliche, bei denen eine Unterbringung mit Freiheitsentziehung durchgeführt wird, offenbar häufig aus «sogenannten Multiproblemfamilien» (Hoops und Permien, 2008) kommen. Inhaltlich wird im Rahmen von freiheitsentziehenden Maßnahmen – insbesondere bei den Unterbringungen in der Jugendhilfe – immer wieder beklagt, dass es sich dabei um das Ergebnis von langjährigem Scheitern handele und dementsprechend die Prognose der Maßnahmen eher ungünstig sei. Tatsächlich zeigen Untersuchungen, dass, je häufiger ein Jugendlicher eine Jugendhilfemaßnahme wechselt, insbesondere abbricht, der Behandlungserfolg der folgenden Maßnahme umso schlechter sein wird (Aarons et al., 2010; Fisher, Stoolmiller, Mannering Takahashi & Chamberlain, 2011; Schmid et al., 2014). Schon Trauernicht (1991) konstatierte, es handele sich bei den Jugendlichen mit Verfahren nach § 1631b BGB um langjährige Verläufe, die sowohl vom Scheitern der Maßnahmen als auch der Minderjährigen gekennzeichnet seien. Dettenborn und Walter (2002) bzw. Walter (2013) sprechen von bindungs- bzw. beziehungsgestörten Jugendlichen. Im gerichtlichen Verfahren sind die Kinder Subjekte mit eigenen Rechten und Pflichten, und sie sind im Verfahren aktiv zu beteiligen. Zum Verfahren selbst sind Untersuchungen nicht vorhanden (Vogel, 2014). Das Verfahren soll aus rechtlicher Sicht so gestaltet werden, dass in der Regel mit der Feststellung der anwesenden Personen (Kind, seine Erziehungsberechtigten, der Arzt, der Verfahrensbeistand und auch der Mitarbeiter des örtlichen Jugendamtes) begonnen wird (vgl. Zimmermann, 1990; Coeppicus, 1991). Vor der richterlichen Anhörung des Minderjährigen werden zunächst die Stellungnahmen des Arztes, des Verfahrensbeistandes, des Mitarbeiters des Jugendamtes und der Aufenthaltsbestimmungsberechtigten mündlich eingeholt und protokolliert (Vogel, 2014). Danach hat das Kind ohne Anwesenheit der übrigen Beteiligten mit Ausnahme seines Verfahrensbeistandes die Äußerungsmöglichkeit. Dem Kind wird zunächst das Ergebnis der Anhörung der übrigen Beteiligten zusammenfassend mitgeteilt oder das Protokoll vorgelesen (Vogel, 2014). Jedoch ist bisher nicht untersucht, inwiefern die Minderjährigen sich äußern, welche Stellungnahmen etwa die Eltern/Aufenthaltsbestimmungsberechtigten in der Praxis abgeben und inwieweit das Verfahren tatsächlich Partizipation, z. B. des Minderjährigen, ermöglicht. In dem Bereich der familiengerichtlichen Genehmigung der freiheitsentziehenden Maßnahmen nach § 1631b BGB fehlt eine wissenschaftlich abgesicherte Rechtstatsachenforschung, also eine empirische Erhebung über die tatsächlichen Verfahren, sowohl quantitativ wie inhaltlich. Ohne eine rechtstatsächliche Untersuchung fehlt aber die Möglichkeit, zu
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beurteilen, wie effektiv die richterliche Kontrolle ist (Salgo, 2001; Staudinger & Salgo, 2007). Die hier dargestellte Untersuchung geht der Frage nach, welche soziodemografischen Variablen die Minderjährigen charakterisieren, bei denen ein Verfahren nach § 1631b BGB stattfand und eine Unterbringung durch das Familiengericht genehmigt wurde. Es wurden die Gründe für den Antrag, die Art der Unterbringung und das Verfahren an sich, d. h. die Beteiligung der Minderjährigen und der anderen Beteiligten am Verfahren in der tatsächlichen Praxis untersucht.
Methode Es handelt sich um eine retrospektive systematische Analyse von familiengerichtlichen Fällen. Es wurden die familiengerichtlichen Akten des Amtsgerichts TempelhofKreuzberg aus den Jahren 2008 bis 2011 analysiert. Der Erfassungszeitraum bot die Möglichkeit des Vergleichs in der richterlichen Bearbeitung der Verfahren nach § 1631b BGB nach altem und neuem Recht. Das Gesetz über die Angelegenheiten der Freiwilligen Gerichtsbarkeit (FGG a. F.) vom 20.05.1898 (RGBl. S. 771) galt bis zum 31.08.2009, das Gesetz zur Reform des Verfahrens in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit (FGG-Reformgesetz – FGG-RG) vom 17.12.2008 (BGBl. I Nr. 61, S. 2586), trat mit Wirkung zum 01.09.2009 in Kraft. Diese Listen führten insgesamt 474 Verfahren auf. Sie enthielten aber – wie die Prüfung ergab – in den Jahren 2008 bis 2011 nicht nur Aktenzeichen für die zivilrechtliche Unterbringung nach § 1631b BGB, sondern auch Verfahren, die eine Unterbringung nach den Unterbringungsgesetzen der Bundesländer zum Inhalt hatten, sowie Inobhutnahmen nach § 42 Abs. 5 SGB VIII. Darüber hinaus erfassten die Verfahrenslisten auch Aktenzeichen, die Verfahren mit Fixierungen beinhalteten. Schließlich betrafen die in den Listen enthaltenen Aktenzeichen auch Verfahren nach den §§ 1628, 1632, 1666, 1666a BGB sowie nach dem Gewaltschutzgesetz (GewSchG). Die Verfahrenslisten des Amtsgerichts Tempelhof-Kreuzberg mussten daher für diese Untersuchung bereinigt werden. Deshalb wurden nicht die Angaben nach der Anordnung über die Erhebung von statistischen Daten in Familiensachen (sogenannte F-Statistik) zugrunde gelegt, sondern es wurde eine eigene Aktenerhebung anhand der Verfahrenslisten des Amtsgerichts Tempelhof-Kreuzberg mit dem Gegenstand «Unterbringung Minderjähriger» durchgeführt. Nach Bereinigung aller Aktenzeichen auf die Untersuchung der Genehmigung der freiheitsentziehenden Unterbringung von Kindern und Jugendlichen nach § 1631b BGB lag die Anzahl der Verfahren bei 376.
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Die Daten aus den Verfahren des Amtsgerichts Tempelhof-Kreuzberg wurden anonymisiert. Die Auswertung erfolgte deskriptiv mithilfe des Statistikprogramms Stata (statistics/Data Analysis), Version 9.1. Die computergestützte Auswertung der Daten erfolgte durch den wissenschaftlichen Mitarbeiter am Max Planck Institut, Fachbereich Wirtschaftswissenschaft, Dipl.-Soz. Tim Müllenborn. Die deskriptive Auswertung bezog sich auf soziodemografische Daten wie Alter, Geschlecht, Sorgerechtsstatus, Nationalität. Die Geschäftsverteilungspläne des Amtsgerichts Tempelhof-Kreuzberg unterschieden in den Jahren 2008 bis 2011 zwischen Inlands- und Auslandsabteilungen, was Aussagen zur Staatsbürgerschaft der freiheitsentziehend untergebrachten Kinder und Jugendlichen ermöglicht. Des Weiteren wurden die Gründe für den Wunsch der Sorgeberechtigen nach einer freiheitsentziehenden Maßnahme sowie die Gründe des Gerichts für eine Genehmigung derselben kategorisiert, wobei auf die Voruntersuchungen (vgl. oben) Bezug genommen wurde: Verwahrlosung, Weglaufen, Störung des Sozialverhaltens, Delinquenz, sexuelle Gefährdung, Substanzabusus/Sucht, Mediensucht, Schulabsentismus, Suizidalität/-versuche, seelische Störung/psychotische Symptome, übermäßiger Mediengebrauch. Inhaltlich wurden die Akten hinsichtlich der Einhaltung juristischer Mindeststandards bei der mit Freiheitsentziehung verbundenen Unterbringung von Minderjährigen ausgewertet, etwa die Einbeziehung der Meinung von Minderjährigen und Sorgeberechtigten. Die Partizipation der verschiedenen Beteiligten am Verfahren wird in den Protokollierungen ihrer Aussagen in den richterlichen Vermerken, in den Entscheidungsgründen oder in den Sitzungsniederschriften deutlich. Es wurden die Aussagen der Minderjährigen und anderen Beteiligten hinsichtlich ihrer Haltung und Begründung zur Frage der Notwendigkeit einer freiheitsentziehenden Maßnahme und der Wünsche der Minderjährigen untersucht. Dazu wurden die Sitzungsniederschriften, die Vermerke bzw. die Beschlussbegründung, die die Erklärungen der Beteiligten enthalten, anonymisiert analysiert.
Ergebnisse Von den 376 Verfahren verblieben 127 Verfahren mit Kindern und Jugendlichen nach § 1631b BGB in den Jahren 2008 bis 2011, bei denen eine Unterbringung genehmigt wurde. Die restlichen Verfahren erledigten sich entweder durch Abweisung oder durch Rücknahme bzw. durch Aufhebung des Beschlusses, der zunächst die Unterbringung des Kindes mit Freiheitsentziehung im Wege einstweiliger Anordnung verfügt hatte oder durch Einlegung der Be© 2016 Hogrefe
schwerde gegen die Endentscheidung. Hieraus folgt, dass nur jedes dritte Verfahren (33.78 %) zu einer Genehmigung der freiheitsentziehenden Unterbringung nach § 1631b BGB führte. Die 127 Unterbringungsverfahren von Kindern und Jugendlichen sind nicht gleichzusetzen mit 127 Personen, da seit dem 01.09.2009 die einstweiligen Anordnungsverfahren unabhängig von den Hauptsacheverfahren gemäß § 51 Abs. 3 Satz 1 Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit (FamFG) geführt werden müssen. Dies bedeutet, dass diese Verfahren mithin selbstständige Verfahren sind. Für einen Minderjährigen konnte daher sowohl ein einstweiliges Verfahren als auch ein Hauptsacheverfahren geführt werden.
Soziodemografische Merkmale Insgesamt wurden mehr Verfahren zu Mädchen als zu Jungen mit einer freiheitsentziehenden Unterbringung durchgeführt (n = 68 Mädchen; n = 59 Jungen). Der Altersdurchschnitt der Mädchen war 14.5 Jahre (Range: 12–17 Jahre, SD 1.4), der der Jungen 15.1 (Range: 11–17 Jahre, SD 1.5) Jahre. Von den für den Gerichtsbezirk des Amtsgerichts Tempelhof-Kreuzberg durchgeführten Verfahren betrafen 70.1 % (n = 89) Inländer und 26.8 % (n = 34) Ausländer. Bei 3.1 % (n = 4) der Verfahren war die Staatsbürgerschaft nicht geklärt.
Aufenthaltsort vor der Unterbringung In 30 (23.6 %) Verfahren lebten die Kinder und Jugendlichen, bevor sie freiheitsentziehend untergebracht worden sind, bei den Eltern bzw. bei der alleinsorgeberechtigten Mutter. In einer hohen Zahl der Verfahren (n = 53; 41.7 %) befanden sich die Minderjährigen zum Zeitpunkt des Verfahrens in einer kinder- und jugendpsychiatrischen Klinik. In immerhin 20 (15.7 %) Verfahren befanden sich die Minderjährigen «auf Trebe», während bei relativ wenigen Verfahren die Kinder und Jugendlichen (n = 6; 4.7 %) in Einrichtungen der Jugendhilfe zum Zeitpunkt des Verfahrens lebten. Bei 13 Fällen (10.2 %) fand sich keine Angabe in den Akten.
Sorgerechtsstatus In den meisten Verfahrensfällen war die Mutter allein (n = 52; 40.9 %) oder beide Eltern (n = 44; 34.6 %) sorgeberechtigt, wobei diese Verteilung über den Untersuchungszeitraum schwankte. In 24 Fällen (18.9 %) lag das Sorgerecht bei einem Vormund oder Ergänzungspfleger.
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Tabelle 1. Von den Eltern benannte Gründe für den Wunsch nach freiheitsentziehenden Maßnahmen
Gründe für ein Gesuch auf Genehmigung einer Unterbringung mit Freiheitsentziehung und Gründe des Gerichts für die Genehmigung
Verfahren N = 127 (Häufigkeit absolut, %)
Für das Einleiten eines Verfahrens nach § 1631b BGB wurden je nach Akte ein oder mehrere Gründe angegeben. Substanzmissbrauch (n = 44; 34.6 %) stand hinsichtlich der von den Aufenthaltsbestimmungsberechtigten genannten Gründe für den Wunsch, eine freiheitsentziehende Maßnahme durchzuführen, an erster Stelle. Unter Substanzmissbrauch wurden sowohl der Alkoholmissbrauch wie auch Abhängigkeit von anderen Drogen subsumiert. Die Gründe der Eltern sind in Tabelle 1 dargestellt. Tabelle 2 zeigt die Gründe auf, die seitens des Richters im Verfahren benannt wurden, die Genehmigung zu erteilen. Hauptgrund für die freiheitsentziehenden Maßnahmen war bei den Verfahren zu Mädchen wie zu Jungen Substanzmissbrauch (n = 18; 26.5 % Mädchen; n = 22; 37.3 % Jungen). Die zweite Stelle nahm bei den Verfahren mit Mädchen hingegen die Suizidabsichten und -versuche (n = 15; 22.1 %) ein, bei den Verfahren mit Jungen dagegen die seelischen Störungen/psychotische Symptome (n = 13; 22 %). Bei den Jungen (n = 5; 8.5 %) war im Vergleich zu den Mädchen (n = 4; 5.9 %) aggressives Verhalten der häufigere Grund für eine freiheitsentziehende Unterbringung.
Weglaufen/Trebegänger
29 (22.8)
Suizidabsichten/-versuche
33 (26.0)
Substanzmissbrauch (Drogen, Alkohol)
44 (34.6)
Schulabsentismus
24 (18.9)
Verwahrlosung
4 (3.1)
Störungen des Sozialverhaltens
27 (21.3)
Dissoziale Persönlichkeitsentwicklungsstörung/psychotische Symptomatik
22 (17.3)
Delinquenz/Kriminalität
27 (21.3)
Sexuelle Gefährdung
7 (5.5)
Aggressives Verhalten
10 (7.9)
Anmerkungen. Mehrfachnennungen möglich, da in den Anträgen eine unterschiedliche Anzahl von Gründen benannt wurde.
Tabelle 2. Gründe des Richters für einen Beschluss Verfahren zu Mädchen (n = 68)
Verfahren zu Jungen (n = 59)
Anzahl
%
Anzahl
%
Verwahrlosung
0.0
0.0
1.0
1.7
Weglaufen/Trebegänger
9.0
13.2
6.0
10.2
Delinquenz/Kriminalität
2.0
2.9
10.0
16.9
Sexuelle Gefährdung
4.0
5.9
2.0
3.4
Sicherung der Beschulung
6.0
8.8
5.0
8.5
18.0
26.5
22.0
37.3
4.0
5.9
5.0
8.5
11.0
16.2
13.0
22.0
0.0
0.0
2.0
3.4
Suizidabsichten/-versuche
15.0
22.1
4.0
6.8
Störungen des Sozialverhaltens
21.0
30.9
16.0
27.1
0.0
0.0
1.0
1.7
Substanzmissbrauch/Sucht Fremdaggression Seelische Störung/psychotische Symptome Depression
Mediensucht
Anmerkungen. Mehrfachnennungen möglich, da in den Anträgen eine unterschiedliche Anzahl von Gründen benannt wurde.
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Art der Unterbringung Sowohl zur Zeit der Geltung des alten als auch des neuen Rechts erfolgten die Unterbringungen vorrangig in der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Tabelle 3 führt die Art der Unterbringung auf. Die Art der Unterbringung unterschied sich nicht wesentlich hinsichtlich des Geschlechts der Minderjährigen: In 20 Verfahren mit Mädchen (29.4 %) und 16 mit Jungen (27.1 %) erfolgte eine Unterbringung in einer Einrichtung der Jugendhilfe.
Beschwerde gegen die Unterbringung Lediglich zwei Minderjährige in den insgesamt 127 Verfahren nach § 1631b BGB legten selbst Beschwerde ein. Die zuständige nächsthöhere Instanz (in Berlin: Kammergericht) wies in einem Fall die sofortige Beschwerde zurück und änderte im anderen Fall auf die Beschwerde des Kindes hin den amtsgerichtlichen Beschluss ab und hob die Genehmigung im geschlossenen Bereich der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie auf. Seitens der Sorgeberechtigten wurden keine Beschwerden gegen die Unterbringung eingelegt (vgl. hierzu auch weiter unten).
Bestellung eines Verfahrensbeistands Unter der Geltung des alten Rechts (FGG a. F.) wurde bei der Gesamtzahl von 35 Verfahren in 12 Fällen (34.3 %) kein Verfahrenspfleger bestellt, nach neuem Recht (FamFG) bei insgesamt 92 Verfahren in 24 Fällen (26.1 %) kein Verfahrensbeistand.
Tabelle 3. Art/Ort der Unterbringung nach Erhebungsjahr Jahr
Einrichtung der Jugendhilfe
Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie
Gesamt
n
n
N
2008
4
8
12
2009
20
25
45
2010
6
21
27
2011
6
37
43
36
91
127
∑
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Beteiligung von Kindern und Jugendlichen im Verfahren Fast alle freiheitsentziehend untergebrachten Minderjährigen der untersuchten Verfahren wurden angehört. Nach altem Recht fand einzig in 4 Verfahren (11.4 %) keine Anhörung statt, da die Minderjährigen per einstweiliger Anordnung zunächst untergebracht wurden und vor der richterlichen Genehmigung bereits wieder entlassen waren. Zur Geltungszeit des neuen Rechts war aus dem gleichen Grund in 1 Verfahren (3.7 %) keine Anhörung durchgeführt worden. Orte der Anhörung waren, nach Geltungszeitraum altes und neues Recht aufgeschlüsselt, in der Klinik (n = 12; 34.3 %; n = 39; 42.4 %), im Gericht 63.8 % (n = 9; 25.7 %; n = 34; 37.0 %) und in einer Jugendhilfeeinrichtung (n = 7; 20.0 %; n = 3; 3.3 %).
Inhaltliche Analyse Äußerungen der Minderjährigen im Verfahren Gegenstand der Anhörung waren Fragen nach den Gründen für die Schulverweigerung. Einige Schüler gingen bewusst nicht in die Schule, andere meinten, sie würden krank, wenn sie an Schule dächten. Mobbing durch Mitschüler wurde als Grund für das Fernbleiben vom Unterricht benannt. Aus den Akten geht hervor, dass die Kinder und Jugendlichen nicht erkannten, dass sie sich durch ihre Schulverweigerung selbst schädigten. Auch der Substanzabusus wurde in der Anhörung mit den Minderjährigen problematisiert. Sowohl die schmerzliche Erfahrung von der Veränderung der Wirkung des Substanzabusus, der anfangs als beruhigend, später aber als das Gegenteil wahrgenommen wurde, war Thema, als auch, dass die Entzugs- und Entwöhnungsbehandlung inklusive der notwendigen Medikation in der Klinik als sehr anstrengend, aber notwendig wahrgenommen wurde. Über die Zeit vor der Unterbringung wurden von den Jugendlichen Angaben gemacht, dass der Substanzabusus Auswirkungen auf ihren Antrieb und den Tagesrhythmus gehabt habe. Zudem wurden Halluzinationen, Stimmenhören, Verfolgungsgefühle benannt, die auch zu sozialer Isolation führten. Die Minderjährigen glaubten mehrheitlich, keine Hilfe zu benötigen, und wollten aus der Einrichtung entlassen werden. Als belastend wurde der stark durchstrukturierte und durchreglementierte Tagesablauf in der Klinik empfunden. Ein Kind drückte es folgendermaßen aus, dass es
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nicht verstehe, «warum es so gequält» werde. Um wieder entlassen zu werden, versprachen die Minderjährigen z. B., sich an Regeln zu halten, die Schule wieder zu besuchen, von der Einnahme der Suchtmittel unverzüglich Abstand zu nehmen, mit dem übermäßigen Computergebrauch aufzuhören oder an einer ambulanten Behandlung teilzunehmen. In den untersuchten Verfahren wurde seitens des Familiengerichts jedoch die Notwendigkeit einer Behandlung/Unterbringung gesehen, um eine therapeutische Stabilität und Sicherheit zu schaffen Die Reaktionen der Minderjährigen auf die Entscheidung des Gerichts reichte von Enttäuschung über Wutausbrüche bis hin zur Androhung von Behandlungsverweigerung oder von Suizid. In einigen Fällen wuchs aber im Laufe der richterlichen Anhörung die Einsicht, in der Einrichtung zu bleiben, weil die Minderjährigen die Maßnahme als Möglichkeit wahrnahmen, ihr Leben wieder in geordnete Bahnen zu lenken. Es gab auch Minderjährige, die kein Gespräch mit dem Richter führten und in der Anhörung nichts sagten. Die Erklärung über die Aussageweigerung ist aktenkundig zu machen (Beck’scher Online-Kommentar, 2013; Vogel, 2014).
Die Aufenthaltsbestimmungsberechtigten und die anderen Verantwortungsträger (der Verfahrenspfleger/-beistand, der Mitarbeiter des Jugendamtes, der Sachverständige) Die Aufenthaltsbestimmungsberechtigten, Verfahrensbeistände und die Vertreter des Jugendamtes verfolgten in allen Verfahren das gleiche Ziel, nämlich die Genehmigung der freiheitsentziehenden Unterbringung des Kindes oder des Jugendlichen. Ein Dissens beim Endziel bestand zwischen ihnen nicht, sodass keine Beschwerden gegen Entscheidungen des Familiengerichts eingelegt wurden. Aus der inhaltlichen Auswertung geht hervor, dass die Anhörung der Aufenthaltsbestimmungsberechtigten, des Verfahrensbeistandes, des Mitarbeiters des Jugendamtes und des Sachverständigen in der Regel nach der gerichtlichen Befragung des Arztes erfolgte. Der Arzt legte in der Stellungnahme die Diagnose und die weitere Behandlung des Kindes dar und begründete eine Maßnahme in der Jugendhilfe oder in der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Auch der Zeitrahmen für die Behandlung des Kindes wurde genannt. Im Anschluss daran legte der Verfahrensbeistand die Situation aus der Sicht des Kindes dar. Er zeigte auf, worin die Eigen- und Fremdgefährdung des Minderjährigen bestanden, und gab dessen Wunsch wieder, so schnell wie möglich entlassen zu werden. Im Verfahren folgte der Mitarbeiter des Jugendamtes, der im Einzelnen schilderte, welche sozialpädagogischen
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Maßnahmen in der Familie bereits stattgefunden hatten. Die Gründe für die Unterstützung des Antrags wurden genannt, insbesondere wurde dargelegt, was auch innerhalb des Amtes diskutiert worden war. In Einzelfällen nannte er die Einrichtung, die für die freiheitsentziehende Unterbringung des Kindes seiner Ansicht nach am besten geeignet wäre. Die Aufenthaltsbestimmungsberechtigten legten die Probleme, die sich über die Zeit ergeben hatten, offen. Sie berichteten über die bereits erfolgten Hilfen des Jugendamtes und wünschten sich für ihr Kind eine langfristige Veränderung, weil es durch sie nicht mehr beeinflussbar war. Sie sprachen sich für eine Unterbringung mit Freiheitsentziehung aus, weil ambulante und offene stationäre Maßnahmen nicht mehr ausreichen würden. Sie versicherten, mit den Mitarbeitern der Einrichtung eng zusammenzuarbeiten.
Diskussion In den 127 Verfahren, in denen das Gericht freiheitsentziehende Maßnahmen genehmigte, zeigte sich, dass die Mehrzahl der Minderjährigen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie untergebracht wurde. Substanzabusus, Suizidalität und Weglaufen waren die Hauptgründe, warum um die Genehmigung einer freiheitsentziehenden Maßnahme nachgesucht wurde (vgl. Wille, 2000). Trennt man die Gründe nach dem Geschlecht, so gehörten bei beiden Geschlechtern Symptome einer Störung des Sozialverhaltens und Substanzabusus zu den häufigsten Gründen. Verglichen mit der Untersuchung von Hoops und Permien (2006) zeigten sich recht ähnliche Gründe, warum Sorgeberechtigte um Genehmigung freiheitsentziehender Maßnahmen nachsuchten bzw. warum freiheitsentziehende Maßnahmen genehmigt wurden. Die benannten Gründe zeigen auch die Besonderheit der freiheitsentziehenden Maßnahmen im Kindes- und Jugendalter auf: es sind nicht die aus der erwachsenenpsychiatrischen Praxis bekannten Gründe für eine Behandlung oder Unterbringung gegen den Willen, wie schizophrene Psychosen, sondern entwicklungstypische Gründe wie Schulabstinenz, Delinquenz oder Substanzabusus, die zu Maßnahmen gegen den Willen des Minderjährigen führen. Insofern ist auch die geübte Praxis, Minderjährige in der Regel nach § 1631b BGB unterzubringen anstelle mittels der Unterbringungsgesetze der Länder unter Entwicklungsaspekten sinnvoll. Drei Gruppen von Minderjährigen konnten im Verfahren hinsichtlich ihres Verhaltens gegenüber der Unterbringung identifiziert werden: solche Minderjährige, die das Verfahren als «Warnschuss» empfanden und sich in
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Zukunft komplett ändern wollten, aber nicht mittels freiheitsentziehender Maßnahmen behandelt werden wollten, solche, die am Verfahren bewusst nicht teilnahmen und keinerlei Beteiligung suchten, und solche, die sich im Verfahren in die Behandlungsnotwendigkeit fügten und die Therapie nutzten. Ein wichtiges Argument bei der generellen Diskussion um freiheitsentziehende Maßnahmen ist, dass Minderjährige Partizipationsrechte am Verfahren haben. In der vorliegenden Untersuchung zeigte sich, dass diese im Verfahren nach dem FamFG zumindest insofern gewahrt wurden, als alle Minderjährigen angehört wurden und, zumindest seit Geltung des neuen Rechts, bei ca. drei Viertel (73.9 %) ein Verfahrensbeistand durch das Gericht bestellt wurde. Die Anhörung hat auch insofern Bedeutung, als gerade der BGH-Beschluss von 2013 Partizipationsrechte Minderjähriger und ihr Recht auf rechtliches Gehör dadurch einschränken könnte, dass die Notwendigkeit für ein Verfahren nach § 1631b BGB gar nicht mehr gesehen wird. Dies könnte zu der Praxis führen, dass – solange eine Tür in einer Klinik nicht abgesperrt ist, der Patient aber fixiert ist – nach dieser Lesart kein Verfahren nach § 1631b BGB stattfinden müsste und damit auch jegliche Anhörungs- und Beschwerdemöglichkeit für Minderjährige entfiele. Wie die Untersuchung gezeigt hat, waren bei Weitem nicht alle Jugendlichen im Verfahren mit der Freiheitsentziehung einverstanden. Bei konsequenter Anwendung des BGH-Beschlusses würden einem Teil der Minderjährigen jegliche Partizipationsmöglichkeiten vorenthalten, obwohl sie de facto in ihren Freiheitsrechten eingeschränkt wären. Bei den Sorgeberechtigten stand als Grund für den Wunsch2 nach freiheitsentziehenden Maßnahmen im Vordergrund, dass sie sich nicht mehr anders zu helfen wussten, als eine freiheitsentziehende Maßnahme anzuregen. Auch die öffentliche Jugendhilfe sah in allen Verfahren keine andere Lösung als eine Behandlung oder pädagogische Betreuung gegen den Willen des Minderjährigen. Diese Untersuchung bestätigt zumindest, dass freiheitsentziehende Maßnahmen im Kindes- und Jugendalter als eher letztes Mittel angeregt werden und keineswegs vorschnell gewählt werden. Inwieweit dies immer aus kinder- und jugendpsychiatrischer Sicht sinnvoll ist, muss z. B. bei langdauernder Schulverweigerung hinterfragt werden. Die Möglichkeit des Familienrichters auch nach § 1666 Abs. 3 Nr. 2 BGB, Gebote auszusprechen, um für die Einhaltung der Schulpflicht zu sorgen, sollte nicht unerwähnt bleiben (Buck, 2012; Raack, 2007; Vogel, 2012). Das von den Beteiligten benannte Scheitern der früheren Hilfen oder anderer Maß-
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nahmen ist aus anderen Untersuchungen in der Jugendhilfe bekannt, die sich mit schwierigen Verläufen befasst haben (Schmid et al., 2014). Diese Minderjährigen mit den hoch problematischen Verläufen sind es auch, die im späteren Leben eine starke Teilhabebeeinträchtigung aufweisen (Aarons et al., 2010). Bei diesen Kindern und Jugendlichen handelt es sich im überwiegenden Fall um Personen, die sowohl ein pädagogisches wie ein psychiatrisches Problem aufweisen und von daher meist kinder- und jugendpsychiatrische Behandlung und Maßnahmen der Jugendhilfe benötigen (Dölitzsch et al., 2014). Dabei ist dennoch zu problematisieren, dass das Scheitern etwaiger früherer Maßnahmen auch eine hohe Bürde für die freiheitsentziehenden Maßnahmen darstellt. Hatte das Landesjugendamt Brandenburg in dem Beschluss des Landesjugendhilfeausschlusses vom 24.09.2001 als Grund für die Notwendigkeit von Einrichtungen wie der Haasenburg GmbH thematisiert, dass die betreffenden Jugendlichen eine intensive individuelle Unterstützung benötigten, um den Teufelskreis, «aus Angst, ein Beziehungsangebot abzulehnen, zu durchbrechen» (Landesjugendamt Brandenburg, 2001), so hat die Praxis wiederum die Problematik der Ausgestaltung solcher Maßnahmen aufgezeigt. Die Untersuchung macht deutlich, dass das Gros der tatsächlich mit einer Unterbringung verbundenen Verfahren in einer Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie stattfindet und – so ein Beschluss zustande kommt – dort auch die freiheitsentziehende Maßnahme durchgeführt wird. Unter Berücksichtigung der genannten Gründe wie Substanzabusus und Suizidalität erscheint dies aus medizinischer Sicht auch nachvollziehbar. Ein genereller Unterschied zwischen freiheitsentziehenden Maßnahmen in einer Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und in einer pädagogischen Einrichtung besteht in der Dauer der Maßnahme. Während in Kliniken eher kurzzeitige Unterbringungen für wenige Wochen und Monate die Regel sind, handelt es sich bei Unterbringungen in Einrichtungen der Jugendhilfe um eher langfristigere Maßnahmen mit Dauern von 6 Monaten oder länger (Kommission Jugendhilfe, Arbeit, Soziales und Inklusion, 2014). Beschlüsse zu freiheitsentziehenden Maßnahmen in der Jugendhilfe waren in dieser Untersuchung die Ausnahme. Die hohe Zahl der Verfahren, bei denen es gar nicht zu einem Beschluss kam, deutet auch darauf hin, dass es in Kliniken eher um die Behandlungs- oder Diagnostikeinleitung geht, und sich im Verlauf oft rasch ein Behandlungseinverständnis des Minderjährigen ergibt.
Das Verfahren nach § 1631b BGB ist kein Antragsverfahren, da der Antrag nicht in der Norm genannt wird. Es handelt sich um ein Amtsverfahren. Insofern können z. B. Eltern keinen Antrag auf eine Unterbringung stellen, sondern sie können nur anregen, dass ihnen nach § 1631 b BGB freiheitsentziehende Maßnahmen gegenüber dem Minderjährigen genehmigt werden.
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Die von Cottier (2006) thematisierten Allianzen im Verfahren zwischen dem Kind und den übrigen Beteiligten konnten in der Untersuchung so nicht repliziert werden, da eine hohe Einigkeit bei allen Verfahrensbeteiligten außer dem Minderjährigen hinsichtlich der notwendigen Maßnahmen bestand. In den untersuchten Fällen gab es keinen, bei denen sich die Eltern gegen eine Anregung gestellt hätten. Der Fall, dass ein Minderjähriger mit der stationären, mit Freiheitsentziehung verbundenen Unterbringung in der Jugendhilfe oder in der Kinder- und Jugendpsychiatrie einverstanden gewesen wäre, aber nicht seine Eltern, und er somit die Behörden um Hilfe ersucht hätte, um gegen seine Eltern eine freiheitsentziehende Unterbringung zu erwirken, wurde nicht beobachtet. Insgesamt zeigt diese rechtstatsächliche Untersuchung, dass freiheitsentziehende Maßnahmen die Ausnahme in der Kinder- und Jugendpsychiatrie und Jugendhilfe sind, sie als Ultima Ratio eingesetzt werden und im Verfahren Partizipationsrechte des Minderjährigen zumindest im Sinne des Gehörtwerdens gesichert werden. Damit konnten in einem bisher wenig untersuchten Gebiet Daten zu den betroffenen Minderjährigen und den Verfahren aufgezeigt werden. Bislang ist in der Justiz eine so große Anzahl von einschlägigen Verfahren nach § 1631b BGB nicht Gegenstand einer Untersuchung gewesen. Im Fokus stand die Praxis der Unterbringungsverfahren an einem großstädtischen Gericht über einen Zeitraum von vier Jahren. Gleichwohl ist bei dieser Querschnittsuntersuchung zu beachten, dass sie sich auf die Auswertung der Sachakten beim Amtsgericht Tempelhof-Kreuzberg und mithin einen Gerichtsbezirk bezieht, dieser aber natürlich aufgrund einiger Besonderheiten nicht unbedingt verallgemeinerbar auf andere Gebiete in Deutschland ist. So unterscheidet sich die Sozialstruktur in mehrerlei Hinsicht von anderen Gebieten. Die Rate an möglichen bekannten Risikokonstellationen für das Auftreten von psychischen Störungen bei Minderjährigen an sich, aber auch an in der Untersuchung gefundenen Risikofaktoren für die Notwendigkeit einer Maßnahme nach § 1631b BGB, sind höher als im Bundesdurchschnitt. So ist der sozioökomische Status geringer, die Migrationsrate höher, ebenso die Rate an Alleinerziehenden. Insofern könnten die Gründe für eine Unterbringung in anderen Regionen durchaus variieren. Auch besteht ein Unterschied zwischen juristischer und medizinischer Terminologie, sodass bei den Gründen aus medizinischer Sicht eine gewisse Unschärfe besteht, welches Verhalten welchem Grund zugeordnet werden soll. Da, wie eingangs beschrieben, die Verfahren nicht mit Personen gleichgesetzt werden können, sind absolute Aussagen etwa zum Geschlechterverhältnis zurückhaltend zu deuten.
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M. Kölch & H. Vogel: Unterbringung von Kindern und Jugendlichen mit freiheitsentziehenden Maßnahmen
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Manuskript eingereicht: 31.08.2015 Nach Revision angenommen: 03.09.2015 Interessenkonflikt: Nein Prof. Dr. med. Michael Kölch Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie Universitätsklinikum Ulm Steinhövelstr. 5 89075 Ulm Deutschland michael.koelch@uniklinik-ulm.de michael.koelch@vivantes.de
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Freiheitsbeschränkende Maßnahmen im Fokus des Bundesjustizministeriums Am 7. August 2013 entschied der BGH in Zivilsachen, dass die die nächtliche Fixierung eines Kindes in einer offenen heilpädagogischen Einrichtung keine genehmigungsbedürftige Unter-bringungsmaßnahme im Sinne des §1631 b BGB ist und die Vorschrift des §1906 (4) BGB nur für volljährige Betreute gilt und im Kindschaftsrecht nicht analog angewendet werden kann. Dadurch hat sich die Praxis bei freiheitsbeschränkenden Maßnahmen auch in den Kliniken verändert, und es besteht die Gefahr einer deutlichen Einschränkung von Partizipationsund Kontrollrechten von Minderjährigen bei derartigen Maßnahmen (vgl. Vogel und Kölch 2016). Den Leserinnen und Lesern soll hierzu ergänzend der aktuelle Stand der politischen Debatte im Kontext von §1631 b BGB dargestellt werden. Juristisch wurde die BGH-Entscheidung von Salgo (2013) kommentiert und eine gesetzgeberische Notwendigkeit für die Herstellung von Klarheit bei freiheitsbeschränkenden Maßnahmen im Kindes- und Jugendalter gesehen. Die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (DGKJP) problematisierte die Rechtspraxis im Februar 2015 gegenüber dem Bundesministerium für Justiz und Verbraucherschutz (BMJV) und forderte, mit Bezug auf zahlreiche Beispiele aus der Praxis, dass ein gesetzgeberischer Bedarf im Kontext freiheitsbeschränkender Maßnahmen geprüft werden müsse. Am 16. Juni 2015 lud daraufhin das BMJV die drei kinder- und jugendpsychiatrischen Fachverbände zu einem Fachgespräch zu § 1631 b BGB und zu freiheitsbeschränkenden Maßnahmen bei Kindern und Jugendlichen ein. Auf dieses Fachgespräch folgte ein weiteres Fachgespräch mit juristischen Expertinnen und Experten, u. a. auch der Präsidentin des Deutschen Familiengerichtstags, Frau Dr. Götz. Im Rahmen des vom Bundesgesundheitsministerium (BMG) geförderten Projekts der Aktion psychisch Kranke (APK) «Versorgung psychisch kranker Kinder und Jugendlicher- Bestandsaufnahme und Bedarfsanalyse» wurde in der Folge ein Workshop zu Fragen von Zwang und Freiheitsbeschränkungen im Rahmen von Behandlungen und Unterbringungen z. B. in Einrichtungen für Kinder und Jugendliche mit Behinderung veranstaltet. Für das BMG begrüßte Herr Dr. Stracke, für das BMJV
hatte die Staatssekretärin Dr. Hubig ein Grußwort von Fr. Kienemund verlesen lassen, in dem sie das Interesse des BMJV an einer Debatte u. a. zur Frage, ob eine rechtliche Regelung von freiheitsbeschränkenden Maßnahmen bei Minderjährigen notwendig ist, bekundete. In der Tagung wurde aus kinder- und jugendpsychiatrischer Sicht deutlich, welche Probleme sowohl im Alltag bestehen und welche Maßnahmen zur Qualitätssicherung bei freiheitsentziehenden Maßnahmen inzwischen etabliert sind oder werden (Prof. Fegert, Dr. Brünger) als auch juristisch welcher Regelungsbedarf im Kontext von§ 1631 b BGB besteht (Dr. Götz). Die ethischen Aspekte von Zwangsmaßnahmen (Dr. Meysen) und die Problematik aus Eltern- und Betroffenensicht (Fr. Kaminski) wurden thematisiert. In fünf Arbeitsgruppen wurden rechtliche Probleme, praktische Alltagsfragen, Definitionen von Gefährdung und Zwangsmaßnahmen bei speziellen Gruppen wie Kindern mit Intelligenz-minderung sowie mögliche Kontrollinstrumente, Schutzkonzepte und ein Beschwerdemanage-ment diskutiert. Deutlich wurde der Unterschied zwischen Zwangsmaßnahmen im Erwachsenenalter und im Kindes- und Jugendalter, weil bei letzteren stets das Erziehungsprinzip und die Entwicklungs-förderung, entsprechend der UNKinderrechtskonvention, eine spezifische Bedeutung haben und Eltern als Sorgeberechtigte eine entscheidende Rolle spielen. Es ist erfreulich, dass das BMJV offensichtlich die Probleme der Praxis und die verantwortliche Haltung der kinder- und jugendpsychiatrischen Fachvertreter ernst nimmt und über notwendige Gesetzesänderungen nachdenkt. Jörg M. Fegert, Michael Kölch
Literatur Kölch, M., Vogel, H. (2016). Unterbringung von Kindern und Jugendlichen nach freiheitsentziehenden Maßnahmen, Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie, (XXX), XXX–XXX Salgo, L. (2013). «§ 1631b BGB: Fixierung minderjähriger Kinder ist keine Unterbringung», FamRZ, 21, 1719–1720
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Originalarbeit
Psychische Auffälligkeiten von Kindern und Jugendlichen in familienrechtlichen Verfahren Empirische Analysen aus psychologischen Sachverständigengutachten Jelena Zumbach1, Florian Kolbe2, Bärbel Lübbehüsen2 und Ute Koglin1 1
Sonder- und Rehabilitationspädagogische Psychologie, C. v. O. Universität Oldenburg ² Bremer Institut für Gerichtspsychologie
Zusammenfassung: Zielsetzung: Ziel dieser Untersuchung ist es, Häufigkeiten psychischer Auffälligkeiten und Verteilungen nach zugrunde liegenden familienrechtlichen Fragestellungen bei familienpsychologisch begutachteten Kindern und Jugendlichen an einer umfassenden Stichprobe zu ermitteln. Methode: Grundlage für die Erhebung sind 298 psychologische Sachverständigengutachten, die im Zeitraum von 2008 bis 2012 an einem Bremer Gutachteninstitut erstellt wurden. Dies ergibt eine Gesamtstichprobe von N = 496 Kindern und Jugendlichen. Die Datenerhebung und -auswertung erfolgt nach der quantitativen Inhaltsanalyse. Ergebnisse: Bei insgesamt 39.5 % der Kinder und Jugendlichen liegt mindestens eine psychische Auffälligkeit (in Anlehnung an die ICD-10, Kapitel F) vor. Die Komorbiditätsrate liegt insgesamt bei 38.7 %. Psychische Auffälligkeiten im Bereich Entwicklungsstörungen werden bei 12.3 % der Kinder und Jugendlichen berichtet, 22.8 % zeigen Auffälligkeiten im Bereich der Verhaltens- und emotionalen Störungen. Bei 11.5 % der Kinder und Jugendlichen wird von Gewalterfahrungen gegen die eigene Person berichtet. Die Verteilung spezifischer psychischer Auffälligkeiten nach den zugrunde liegenden familienrechtlichen Fragestellungen wird dargestellt. Schlussfolgerungen: Anhand der Ergebnisse konnte in einem explorativen Ansatz ein erster empirischer Überblick über psychische Auffälligkeiten bei den begutachteten Kindern und Jugendlichen an einer umfassenden Stichprobe geliefert werden. Es wird eine hohe Forschungsnotwendigkeit durch weitere Studien deutlich, welche die Verteilung psychischer Störungen und Zusammenhänge mit zugrunde liegenden familienrechtlichen Fragestellungen weiterführend untersuchen. Schlüsselwörter: psychologische Gutachten, Familienrecht, psychische Auffälligkeiten, Sorgerecht, Entzug elterlicher Sorge
Mental health problems of children and adolescents in family law proceedings - an empirical analysis of psychological evaluations Abstract: Objective: This study examined the frequency and distribution of mental health problems in children and adolescents who had previously been psychologically evaluated in family law proceedings. Method: The data stem from psychological evaluations (N = 298) conducted between 2008 and 2012 at an evaluation institute in Bremen, Germany. The reports included were analyzed for indications of mental health problems by means of a content analysis. The total sample consisted of 496 children and adolescents. Results: At least one mental health problem (according to ICD-F) was found in 39.5 % of the children and adolescents. The comorbidity rate was 38.7 %. Developmental deficits appeared in 12.3 %, emotional or conduct problems in 22.8% of the sample. Furthermore, 11.5 % were reported as having been victims of violence. Frequency distributions of mental health problems with respect to the juridical issues in question are given. Conclusions: These results provide a first empirical overview of mental health problems in psychologically evaluated children and adolescents. Our findings highlight the need for future studies to further examine mental health problems of children and adolescents in family court proceedings with respect to the juridical issues in question. Keywords: psychological evaluations, family law, mental health problems, child custody, termination of parental rights
Hintergrund und Zielsetzung In familienrechtlichen Verfahren werden psychologische Sachverständigenbegutachtungen zur Klärung von Beweisfragen eingesetzt, die vom Gericht in Kindschafts-
sachen gestellt werden. Zentrale Aufgabe familienpsychologischer Sachverständigenbegutachtungen ist es, kindeswohlorientierte Entscheidungen vorzubereiten, aus denen sich gerichtliche Maßnahmen ableiten (vgl. Detten-
Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie (2016), 44(1), 1–13 DOI 10.1024/1422-4917/a000398
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J. Zumbach et al., Psychische Auffälligkeiten-Analysen aus Sachverständigengutachten
born & Walter, 2015; Salzgeber, 2011). Den rechtlichen Gegenstand bilden in der Regel Fragestellungen bezüglich der elterlichen Sorge nach Trennung und Scheidung, des persönlichen Umgangs und des Entzugs elterlicher Sorge bei Kindeswohlgefährdung (gemäß § 1671 BGB; § 1684 und § 1685 BGB; § 1666 BGB). Zentraler Orientierungs- und Entscheidungsmaßstab ist der unbestimmte Rechtsbegriff des Kindeswohls, der als solcher nicht im Grundgesetz definiert und somit nicht allgemeingültig festgelegt ist. Gleichzeitig stellt die Sicherung des Kindeswohls jedoch die einzige Legitimation zum Eingriff des Staates in Familien dar (Dettenborn, 2010). Grundsätzlich heißt es, in diesem Spannungsfeld das Kindeswohl zu sichern und das Recht des Kindes auf Entwicklung der Persönlichkeit zu gewährleisten. Dies kann in einzelnen Konstellationen und je nach zugrunde liegender richterlicher Fragestellung sehr unterschiedliche Formen annehmen. Die Einschätzung kindeswohlsichernder Maßnahmen (bzw. der Abwendung einer Kindeswohlgefährdung) ist immer in erster Linie eine Prognosefrage und muss für jeden Einzelfall überprüft werden (Besier, Ziegenhain, Fegert & Künster, 2012; Kindler, 2013; Ziegenhain & Fegert, 2009). Während es in Sorgerechts- und Umgangsrechtsverfahren um die Frage geht, welche Regelung dem Kindeswohl am besten entspricht, ist in Verfahren zum Entzug elterlicher Sorge nach § 1666 bzw. zur Rückführung nach einer früheren Fremdplatzierung zu prüfen, ob die Schwelle zur Kindeswohlgefährdung überschritten wird. Im juristischen Kontext wird häufig die Frage nach der Erziehungsfähigkeit der Kindeseltern gestellt, sowohl in Verfahren zum Entzug elterlicher Sorge als auch in Trennungs- und Scheidungsverfahren (vgl. Pawils et al., 2014). Die Erfassung von Auffälligkeiten oder Einschränkungen in der psychischen Gesundheit der Kinder und Jugendlichen stellt im Begutachtungsverlauf (neben z. B. der Eltern-Kind-Beziehung, den elterlichen Kompetenzen, dem Kindeswillen, der elterlichen Konfliktdynamik, psychischen Belastungen der Eltern etc.) eine wesentliche Determinante des diagnostischen Prozesses dar (vgl. Kindler, 2006). Die Kinder und Jugendlichen bilden eine Hochrisikogruppe, für die anzunehmen ist, dass die oftmals multiplen Belastungen sich in Auffälligkeiten im Erleben und Verhalten niederschlagen. In der Regel verfolgen psychologische Sachverständige hier den Ansatz einer dimensionalen, multimethodalen Diagnostik (vgl. Döpfner & Petermann, 2008). Im Kontext familienrechtlicher Verfahren ist über Art und Häufigkeit psychischer Störungen des Kindes- und Jugendalters aus empirischen Studien jedoch bislang sehr wenig bekannt. Dies steht im Kontrast dazu, dass es im Einzelfall gängige Praxis ist, Befunde zu psychischen Auffälligkeiten des Kindes oder Jugendlichen in der Her© 2016 Hogrefe
leitung prognostischer Einschätzungen und kindeswohlsichernder Empfehlungen an die Richter zu belassen. Allgemeine Prävalenzen psychischer Störungen des Kindes- und Jugendalters werden in Übersichtsarbeiten zwischen 10.3 und 29.9 % angegeben (Barkmann & Schulte-Markwort, 2007). Eine Metaanalyse über 33 Studien ergab, dass 17.6 % der Kinder und Jugendlichen in Deutschland Merkmale von Verhaltens- und emotionalen Störungen aufzeigen (Barkmann & Schulte-Markwort, 2010). Nach den Ergebnissen des in Deutschland großflächig angelegten Kindes- und Jugendgesundheitssurveys (KiGGS) zeigen 11.5 % der Mädchen und 17.8 % der Jungen im Screeningverfahren Verhaltensauffälligkeiten bzw. werden als grenzwertig verhaltensauffällig eingeschätzt (Hölling, Erhardt, Ravens-Sieberer & Schlack, 2007). Innerhalb der im KiGGS angelegten Befragung zum seelischen Wohlbefinden und Verhalten der Kinder und Jugendlichen (BELLA-Studie) zeigen Ergebnisse, dass zu den häufigsten spezifischen psychischen Auffälligkeiten des Kindes- und des Jugendalters Ängste (10.0 %), Störungen des Sozialverhaltens (7.9 %), Depressionen (5.4 %) und Aufmerksamkeitsstörungen/ADHS (2.2 %) zählen. Es zeigen sich ebenfalls leicht höhere Auftretenshäufigkeiten bei den Jungen (9.0 %) gegenüber den Mädchen (5.3 %) und ein leichter Anstieg der Auftretenshäufigkeit mit dem Alter (Ravens-Sieberer, Wille, Bettge & Erhart, 2007). Weitere nationale Erhebungen zeigen zudem auf, dass eine erhöhte Prävalenz psychischer Auffälligkeiten mit einem niedrigen sozioökonomischen Status sowie einer Reihe familiärer Risikofaktoren einhergeht, darunter ein autoritärer Erziehungsstil, eine konfliktbelastete Elternbeziehung, Trennung und Scheidung der Eltern, die psychische Erkrankung eines Elternteils sowie kriminelle Aktivitäten eines Elternteils (Herpertz-Dahlmann, Bühren & Remschmidt, 2013). Zudem zeigen psychische Störungen des Kindesalters hohe Persistenzraten, bestehen häufig bis ins Erwachsenenalter hinein oder gehen in entsprechende psychische Störungen des Erwachsenenalters über (Ihle & Esser, 2002). Im Kontext familienrechtlicher Verfahren liegen bislang sehr wenige empirische Ergebnisse über die psychische Gesundheit von begutachteten Kindern und Jugendlichen vor. Eine systematische Literaturrecherche über empirische Forschungsergebnisse aus familienpsychologischen Begutachtungen in englischsprachigen Fachdatenbanken ergab, dass lediglich 6 von 20 gutachtenübergreifenden Studien über die psychische Gesundheit der begutachteten Familienmitglieder berichteten. Studien, die gezielt die psychosoziale Situation der begutachteten Kinder und Jugendlichen untersuchen, konnten nicht identifiziert werden (Zumbach & Koglin, 2015). Im deutschsprachigen Raum berichtet lediglich die Studie von Liebrich, Mueller-Berner und Klosinski (2008), wel-
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che 55 Sorge- und Umgangsrechtsgutachten nach Gründen für einen Begutachtungsauftrag bei über 14-jährigen Jugendlichen untersucht, zusätzlich über deren psychische Gesundheit. Die Ergebnisse zeigen, dass 36 % der weiblichen und 20 % der männlichen begutachteten Jugendlichen an einer körperlichen oder psychischen Erkrankung litten. Bei den weiblichen Jugendlichen traten am häufigsten depressive Störungen, bei den männlichen Jugendlichen nicht näher spezifizierte Verhaltensauffälligkeiten auf. In diesem Kontext ist jedoch zu unterstreichen, dass es sich bei über 14-jährigen Jugendlichen um einen Sonderfall von in der Regel begutachteten Kindern/ Jugendlichen handelt. Zudem beschränken sich die Ergebnisse nur auf Umgangsrechtsgutachten. Aus dem amerikanischen Raum liegen weitere Ergebnisse aus gutachtenübergreifenden Studien vor, die allerdings aufgrund des divergierenden zugrunde liegenden Rechts- sowie kulturellen Systems Einschränkungen in der Übertragbarkeit mit sich bringen. Raub, Carson, Cook, Wyshak und Hauser (2013) zeigen auf, dass in 52 % der Fälle mindestens ein Elternteil über eine psychiatrische/ psychotherapeutische Behandlung des Kindes berichtete. Eine Vielzahl der Mütter gab ebenfalls eine eigene psychiatrische/psychotherapeutische Behandlung oder stationäre Psychiatrieaufenthalte an, während die Väter häufiger Substanzmissbrauch, Verhaftungen und einstweilige Verfügungen aufzeigten. Im Zusammenhang mit Fällen von «parental termination» (diese entsprächen im deutschen Rechtssystem Verfahren zum Entzug elterlicher Sorge bei Kindeswohlgefährdung) berichten Wattenberg, Kelley und Kim (2001), dass fast 60 % der begutachteten Kinder und Jugendlichen Auffälligkeiten aufzeigten, darunter emotionale Auffälligkeiten (26.8 %), körperliche Auffälligkeiten (9.3 %), Entwicklungsverzögerungen (7.2 %), Lernbehinderungen (5.2 %) und nicht näher bezeichnete psychische Auffälligkeiten (11.4 %). Zudem waren 25.8 % der Kinder und Jugendlichen Drogen- oder Alkoholmissbrauch in der Schwangerschaft ausgesetzt. Bogacki und Weiss (2007) berichten über die psychische Gesundheit von Eltern, die eine psychologische Begutachtung in Fällen von «parental termination» durchliefen, dass 26 % in psychiatrischer Behandlung waren, 29 % Psychiatrieaufenthalte in den letzten 12 Monaten aufwiesen und 38 % Psychotherapie in Anspruch nahmen bzw. in der Vergangenheit in Anspruch genommen hatten. 52 % der Eltern wiesen mindestens eine aktenkundige Verhaftung auf, 37 % berichteten von Partnerschaftsgewalt, 15 % von sexuellen Missbrauchserfahrungen und 14 % der Eltern berichteten von physischer Misshandlung in der Kindheit. Es ist das Ziel der vorliegenden Arbeit, Häufigkeit und Verteilung psychischer Probleme und Verhaltensauffälligkeiten im Kontext familienrechtlicher Verfahren bei Kindern und Jugendlichen im deutschsprachigen Raum an
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einer umfassenden Stichprobe zu ermitteln. In einem zweiten Schritt werden die Daten nach den zugrunde liegenden familienrechtlichen Fragestellungen ausgewertet. Empirisch belastbares Wissen über psychische Auffälligkeiten der begutachteten Kinder und Jugendlichen kann dabei zu einem besseren Verständnis und einer stärkeren theoretischen Fundierung des Begutachtungsgegenstandes führen.
Methoden Grundlage für die vorliegende Erhebung waren 298 psychologische Sachverständigengutachten, die im Zeitraum von 2008 bis 2012 an einem Bremer Gutachteninstitut (Bremer Institut für Gerichtspsychologie) erstellt wurden. Allen Gutachten lagen familienrechtliche Fragestellungen zugrunde (d. h. Fragestellungen zum Sorgerecht bzw. Teilbereichen des Sorgerechts, zum Umgangsrecht, zum Entzug elterlicher Sorge nach § 1666 und zur Rückführung nach einer früheren Fremdplatzierung). Dies umfasst Gutachten, die im gesamten norddeutschen Raum von ca. 25 verschiedenen psychologischen Sachverständigen erstellt wurden. Alle Gutachten wurden von Diplom-Psychologinnen und Diplom-Psychologen angefertigt. In die Erhebung wurden alle am Bremer Institut für Gerichtspsychologie erstellten Gutachten der Jahrgänge 2008 bis 2012 vollständig eingeschlossen. Ausgeschlossen wurden psychologische Stellungnahmen, Kurzgutachten und Ergänzungsgutachten, da hier der Informationsgehalt hinsichtlich der zu quantifizierenden Merkmale zu klein war.
Stichprobe Da häufig mehrere oder alle Geschwisterkinder einer Familie begutachtet wurden, ergibt sich eine Gesamtstichprobe von insgesamt N = 496 Kindern und Jugendlichen. Davon sind 458 (92.3 %) Kinder (0;2 bis 13;11 Jahre) und 38 (7.7 %) Jugendliche (14;0 bis 18;0 Jahre). Der Altersmittelwert der Kinder und Jugendlichen liegt bei M = 90.22 Monaten (SD = 48.31), das entspricht einem Altersmittelwert von 7.52 Jahren. Die Altersspanne liegt bei 214 Monaten (17.83 Jahren) mit einem Minimum von 2 Monaten und einem Maximum von 216 Monaten (18 Jahren). Die Stichprobe erweist sich hinsichtlich der Geschlechterverteilung als ausgeglichen: 46.6 % sind Mädchen und 53.4 % sind Jungen. Die Kinder und Jugendlichen haben durchschnittlich 1.7 Geschwister (SD = 1.33). Der Altersmittelwert der Mütter liegt bei M = 34.43 Jahren (SD = 8.13; Range = 18–56 Jahre; Angaben für n = 236). Die Väter erweisen sich im
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Durchschnitt als geringfügig älter (M = 39.06; SD = 9.37; Range = 19–69 Jahre; Angaben für n = 194). Aufgrund der vorliegenden Ad-hoc-Stichprobe muss von Einschränkungen in der Repräsentativität ausgegangen werden. Es können somit keine Aussagen über die Grundgesamtheit aller in Deutschland begutachteten Kinder und Jugendlichen getroffen werden. Zudem konnte leider ein vorliegender Migrationshintergrund (nach Definition des Statistischen Bundesamtes, 2013) nicht in allen Fällen ermittelt werden, da man bei der Datenerhebung auf die Angaben in den Gutachten angewiesen war und die Gutachten nicht immer spezifische Angaben bezüglich des Geburtslandes der Eltern bzw. der Kinder und Jugendlichen enthielten. Auf eine Differenzierung der Ergebnisse nach Migrationsstatus wird somit im Folgenden verzichtet.
Erhebungsmethode und Operationalisierung Die Sachverständigengutachten wurden inhaltsanalytisch ausgewertet. Es wurde ein Kategoriensystem entwickelt, welches neben demografischen Merkmalen kindbezogene, elternbezogene und begutachtungsbezogene Merkmale umfasst. Die Gutachten wurden anonymisiert, anhand des Kategoriensystems verkodiert und die so gewonnenen Daten mit einem Datenverarbeitungsprogramm (SPSS Statistics 21) erfasst. Es lassen sich aus der Publikation der Daten keine personenbezogenen Rückschlüsse treffen.
Kategoriensystem Zur Entwicklung des Kategoriensystems wurden auf Basis relevanter Forschungsliteratur zu quantifizierende Merkmale nach inhaltlichen Gesichtspunkten bestimmt und in Kategorien festgelegt. Die ausgewählten Kategorien wurden anschließend in einer Expertengruppe diskutiert. In einem Probedurchlauf wurde das Kategoriensystem an einer kleinen Stichprobe anonymisierter Gutachten erprobt. Zur Kontrolle der Übereinstimmung wurde im Rahmen der Konstruktion des Kategoriensystems an dieser Stichprobe die Kodierung durch eine zweite Person ebenfalls durchgeführt. Um als übereinstimmend zu gelten, mussten beide Kodierer ein Charakteristikum als vorliegend bzw. nicht vorliegend bewerten oder die gleiche Kategorienausprägung vergeben. Es wurden anschließend Verbesserungen des Kategoriensystems vorgenommen. Die nachfolgende Kodierung erfolgte ausschließlich durch die Erstautorin selbst. © 2016 Hogrefe
Die folgenden Kategorien wurden identifiziert (in den Klammern jeweils die Anzahl der zugehörigen Items): Fallcode und demografische Angaben der Familienmitglieder (6); Angaben bezüglich des Kindes/Jugendlichen (z. B. psychische Auffälligkeiten, etc.) (10); Angaben bezüglich der Eltern (z. B. psychische Auffälligkeiten der Mutter und des Vaters etc.) (9); begutachtungsbezogene Merkmale (z. B. familienrechtliche Fragestellung, auftraggebendes Gericht etc.) (7). Die nachfolgenden Auswertungen beziehen sich aufgrund der Zielsetzung dieser Studie lediglich auf ausgewählte kindbezogene sowie demografische Items.
Psychische Auffälligkeiten der Kinder und Jugendlichen Das Item «psychische Auffälligkeit des Kindes» wurde in Anlehnung an die ICD-10, Kapitel F operationalisiert (vgl. Dilling, Mombour, Schmidt & Schulte-Markwort, 2011). Dieses Vorgehen wurde aus Gründen der Transparenz gewählt, um eine Vergleichbarkeit innerhalb der Stichprobe sowie mit Ergebnissen aus epidemiologischen Studien grundsätzlich zu ermöglichen. Die Angaben aus den Gutachten wurden hierbei als Expertenmeinungen behandelt. Das Item «psychische Auffälligkeit des Kindes» erfasst psychische Störungen nach der ICD-10 (F8, F9, F3, F4, F5). Die Störungsgruppen F1 und F2 waren in dem Kategoriensystem zwar ursprünglich enthalten, Hinweise auf psychische Auffälligkeiten oder Diagnosen aus diesen Störungsgruppen kamen jedoch in dieser Stichprobe nicht vor, sodass diese im Folgenden nicht mehr mit aufgeführt werden. Jeder erfassten psychischen Auffälligkeit wurde entweder die Kategorie «Hinweise auf eine psychische Störung» oder «diagnostizierte psychische Störung» zugeordnet. Da psychologische Sachverständige in der Regel einen dimensionalen diagnostischen Ansatz verfolgen, wurden dimensional beschriebene psychische Auffälligkeiten im Kodierungsprozess den aus der ICD-10 abgeleiteten Kategorien zugeordnet, gingen in diesem Fall jedoch als «Hinweise auf psychische Störungen» in die Auswertungen ein. Vorliegende aktenkundige Diagnosen aus Arztberichten/Stellungnahmen von Psychiatern/Psychotherapeuten oder Berichten nach stationären Psychiatrieaufenthalten wurden der Kategorie «diagnostizierte psychische Störung» zugeordnet. Im Folgenden werden die Begriffe «Hinweise auf psychische Störungen» und «diagnostizierte psychische Störungen» analog zu der beschriebenen Operationalisierung verwendet. Der Begriff «psychische Auffälligkeiten» wird im Folgenden verwendet, wenn entweder ein Hinweis auf oder eine Diagnose einer psychischen Störung vorliegt. Das Kategoriensystem umfasst die Möglichkeit, Komorbiditäten/mehrere psychische Auffälligkeiten für jedes Kind/jeden Jugendlichen zu erfassen. Zudem wurde die
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Anzahl psychischer Auffälligkeiten für jedes Kind/jeden Jugendlichen numerisch abgebildet. Zusätzlich wurde das Item «weitere Auffälligkeiten» als Restkategorie aufgenommen mit den Ausprägungen: selbstverletzendes Verhalten; Gewalterfahrungen gegen die eigene Person; Hinweise auf sexuellen Missbrauch; delinquentes Verhalten; Substanzmissbrauch; Schulabsentismus; sexualisiertes Verhalten; Parental Alienation Syndrome; chronisch-körperliche Erkrankungen und Adipositas. Zudem wurde die Ausprägung einzelne/isolierte psychische Belastungsfaktoren aufgenommen. Hierunter fallen einzelne psychische Belastungsfaktoren, die auf der akuten familiären Belastungssituation beruhen (z. B. anhaltende elterliche Konflikte, Trennungssituation, Fremdplatzierung) und sich im Erleben und Verhalten der Kinder und Jugendlichen niederschlagen; es lagen jedoch keine Hinweise auf eine persistierende psychische Störung vor. Es ist zu beachten, dass es sich bei den genannten Ausprägungen in der Kategorie «weitere Auffälligkeiten» um strukturell unterschiedliche Konzepte handelt, die in dieser Restkategorie zusammengefasst wurden.
Ergebnisse Hinsichtlich des Lebensmittelpunktes der Kinder und Jugendlichen ergeben sich die folgenden Stichprobenkennwerte. Die Mehrheit der Kinder und Jugendlichen lebt bei der Mutter (53.8 %). Es folgt ein Lebensmittelpunkt in einer Dauerpflegefamilie oder in einer Erziehungsstelle (17.3 %). Bei dem Vater leben 10.3 % der Kinder und bei beiden Eltern 6.7 %. Des Weiteren haben die Kinder und Jugendlichen ihren Lebensmittelpunkt in Übergangspflegestellen (6.3 %), leben bei anderen Verwandten (3.8 %) oder sonstigen Personen (1.8 %). Ein Migrationshintergrund ist bei 26.4 % der Kinder und Jugendlichen identifizierbar, jedoch sind hier die oben beschriebenen Einschränkungen zu beachten.
Allgemeine und spezifische psychische Auffälligkeiten der Kinder und Jugendlichen Bei insgesamt 39.5 % der Kinder und Jugendlichen liegt mindestens eine psychische Auffälligkeit vor (d. h. Hinweis auf oder Diagnose einer psychischen Störung; in Anlehnung an die Kategorien nach der ICD-10, Kapitel F). Weitere Auffälligkeiten werden über 77.8 % der Kinder und Jugendlichen berichtet. Insgesamt 86.5 % der Kinder und Jugendlichen zeigen psychische oder weitere Auffälligkeiten. Keine Belastung durch psychische oder weitere Auf-
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fälligkeiten zeigen demnach lediglich 13.5 % der Kinder und Jugendlichen. Es liegen 310 Nennungen psychischer Auffälligkeiten in der Stichprobe vor, da Mehrfachnennungen je Kind/ Jugendlichem möglich waren. Davon sind 72.3 % Hinweise auf psychische Störungen durch die Gutachterinnen und Gutachter und 27.7 % fremdanamnestisch erhobene Diagnosestellungen. Ausgehend von den psychischen Auffälligkeiten lässt sich auch die Komorbidität der Kinder und Jugendlichen darstellen. Bei 24.2 % zeigt sich eine psychische Auffälligkeit, bei 9.9 % zwei psychische Auffälligkeiten und bei 5.4 % drei bis fünf psychische Auffälligkeiten. Die Komorbiditätsrate liegt insgesamt bei 38.7 %. Es kann inhaltlich davon ausgegangen werden, dass hier tatsächliche Komorbiditäten vorliegen, d. h. zum Zeitpunkt der Begutachtung komorbid vorliegende Auffälligkeiten. Dies ist mit dem Anliegen der Gutachten zu begründen, einen umfassenden Blick auf die aktuelle psychische Belastung des Kindes zu erhalten. Letztlich kann im Einzelfall jedoch nicht ausgeschlossen werden, dass im Gutachten auch psychische Auffälligkeiten mitgeteilt wurden, die zum Zeitpunkt der Begutachtung nicht mehr bestanden. Jungen und Mädchen unterscheiden sich hoch signifikant (χ2 (5) = 22.01, p = .001) hinsichtlich der Anzahl vorliegender psychischer Auffälligkeiten. Jungen sind stärker durch eine Komorbidität belastet als Mädchen. Ausgehend von allen Kindern, bei denen psychische Auffälligkeiten vorliegen, zeigen 54.8 % der Jungen versus 72.9 % der Mädchen eine psychische Auffälligkeit, 28.6 % der Jungen versus 18.6 % der Mädchen zwei psychische Auffälligkeiten und 16.7 % der Jungen versus 8.5 % der Mädchen drei oder mehr psychische Auffälligkeiten. Berechnet man die Anzahl der Auffälligkeiten aus vorliegenden psychischen und weiteren Auffälligkeiten, weisen die Kinder und Jugendlichen im Mittel M = 1.52 Auffälligkeiten auf (SD = 1.13). 41.5 % der Kinder und Jugendlichen zeigen mehr als eine psychische oder weitere Auffälligkeit. Tabelle 1 präsentiert die Verteilung psychischer und weiterer Auffälligkeiten der Kinder und Jugendlichen nach Geschlecht. Bei 12.3 % der Kinder und Jugendlichen können psychische Auffälligkeiten im Bereich Entwicklungsstörungen festgestellt werden. Am häufigsten treten hier Entwicklungsverzögerungen in den Bereichen Sprechen und Sprache auf (9.3 %). Insgesamt 26 % der Kinder und Jugendlichen zeigen Symptome im Bereich der Verhaltens- und emotionalen Störungen. In diesem Bereich treten aggressiv-oppositionelle (5.0 %) und aggressivdissoziale Verhaltensauffälligkeiten (6.3 %) am häufigsten auf. Enuresis oder Enkopresis zeigen 6.0 % der Kinder und Jugendlichen, funktionelle und somatoforme Symptome werden über 4.8 % der Kinder und Jugendlichen berichtet.
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Bindungsstörungen/Hinweise auf Bindungsstörungen zeigen 3.2 % der Kinder und Jugendlichen. Auffälligkeiten im Bereich der affektiven Störungen zeigen sich bei 4.0 %. Innerhalb der Stichprobe vergleichsweise gering sind die Auftretenshäufigkeiten von Tic-Störungen (0.2 %), Fütterstörungen des frühen Kindesalters (0.2 %) und Essstörungen (0.2 %) sowie von Anpassungsstörungen (1.8 %) und Posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS) (3.0 %). Aus der Auswertung des Items «weitere psychische Auffälligkeiten» geht hervor, dass 70.2 % der Kinder und Jugendlichen einzelne/isolierte psychische Belastungsfaktoren aufweisen. Für 11.5 % der Kinder und Jugendlichen werden Gewalterfahrungen gegen die eigene Person berichtet. Dabei liegt die Rate der Jungen mit 13.2 % über der Rate der Mädchen mit 9.5 %. Selbstverletzendes Verhalten tritt bei 2.8 % der Kinder und Jugendlichen auf. Selten genannt werden Hinweise auf sexuellen Missbrauch (0.6 %) und das Parental Alienation Syndrome (0.4 %) (s. Tab. 1).
Psychische Auffälligkeiten und familienrechtliche Fragestellungen Tabelle 2 präsentiert die Verteilung der psychischen Auffälligkeiten nach den zugrunde liegenden familienrechtlichen Fragestellungen. Hierbei ist zu beachten, dass Mehrfachnennungen innerhalb der psychischen/weiteren Auffälligkeiten (in 41.5 % der Fälle) sowie innerhalb der familienrechtlichen Fragestellungen (in 26.2 % der Fälle) vorliegen. Aus diesem Grunde wird an dieser Stelle auf inferenzstatistische Auswertungen verzichtet. Innerhalb der Fälle, denen eine Fragestellung nach der elterlichen Sorge zugrunde liegt, zeigen sich insgesamt 179 Nennungen psychischer Auffälligkeiten. Dabei liegen 9.2 % der Nennungen im Bereich Entwicklungsauffälligkeiten und 24.6 % der Nennungen im Bereich der Verhaltens- oder emotionalen Auffälligkeiten. Funktionelle- und
Tabelle 1. Psychische Auffälligkeiten der Kinder und Jugendlichen Gesamt
Geschlecht
% (Hinweis %; Diagnose %)
Mädchen % (Hinweis %; Diagnose %)
Jungen % (Hinweis %; Diagnose %)
Keine Belastung
13.5
(–)
13.9
(–)
13.2
(–)
F8 Entwicklungsstörungen
12.3
(8.1; 4.2)
8.7
(6.9; 1.7)
15.5
(9.1; 6.4)
Umschriebene Entwicklungsstörungen
3.0
(1.2; 1.8)
1.7
(1.3; 0.4)
4.2
(1.1; 3.0)
Umschriebene Entwicklungsstörungen des Sprechens und der Sprache
9.3
(6.7; 2.6)
6.9
(5.6; 1.3)
11.3
(7.5; 3.8)
Tiefgreifende Entwicklungsstörungen
0.6
(0.2; 0.4)
0.0
(–)
1.1
(0.4; 0.8)
26.0
(19.4; 6.7)
18.6
(16.5; 2.2)
32.5
(21.9; 10.6)
Aufmerksamkeitsstörungen
1.0
(0.4; 0.6)
1.3
(0.4; 0.9)
0.8
(0.4; 0.4)
ADHS
3.6
(1.2; 2.4)
1.7
(1.3; 0.4)
5.3
(1.1; 4.2)
Aggressiv-oppositionelles Verhalten
5.0
(4.0; 1.0)
4.3
(3.5; 0.9)
5.7
(4.5; 1.1)
Aggressiv-dissoziales Verhalten
6.3
(5.8; 0.4)
3.9
(3.9; 0.0)
8.3
(7.5; 0.8)
Emotionale Störungen
2.6
(1.6; 1.0)
1.3
(0.9; 0.4)
3.8
(2.3; 1.5)
Trennungsangst
1.4
(1.2; 0.2)
0.4
(0.4; 0.0)
2.3
(1.9; 0.4)
Geschwisterrivalität
3.8
(3.8; 0.0)
3.9
(3.9; 0.0)
3.8
(3.8; 0.0)
Bindungsstörungen (reaktive/mit Enthemmung)
3.2
(2.2; 1.0)
0.9
(0.9; 0.0)
5.3
(3.4; 1.9)
Tic-Störungen
0.2
(0.0; 0.2)
0.0
(–)
0.4
(0.0; 0.4)
Enuresis/Enkopresis
6.0
(3.8; 2.2)
2.6
(1.7; 0.9)
9.1
(5.7; 3.4)
Fütterstörung im frühen Kindesalter
0.2
(0.2; 0.0)
0.4
(0.4; 0.0)
0.0
(–)
Induzierte Schlafstörung
1.6
(1.4; 0.2)
1.7
(1.7; 0.0)
1.5
(1.1; 0.4)
F9 Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend
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Tabelle 1. Psychische Auffälligkeiten der Kinder und Jugendlichen (Fortsetzung) Gesamt
Geschlecht
% (Hinweis %; Diagnose %)
Mädchen % (Hinweis %; Diagnose %)
Jungen % (Hinweis %; Diagnose %)
F3 Affektive Störungen
4.0
(3.4; 0.6)
2.6
(2.6; 0.0)
5.3
(4.2; 1.1)
Depressive Symptome
3.0
(2.4; 0.6)
2.2
(2.2; 0)
3.8
(2.6; 1.1)
Angststörungen/ängstliche Symptome
1.2
(1.0; 0.2)
0.4
(0.4; 0)
1.9
(1.5; 0.4)
F4 Neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen
9.3
(6.9; 2.4)
6.9
(6.5; 0.4)
11.3
(7.2; 4.2)
PTBS
3.0
(2.4; 0.6)
1.7
(1,7; 0)
4.2
(3.0; 1.1)
Anpassungsstörungen
1.8
(0.2; 1.6)
0.4
(0.4; 0.0)
3.0
(0.0; 3.0)
Funktionelle und somatoforme Störungen
4.8
(4.4; 0.4)
4.3
(3.9; 0.4)
5.3
(4.9; 0.4)
Zwangsstörungen
0.4
(0.4; 0.0)
0.9
(0.9; 0.0)
0.0
(–)
F5 Verhaltensauffälligkeiten mit körperlichen Störungen und Faktoren
0.2
(0.2; 0.0)
0.4
(0.4; 0.0)
0.0
(–)
Essstörungen
0.2
(0.2; 0.0)
0.4
(0.4; 0.0)
0.0
(–)
Weitere Auffälligkeiten
77.8
(–)
80.5
(–)
75.5
(–)
Einzelne/isolierte Belastungsfaktoren
70.2
(–)
73.6
(–)
67.2
(–)
2.8
(–)
3.5
(–)
2.3
(–)
11.5
(–)
9.5
(–)
13.2
(–)
Hinweise auf sexuellen Missbrauch
0.6
(–)
0.9
(–)
0.4
(–)
Delinquentes Verhalten
1.2
(–)
0.9
(–)
1.5
(–)
Substanzmissbrauch
0.4
(–)
0.9
(–)
0.0
(–)
Schulabsentismus
1.8
(–)
2.6
(–)
1.1
(–)
Sexualisiertes Verhalten
1.2
(–)
1.7
(–)
0.8
(–)
Parental Alienation Syndrome
0.4
(–)
0.0
(–)
0.8
(–)
Chronisch-körperliche Erkrankungen
3.8
(0.0; 3.8)
3.0
(1.3; 1.7)
4.5
(0.8; 3.8)
Adipositas
1.8
(1.0; 0.8)
1.3
(0.4; 0.9)
2.3
(1.5; 0.8)
Selbstverletzendes Verhalten Gewalterfahrungen
Anmerkungen. % Anzahl der Jungen (n = 265), Mädchen (n = 231) und Gesamt (N = 496). Mehrfachnennungen je Kind/Jugendlichem möglich, daher ist die Tabelle zeilenweise zu lesen.
somatoforme Auffälligkeiten bilden 3.4 % der Nennungen. Die Rate für Enuresis/Enkopresis liegt bei 4.5 %. Geringer treten Nennungen von depressiven Symptomen (1.7 %) oder Ängsten (0.6 %) auf. Die Geschwisterrivalität tritt in dieser Gruppe mit einer Rate von 4.5 % der Nennungen auf. Von 112 Kindern/Jugendlichen, für die eine richterliche Fragestellung nach dem Sorgerecht vorliegt, treten bei 16 Kindern/Jugendlichen (14.3 %) keine psychischen oder weiteren Auffälligkeiten auf. Innerhalb der Fälle, denen eine Fragestellung nach dem Aufenthaltsbestimmungsrecht zugrunde liegt, liegen 8.1 % der Nennungen im Bereich Entwicklungsauffälligkeiten und 19.9 % der Nennungen im Bereich der Verhaltens- und
emotionalen Auffälligkeiten. Die Auftretensrate von funktionellen und somatoformen Auffälligkeiten liegt hier bei 5.4 % und von Enuresis und Enkopresis bei 4.8 % der Nennungen. Von 126 Kindern/Jugendlichen, für die eine richterliche Fragestellung nach dem Aufenthaltsbestimmungsrecht vorliegt, treten bei 11 Kindern/Jugendlichen (8.7 %) keine psychischen oder weiteren Auffälligkeiten auf. In Fällen, denen eine familienrechtliche Fragestellung nach dem Umgang zugrunde liegt, betragen die Raten der Nennungen für Entwicklungsauffälligkeiten 5.7 % und für Verhaltens- und emotionale Auffälligkeiten 20.4 %. Nennungen im Bereich Belastungsstörungen bilden 9.8 % der Gesamtzahl, Symptome Posttraumatischer Belastungs-
Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie (2016), 44(1), 1–13
© 2016 Hogrefe
58
J. Zumbach et al., Psychische Auffälligkeiten-Analysen aus Sachverständigengutachten
störungen bilden 4.9 % der Nennungen. Von 146 Kindern/ Jugendlichen, für die eine richterliche Fragestellung nach dem Umgang vorliegt, treten bei 15 Kindern/Jugendlichen (10.3 %) keine psychischen oder weiteren Auffälligkeiten auf. Im Hinblick auf die Fälle, denen eine familienrechtliche Frage nach einer Rückführung zugrunde liegt, wird auf eine Darstellung der Häufigkeiten spezifischer psychischer Auffälligkeiten verzichtet, da die prozentualen Angaben aufgrund der geringen Anzahl der Nennungen insgesamt (n = 29) eingeschränkt aussagekräftig sind. Bei insgesamt 4 von 18 Kindern/Jugendlichen liegen hier keine psychischen oder weiteren Auffälligkeiten vor. In den Fällen, die in Verfahren zum Entzug elterlicher Sorge nach § 1666 in Auftrag gegeben wurden, liegen 10.3 % der Nennungen im Bereich Entwicklungsauffälligkeiten und 23.8 % der Nennungen im Bereich der Verhaltens- und emotionalen Auffälligkeiten. In dieser Gruppe spielen zudem Bindungsstörungen mit einer Rate von 3.0 % sowie die Geschwisterrivalität mit einer Rate von 3.5 % eine Rolle. Von 245 Kindern/Jugendlichen in dieser Gruppe treten bei 45 Kindern/Jugendlichen (18.4 %) keine psychischen oder weiteren Auffälligkeiten auf. In allen Gruppen treten unter den weiteren Auffälligkeiten einzelne/isolierte Belastungsfaktoren sowie Gewalterfahrungen am häufigsten auf. Für Gewalterfahrungen gegen die eigene Person liegen die prozentualen Anteile der Nennungen in Fällen, denen eine Fragestellung nach der Rückführung zugrunde lag, bei 13.8 %, in Fragen nach
dem Umgang bei 10.2 % und in Fragen nach der Erziehungsfähigkeit in Verfahren zum Entzug elterlicher Sorge nach § 1666 bei 7.6 %. In Fragen nach dem Sorgerecht und dem Aufenthaltsbestimmungsrecht fallen die prozentualen Anteile der Nennungen geringer aus: In den Sorgerechts-Fällen liegt die Rate bei 5.0 % der Nennungen und in den Aufenthaltsbestimmungsrechts-Fällen bei 2.2 % der Nennungen.
Diskussion Wie einleitend dargestellt, liegen in Deutschland bislang wenige empirische Ergebnisse zu psychischen Auffälligkeiten von Kindern und Jugendlichen, die eine psychologische Begutachtung im Rahmen eines familienrechtlichen Verfahrens durchlaufen, vor. In dieser Studie konnte an einer umfassenden Stichprobe gezeigt werden, dass bei einer erwartungsgemäß hohen Anzahl der Kinder und Jugendlichen (39.5 %) mindestens eine psychische Auffälligkeit in Form von Hinweisen auf Verhaltens- oder Entwicklungsstörungen durch die Gutachter oder fremdanamnestisch erhobene Diagnosen vorliegt. Die Komorbiditätsrate liegt insgesamt bei 38.7 %. Bei den Jungen ist die Anzahl vorliegender psychischer Auffälligkeiten signifikant höher als bei den Mädchen. Eine hohe psychische Belastung der Kinder und Jugendlichen erklärt sich zunächst aus der hohen familiären
Tabelle 2. Psychische Auffälligkeiten nach Nennungen innerhalb der rechtlichen Fragestellungen Sorgerecht
Aufenthaltsbestimmungsrecht
Umgang
Rückführung
Erziehungsfähigkeit nach § 1666
N = 179
N = 186
N = 245
N = 29
N = 370
Fallzahl Nennungen % der Nennungen
n
(%)
n
(%)
n
(%)
n
(%)
n
(%)
18
(9.2)
15
(8.1)
14
(5.7)
3
(10.3)
38
(10.3)
3
(1.7)
5
(2.7)
3
(1.2)
0
(0.0)
9
(2.4)
15
(8.4)
8
(4.3)
10
(4.1)
3
(10.3)
27
(7.3)
0
(0.0)
2
(1.1)
1
(0.4)
0
(0.0)
2
(0.5)
44
(24.6)
37
(19.9)
50
(20.4)
7
(24.1)
88
(23.8)
Aufmerksamkeitsstörungen
1
(0.6)
2
(1.1)
2
(0.8)
0
(0.0)
2
(0.5)
ADHS
4
(2.2)
5
(2.7)
10
(4.1)
1
(3.4)
5
(1.4)
Aggressiv-oppositionelles Verhalten
2
(1.1)
6
(3.2)
7
(2.9)
1
(3.4)
16
(4.3)
Aggressiv-dissoziales Verhalten
6
(3.4)
4
(2.2)
8
(3.3)
2
(6.9)
20
(5.4)
F8 Entwicklungsstörungen Umschriebene Entwicklungsstörungen Umschriebene Entwicklungsstörungen des Sprechens und der Sprache Tiefgreifende Entwicklungsstörungen F9 Verhaltens- und Emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend
© 2016 Hogrefe
Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie (2016), 44(1), 1–13
J. Zumbach et al., Psychische Auffälligkeiten-Analysen aus Sachverständigengutachten
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Tabelle 2. Psychische Auffälligkeiten nach Nennungen innerhalb der rechtlichen Fragestellungen (Fortsetzung)
Fallzahl Nennungen % der Nennungen
Sorgerecht
Aufenthaltsbestimmungsrecht
Umgang
Rückführung
Erziehungsfähigkeit nach § 1666
N = 179
N = 186
N = 245
N = 29
N = 370
n
(%)
n
(%)
n
(%)
n
(%)
n
(%)
Emotionale Störungen
6
(3.4)
3
(1.6)
1
(0.4)
0
(0.0)
6
(1.6)
Trennungsangst
3
(1.7)
2
(1.1)
3
(1.2)
0
(0.0)
2
(0.5)
Geschwisterrivalität
8
(4.5)
2
(1.1)
0
(0.0)
0
(0.0)
13
(3.5)
Bindungsstörungen (reaktive/mit Enthemmung)
4
(2.2)
1
(0.5)
4
(1.6)
1
(3.4)
11
(3.0)
Tic-Störungen
0
(0.0)
1
(0.5)
0
(0.0)
0
(0.0)
1
(0.3)
Enuresis/Enkopresis
8
(4.5)
9
(4.8)
10
(4.1)
0
(0.0)
8
(2.2)
Fütterstörung im frühen Kindesalter
1
(0.6)
0
(0.0)
0
(0.0)
0
(0.0)
1
(0.3)
Induzierte Schlafstörung
1
(0.6)
2
(1.1)
5
(2.0)
2
(6.9)
3
(0.8)
F3 Affektive Störungen
4
(2.2)
5
(2.7)
3
(1.2)
2
(6.9)
10
(2.7)
Depressive Symptome
3
(1.7)
4
(2.2)
2
(0.8)
1
(3.4)
6
(1.6)
Angststörungen/ängstl. Symptome
1
(0.6)
1
(0.5)
1
(0.4)
1
(3.4)
4
(1.1)
F4 Neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen
8
(4.5)
14
(7.5)
24
(9.8)
2
(6.9)
12
(3.3)
PTBS
1
(0.6)
0
(0.0)
12
(4.9)
0
(0.0)
2
(0.5)
Anpassungsstörungen
0
(0.0)
3
(1.6)
4
(1.6)
0
(0.0)
2
(0.5)
Funktionelle und somatoforme Störungen
6
(3.4)
10
(5.4)
7
(2.9)
2
(6.9)
7
(1.9)
Zwangsstörungen
1
(0.6)
1
(0.5)
1
(0.4)
0
(0.0)
1
(0.3)
F5 Verhaltensauffälligkeiten mit körperlichen Störungen und Faktoren
0
(0.0)
0
(0.0)
0
(0.0)
0
(0.0)
1
(0.3)
Essstörungen
0
(0.0)
0
(0.0)
0
(0.0)
0
(0.0)
1
(0.3)
105
(58.7)
115
(61.8)
154
(62.9)
15
(51.7)
221
(59.7)
82
(45.8)
100
(53.8)
111
(45.3)
8
(27.6)
152
(41.1)
Selbstverletzendes Verhalten
2
(1.1)
1
(0.5)
2
(0.8)
1
(3.4)
10
(2.7)
Gewalterfahrungen
9
(5.0)
4
(2.2)
25
(10.2)
4
(13.8)
28
(7.6)
Hinweise auf sexuellen Missbrauch
0
(0.0)
1
(0.5)
1
(0.4)
0
(0.0)
2
(0.5)
Delinquentes Verhalten
0
(0.0)
0
(0.0)
2
(0.8)
1
(3.4)
5
(1.4)
Substanzmissbrauch
1
(0.6)
0
(0.0)
0
(0.0)
0
(0.0)
1
(0.3)
Schulabsentismus
1
(0.6)
0
(0.0)
0
(0.0)
1
(3.4)
7
(1.9)
Sexualisiertes Verhalten
1
(0.6)
0
(0.0)
3
(1.2)
0
(0.0)
3
(0.8)
Parental Alienation Syndrome
0
(0.0)
0
(0.0)
2
(0.8)
0
(0.0)
0
(0.0)
Chronisch-körperliche Erkrankungen
6
(3.4)
5
(2.7)
7
(2.9)
0
(0.0)
8
(2.2)
Adipositas
3
(1.7)
4
(2.2)
1
(0.4)
0
(0.0)
5
(1.4)
Weitere Auffälligkeiten Einzelne/isolierte Belastungsfaktoren
Anmerkungen. % Anzahl der Nennungen je Fragestellung. Gesamt N = 1009 Nennungen. Mehrfachangaben innerhalb von Fragestellung und psychischer Auffälligkeit möglich, daher addieren sich die prozentualen Angaben zeilenweise auf über 100 %. Daher ist die Tabelle spaltenweise zu lesen.
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60
J. Zumbach et al., Psychische Auffälligkeiten-Analysen aus Sachverständigengutachten
Belastung, die in der Regel mit der Beauftragung eines psychologischen Sachverständigengutachtens in einem familienrechtlichen Verfahren einhergeht. Die empirischen Ergebnisse stützen an dieser Stelle die Eindrücke gutachterlicher Praxis, nach denen sich die Belastungen dieser Hochrisikogruppe auch in psychischen Auffälligkeiten bei den Kindern und Jugendlichen niederschlagen. In diesem Kontext ist zudem zu beachten, dass zwar bei über der Hälfte der Kinder und Jugendlichen nach der vorliegenden Operationalisierung keine psychischen Auffälligkeiten vorliegen. Dies bedeutet jedoch nicht, dass diese Kinder und Jugendlichen psychisch gänzlich unbelastet sind. Rund 70 % der Kinder und Jugendlichen weisen einzelne/ isolierte psychische Belastungsfaktoren auf, die aus der akuten familiären Belastungssituation resultieren, jedoch nicht die Diagnosekriterien nach dem kategorialen Klassifikationsschema erfüllen. Bezieht man die beschriebenen weiteren Auffälligkeiten in die Analysen ein, zeigt sich, dass lediglich 13.5 % der Kinder und Jugendlichen in dieser Stichprobe keine psychischen/weiteren Auffälligkeiten aufweisen. Auch in den bislang zur Verfügung stehenden deutsch- und englischsprachigen Studien zur psychischen Gesundheit begutachteter Kinder und Jugendlicher werden hohe Raten von psychischen Auffälligkeiten oder Erkrankungen sowie ein hoher psychiatrischer/psychotherapeutischer Behandlungsbedarf berichtet (vgl. Bogacki & Weiss, 2007; Liebrich et al., 2008; Raub et al., 2013; Wattenberg et al., 2001). Anhand der vorliegenden Analysen konnte die Verteilung spezifischer psychischer Auffälligkeiten in dieser Stichprobe sichtbar gemacht werden. Hierbei ist davon auszugehen, dass es sich bei den berichteten Auftretenshäufigkeiten um Angaben für die Begutachtungsperiode handelt. Wie an obiger Stelle beschrieben, kann im Einzelfall nicht ausgeschlossen werden, dass in den Gutachten auch Auffälligkeiten berichtet wurden, die zum Zeitpunkt der Begutachtung nicht mehr vorlagen. Insgesamt sind die berichteten Häufigkeiten jedoch als periodenspezifische Angaben zu verstehen. Innerhalb der Häufigkeitsverteilung treten Entwicklungsverzögerungen in den Bereichen Sprechen und Sprache (9.3 %), aggressiv-oppositionelle (5.0 %) sowie aggressiv-dissoziale Verhaltensauffälligkeiten (6.3 %), Enuresis oder Enkopresis (6.0 %) und somatoforme Auffälligkeiten (4.8 %) am häufigsten auf. Eher selten treten in diesem Vergleich Angststörungen (1.2 %), Anpassungsstörungen (1.8 %) und Aufmerksamkeitsstörungen (1.0 %) auf. Diese Ergebnisse beinhalten somit Hinweise, dass sich die Belastungen der Kinder und Jugendlichen in erster Linie in Entwicklungsstörungen und Verhaltensstörungen mit aggressivem Verhalten, aber auch im psychosomatischen Bereich niederschlagen. Eher gering sind hingegen Auffälligkeiten im Bereich der affektiven Störungen und der Belastungsstörungen. © 2016 Hogrefe
Ein Vergleich mit allgemeinen Prävalenzen psychischer Störungen des Kindes- und Jugendalters kann unter methodischen Gesichtspunkten an dieser Stelle sicherlich nur sehr bedingt gezogen werden. Diese Studie kann keine Prävalenzen liefern. Dennoch liegt die hier im Querschnitt errechnete Auftretenshäufigkeit psychischer Auffälligkeiten von 39.5 % erkennbar über allgemeinen Prävalenzraten psychischer Störungen des Kindes- und Jugendalters (zwischen 10.3 und 29.9 %) (vgl. Barkmann & SchuleMarkwort, 2007). Auch liegt sie deutlich über der von Barkmann und Schulte-Markwort (2010) in einer Metaanalyse berichteten Gesamtprävalenz von 17.6 %, die sich überwiegend aus 6- bzw. 12-Monats-Prävalenzen errechnet. Zudem lassen sich Tendenzen erkennen, dass auch in der Allgemeinbevölkerung eher niedrigprävalente Störungen des Kindes- und Jugendalters, wie etwa somatoforme Störungen oder Enuresis und Enkopresis, innerhalb dieser Stichprobe im Querschnitt vergleichsweise häufig auftreten. Für somatoforme Störungen wird eine Lebenszeitprävalenz für Kinder und Jugendliche von 5.2 % berichtet (Ihle, Esser, Schmidt & Blanz 2000). Die allgemeine Prävalenz für Enuresis im Kindesalter beträgt je nach Alter 2 bis 7 %, für Enkopresis liegt diese bei 1 bis 3 % (vgl. von Gontard, 2013a, 2013b). Im Gegensatz dazu sind die Raten von Angst- und Aufmerksamkeitsstörungen in dieser Stichprobe vergleichsweise niedrig. Wie an obiger Stelle beschrieben, zeigen z. B. Ergebnisse der BELLA-Studie, dass zu den häufigsten spezifischen psychischen Auffälligkeiten des Kindes- und Jugendalters Ängste (10.0 %) und Aufmerksamkeitsstörungen/ADHS (2.2 %) zählen (vgl. Ravens-Sieberer et al., 2007). Die Verteilung psychischer Auffälligkeiten nach Geschlecht weist darauf hin, dass Jungen insgesamt stärker betroffen sind als Mädchen. Bei den Jungen ist die Anzahl vorliegender psychischer Auffälligkeiten signifikant höher als bei den Mädchen. Diese Tendenzen decken sich mit allgemeinen, einleitend dargestellten Befunden, nach denen Jungen ebenfalls höhere Auftretensraten psychischer Auffälligkeiten zeigen als Mädchen (Hölling et al., 2007; Ravens-Sieberer et al., 2007). Unterschiedlich präsentieren sich diese Ergebnisse jedoch zu den von Liebrich et al. (2008) berichteten Raten, nach denen die Mädchen höhere Auftretenshäufigkeiten von psychischen oder körperlichen Erkrankungen zeigten als die Jungen. Diese Unterschiede können mit hoher Wahrscheinlichkeit zum einen durch unterschiedliche Operationalisierungen begründet werden (z. B. fassen Liebrich et al. [2008] psychische und körperliche Erkrankungen in einer Kategorie zusammen). Zum anderen beziehen sich die Ergebnisse von Liebrich et al. (2008) ausschließlich auf Jugendliche. So berichten beispielsweise Ihle und Esser (2002) von durchgehend höheren Gesamtprävalenzen psychischer Störungen bei Jungen bis zum Alter von 13 Jahren, in der
Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie (2016), 44(1), 1–13
J. Zumbach et al., Psychische Auffälligkeiten-Analysen aus Sachverständigengutachten
Phase der Adoleszenz wird jedoch eine Angleichung der Raten berichtet. Mögliche systematische Unterschiede sind an dieser Stelle somit nicht auszuschließen. Die Verteilung psychischer Auffälligkeiten nach den zugrunde liegenden familienrechtlichen Fragestellungen liefert erste Einblicke in mögliche Gruppenunterschiede. Es zeigt sich zunächst innerhalb der Sorgerechts- und der Aufenthaltsbestimmungsrechts-Fälle, dass Nennungen von Entwicklungsauffälligkeiten sowie von Verhaltens- und emotionalen Auffälligkeiten in den SorgerechtsFällen einen etwas höheren Anteil der Gesamtnennungen bilden als in den Aufenthaltsbestimmungsrechts-Fällen. Die Auftretensrate der Nennungen von funktionellen und somatoformen Auffälligkeiten ist hingegen in den Aufenthaltsbestimmungsrechts-Fällen (5.4 %) etwas höher. Die Auftretenshäufigkeiten der Nennungen von Enuresis/ Enkopresis sind in diesen beiden Gruppen etwa gleich hoch (4.5 % bzw. 4.8 %). Seltener treten in diesen Gruppen depressive Symptome oder Ängste auf. In Fragestellungen nach dem Sorgerecht spielt zudem die Geschwisterrivalität eine auffällige Rolle. Diesen Fällen geht in der Regel eine Elterntrennung voraus, welche in der Literatur als kritisches Lebensereignis belegt ist, was zu vielfältigen kurzfristigen und langfristigen psychischen Reaktionen führen kann (vgl. z. B. Schmidt-Denter & Beelmann, 1997; Schmidt-Denter, 2000). Dies trifft in der Regel auch auf die Umgangsrechts-Fälle zu. Entwicklungsauffälligkeiten treten jedoch im Zusammenhang mit UmgangsrechtsFällen vergleichsweise selten auf. In Fragen nach dem Umgangsrecht fallen darüber hinaus in der vorliegenden Stichprobe im Gruppenvergleich hohe prozentuale Anteile der Nennungen von Gewalterfahrungen (10.2 %) und Posttraumatischen Belastungsstörungen (4.9 %) auf. Warum diese Raten vergleichsweise hoch ausfallen, lässt sich an dieser Stelle auf Basis der vorliegenden Daten nicht beantworten. Dieses Ergebnis beinhaltet jedoch Hinweise darauf, dass in der vorliegenden Stichprobe insbesondere Umgangsrechts-Fälle auftraten, in denen es zu einer Gefährdung des Kindes gekommen ist. Getrennt diskutiert werden sollten Fälle, denen familienrechtliche Fragestellungen nach der Erziehungsfähigkeit in Verfahren zum Entzug elterlicher Sorge nach § 1666 oder der Rückführung zugrunde liegen. Diese Fälle unterscheiden sich inhaltlich stark von Fällen, in denen eine psychologische Empfehlung hinsichtlich einer Sorgerechtsverteilung zwischen zwei Elternteilen oder eine Festlegung des Umgangsrechts mit einem Elternteil getroffen werden soll. In diesen Familien haben in der Vergangenheit in der Regel zumindest Hinweise auf eine psychische und physische Gefährdung des Kindeswohls vorgelegen. Interessanterweise ist der prozentuale Anteil von unbelasteten Fällen in Fragen nach der Erziehungsfähigkeit in Verfahren zum Entzug elterlicher Sorge nach § 1666 in dieser Stichprobe
61
nicht geringer als in den zuerst genannten Gruppen. In Fragestellungen nach der Erziehungsfähigkeit in Verfahren zum Entzug elterlicher Sorge nach § 1666 bilden in der vorliegenden Stichprobe Entwicklungsdefizite 10.3 % der Nennungen, Verhaltens- und emotionale Auffälligkeiten bilden 23.8 % der Nennungen. Zudem präsentieren sich in dieser Gruppe Bindungsstörungen mit 3.0 % sowie die Geschwisterrivalität mit 3.5 %. In ihrer amerikanischen Studie berichten Wattenberg et al. (2001) im Zusammenhang mit Fällen von «parental termination» von vergleichbaren Ergebnissen, nach denen 26.8 % der Kinder und Jugendlichen emotionale Auffälligkeiten und 7.2 % Entwicklungsverzögerungen zeigten. Insgesamt wurde bei 11.5 % der Kinder und Jugendlichen von Gewalterfahrungen berichtet. Hier sind im Gruppenvergleich, neben den Umgangsrechts-Fällen (10.2 %), auch die Raten von Nennungen der Fälle innerhalb der Stichprobe vergleichsweise hoch, denen eine familienrechtliche Frage nach der Rückführung (13.8 %) und der Erziehungsfähigkeit in Verfahren zum Entzug elterlicher Sorge nach § 1666 (7.6 %) zugrunde liegt. Gewalterfahrungen gehören zu den negativsten Kindheitserlebnissen und können neben körperlichen Verletzungen zu Verhaltenssauffälligkeiten, Beziehungsstörungen und psychosomatischen Erkrankungen führen. Nach Schlack und Hölling (2007) sind Kinder und Jugendliche mit niedrigem sozioökonomischem Status und Kinder mit Migrationshintergrund deutlich häufiger von Gewalt betroffen als Kinder und Jugendliche mit mittlerem oder hohem Sozialstatus. Zudem sind Jungen häufiger Opfer von Gewalterfahrungen als Mädchen (vgl. Schlack & Hölling, 2007; Wetzels, 1997). Bezüglich der Variablen «Gewalterfahrungen» würde sich in zukünftigen Forschungsarbeiten eine spezifischere Erfassung anbieten (z. B. durch Unterscheidung in innerund extrafamiliäre Gewalt, einmalige oder über definierte Zeiträume immer wieder auftretende Gewalterfahrungen sowie in unterschiedliche Formen der Gewalt). Anhand der Ergebnisse konnte in einem explorativen Ansatz ein erster empirischer Überblick über psychische Auffälligkeiten begutachteter Kinder und Jugendlicher an einer umfassenden Stichprobe geliefert werden. Entsprechende empirische Befunde liegen wie einleitend dargestellt in Deutschland bislang nicht vor. Dies kann zum einen u. a. darauf zurückzuführen sein, dass die Jugendhilfe insgesamt in Deutschland eher forschungsfern ist (vgl. Kindler, 2013). Zum anderen machen verschiedene methodische und datenschutzrechtliche Hindernisse dieses Forschungsfeld schwer zugänglich. Bislang wurden in deutschen Studien in erster Linie strukturelle Qualitätsmerkmale psychologischer Sachverständigengutachten untersucht (vgl. dazu Klüber, 1998; Terlinden-Arzt, 1998). Die Qualität psychologischer Sachverständigengutachten ist aktuell erneut Diskussionsgegenstand, sowohl in der Fachliteratur als auch in den
Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie (2016), 44(1), 1–13
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62
J. Zumbach et al., Psychische Auffälligkeiten-Analysen aus Sachverständigengutachten
Medien (Salewski & Stürmer, 2015). Die vorliegende Studie zielt dabei jedoch keinesfalls darauf ab, eine Aussage über die Qualität psychologischer Sachverständigengutachten treffen zu wollen. Vielmehr soll ein Beitrag zur Generierung systematischen Wissens in diesem Feld geleistet werden. Es wird eine hohe Forschungsnotwendigkeit durch weitere Studien deutlich, welche die hier berichteten Ergebnisse zur Verteilung psychischer Störungen und Zusammenhänge mit zugrunde liegenden familienrechtlichen Fragestellungen weiterführend untersuchen. Zudem sollten in zukünftigen Studien weitere Faktoren berücksichtigt werden, wie etwa psychische Störungen der Eltern oder vorliegende Risiko- und Schutzfaktoren. Von hohem Interesse wären darüber hinaus Analysen zu der psychischen Belastung der Kinder und Jugendlichen im weiteren Entwicklungsverlauf, die zum einen Auskunft über die längsschnittliche Entwicklung geben und zum anderen einen evaluativen Aspekt hinsichtlich der Begutachtungen beinhalten würden, da sich eine Umsetzung der psychologischen Empfehlungen positiv auf den Entwicklungsverlauf der Kinder und Jugendlichen auswirken sollte. In Bezug auf das in dieser Studie gewählte methodische Vorgehen sind schließlich einige Einschränkungen zu diskutieren, die bei der Interpretation der Daten berücksichtigt werden müssen. Die Operationalisierung der psychischen Auffälligkeiten der Kinder und Jugendlichen für das Kategoriensystem erfolgte mit der ICD-10 anhand eines kategorialen Klassifikationsschemas. Wie an obiger Stelle erläutert, wurden in den Gutachten Symptome psychischer Störungen durch die Gutachterinnen und Gutachter dimensional beschrieben, sodass im Kodierungsprozess eine Zuordnung erfolgte. Diesem Zuordnungsprozess wurden die Diagnosekriterien nach der ICD-10 zugrunde gelegt. Dieses Vorgehen wurde jedoch insgesamt aus Gründen der Transparenz gewählt, um in einem explorativen Vorgehen eine Vergleichbarkeit innerhalb der Stichprobe sowie mit Ergebnissen aus anderen epidemiologischen Studien zu ermöglichen. War eine Zuordnung anhand der dimensionalen Beschreibungen nicht eindeutig möglich, wurde die Kategorie nicht vergeben. Des Weiteren ist einschränkend zu beachten, dass mit einer Auswertung von Sekundärdaten auch immer methodische Einschränkungen einhergehen, da diese nicht originär für Forschungszwecke erhoben wurden. So konnte beispielsweise ein Migrationshintergrund, wie bereits diskutiert, nicht in allen Fällen ermittelt werden. Aufgrund der vorliegenden Ad-hoc-Stichprobe muss zudem von Einschränkungen in der Repräsentativität ausgegangen werden. Es handelt sich jedoch um ein relativ großes Einzugsgebiet im Norden Deutschlands, zudem wurden die Gutachten von ca. 25 verschiedenen Gutachtern erstellt und von über 14 unterschiedlichen Gerichten in Auftrag gegeben, sodass hier eine Varianz vorliegt. Unter den zu© 2016 Hogrefe
vor diskutierten Aspekten der schwierigen Zugänglichkeit dieses Forschungsfeldes erscheint es zudem als große Herausforderung, querschnittlich alle begutachteten Kinder und Jugendlichen zu erfassen, die in Deutschland eine psychologische Begutachtung durchlaufen, um ein tatsächlich repräsentatives Stichprobensampling zu ermöglichen. Zudem kämen hier ebenfalls datenschutzrechtliche Hindernisse hinzu. Darüber hinaus ist in der vorliegenden Stichprobe die Anzahl von Geschwisterkindern aus methodischer Sicht konfundial, da die familiäre Situation somit mehrfach gewertet wurde. Zudem wurde aufgrund der Mehrfachnennungen innerhalb der jeweiligen Variablen weitestgehend von inferenzstatistischen Auswertungen abgesehen. Die vorliegenden Auswertungen sollten jedoch möglichst praxisnahe Ergebnisse liefen. Eine reine Analyse von Fällen, denen z. B. lediglich eine familienrechtliche Fragestellung zugrunde liegt, würde nicht dem entsprechen, wie die Fälle in der Praxis angetroffen werden.
Schlussfolgerungen für die Praxis Anhand der in einem explorativen Vorgehen gewonnenen Ergebnisse und dem Mangel an replikativen Ergebnissen lassen sich in dieser Studie sicherlich nur sehr eingeschränkt Implikationen für die Praxis ableiten. Die hier präsentierten Ergebnisse müssen vor dem Hintergrund der aktuellen Berufspraxis psychologischer Sachverständiger betrachtet werden. Aktuell stehen noch wenige einschlägige empirische Studien oder Instrumente zur Verfügung, die den Begutachtungsprozess unterstützen können. Daher muss die Prognose im Einzelfall in der Regel aus empirisch gestützten Grundpositionen abgeleitet werden (vgl. Hommers & Steinmetz-Zubovic, 2013; Kindler, 2013). Um diesen Prozess zu lenken, findet unter anderem oft ein Rückgriff auf entwicklungspsychopathologische Erklärungskonzepte und die Resilienzforschung statt (vgl. Kindler, 2013). Es ist jedoch denkbar, dass ein Mehr an systematischem Wissen über psychologisch begutachtete Kinder und Jugendliche auch zu einer Absicherung für Gutachterinnen und Gutachter in der Herleitung psychologischer Empfehlungen beitragen kann.
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Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie (2016), 44(1), 1–13
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Das neuartige Nicht-Stimulans bei ADHS
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Dieses Arzneimittel unterliegt einer zusätzlichen Überwachung. Dies ermöglicht eine schnelle Identifizierung neuer Erkenntnisse über die Sicherheit. Angehörige von Gesundheitsberufen sind aufgefordert, jeden Verdachtsfall einer Nebenwirkung zu melden. Hinweise zur Meldung von Nebenwirkungen siehe Abschnitt 4.8 der Fachinformation. ®
Intuniv 1 mg / 2 mg / 3 mg / 4 mg Retardtabletten. Wirkstoff: Guanfacin. Zusammensetzung: 1 Tbl. enth. Guanfacinhydrochlorid entspr. 1/2/3/4 mg Guanfacin. Sonstige Bestandteile: Hypromellose, MethacrylsäureEthylacrylat-Copolymer (1:1) (Ph.Eur.), Lactose-Monohydrat, Povidon, Crospovidon Typ A, mikrokristalline Cellulose, hochdisperses Siliciumdioxid, Natriumdodecylsulfat, Polysorbat 80, Fumarsäure, Glyceroldibehenat (Ph.Eur.). 3 mg u. 4 mg Tbl. zusätzl. Indigocarmin-Aluminiumsalz (E 132), Eisen(III)-hydroxidoxid x H2O (E 172).
Anwendungsgebiete: Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) bei Kindern u. Jugendlichen im Alter von 6-17 Jahren, für die eine Behandlung mit Stimulanzien nicht in Frage kommt od. unverträglich ist od. sich als unwirksam erwiesen hat. Intuniv muss im Rahmen einer umfassenden therapeutischen Gesamtstrategie zur Behandlung d. ADHS angewendet werden, die in der Regel psychologische, pädagogische u. soziale Maßnahmen umfasst. Gegenanzeigen: Überempfindlichkeit gegen Guanfacin od. einen der sonstigen Bestandteile. Nebenwirkungen: Sehr häufig: Schläfrigkeit, Müdigkeit, Kopfschmerzen, Magen- bzw. Bauchschmerzen. Häufig: Benommenheit, Schwindel, verlangsamte Herzfrequenz, Ruhelosigkeit od. Reizbarkeit, Schlaflosigkeit od. Schlafstörungen od. Albträume, Depressionen, Angst od. Stimmungsschwankungen, Antriebslosigkeit, Gewichtszunahme, Appetitlosigkeit, Mundtrockenheit, Bettnässen, Übelkeit od. Er-
brechen, Durchfall, Bauchbeschwerden od. Verstopfung, Blutdruckabfall beim Aufstehen, Hautausschlag. Gelegentlich: Schwächeanfall od. Bewusstseinsverlust, allergische Reaktion, Schmerzen im Brustkorb, Verdauungsstörungen, Atemprobleme, Schwächegefühl, Hautblässe, Krampfanfälle, häufiger Harndrang, Aufgeregtheit, Veränderung der Leberwerte im Blut, Blutdruckanstieg, Herzrhythmusstörungen, beschleunigter Herzschlag, verringerte Herzfrequenz, Schwindel beim Aufstehen, Hautjucken, Sinnestäuschungen. Selten: Exzessives Schlafbedürfnis, Bluthochdruck, Unpässlichkeit. Warnhinweise: Enthält Lactose. Weitere Angaben: s. Fach- und Gebrauchsinformation. Verschreibungspflichtig. Shire Pharmaceuticals Ireland Limited, 5 Riverwalk, Citywest Business Campus, Dublin 24, Irland. Stand der Information: Oktober 2015.
* Nachgewiesen für Dosierungen von 2, 3 und 4 mg ** Nachgewiesen für Dosierungen von 3 und 4 mg 1. Biederman J et al. Pediatrics 2008; 121(1) e73-e84 2. Fachinformation Intuniv®, Stand Sept. 2015 3. Newcorn JH et al. J Am Acad Child Adolesc Psychiatry 2013; 52: 921-930 ©
Shire 2015
Originalarbeit
Psychosoziale Belastungen bei inhaftierten Mädchen und Jungen Belinda Plattner1, Cornelia Bessler2, Gunnar Vogt2, Susanne Linhart1, Leonhard Thun-Hohenstein1 und Marcel Aebi2 1
Universitätsklinik für Kinder und Jugendpsychiatrie, Christian-Doppler-Klinik Salzburg, Universitätsklinikum der Paracelsus Medizinischen Privatuniversität, Salzburg 2 Kinder- und Jugendforensik, Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Universität Zürich
Zusammenfassung: Fragestellung: Längsschnittstudien zeigten, dass kriminelles Verhalten von Jugendlichen häufig mit einem Umfeld bezogener und familiärer Belastung einhergeht, insbesondere bei Mädchen. In dieser Studie haben wir den psychosozialen Hintergrund von jugendlichen Inhaftierten erhoben und geschlechtsspezifisch ausgewertet. Methodik: Das Multidimensional Clinical Screening Inventory for delinquent juveniles (MCSI) wurde angewandt, um Schulanamnese, psychiatrische Anamnese, den familiären Hintergrund sowie belastende Erlebnisse und das Deliktmotiv zu erheben. Die endgültige Stichprobe umfasste 294 Jugendliche (46 Mädchen und 248 Jungen). Ergebnisse: Innerfamiliärer Missbrauch/Verlust wurde von 91 % (Mädchen) und 79 % (Jungen) angegeben. 76 % (Mädchen) und 88 % (Jungen) gaben ein Schulproblem an. 57 % (Mädchen) und 29 % (Jungen) gaben psychische Vorbehandlung an. Signifikant höhere Prävalenzraten fanden sich bei Mädchen bezüglich der elterlichen Trennung, Inhaftierungen der Mutter, bei Missbrauch/Verlust und psychischer Vorbehandlung. Signifikant mehr Mädchen als Jungen gaben zugleich schulische Probleme und Verlust- sowie Missbrauchserlebnisse an (65.2 % vs. 46.4 %, χ² = 5.51, df = 1, p < .05). Schlussfolgerung: Inhaftierte Jugendliche, insbesondere Mädchen, waren und sind multiplen psychosozialen Belastungen ausgesetzt. Es besteht daher die Notwendigkeit, Präventionsarbeit in psychosozial belasteten Familien zu leisten. Auch in der Behandlung in und nach der Haft muss das Umfeld im Rahmen sozialpsychiatrisch-familienzentrierter als auch forensischer Intervention berücksichtigt werden. Schlüsselwörter: inhaftierte Jugendliche; psychosozialer Hintergrund; Geschlecht; Missbrauch; Delikt
Psychosocial disadvantages in incarcerated girls and boys Abstract: Objective: Longitudinal studies found that criminal behavior in juveniles often concurs with neighborhood disadvantage and family dysfunction, especially in girls. In this study we assessed the psychosocial background in incarcerated juveniles and analyzed the data for each gender separately. Method: The Multidimensional Clinical Screening Inventory for delinquent juveniles (MCSI) was used to assess school history, psychiatric history, family background, abuse and neglect and motive for crime. The sample consisted of 294 juveniles (46 females and 248 males). Results: Innerfamilial abuse/neglect was reported by 91 % (girls) and 79 % (boys). 76 % (girls) and 88 % (boys) reported school-problems. 57 % (girls) and 29 % (boys) reported to have recieved psychiatric pretreatment. In girls we found significantly higher prevalence rates for parental divorce, incarceration of mother, abuse/neglect and psychiatric pretreatment. Significantly more girls reported a co-occurrence of school-problems and experiences of separation and loss and abuse (65.2 % vs. 46.4 %, χ² = 5.51, df = 1, p < .05). Conclusion: Incarcerated juveniles, especially females, are and have been exposed to multiple psychosocial burdens. Therefore it is necessary to implement prevention programs for psychosocially stressed families. Forensic intervention in and after detention has to include a family centered approach. Keywords: detained juveniles; psychosocial background; gender; child abuse; crime
Einleitung Straffällige Jugendliche beider Geschlechter weisen in Bezug auf negative Umfeldeinflüsse hohe Belastungen auf (Bessler et al., 2010; Mak, 1991). In Längsschnittuntersuchungen wurde gefunden, dass neben den geschlechtsspezifischen, entwicklungsneurologischen und temperamentsbezogenen Faktoren auch familiäre und auf das Umfeld bezogene Faktoren bei der Entwicklung von chronisch dissozialem Verhalten eine gewichtige Rolle spielen (Aebi, Giger, Plattner, Metzke & Steinhausen, 2014; Fergusson & Horwood, 2002; Moffitt, 2001; Odgers et al.,
2008; Silva, Larm, Vitaro, Tremblay & Hodgins, 2012; van Domburgh, Loeber, Bezemer, Stallings & StouthamerLoeber, 2009). So sind familiäre Faktoren, wie Elternkonflikte, ungünstige innerfamiliäre Kommunikation, Gewalt in der Familie (Kim & Kim, 2008), eine niedrige soziale Schicht, eine sozialproblematische Nachbarschaft (Bessler et al., 2010; Sampson, Raudenbush & Earls, 1997), und Kriminalität und psychische Störungen der Eltern, insbesondere die Alkoholabhängigkeit (Copeland, Miller-Johnson, Keller, Angold & Costello, 2007), für das Auftreten von chronisch dissozialem Verhalten im Jugend- und jungen Erwachsenenalter relevant.
Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie (2016), 44(1), 1–10 DOI 10.1024/1422-4917/a000349
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B. Plattner et al., Psychosoziale Belastungen bei inhaftierten Mädchen und Jungen
Aber auch verschiedene Aspekte des Schulbesuchs, wie z. B. geringes Schulinteresse, der Schulabbruch und das Schwänzen, geringes schulisches Leistungsniveau und der Einfluss von generell schlechten Schulnoten, tragen zur Entwicklung von chronisch dissozialem Verhalten bei (Bessler et al., 2010; Hawkins, Farrington & Catalano, 1998). Kriminalität kann bei psychosozial belasteten Jugendlichen, welche konstitutionell und durch Umweltbedingungen von legalen Möglichkeiten, Erfolg zu haben, abgeschnitten sind, eine Möglichkeit darstellen, sozial und wirtschaftlich zumindest kurzfristig erfolgreich zu sein (Bright & Jonson-Reid, 2008). Vor diesem Hintergrund werden Deliktmotive wie krimineller Lebensstil, Gruppendynamiken und Gelderwerb zur Finanzierung von Konsum relevant. So sind bei späteren Straftätern im Vorfeld auch häufig Verwahrlosung und Sucht zu finden, welche das Risiko einer Straftatbegehung erhöhen, beispielsweise im Rahmen der Kriminalität zur Finanzierung des Lebensunterhaltes, der Beschaffungskriminalität oder der Kriminalität unter Substanzeinfluss (Plattner et al., 2012). Chronisch dissoziale Verhaltensprobleme zeigen sich um ein vielfaches häufiger bei Jungen als bei Mädchen (Rutter, Giller & Hagell, 1998). Im Jugendalter werden über 80 % aller Straftaten von Jungen begangen (Alsaker & Bütikofer, 2005; Bessler et al., 2010). Daher fokussierte sich die wissenschaftliche und gesellschaftspolitische Diskussion zum Thema Jugendkriminalität bisher hauptsächlich auf männliche Jugendliche. Die offiziellen Zahlen aus den Vollzugs- und Verurteilungsstatistiken verschiedener Länder weisen betreffend der Geschlechtsverteilungen auf ein Verhältnis von ca. 1:10 (Jungen : Mädchen) hin (Statistik Austria, 2012; Statistisches Bundesamt, 2011). Auch in den oben benannten Längsschnittuntersuchungen wurde gefunden, dass ungefähr jeder zehnte Jugendliche mit schwerwiegendem persistentem antisozialem Verhalten weiblich ist (Moffit & Caspi, 2001). Untersucht man geschlechtsspezifische Unterschiede zwischen inhaftierten Jungen und Mädchen, erwiesen sich die Mädchen, neben dem, dass sie deutlich psychopathologisch auffälliger sind (Abram, Teplin, McClelland & Dulcan, 2003; Plattner, Aebi, Steinhausen & Bessler, 2011; Teplin, Abram, McClelland, Dulcan & Mericle, 2002), auch als psychosozial belasteter: Inhaftierte Mädchen waren gehäuft Missbrauch ausgesetzt (Cauffman, Feldman, Watherman & Steiner, 1998; Gavazzi, Yarchek & Chesney-Lind, 2006; Moretti, Catchpole & Odgers, 2005), insbesondere sexuellem (Abram et al., 2004; Odgers & Moretti, 2002). Mädchen mit Störungen des Sozialverhaltens waren, so Studien, öfter als Buben mit Störungen des Sozialverhaltens fremduntergebracht und erlebten häufiger Diskontinuitäten in pädagogischen Betreuungsverhältnissen (Moretti & Odgers, 2002). Man könnte daher schlussfolgern, dass © 2016 Hogrefe
Mädchen, die schwerwiegendes antisoziales Verhalten entwickeln, im Vergleich zu Jungen ein Mehr an sozialpsychiatrisch relevanter Belastung aufweisen (Brennan, Hall, Bor, Najman & Williams, 2003; Lenssen, Doreleijers, Van Dijk & Hartman, 2000). Dies wiederum bedeutet, dass Resozialisierungsprogramme für Mädchen diesen Erkenntnissen Rechnung tragen müssen. Vor diesem theoretischen Hintergrund war das Ziel der Studie, den psychosozialen Hintergrund jugendlicher Insassen beider Geschlechter umfassend zu erheben und geschlechtsspezifisch auszuwerten. Gemäß der vorliegenden Literatur erwarten wir bei inhaftierten Jugendstraftätern multiple psychosoziale Belastungen. Im quantitativen Geschlechtsvergleich (Prävalenzraten einzelner Belastungen) gehen wir davon aus, dass die Mädchen stärker belastet sind, da diese vermehrt Erfahrungen von Misshandlungen und Missbrauch ausgesetzt waren.
Methodik Stichprobe Die Stichprobe umfasst weibliche und männliche Jugendliche zwischen dem 14. und 21. Lebensjahr, die in der Justizanstalt Wien-Josefstadt im Zeitraum zwischen März 2003 und Januar 2005 inhaftiert waren und ausreichende mündliche und schriftliche Deutschkenntnisse zum Ausfüllen von Selbstbeurteilungsfragebögen und der Durchführung eines diagnostischen Interviews hatten. Die Ausschlusskriterien waren schwerwiegende akute organmedizinische Erkrankungszustände und/oder neurologische Erkrankungen (wie Epilepsie), geistige Retardierung und Symptome einer psychotischen Störung zum Zeitpunkt der Datenerhebung. Die Einschluss- und Ausschlusskriterien wurden im Rahmen der klinischen Eintrittsuntersuchung, die alle Jugendliche bei Eintritt in die Justizanstalt durchliefen, erhoben. Die Studie wurde von der Ethikkommission der Medizinischen Universität Wien bewilligt.
Instrumente Multidimensional Clinical Screening Inventory for delinquent juveniles (MCSI) Das MCSI ist ein halbstrukturiertes Interview, das dazu dient, eine kinder- und jugendpsychiatrische sowie forensische Anamnese zu erheben. Folgende Bereiche werden abgefragt: Schul- beziehungsweise Ausbildungsanamnese
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B. Plattner et al., Psychosoziale Belastungen bei inhaftierten Mädchen und Jungen
inklusive Verhaltensprobleme in der Schule, psychische und somatische Vorerkrankungen, frühere psychiatrische und psychologische Behandlungen, Familienanamnese in Hinblick auf psychische und neurologische Erkrankungen, familiärer Hintergrund, Migrationshintergrund sowie belastende inner- und ausserfamiliäre Erlebnisse. Das MCSI beinhaltet ferner forensisch relevante Fragen zur aktuellen Inhaftierung, zum Deliktmotiv, zu früheren Inhaftierungen und zu Inhaftierungen von Familienmitgliedern. Das MCSI wurde an anderer Stelle bereits ausführlich dargestellt (Bauer et al., 2011). Integrierte Vollzugsverwaltung (IVV) Das IVV ist eine Datenbank des österreichischen Bundesministeriums für Justiz, in der Informationen zur Haftart, zur Haftdauer und zum Anlassdelikt jeder in Österreich inhaftierten Person gespeichert werden. Jede Person erhält bei der ersten Inhaftierung eine Identifikationsnummer. Der Zugang zu dieser Datenbank ist auf Mitarbeiter des österreichischen Strafvollzugs beschränkt. Für diese Studie wurden das Alter bei Inhaftierung und das Anlassdelikt aus dem IVV erhoben.
Statistische Auswertung Die Aspekte des psychosozialen Hintergrunds wurden als dichotome Variablen (vorhanden/nicht vorhanden) kodiert. Die Prüfung auf Geschlechtsunterschiede erfolgte durch zweiseitige Chi-Quadrat-Tests in IBM SPSS Statistics (Version 19). Wenn die erwarteten Zellbesetzungen für einen Vergleich mittels des Chi-Quadrat-Tests zu klein waren, wurde stattdessen der exakte Test nach Fisher verwendet. Aufgrund der durch das multiple Testen erhöhten Wahrscheinlichkeit für fälschliche Zurückweisungen der Nullhypothese wurden die p-Werte nach dem von Benjamini und Hochberg (1995) vorgeschlagenen Verfahren korrigiert. Zusätzlich wurde die Odds Ratio (OR; mit 95 % Vertrauensintervall) von weiblichen zu männlichen Insassen berechnet.
Ergebnisse Endgültige Stichprobe Von den 370 Jugendlichen, welche die Einschlusskriterien erfüllten, verweigerten 8 die Teilnahme, bei 30 Jugendlichen wurde kein MCSI durchgeführt, da das Instrument erst zu einem späteren Zeitpunkt fertiggestellt war, 23 Jugendliche wurden aus der Haft entlassen, bevor das struk-
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turierte Interview durchgeführt werden konnte und bei 15 Jugendlichen waren die mittels des MCSI erhobenen Daten unvollständig und/oder das Anlassdelikt nicht bekannt. Die endgültige Stichprobe bestand somit aus 294 Jugendlichen. Bei 55 Jugendlichen wurde eine Vorabversion des MCSI verwendet, bei der das Deliktmotiv noch nicht erfasst wurde. Diese Jugendlichen wurden aber dennoch bei allen anderen Auswertungen mit einbezogen. Das Durchschnittsalter der 46 weiblichen (15.6 %) Jugendlichen lag bei 17.9 Jahren (SD = 1.8), das der 248 männlichen Jugendlichen (84.4 %) bei 16.4 Jahren (SD = 1.3). Der Altersunterschied war signifikant (t = –5.06, df = 54, p < .001). Insgesamt gaben 148 (50.3 %) Jugendliche einen Migrationshintergrund an, wobei männliche Probanden häufiger einen Migrationshintergrund hatten als weibliche Probanden (54.0 % vs. 30.4 %, χ2 = 8.64, df = 1, p < .01). In den folgenden Abschnitten wird (im Text) über signifikante Ergebnisse berichtet. In den Tabellen führen wir alle Variablen des MCSI auf, die wir in unsere Analysen mit einbezogen haben.
Selbstberichte von familienbezogenen Belastungsfaktoren und innerbeziehungsweise ausserfamiliären Missbrauchs- und Verlusterlebnissen Es fanden sich signifikante Geschlechtsunterschiede bezüglich der Trennung der Eltern und einer Inhaftierung der Mutter, welche mit einer sieben bzw. fünf Mal höheren Wahrscheinlichkeit von Mädchen angegeben wurden. Beide Geschlechter berichteten ähnlich häufig von einer psychischen Störung eines Familienmitglieds und einer Inhaftierung des Vaters. Innerfamiliärer Missbrauch/Verlust wurde insgesamt von 91 % der Mädchen und 79 % der Jungen angegeben, wobei Mädchen bei allen Formen von Missbrauch (sexuell, körperlich, emotional) signifikant höhere Prävalenzraten aufwiesen. Als von ausserfamiliärem Missbrauch/Verlust betroffen beschrieben sich 80 % der Mädchen und 55 % der Jungen. Mädchen gaben signifikant häufiger ausserfamiliären sexuellen und körperlichen Missbrauch sowie ausserfamiliäre Trennungs- und Verlusterfahrungen an. Insgesamt, wenn man alle Belastungsfaktoren berücksichtigt, zeigte sich bei sexuellem Missbrauch – sowohl durch ein Familienmitglied als auch durch ein Nicht-Familienmitglied – der größte Geschlechterunterschied: Die Wahrscheinlichkeit für die Angabe eines sexuellen Missbrauchs war bei den Mädchen über 10 Mal (innerfamiliär) beziehungsweise 12 Mal (ausserfamiliär) höher als bei den Jungen (s. Tab. 1).
Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie (2016), 44(1), 1–10
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B. Plattner et al., Psychosoziale Belastungen bei inhaftierten Mädchen und Jungen
Tabelle 1. Selbstberichte von familienbezogenen Belastungsfaktoren und inner- beziehungsweise ausserfamiliären Missbrauchs- und Verlusterlebnissen gesamt (N = 294) besondere familiäre Situation
weiblich (n = 46)
männlich (n = 248)
weiblich – männlich OR (95 %-KI)
p*
77.9 %
(229)
95.7 %
(44)
74.6 %
(185)
7.5
(1.8; 31.8)
< .01
Eltern getrennta
54.1 %
(159)
87.0 %
(40)
48.0 %
(119)
7.2
(3.0; 17.7)
< .001
Fremdplatzierunga
26.9 %
(79)
32.6 %
(15)
25.8 %
(64)
1.4
(0.7; 2.7)
n. s.
psych. Störung in der Familiea
58.5 %
(172)
69.6 %
(32)
56.5 %
(140)
1.8
(0.9; 3.5)
n. s.
44.2 %
(130)
47.8 %
(22)
43.5 %
(108)
1.2
(0.6; 2.2)
n. s.
27.2 %
(80)
32.6 %
(15)
26.2 %
(65)
1.4
(0.7; 2.7)
n. s.
5.1 %
(15)
15.2 %
(7)
3.2 %
(8)
5.4
(1.8; 15.7)
< .01
18.7 %
(55)
17.4 %
(8)
19.0 %
(47)
0.9
(0.4; 2.1)
n. s.
4.4 %
(13)
4.3 %
(2)
4.4 %
(11)
1.0
(0.2; 4.6)
n. s.
81.0 %
(238)
91.3 %
(42)
79.0 %
(196)
2.8
(1.0; 8.1)
n. s.
Delinquenz in der Familie Vater in Hafta Mutter in Haftb Geschwister in Hafta andere Verwandte in Haftb innerfamiliärer Missbrauch/Verlust sexueller Missbrauchb
6.8 %
(20)
26.1 %
(12)
3.2 %
(8)
10.6
(4.0; 27.8)
< .001
a
körperlicher Missbrauch
37.8 %
(111)
54.3 %
(25)
34.7 %
(86)
2.2
(1.2; 4.2)
< .05
emotionaler Missbraucha
34.0 %
(100)
63.0 %
(29)
28.6 %
(71)
4.3
(2.2; 8.2)
< .001
76.5 %
(225)
84.8 %
(39)
75.0 %
(186)
1.9
(0.8; 4.4)
n. s.
58.8 %
(153)
80.4 %
(37)
54.8 %
(138)
3.4
(1.6; 7.3)
< .01
9.5 %
(28)
37.0 %
(17)
4.4 %
(11)
12.6
(5.4; 29.6)
< .001
körperlicher Missbraucha
31.3 %
(92)
50.0 %
(23)
27.8 %
(69)
2.6
(1.4; 4.9)
< .01
emotionaler Missbraucha
27.9 %
(82)
41.3 %
(19)
25.4 %
(63)
2.1
(1.1; 4.0)
n. s.
Trennung/Verlusta
35.7 %
(105)
58.7 %
(27)
31.5 %
(78)
3.1
(1.6; 5.9)
< .01
a
Trennung/Verlust
ausserfamiliärer Missbrauch/Verlust b
sexueller Missbrauch
Anmerkungen: aχ2-Test; bexakter Test nach Fisher; OR = Odds Ratio; KI = Konfidenzintervall; *nach Benjamini und Hochberg (1995) korrigierte Signifikanzlevels.
Abbildung 1. Venn-Diagramm von schulischen Belastungen, intraund extrafamiliärem Missbrauch/Verlust bei männlichen Insassen (n = 248).
© 2016 Hogrefe
Abbildung 2. Venn-Diagramm von schulischen Belastungen, intraund extrafamiliärem Missbrauch/Verlust bei weiblichen Insassen (n = 46).
Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie (2016), 44(1), 1–10
B. Plattner et al., Psychosoziale Belastungen bei inhaftierten Mädchen und Jungen
69
Tabelle 2. Selbstberichte von schulischen Problemen und Ausbildungserfolg gesamt (N = 294)
weiblich (n = 46)
männlich (n = 248)
weiblich – männlich OR (95 %-KI)
p*
Probleme in der Schule:
86.4 %
(254)
76.1 %
(35)
88.3 %
(219)
0.4
(0.2; 0.9)
< .05
Verhalten allgemeina
71.4 %
(210)
58.7 %
(27)
73.8 %
(183)
0.5
(0.3; 1.0)
n. s.
mit Autoritätena
56.8 %
(167)
41.3 %
(19)
59.7 %
(148)
0.5
(0.3; 0.9)
n. s.
mit Mitschülerna
41.5 %
(122)
43.5 %
(20)
41.1 %
(102)
1.1
(0.6; 2.1)
n. s.
mit Strukturena
63.6 %
(187)
52.2 %
(24)
65.7 %
(163)
0.6
(0.3; 1.1)
n. s.
Leistungsproblemea
53.4 %
(157)
39.1 %
(18)
56.0 %
(139)
0.5
(0.3; 1.0)
n. s.
74.1 %
(218)
80.4 %
(37)
73.0 %
(181)
1.5
(0.7; 3.3)
n. s.
Pflichtschule absolvierta
63.6 %
(187)
71.7 %
(33)
58.5 %
(145)
1.8
(0.9; 3.6)
n. s.
Höhere Schule besuchta
19.4 %
(57)
39.1 %
(18)
15.7 %
(39)
3.4
(1.7; 6.8)
.002
Lehre begonnena
46.6 %
(137)
50.0 %
(23)
46.0 %
(114)
1.2
(0.6; 2.2)
n. s.
Ausbildungserfolg:
Anmerkungen: aχ2-Test; OR = Odds Ratio; KI = Konfidenzintervall; *nach Benjamini und Hochberg (1995) korrigierte Signifikanzlevels.
Selbstberichte von schulischen Problemen und Ausbildungserfolg
Selbstberichte von früherer psychiatrisch/ psychologischer Behandlung
76 % der Mädchen und 88 % der Jungen gaben ein schulisches Problem an. Der Unterschied ist signifikant. Spezifische Probleme im Verhalten, mit Autoritäten, mit Mitschülern und mit Strukturen wurden von 42 % bis 71 % der Insassen berichtet. Ein statistisch bedeutsamer Unterschied zwischen den beiden Geschlechtern war diesbezüglich nicht feststellbar. Der Ausbildungserfolg der weiblichen Häftlinge war insoweit größer, als dass signifikant mehr Mädchen berichteten, eine höhere Schule besucht zu haben (s. Tab. 2).
57 % der Mädchen und 29 % der Jungen gaben an, psychiatrisch/psychologisch behandelt worden zu sein (Tab. 3). Dieser Unterschied war signifikant. Die Geschlechtsunterschiede in den früheren psychiatrisch/psychologischen Behandlungen blieben auch dann bestehen, wenn nach stationärer und ambulanter Behandlung differenziert wurde. Noch deutlicher ist der Geschlechtsunterschied bezüglich Drogenberatung und Psychopharmakaeinnahme: Eine Inanspruchnahme eines der beiden wurde mit fünffach höherer Wahrscheinlichkeit von Mädchen als von Jungen angegeben. Signifikant häufiger hatten sich Mädchen zuvor auch in Psychotherapie begeben (46 % der Mädchen, 29 % der Jungen).
Selbstberichte von multipler Belastung Die Venn-Diagramme (Abb. 1 und 2) zeigen für beide Geschlechter getrennt den Anteil von Jungen und Mädchen mit keiner, einer, zwei oder drei Belastungsformen in Bezug auf schulische Probleme sowie intrafamiliäre und extrafamiliäre Missbrauchs-/Verlusterlebnisse. Insgesamt berichtete ein erheblicher Anteil der inhaftierten Mädchen und Jungen Belastungen in mehreren Bereichen. Keines der Mädchen (0 %) und nur 2 % der Jungen berichten keine erlebten Belastungen in den drei Bereichen. Anteilmäßig gaben signifikant mehr Mädchen als Jungen zugleich schulische Probleme, inner- und außerfamiliäre Missbrauchsund Verlusterlebnisse an (entspricht dem grau schattierten Bereich; 65.2 % vs. 46.4 %, χ2 = 5.51, df = 1, p < .05).
Anlassdelikte und selbstberichtete Deliktmotive Wie aus Tabelle 4 hervorgeht, war bei den männlichen Insassen Raub und bei den weiblichen ein Eigentumsdelikt der häufigste Vorwurf. Ein signifikanter Geschlechtsunterschied fand sich aber nur bei den Drogendelikten, welche anteilsmäßig mit einer vierfach höheren Wahrscheinlichkeit bei Mädchen Anlass zur Untersuchungshaft waren als bei Jungen. Die Finanzierung einer Sucht wurde von Insassen beiderlei Geschlechts am häufigsten als Deliktmotiv angege-
Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie (2016), 44(1), 1–10
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B. Plattner et al., Psychosoziale Belastungen bei inhaftierten Mädchen und Jungen
Tabelle 3. Selbstberichte von früherer psychiatrisch/psychologischer Behandlung gesamt (N = 294)
weiblich (n = 46)
männlich (n = 248)
weiblich – männlich OR (95 %-KI)
p*
psychiatrisch insgesamta
33.0 %
(97)
56.5 %
(26)
28.6 %
(71)
3.2
(1.7; 6.8)
< .001
psychiatrisch stationära
13.9 %
(41)
28.3 %
(13)
11.3 %
(28)
3.1
(1.5; 6.6)
< .01
psychiatrisch ambulanta
23.1 %
(68)
39.1 %
(18)
20.2 %
(50)
2.5
(1.3; 5.0)
< .01
Drogenberatunga
21.1 %
(62)
50.0 %
(23)
15.7 %
(39)
5.4
(2.7; 10.5)
< .001
Psychotherapiea
31.3 %
(92)
45.7 %
(21)
28.6 %
(71)
2.1
(1.1; 4.0)
< .05
Psychopharmakaa
20.7 %
(61)
50.0 %
(23)
15.3 %
(38)
5.5
(2.8; 10.8)
< .001
Anmerkungen: aχ2-Test; OR = Odds Ratio; KI = Konfidenzintervall; *nach Benjamini und Hochberg (1995) korrigierte Signifikanzlevels.
ben (Tab. 4). Dennoch gaben Mädchen mit 55 % signifikant häufiger, im Vergleich zu den Jungen mit 29 %, als Begründung für ihr Fehlverhalten die Finanzierung ihrer Sucht an. Weitere von beiden Geschlechtern häufig berichtete Motive sind Gruppendruck, delinquenter Lebensstil und Kriminalität zur Beschaffung des Lebensunterhaltes.
Diskussion Die Ergebnisse unserer Untersuchung bei jugendlichen Untersuchungshäftlingen sind im Wesentlichen deckungsgleich mit den Erkenntnissen aus den epidemiologischen Längsschnittuntersuchungen betreffend der Entwicklung von chronisch dissozialem Verhalten. Bei straffälligen Mädchen und Jungen handelt es sich um psychosozial multipel belastete Jugendliche (Gavazzi et al., 2006; Moffit, 2001). Unsere Ergebnisse haben daher einige klinische und gesellschaftspolitische Implikationen, welche wir an dieser Stelle diskutieren wollen.
Kriminelles Verhalten – das Resultat einer lange bestehenden Fehlentwicklung Kriminelles Verhalten von Jugendlichen beider Geschlechter steht in den allermeisten Fällen am Ende einer die gesamte Kindheitsentwicklung betreffenden Negativspirale. Diese Spirale baut sich auf Faktoren wie psychische Auffälligkeiten, Kriminalität sowie elterliche Psychopathologie, erzieherische Kompetenzdefizite der Eltern, auf Missbrauchs- und Vernachlässigungserfahrungen, schulische Leistungs- und Verhaltensprobleme, dysfunktionale Gleichaltrigenkontakte sowie auf Gewalt und Kriminali© 2016 Hogrefe
tätserfahrung in sozial belasteten Wohnbezirken auf. Auch unsere Ergebnisse spiegeln diese «Vorgeschichten» der betroffenen Jugendlichen eindrücklich wieder. Es fanden sich insgesamt hohe Raten von selbstberichteten familienbezogenen Belastungsfaktoren, von inner- beziehungsweise ausserfamiliären Missbrauchs- und Verlusterlebnissen sowie von Schwierigkeiten in der Schule. Unweigerlich bestätigen unsere Ergebnisse die Notwendigkeit einer möglichst früh einsetzenden intensiven Begleitung psychosozial belasteter Familien, auch um der erhöhten Gefährdung möglicher dissozialer Entwicklungen der Kindern dieser Familien entgegentreten zu können (Tremblay, 2010). Über 30 % der untersuchten Jugendlichen gaben an, bereits psychiatrische Hilfe in Anspruch genommen zu haben, was den psychischen Leidensdruck der betroffenen Kinder unter diesen Belastungsfaktoren zum Ausdruck bringt. Diese Präventionsarbeit muss in der Kinder- und Jugendhilfe, aber auch in einer sozialpsychiatrisch orientierten Kinder- und Jugendpsychiatrie geleistet werden. Eine enge Zusammenarbeit mit der Erwachsenenpsychiatrie ist anzustreben, denn erstens besteht bei vielen jugendlichen Tätern eine hohe Belastung an psychischen Störungen in den Familien. Zweitens wäre eine Weiterbetreuung der betroffenen Jugendlichen, auch nach dem Erreichen des 18. Lebensjahres, beispielweise im Rahmen einer fächerübergreifenden Adoleszentenpsychiatrie, zielführend. Hier könnten begonnene Behandlungen nachhaltig weitergeführt werden und Entwicklungsprozesse bis hinein in das Erwachsenenalter unterstützt werden. Vor dem Hintergrund dieser Ergebnisse sollten Schwerpunkteinrichtungen für sozial benachteiligte Familien etabliert werden, welche die Sozial-, Schul- und Familienarbeit mit der Prävention im Bereich der Sucht- und Kriminalitätsentwicklung vereinen.
Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie (2016), 44(1), 1–10
B. Plattner et al., Psychosoziale Belastungen bei inhaftierten Mädchen und Jungen
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Tabelle 4. Anlassdelikte und selbstberichtete Deliktmotive gesamt (N = 239)
weiblich (n = 31)
männlich (n = 208)
weiblich – männlich OR (95 %-KI)
p*
Anlassdelikte gegen das Eigentuma
34.0 %
(100)
43.5 %
(20)
32.3 %
(80)
1.6
(0.9; 3.1)
n. s.
9.5 %
(28)
6.5 %
(3)
10.1 %
(25)
0.6
(0.2; 2.2)
n. s.
Rauba
54.1 %
(159)
39.1 %
(18)
56.9 %
(141)
0.5
(0.3; 0.9)
n. s.
Drogena
15.6 %
(46)
34.8 %
(16)
12.1 %
(30)
3.9
(1.9; 7.9)
< .01
Sonstigea
18.0 %
(53)
26.1 %
(12)
16.5 %
(41)
1.8
(0.9; 3.7)
n. s.
Lebensunterhaltb
12.1 %
(29)
12.9 %
(4)
12.0 %
(25)
1.1
(0.4; 3.4)
n. s.
Suchtfinanzierunga
32.2 %
(77)
54.8 %
(17)
28.8 %
(60)
3.0
(1.4; 6.5)
.039
3.4 %
(8)
0.0 %
(0)
3.8 %
(8)
15.5 %
(37)
12.9 %
(4)
15.9 %
(33)
0.8
(0.3; 2.4)
n. s.
19.3 %
(46)
12.9 %
(4)
20.2 %
(42)
0.6
(0.2; 1.8)
n. s.
8.4 %
(20)
3.2 %
(1)
9.1 %
(19)
0.3
(0.4; 2.6)
n. s.
7.1 %
(17)
0.0 %
(0)
8.2 %
(17)
11.3 %
(27)
9.7 %
(3)
11.5 %
(24)
gegen Leib und Lebenb
Deliktmotive
Schuldenb b
Lebensstil
Gruppendrucka b
Gewaltimpuls
Risikoverhaltenb Substanzeinfluss
b
n. s.
n. s. 0.8
(0.2; 2.9)
n. s.
Anmerkungen: aχ2-Test; bexakter Test nach Fisher; OR = Odds Ratio; KI = Konfidenzintervall; *nach Benjamini und Hochberg (1995) korrigierte Signifikanzlevels.
Inhaftierte Jugendliche und ihre Familien Unsere Ergebnisse widerspiegeln eindrücklich die Probleme in den Familien der inhaftierten Minderjährigen. Ausgesprochen hohe Raten an psychischen Störungen, Delinquenz, sexuellem, körperlichem und emotionalem Missbrauch und einschneidenden Verlusterlebnissen prägen das Bild dieser Familien. Die kinder- und jugendpsychiatrische Versorgung jugendlicher Gefängnisinsassen beider Geschlechter stellt daher eine große Herausforderung dar, zumal in vielen Fällen bereits viele, seit längerer Zeit bestehende Belastungsfaktoren betreffend des psychosozialen Umfeldes zu finden sind, die schon längst einer Intervention bedurft hätten. Demnach ist es notwendig, nebst einer differenzierten psychopathologischen Ersterhebung auch den psychosozialen Hintergrund der betroffenen Jugendlichen eingehend zu erörtern. Darauf basierend muss dann eine umfassende, auf die individuellen Bedürfnisse des Jugendlichen ausgerichtete Interventions- bzw. Behandlungsstrategie einwickelt werden. Der Berücksichtigung des psychosozialen Hintergrundes kommt dabei entscheidende Bedeutung zu (Bessler, 2011; Penn & Thomas, 2005). Gerade für die Zeit nach der Ent-
lassung wird es relevant sein, inwiefern das Umfeld des einzelnen Jugendlichen trag- und funktionsfähig ist und nicht zusätzlich für den Jugendlichen gefährdend wirkt (Brown, Killian & Evans, 2003). Es versteht sich von selbst, dass ein reines «Wegsperren» der Jugendlichen für bestimmte Zeitperioden mit Rückkehr in das bestehende defizitäre Umfeld keine Lösung sein kann.
Das Delikt – ein Symptom Die von den inhaftierten Jugendlichen angegebenen Deliktmotive spiegeln die Verstrickung von Kriminalität und psychosozialer Belastung wieder. So machen in unserer Untersuchung Eigentumsdelikte und Raub den größten Anteil der Anlassstraftaten aus. Finanzielle Probleme, Verwahrlosung und Sucht spielen eine wesentliche Rolle in der Deliktentstehung zum Beispiel bei der Kriminalität zur Finanzierung des Lebensunterhaltes, bei der Beschaffungskriminalität und der Kriminalität unter Substanzeinfluss. Kriminalität kann bei psychosozial belasteten Jugendlichen, welche durch Umwelt- und konstitutionelle Bedingungen von legalen Möglichkei-
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B. Plattner et al., Psychosoziale Belastungen bei inhaftierten Mädchen und Jungen
ten, Erfolg zu haben, abgeschnitten sind (sei es durch schulischen Misserfolg oder durch Verhaltensprobleme), eine Möglichkeit sein, sozial und wirtschaftlich zumindest kurzfristig erfolgreich zu sein (Bright & Jonson-Reid, 2008). Vor diesem Hintergrund werden deliktbegünstigende Faktoren, wie ein krimineller Lebensstil, die Selbstwertstärkung im Rahmen einer spezifischen Gruppendynamik und der Gelderwerb zur Finanzierung von Konsumgütern oder Suchtmitteln relevant. Auch hier wird klar, dass ein ledigliches Fordern der Abkehr des Jugendlichen vom «defizitären Verhalten» und ein UnterStrafe-Stellen eines solchen seine Wirkung verfehlen muss. Vielmehr ist im Sinne einer forensischen Therapie unter Einbezug des familiären Systems ein Bearbeiten deliktrelevanter Faktoren und eine therapeutisch gestützte Verhaltensveränderung indiziert (Bessler, 2011).
Das inhaftierte Mädchen – eine besondere Herausforderung Unsere Ergebnisse zum psychosozialen Hintergrund von jugendlichen Insassinnen in einem österreichischen Gefängnis decken sich mit der internationalen Fachliteratur zu dem Thema (Fergusson & Horwood, 2002; Moffitt & Caspi, 2001; Odgers et al., 2008). Die inhaftierten Mädchen berichten signifikant häufiger als Jungen von geschiedenen Eltern, von einer Inhaftierung der Mutter, von inner- und/oder ausserfamiliärem Missbrauch, von psychiatrischer Vorbehandlung, von Substanzmitteldelikten und von Beschaffungskriminalität (Gavazzi et al., 2006; Lenssen et al., 2000). Obwohl die untersuchten Mädchen weniger Probleme in der Schule aufwiesen und häufiger höhere Schulen besucht haben, ist dennoch die Häufigkeit der schulischen Schwierigkeiten auffällig. Die inhaftierten Mädchen zeigen insgesamt in Bezug auf schulische Probleme und ihr Deliktverhalten im Vergleich zur Normpopulation eher «geschlechtsuntypische» Ähnlichkeiten mit ihren männlichen inhaftierten Altersgenossen (Moffitt, 2001; Moffitt & Caspi, 2001; Van der Molen, Hipwell, Vermeiren & Loeber, 2012). Folgende klinische Implikationen lassen sich aus diesen Ergebnissen ableiten: In der Gefängnisversorgung sollte für Mädchen aufgrund der im Vergleich zu den Jungen noch erhöhten psychosozialen Belastungen und der gehäuft aufgetretenen Traumatisierungen neben der psychiatrisch–forensischen Akutbehandlung eine intensive trauma–sensitive, familienzentrierte Begleitung während und nach der Haft angeboten werden (Colman, Kim, MitchellHerzfeld & Shady, 2009). Ganz generell ist aber wie bei den Jungen eine möglichst frühzeitige Intervention die © 2016 Hogrefe
sinnvollste Präventionsstrategie gegen die Entwicklung von dissozialen und delinquenten Verhaltensstörungen. Die Kinder psychisch kranker und insbesondere inhaftierter Mütter wären eine Zielgruppe für solche spezifischen präventiven Interventionsprogramme, mit dem Ziel, den Schutz und die Erziehung der betroffenen Kinder zu sichern, die Umfeldbedingungen zu verbessern und die erzieherischen Kompetenzen der Mütter zu stärken (Kjellstrand, Cearley, Eddy, Foney & Martinez, 2012). Ganz generell geht es auch um die Sensibilisierung des Themenbereichs um den emotionalen, körperlichen und sexuellen Kindesmissbrauch.
Einschränkungen und Stärken der Studie Unsere Resultate konvergieren mit der bestehenden Literatur und ergänzen diese. Dennoch müssen die Ergebnisse aufgrund gewisser Einschränkungen der Studie mit Vorsicht interpretiert werden. Die Daten wurden im Querschnitt retrospektiv erhoben und basieren auf Angaben der betroffenen Jugendlichen. Es ist möglich, dass unsere Resultate durch Über- oder Unterberichte verzerrt sind. Hier könnten auch geschlechtsspezifische Einflussfaktoren eine Rolle spielen, da es Hinweise darauf gibt, dass Mädchen eher bereit sind, über psychosoziale Belastung zu sprechen (Boldero & Fallon, 1995). Eine Elternbefragung und die Einsicht in externe Akten (bspw. Kinderund Jugendhilfe, externe Krankengeschichten) wären wünschenswert gewesen, waren aber im Rahmen der Studie nicht möglich. Darüber hinaus könnte die relativ geringe Anzahl untersuchter weiblicher Insassen dazu geführt haben, dass bestehende Unterschiede durch die statistischen Signifikanztests fälschlicherweise nicht bestätigt wurden. Eine weitere Einschränkung ist, dass die untersuchten Mädchen im Durchschnitt älter als die untersuchten Jungen waren. Dennoch hat die Studie eine Reihe von Stärken. Der psychosoziale Hintergrund und das deliktische Verhalten wurden in einer großen repräsentativen Stichprobe jugendlicher Gefängnisinsassen umfassend erhoben. Die Befragung wurde durch gut qualifizierte Assistenzärzte und Psychologen im Fach Kinder- und Jugendpsychiatrie durchgeführt. Die Befragung fand durch die zuständige Fachperson statt, sodass davon ausgegangen werden kann, dass ein Vertrauensverhältnis zum Jugendlichen aufgebaut werden konnte. Untersuchungen zeigen, dass Selbstberichte über Misshandlungen bei psychosozial benachteiligten Jugendlichen verlässlicher sind als offizielle Aktenvermerke. Gerade bei Hoch-Risiko-Jugendlichen fand sich eine hohe Dunkelziffer an Missbrauch und Vernachlässigung (Swahn et al., 2006).
Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie (2016), 44(1), 1–10
B. Plattner et al., Psychosoziale Belastungen bei inhaftierten Mädchen und Jungen
Fazit Unsere Studie zeigt, dass viele inhaftierte Jugendliche multiplen psychosozialen Belastungen ausgesetzt sind und waren und bestätigt deren Einfluss auf die Entwicklung von kriminellem Verhalten von Jugendlichen. Die Ergebnisse weisen auf die dringende Notwendigkeit hin, Präventionsarbeit in psychosozial belasteten Familien zu leisten. Auch in der Behandlung bereits straffällig gewordener Jugendlicher muss das Umfeld berücksichtigt werden. Daher sollte die Nachsorge sowohl sozialpsychiatrisch-familienzentriert als auch forensisch orientiert sein. Es gibt eine zwar zahlenmäßig kleine, aber hinsichtlich Psychopathologie, hinsichtlich psychosozialer Belastungen und hinsichtlich Delinquenz äußerst problematische Gruppe weiblicher Jugendlicher. Diesen Mädchen muss in Zukunft in Klinik und Forschung mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden – etwa in Form von Ressourcen für die jugendpsychiatrische Grundversorgung für straffällige Mädchen und für die Entwicklung und Evaluation von spezifischen rückfallpräventiven Programmen für minderjährige Straftäterinnen. Auch wenn der volkswirtschaftliche Schaden durch «weibliche» Delinquenz im Vergleich zur «männlichen» vernachlässigbar erscheint, sollte diese Zielsetzung dringend weiter verfolgt werden. Inhaftierte Mädchen haben wie die männlichen Jugendlichen gleichermaßen Anspruch auf eine ihren Bedürfnissen angepasste Versorgung.
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Manuskript eingereicht: 07.08.2014 Nach Revision angenommen: 11.11.2014 Interessenkonflikte: Nein Belinda Plattner Universitätsklinik für Kinder und Jugendpsychiatrie Christian-Doppler-Klinik Salzburg Universitätsklinikum der Paracelsus Medizinischen Privatuniversität Ignaz-Harrer-Straße 79 5020 Salzburg Österreich b.plattner@salk.at
Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie (2016), 44(1), 1–10
Mitteilungen Gemeinsame Stellungnahme der kinder- und jugendpsychiatrischen Fachgesellschaft und der Fachverbände DGKJP, BAG KJPP, BKJPP Erarbeitet durch die Gemeinsame Kommission Jugendhilfe, Arbeit, Soziales und Inklusion zur Zusammenarbeit der Kinder- und Jugendpsychiatrie/-psychotherapie mit der Kinder- und Jugendhilfe im Rahmen des § 35a SGB VIII sowie im Rahmen von § 27 SGB VIII und § 1631b BGB Michael Kölch, Jörg Fegert, Gundolf Berg und Martin Jung
I. Ausgangslage Das Fachgebiet der Kinder- und Jugendpsychiatrie/-psychotherapie (KJPP) ist ein medizinisches Fach an der Schnittstelle zu anderen Professionen, mit denen es innerhalb der Kliniken und Praxen, aber auch außerhalb dieser regelmäßig zusammenarbeitet. Neben Schule und Berufsbildung ist vor allem die Kinder- und Jugendhilfe (KJH) ein wichtiger Partner. In den letzten Jahren haben sich einige Veränderungen im Bereich der kinder- und jugendpsychiatrischen Versorgung ergeben. Die Zahl der niedergelassenen Fachärzte ist deutlich angestiegen, derzeit sind 1014 Fachärzte in Praxen tätig (KBV, persönliche Mitteilung, Stand Jan. 2015). Niedergelassene Fachärzte können im Rahmen der Sozialpsychiatrievereinbarung (SPV) eine umfassende, multiprofessionelle Behandlung der Patienten anbieten. In Deutschland bestehen zum Jahresanfang 2015 ca. 720 SPV-Praxen (Hagen, 2015). Im klinischen Bereich fand einerseits ein Abbau der Bettenkapazitäten, andererseits ein Aufbau von tagesklinischen, meist wohnortnahen Versorgungsangeboten sowie die Gründung von wohnortnahen Institutsambulanzen statt. Insgesamt gibt es knapp 6.000 stationäre bzw. teilstationäre Behandlungsplätze in Deutschland. Bei einem Anstieg der Fallzahlen in den Kliniken um ca. 270 % seit den 90-iger Jahren des letzten Jahrhunderts sank gleichzeitig die durchschnittliche Verweildauer der stationär behandelten Patienten drastisch,
nämlich von 1991 bis 2011 um 70 %, d. h. von ca. 126 Tagen auf ca. 38 Tage. Die Auslastungsquote der Kliniken ist zudem deutlich gestiegen. Mehrere Studien haben gezeigt, dass die von der KJPP behandelten sowie von der KJH betreuten Kinder und Jugendlichen oftmals beider Hilfesysteme bedürfen. Es gibt fundierte Informationen darüber, welche Bedarfe der komplexen professionellen Betreuung bei den Kindern und Jugendlichen bestehen (vgl. u. a. Schmid et al. 2008, Fegert & Besier 2013, Ford et al. 2007, Adam & Hoffmann, 2012). Es wurde belegt, dass das Scheitern einer Maßnahme für Kinder und Jugendliche die Chancen auf den Erfolg einer weiteren Maßnahme deutlich reduziert (Macsenaere & Schemenau 2008). Eine wesentliche gesetzliche Grundlage zur Kooperation zwischen KJPP und KJH findet sich im § 35a SGB VIII. Dazu hat die Kommission bereits 2008 eine Stellungnahme veröffentlicht, die das Verfahren nach § 3 5a SGB VIII hinsichtlich fachlicher Standards, typischer Konstellationen und auch hinsichtlich Problemen in der Zusammenarbeit erläutert (Fegert et al. 2008). In den letzten Jahren sind lokal vielfältige Kooperationen zwischen KJH sowie KJPP sowohl im klinischen, als auch im niedergelassenen Bereich entstanden. Beispielhaft für eine verbesserte Versorgung sind Heimkindersprechstunden sowie verfasste Kooperationsvereinbarungen zwischen Kliniken und Praxen mit Jugendämtern zu benennen. Gleichwohl besteht, wahrnehmbar in beiden
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Systemen, der Wunsch, die Kooperation weiter zu verbessern. Die gemeinsame Kommission Jugendhilfe, Arbeit, Soziales und Inklusion der kinder- und jugendpsychiatrischen Fachgesellschaften (DGKJPP, BAG KJPP, BKJPP) befasst sich seit langem mit dieser Thematik und möchte hier im Dialog mit der Kinder- und Jugendhilfe Standards der Zusammenarbeit etablieren und verbessern. Im folgenden Papier werden deshalb einige Themenfelder aus Sicht der KJPP benannt, die in der Zusammenarbeit problematisch sein können und die eine Zusammenarbeit besonders belasten können. Ausdrückliches Ziel des Papiers ist es, in einem Austausch der Beteiligten gemeinsame, von beiden Seiten akzeptierte und damit auch vereinheitlichte Regelungen und Lösungsmöglichkeiten zu definieren. Gerade angesichts der Diskussion über die Umsetzung einer inklusiven Lösung für Kinder und Jugendliche mit Behinderung steht die Zusammenarbeit zwischen Medizinern und Kinder- und Jugendhilfe exemplarisch auf dem Prüfstand.
II. Themenfelder Typische Themenfelder für eine weitere Verbesserung der Kooperation zwischen KJPP und KJH aus Sicht der Kommission sind die Einbeziehung in die Hilfeplanung, die Berücksichtigung kinder- und jugendpsychiatrischer Expertise im Rahmen der Leistungsgewährung nach § 35a SGB VIII, die Entwicklung eines gemeinsamen Fallverständnisses unter Kenntnis der fachlichen Standards der jeweils anderen Seite, der Umgang mit Krisen und freiheitsentziehenden Maßnahmen nach § 1631b BGB, der Einbezug von Eltern bzw. Sorgeberechtigten und der Umgang mit Finanzierungslücken, die in der Kooperation zwischen den SGB V- und den SGB VIII-Versorgungssystemen evident werden. Einzelne Themenfelder betreffen nicht gleichermaßen die stationäre und die ambulante KJPP, auch die Ressourcen für Kooperationen sind zum Teil unterschiedlich, wenn man den ambulanten und stationären Sektor im SGB V betrachtet. Im Folgenden werden diese Themenfelder benannt und Lösungsansätze aus Sicht der KJPP dargestellt.
1. Einbezug in die Planung von Interventionen und Maßnahmen Beteiligung an der Hilfeplanung (§§ 27 ff, § 36 Abs. 2 und 3 SGB VIII): Der Einbezug der Expertise der KJPP hinsichtlich Art und Ausgestaltung von Jugendhilfemaßnahmen ermöglicht es, wichtige krankheits- bzw. störungsspezifische Bedarfe der Patienten auch bei Kinderund Jugendhilfemaßnahmen gut zu berücksichtigten. © 2016 Hogrefe
Andererseits könnte ein frühzeitiger – noch während des stationären Aufenthaltes stattfindender Einbezug der KJH in die Planung der poststationären Phase die Möglichkeiten der vorwiegend pädagogisch orientierten Jugendhilfemaßnahmen verbessern. Es darf dabei nicht um die Dominanz eines Systems über das andere gehen, sondern um eine Zusammenarbeit der beiden für die Klienten wichtigen Systeme. Frühzeitige Information der zuständigen Jugendhilfeträger durch den Partner der Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie sowie eine beschleunigte Hilfeplanung sind insbesondere geboten, wenn es um die Suche nach einer geeigneten Einrichtung für ein stationär behandeltes Kind bzw. einen Jugendlichen geht. Denn durch die – von den Krankenversicherungen determiniert – sinkenden Verweildauern bei gleichzeitig bestehendem hohem Aufnahmedruck durch Notaufnahmen können manche Hilfeplanungsprozesse kaum mehr mit der aus Sicht der Jugendhilfe vielleicht gebotenen Zeit während einer stationären Behandlungsphase geplant werden, sondern es werden sehr rasch einsetzende Anschlussmaßnahmen erforderlich. Real bestehende Bettenkapazitäten und ein hoher Entlassdruck durch die Kostenträger im SGB V machen es aus Sicht der KJPP erforderlich, hier vom Jugendhilfepartner Möglichkeiten nach Priorisierung mit beschleunigten Entscheidungsprozessen fordern zu müssen. Im ambulanten Bereich sind Hilfen zur Erziehung gemäß §§ 2 7ff. SGB VIII gerade bei Kindern und Jugendlichen mit schweren psychischen Störungen oftmals eine wichtige Voraussetzung für den Erfolg therapeutischer Maßnahmen, und diese bekommen damit eine sehr wichtige Bedeutung zur Förderung einer möglichst gesunden Weiterentwicklung der Kinder und Jugendlichen. Häufig sind im Rahmen der Behandlung umfangreiche Interventionen zur Motivation einer Familie, sich an ein Jugendamt zu wenden, erforderlich. Umso wichtiger erscheint es gerade in diesen Fällen, eine möglichst enge Abstimmung der Jugendhilfeplanung und der therapeutischen Maßnahmen zu erreichen. Insbesondere im Rahmen von ohnehin bereits multiprofessionell orientierter Behandlung in sozialpsychiatrischen Praxen oder Klinikambulanzen ist eine Abstimmung mit dem zuständigen Jugendamt relativ gut realisierbar, wird aber regional sehr unterschiedlich genutzt. Das Verfahren nach § 3 5a SGB VIII legt nach der Feststellung der anspruchsbegründenden Tatsache (seelische Erkrankungen nach der jeweils geltenden Fassung der Internationalen Klassifikation seelischer Erkrankungen, derzeit ICD 10 GM) die Federführung für Hilfen für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche in die Hand des Jugendamtes. Auch wenn die Federführung für den zweiten Schritt in der Hand des Jugendamtes liegt, soll die fachliche Stellungnahme der KJPP in der Planung berücksichtigt
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werden. Im Gesetz gibt es einen klaren Hinweis auf die Notwendigkeit, entsprechende Expertise einzuholen. Krankheits- bzw. störungsspezifische Faktoren haben für die Prognose der jeweiligen Hilfen bei Kindern und Jugendlichen, die von einer seelischen Behinderung bedroht sind, eine zentrale Bedeutung und müssen konsequenterweise bei der Planung von Maßnahmen der Eingliederungshilfe mit einbezogen werden. Dies gilt gleichermaßen für ambulant wie für stationär behandelte Kinder und Jugendliche. (vgl. hierzu auch die Stellungnahme der Kommission von 2008). Zeigt sich die mögliche Indikation für eine Eingliederungshilfe im Rahmen einer kinder- und jugendpsychiatrischen Diagnostik und Behandlung, so ist in der Regel eine eingehende Diagnostik zu Lasten der Krankenversicherung erfolgt. Für diese Fälle bleibt die Frage nach der Finanzierung von gutachterlichen Stellungnahmen oftmals unbefriedigend und uneinheitlich gelöst. Hier sieht die Kommission weiteren Klarstellungsbedarf zur Unterstützung der Zusammenarbeit zwischen KJPP und KJH. Sehr unterschiedlich erscheinen aus Sicht der gemeinsamen Kommission auch die Anforderungen der Jugendämter an Inhalte und Form der gutachterlichen Stellungnahmen im Rahmen der Hilfen nach § 3 5a SGB VIII. Bei der Hilfeplanung ist aus Sicht der Kommission generell eine zeitnahe Hilfeplanung und ein rascher Einstieg in Hilfen anzustreben, um die Entwicklung des Kindes/Jugendlichen nicht durch zu lange Planungsprozesse weiter zu gefährden, denn die Schule bzw. die Entwicklungsbedarfe der Kinder warten nicht. Lösungsmöglichkeit: In verschiedenen Kooperationsverträgen zwischen KJP und KJH finden sich gute Ablaufregelungen zur Kooperation jeweils auf das Behandlungssetting bezogen. Auch zu Form und Inhalten der fachlichen Stellungnahmen gibt es bereits probate Vorschläge. Mindeststandards sollten vereinheitlicht werden. Verbindliche Regelungen zur Finanzierung der Gutachten sind notwendig. Wenn ein Kind oder ein Jugendlicher aus Sicht der KJH fachübergreifenden, komplexen Hilfebedarf aufweist, sollte frühzeitig – eventuell auch außerhalb des Gutachtenverfahrens – das Fachgebiet der KJPP hinzugezogen werden.
2. Einbeziehung der Expertise der KJPP während einer Jugendhilfemaßnahme Viele der Kinder und Jugendlichen, die kinder- und jugendpsychiatrisch und psychotherapeutisch behandelt wurden und im Anschluss eine Hilfe nach SGB VIII erhalten, benötigen eine kontinuierliche kinder- und jugendpsychiatrische und psychotherapeutische Weiterbehandlung. In der
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Praxis wird vielfach beklagt, daß den behandelnden Ärzten keine Rückmeldung über den Hilfeplan bzw. zu den Ergebnissen der Hilfeplanung gegeben wird. Andererseits werden – zum Teil aus Gründen der Schweigepflicht – keine Informationen der Behandlung an die KJH weitergegeben. Immer wieder wird aus der Praxis berichtet, daß ohne Rücksprache mit dem behandelnden Arzt für KJPP im Hilfeplangespräch Maßnahmen beschlossen werden, die die KJPP-Behandlung betreffen (z. B. Empfehlungen zu parallelen Behandlungen oder zu Klinikbehandlungen bei bereits ambulant behandelten Patienten, u. ä.). Oft scheinen unzureichende Informationen der zuständigen Mitarbeiter der KJH dafür wesentlich. Dadurch wird die Behandlungskontinuität gefährdet, die betroffenen Familien werden oft hochgradig verunsichert, und es werden Behandlungsressourcen durch unnötige Doppeluntersuchungen und -behandlungen blockiert. Eine unzureichende gegenseitige Einbeziehung verhindert eine optimierte gemeinsame Betreuung der Patienten auch in Fällen, in denen eine stationäre Jugendhilfemaßnahme entfernt vom bisherigen Lebensmittelpunkt durchgeführt wird, nämlich wenn mangels Information des Behandlers über den Wechsel der Jugendhilfemaßnahme eine Übergabe an eine/n weiterbehandelnde/n Kollegin/ en vor Ort nicht stattfindet. Dies führt immer wieder zu Krisen-Zuweisungen in Kliniken und stellt eine vermeidbare Gefährdung der Entwicklung der Kinder- und Jugendlichen dar. Lösungsmöglichkeit: Kooperationsvereinbarungen sollten verbindliche Regelungen zur Rückmeldung an den behandelnden Facharzt KJPP beinhalten. Bei der Planung von Jugendhilfemaßnahmen muss eine ggfs. notwendige kinder- und jugendpsychiatrische Weiterbehandlung mitgeplant werden. Anamnestische Angaben und Vorbefunde sollten zur Verfügung gestellt werden, sofern die Personensorgeberechtigten hierfür ihr Einverständnis erteilen.
3. Entwicklung von Standards und Verständnis für die jeweils andere Profession Die Behandlungsplanung im SGB V und die Hilfeplanung im SGB VIII erfolgen nach jeweils eigenen systemimmanenten Ablaufregeln. An der Schnittstelle zwischen den Systemen gibt es dabei Schwierigkeiten, die zu verhindern wären, indem man das Wissen um die Bedingungen und Abläufe im jeweils anderen Hilfesystem bei den Handelnden kontinuierlich adressieren und verbessern würde. So könnten Erfahrungen, die z. B. in der KJPP im Rahmen der Behandlung bereits gemacht wurden, dazu beitragen, be-
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stimmte Jugendhilfemaßnahmen gar nicht erst zu planen, sondern direkt intensivere bzw. andere Hilfen zu planen. Dies ist auch umgekehrt der Fall für die Planung von kinder- und jugendpsychiatrischer Diagnostik und Behandlung. Es entsteht immer wieder der Eindruck, dass seitens der Jugendhilfe die Möglichkeiten der Kinder- und Jugendpsychiatrie verkannt werden. Insbesondere, aber nicht nur im stationären Bereich, führt dies immer wieder zu Schwierigkeiten. Typisch ist dies z. B. bei Kindern und Jugendlichen mit Störungen des Sozialverhaltens. Die kinder- und jugendpsychiatrisch-psychotherapeutischen Behandlungsmöglichkeiten sind bei dieser Störung begrenzt. Es bedarf oftmals vornehmlich einer langfristig eingesetzten, stringenten Pädagogik, die durch die kinder- und jugendpsychiatrische Behandlung komorbider Störungen wie ADHS, depressiven Störungen, Impulskontrollstörungen etc. flankiert werden kann und muss. Eine Störung des Sozialverhaltens wird im Rahmen einer stationären Therapie selten langfristig gebessert oder gar «geheilt». Oftmals scheinen es aus Sicht der KJPP vor allem die durch die betroffenen Jugendlichen generierten sehr hohen Belastungen zu sein, die in den Einrichtungen der KJH die Hoffnung auf Unterstützung durch eine stationäre Behandlung in der KJPP entstehen lassen. Neben Kindern und Jugendlichen mit einer Störung des Sozialverhaltens betrifft dies oft auch junge Menschen mit intellektueller Behinderung und damit in Verbindung stehenden schwierigen Verhaltensauffälligkeiten. Lösungsmöglichkeit: Wünschenswert wäre hier die gemeinsame Entwicklung von Konzepten, wie mit solchen, oft krisenhaften Situationen unter Nutzung beider Systeme umgegangen werden kann. Gemeinsame Fortbildungen sollten lokal etabliert werden. Auf lokaler Ebene sollte auch eine gemeinsame Strategie zur Etablierung von notwendigen Angeboten sowohl in der KJH als auch in der KJPP (ambulant und stationär) entwickelt werden. Dies bedarf aus Sicht der Kommission auch eines politischen Willens und des Schaffens entsprechender Rahmenbedingungen. Wichtig ist es, ein gemeinsames Verständnis von «Krise» zu entwickeln und gemeinsame Strategien zur Überwindung dieser zu vereinbaren.
4. Minimierung der Verschiebebahnhöfe für die «Schwierigen» Im Wechselspiel zwischen KJH und KJPP entstehen derzeit leider ungute «Verschiebebahnhöfe». Diese Verschiebungen der Kinder und Jugendlichen von einem System in das andere sind aus Sicht der Kommission nicht nur durch die speziellen Schwierigkeiten der Betroffenen determiniert, sondern auch systembedingt, bisweilen auch sogar © 2016 Hogrefe
von anderen Systemen angeregt (wie z. B. der Polizei). Oftmals sind solche Fälle auch Ausdruck einer gewissen Ohnmacht, da meist keiner mehr weiter weiß und einfache Lösungen in diesen Fällen nicht verfügbar sind. Wenn Kinder oder Jugendliche von einem Tag auf den anderen vor die Tür – von beiden Systemen – gesetzt werden, möglicherweise ohne Vorankündigung oder gar direkt vor dem Wochenende, so führt dies neben den erheblichen Schwierigkeiten für die betroffenen Kinder und Jugendlichen auch immer wieder zu enormen Belastungen in der Zusammenarbeit von KJH und KJPP. Im Rahmen des § 1631b BGB ist gefordert, dass eine Maßnahme mit freiheitsentziehenden Elementen geeignet sein muss, eine Gefährdung abzuwenden. D. h., die Unterbringung in der KJPP muss auch das fachlich geeignete Mittel mit entsprechender Aussicht auf Therapieerfolg sein. Und genauso, wie in der KJH aus sozialpädagogischer Sicht der Hilfebedarf zu prüfen ist, ist bei einer Krankenhausaufnahme die medizinische Indikation einer stationären Behandlung vom Krankenhausarzt zu prüfen (§ 39 SGB V). Ein Antrag auf oder auch die bereits bestehende richterliche Genehmigung einer Maßnahme nach § 1631b BGB ist nicht zwingend und automatisch ein Grund für eine stationäre Behandlung. Lösungsmöglichkeiten: Kooperationsvereinbarungen müssen Regelungen enthalten, die den Kliniken bei Krisenvorstellungen flächendeckend und rund um die Uhr auch einen direkten und sofortigen Kontakt mit dem zuständigen Jugendamt ermöglichen. Regelungen, die eine unangekündigte Beendigung von Maßnahmen und Überantwortung in das jeweils andere System zukünftig verhindern, sind notwendig.
5. Kooperationsvereinbarungen etablieren Vielerorts bestehen bereits Kooperationsvereinbarungen, sowohl zwischen der KJH und Vertretern der KJPP, als auch zwischen freien Trägern, die Leistungen der KJH erbringen, und der KJPP. Diese dienen einer geregelten Zusammenarbeit und verbessern diese Zusammenarbeit. Die bestehenden Kooperationsvereinbarungen sind so heterogen, wie es die KJPP und die KJH in Deutschland sind. Lokale Gegebenheiten müssen bei den Kooperationsverträgen berücksichtigt werden, insofern wird die Heterogenität nicht komplett aufzulösen sein. Unterschiede ergeben sich z. B. schon allein aus dem Versorgungsgebiet, etwa zwischen urbanen Regionen und ländlich strukturierten Flächenregionen. Generell wäre es begrüßenswert, wenn auf der Ebene der Jugendämter mit den Beteiligten auf Seiten der KJPP Kooperationsvereinbarungen flächendeckend möglich wären.
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Auch die lokale Situation in Bezug auf die Ausstattung mit Leistungserbringern der KJH ist heterogen und beeinflusst die Kooperation zwischen KJH und KJPP. In Gegenden mit wenigen größeren Einrichtungen lassen sich Kooperationen (wie Heimkindersprechstunden, Supervision etc.) leichter umsetzen als in Gegenden, in denen eine Vielzahl von Kleinsteinrichtungen vorhanden ist. In einigen, wenigen Regionen sind Jugendhilfeeinrichtungen angesiedelt, die auch freiheitsentziehende Maßnahmen durchführen, oder Institutionen, die besonders «schwierige» (d. h. meist solche, die bereits mehrere Maßnahmen erhielten und bei denen diese jeweils gescheitert sind) Kinder und Jugendliche aufnehmen. Dies bedingt natürlich auch vermehrt Krisen, und damit auch für die zuständige KJPP eine erhöhte Rate an Notfallaufnahmen. Derzeit ist die Kooperation zwischen KJPP und KJH i. d. R . nicht finanziert. Das SGB V sieht z. B. für Kliniken keine gesonderte Vergütung für diese aufwändigen Kooperationsleistungen vor. Dies kann bei dem zunehmenden finanziellen Druck auf die Kliniken und dementsprechend seit Jahren knapper werdenden Personalressourcen zu Problemen in der «Lebbarkeit» von Kooperationen führen, oder anders formuliert, manche gewünschte Kooperation scheitert an den fehlenden Ressourcen. Generell sorgen sich insbesondere die Kliniken darum, dass sich aufgrund des geplanten neuen Entgeltsystems in Psychiatrie und Psychosomatik (PEPP) und des bestehenden Reformstaus die Bedingung für die Versorgung psychisch kranker Kinder und Jugendlicher verschlechtern wird. Auch, aber nicht nur, erfordert die gute Kooperation zwischen Kinder- und Jugendpsychiatrie und Kinder- und Jugendhilfe eine vernünftige Ausstattung der Kliniken; dies nicht zuletzt vor dem Hintergrund gestiegener Fallzahlen. Im ambulanten Bereich stellt sich die Situation vergleichbar dar. Zwar bietet die Sozialpsychiatrievereinbarung grundsätzlich Möglichkeiten zur Finanzierung der Kooperation mit dem Jugendamt, die auch rege genutzt werden, jedoch ist der verfügbare finanzielle Rahmen sehr begrenzt. So ist für den Facharzt für KJPP bzw. seine sozialpsychiatrischen Mitarbeiter eine Teilnahme an Hilfeplangesprächen nicht regelhaft möglich, insbesondere dann nicht, wenn dies mit Fahrtzeit und -kosten verbunden ist (was häufig erforderlich ist). Für Fachärzte KJPP, die nicht an der Sozialpsychiatrievereinbarung teilnehmen, stellt sich die Situation noch schwieriger dar. Kooperationen mit dem Jugendamt werden für sie nicht finanziert. Eine ausreichende Finanzierung notwendiger Kooperationstätigkeit ist sowohl für den ambulanten als auch für den stationären Bereich unabdingbar, damit getroffene Vereinbarungen auch umgesetzt werden können. Hier gilt es, gemeinsam nach Lösungen zu suchen. Berlin, 09.09.2015
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Prof. Dr. med. Jörg M. Fegert Präsident DGKJP
Dr. med. Gundolf Berg Vorsitzender BKJPP
Dr. med. Martin Jung Vorsitzender BAG KJPP
Prof. Dr. med. Michael Kölch Vorsitzender Kommission Arbeit, Soziales, Jugendhilfe und Inklusion
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DGKJP Prof. Dr. med. Michael Kölch Chefarzt der Kliniken für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik, Vivantes Klinikum im Friedrichshain, Vivantes Klinikum Neukölln Landsberger Allee 49; 10249 Berlin Tel.: 030 / 130 23 8001, Fax: 030 / 130 23 8043 E-Mail: Michael.koelch@vivantes.de Prof. Dr. med. Veit Roessner Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychotherapie Universitätsklinikum Dresden Schubertstraße 42, 01307 Dresden Tel.: 0351 / 458-22 44, Fax: 0351 / 458-57 54 E-Mail: Veit.roessner@uniklinikum-dresden.de BAG Dr. Edelhard Thoms Chefarzt der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Psychotherapie Morawitzstraße 2/4, 04289 Leipzig Tel.: 0341 / 864-1251, Fax: 0341 / 864-2108 E-Mail: edelhard.thoms@parkkrankenhaus-leipzig.de
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Mitteilungen
Prof. Dr. Hubertus Adam Leitender Chefarzt im Martin Gropius Krankenhaus Oderberger Straße 8, 16225 Eberswalde Tel.: 03334 / 53-237, Fax: 03334 / 53-261 E-Mail: adam.kiju@mgkh.de
Dr. Gundolf Berg Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie Bonifaziusturm A, 8. OG, Rhabanusstraße 3, 55118 Mainz Tel.: 06131 / 214143-0, Fax: 06131 / 214143-21 E-Mail: berg@zap-mainz.de
BKJPP Dr. med. Susanne Jödicke-Fritz Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie/ Psychotherapie Petersdorfer Str. 51, 15517 Fürstenwalde Tel.: 03361 / 5305, Fax: 03361 / 5305 E-Mail: Dr.susanne.joedicke@kjp-fuerstenwalde.de
Experte Dr. Thomas Meysen Deutsches Institut für Jugendhilfe und Familienrecht e. V. (DIJuF) Poststr. 17, 69115 Heidelberg Tel.: 06221 / 98180, Fax: 06221 / 981828 E-Mail: thomas.meysen@dijuf.de
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Rezensionen Wie das Prinzip Leistung unsere Kinder überfordert Dr. med. Michael Kroll Schulte-Markwort, Michael Burnout-Kids. Wie das Prinzip Leistung unsere Kinder überfordert. Pattloch 2015, 268 S., EUR 19,99 ISBN 978-3-426-78815-8
Der große Titel «BURNOUT-KIDS. Wie das Prinzip Leistung unsere Kinder überfordert» wirkt zunächst irritierend. Seit einigen Jahren wird das Syndrom in der Laienund Fachpresse lebhaft diskutiert, nicht immer sachlich. Angesichts der inflationären Nutzung des Begriffs fragte «Die Zeit» schon 2011 «Noch jemand ohne Burnout?». Für solche drängenden Klärungen setzte die DGPPN eine «Taskforce» ein, die sich mit einem Positionspapier 2012 bemühte, «erhebliche Verwirrungen und potenzielle Fehlentwicklungen» zu korrigieren. «Die Spannweite der Diskussion reicht von der völligen Negierung der Relevanz des Burnouts als psychische Erkrankung bis hin zur Warnung vor einer tickenden, bisher übersehenen Zeitbombe.» Für die DGPPN gibt es «keinen Grund, in Deutschland aus der …ICD-10 … auszuscheren und mit dem Burnout-Begriff quasi eine neue, deutsche Krankheitsdefinition zu schaffen.» Für Kinder und Adoleszente plädiert Herr Prof. SchulteMarkwort nosologisch, die typische Burnout-Symptomatik bei Krankheitswertigkeit als neue Ausprägung der Erschöpfungsdepression (Burnout-Kids, S. 105) im Sinne einer eigenständigen Krankheitsentität neben anderen Depressionsformen zu verstehen. Anhand authentischer Fallberichte schildert der Autor transparent und persönlich offen seine «jahrelangen» (S. 13) Abwägungen. «Anfangs war ich davon überzeugt, überempfindliche Jugendliche mit zu hohem Selbstanspruch vor mir zu haben. Bei denen muss ich mich heute entschuldigen.» (S. 105) Die Häufung solcher Symptomatik in den vergangenen zehn Jahren sei deutlich und besorgniserregend. «Das Fieber steigt, und wir haben lediglich Wadenwickel zur Hand. Wir müssen besser verstehen, warum unsere Kinder von dem Virus der Anstrengung immer häufiger infiziert werden.» (S. 132) Als Leser spürt man seine empathischen Be-
mühungen um die Lebensbedingungen der Kinder und Jugendlichen, wie seine Sorgen um die Fehlentwicklung ihn die öffentliche Diskussion anstoßen ließen. Die geschädigten Jugendlichen würden der Gesellschaft notwendige Änderungen aufzeigen, weg von der einseitigen Ausrichtung auf das Funktionieren unter dem Primat der ubiquitären Ökonomisierung. Weiteres Ziel des Autors ist die Passgenauigkeit der Therapien. Dabei unterscheidet sich die Symptomatik dieser Erschöpfungsdepression nicht von den klassischen Depressionssymptomen (S. 114). Aufgrund der häufig larvierten und heterogenen Ausdrucksformen der Depression geht es Schulte-Markwort – wie bei den Aktivitäten des Bündnisses Depression – um die allgemeine Sensibilisierung für das Krankheitsbild. Ähnliche Bemühungen sind für die Depressivität im Säuglings- und Kleinkindalter bekannt. Differentialdiagnostisch charakteristisch für die Burnout-Erschöpfungsdepression sei der Verlauf. «Einmal entsteht die Depression aus einer Erschöpfung, und einmal entwickelt sich die Erschöpfung aus einer Depression.» (S. 65). Überlastend sei häufig nicht notwendigerweise Leistungsstreben, sondern vielfältige Überforderung mit Alltagsanforderungen, zu viele Pflicht-Aktivitäten inklusive Anforderungen für die Schule, die die Freizeit immer kürzer werden lassen. Schulte-Markwort will wachrütteln, besonders die Eltern, trotz des raschen gesellschaftlichen Wandels und der eigenen Orientierungsprobleme ihren Kindern tatsächlich präsent zu begegnen. Wenn Eltern überlastet sind, versuchen Kinder häufig, Schwierigkeiten mit sich selbst auszumachen. Diese Isolation als zusätzlicher maßgeblicher Belastungsfaktor sei weit verbreitet. Medial wird gern übergreifend nach einer allgemeinen Zunahme kinder- und jugendpsychiatrischer Erkrankungen gefragt. Möglicherweise sind die wenigen Krankheits-
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bilder mit tatsächlich zunehmender Prävalenz wie psychosomatische Beschwerden, Anorexia nervosa (zudem häufiger früher beginnend) und das selbst verletzende Verhalten bezeichnende Belege für Schulte-Markworts Plädoyer für die Burnout-Erschöpfungsdepression im Kindes- und Jugendalter. Das verbreitete Muster beim Missbrauch psychotroper Substanzen, Cannabis als illegale Hauptdroge und verbreitete Alkoholexzesse (S. 211) – beides «Auszeit»-Drogen – kann ebenfalls darauf hinweisend interpretiert werden. Die pädiatrische Fachgesellschaft wies in den Vorjahren mehrfach auf die besorgniserregende Zunahme der «neuen Kinderkrankheiten», psychosomatische Beschwerden wie Bauch- oder Kopfschmerzen, hin. Derartige Entwicklungen führen stets zur Frage, ob die Prävalenz steigt und/ oder die Sensibilität und Offenheit für öffentlich verbreitete Symptomatik, also auch die Frage nach der Ansteckungsgefahr. Bescheiden sieht der Autor die «Burnout-Kids» als «unfertigen» «Aufschlag» (S. 268). So betont er mehrfach etwas einseitig die aus seiner Sicht ungerechte Überlastung der Mütter durch zu geringes Engagement der «männlichen Ergänzungen» (S. 15). Mit Nida-Rümelin möchte man ihm entgegnen, «Es wäre allzu vordergründig, aus dieser Benachteiligung der Frauen auf ein männliches Privileg zu schließen. Der Druck des Allein- oder Überwiegendernährers der Familien belastet auch die Männer, koppelt sie von der Entwicklung ihrer Kinder ab und entfremdet die Lebenspartner oft genug voneinander.» (Philosophie einer humanen Bildung, edition Körber-Stiftung, S.16) In der Kürze hält er den ansonsten konsequent ressourcen-orientierten Blick auch bei den «Borderline-Müttern» nicht durch. Die Warnung vor einer falschen Leistungsorientierung lässt nach einer individuell gut passenden Dosierung fragen, nach positiven Aspekten von Leistungsaffinität als Selbstwirksamkeitserleben. Die Potentiale und Risiken von Leistungsstreben werden stark von der Kultur der Bildungseinrichtungen, vor allem der Schulen, geprägt. Zum Beispiel bemüht sich der Deutsche Schulpreis um ein komplexes Verständnis von Leistung. Insgesamt ist Schulte-Markwort mit «Burnout-Kids» ein einladender Überblick gelungen, der Fachleute gleichermaßen anspricht wie die interessierte Öffentlichkeit. Gut verständlich zeigt er die Pfade und Holzwege der ökosystemischen Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen auf. Mit vier Schritten (Befund-Diagnose-Ursache-Behandlung) führt der Autor klinische Erfahrungen mit gesellschaftlichen Herausforderungen («sich im medialen Zeitalter überall optimal präsentieren zu müssen» (Einband) etc.), historischen Erklärungsmodellen, Hinweisen zur Förderung positiver Gegenseitigkeit im familiären Miteinander, entwicklungspsychologische und soziologische Überlegungen zusammen. Die vielfältigen Einblicke in die Facetten © 2016 Hogrefe
des Fachgebiets machen neugierig, sich vertieft mit kinderund jugendpsychiatrischen Themen zu befassen.
Dr. med Michael Kroll Universitätsklinikum Leipzig Klinik u. Poliklinik f.Kinder- u. Jugendpsychiatrie, -psychotherapie u. -psychosomatik, Liebigstraße 20 A, 04103 Leipzig Deutschland Michael.Kroll@medizin.uni-leipzig.de DOI 10.1024/1422-4917/a000400
Handbuch Kinder- und Jugendpsychiatrie Prof. Dr. Franz Petermann Lehmkuhl, G., Poustka, F., Holtmann, M. & Steiner, H. (Hrsg.) (2015) Praxishandbuch Kinder- und Jugendpsychiatrie Göttingen: Hogrefe, 402 Seiten, EUR 39,95 ISBN: 978-3-8017-2538-9
Das vorliegende Praxishandbuch stellt eine kurzgefasste und sehr aktuelle Einführung in die Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie dar. Inhaltlich basiert das Handbuch auf dem zweibändigen Lehrbuch der Kinderund Jugendpsychiatrie derselben Herausgebergruppe aus dem Jahre 2013. Das Praxishandbuch verfolgt jedoch eine völlig andere Zielsetzung wie das erwähnte Lehrbuch. So wurden die Inhalte auf 23 Kapitel, das heißt einen Grundlagenteil mit sieben Kapiteln, und einen störungsspezifischen Teil mit 15 Kapiteln aufgeteilt. Das 23. Kapitel beschäftigt sich mit den Perspektiven der Kinder- und Jugendpsychiatrie in der Praxis. Hierbei wird auf die gesellschaftliche und gesundheitsökonomische Bedeutung der kinder-/ jugendpsychiatrischen Versorgung eingegangen. Kritisch wird der Umgang mit den Leitlinien für die Diagnostik und Therapie diskutiert. Zunächst zum Grundlagenteil. Auf gut 100 Druckseiten werden die wichtigsten Grundlagen der Kinder- und Jugendpsychiatrie erläutert, wobei jedes Kapitel mit einer
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(oder teilweise mehreren) Falldarstellungen beginnt. Kapitel 1 liefert eine Übersicht über Grundbegriffe der Nosologie und Epidemiologie; besonders ausführlich wird auf die Modelle der Entwicklungspsychopathologie eingegangen. In zwei Kapiteln werden diagnostische Erhebungsmethoden (psychometrische Verfahren) und die Dokumentation der körperlichen Untersuchung beschrieben sowie der Prozess der multimodalen Diagnostik erläutert. Kapitel 4 vermittelt knapp die Grundlagen für Therapie und Beratung. Kapitel 5 geht auf die Voraussetzungen der Psychopharmakotherapie ein; die wichtigsten Substanzgruppen werden erläutert, und deren klinische Wirksamkeit wird kurz skizziert. Je ein Kapitel zu psychiatrischen Notfällen/Krisen und den rechtlichen Grundlagen schließen Teil 1 des Praxishandbuches ab. Darstellung ausgewählter Störungsbilder. Teil 2 des Praxishandbuchs repräsentiert mit ungefähr 270 Druckseiten den Hauptteil der Publikation. Folgende 15 Störungsbilder werden nach einem einheitlichen Darstellungsmuster behandelt: • Affektive Störungen (Depression und bipolare Störung), • Angststörungen, • ADHS, • Ausscheidungsstörungen, • Autismus und tiefgreifende Entwicklungsstörungen: Autismus-Spektrum-Störung, • Borderline-Persönlichkeitsstörung und Selbstverletzungen, • Dissoziative Störungen und Konversionsstörungen, • Essstörungen, • Posttraumatische Belastungsstörungen, • Schizophrenie, • Störungen im Säuglings- und Kleinkindalter, • Störungen des Sozialverhaltens, Dissozialität und Delinquenz,
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• Suchterkrankungen, • Tic-Störungen und • Zwangsstörungen. Entscheidend ist die Art der Aufbereitung dieser Störungskapitel. Nach einem einleitenden Fall/mehreren Fällen wird in fünf Unterkapiteln die Thematik wie folgt bearbeitet: (1) Klinische Symptomatik/diagnostische Kriterien, (2) Entstehungsbedingungen und aufrechterhaltende Faktoren, (3) Störungsspezifische Diagnostik und Differenzialdiagnostik (incl. Komorbidität), (4) Störungsspezifische Behandlung und (5) Diagnostische/therapeutische Herausforderungen und Fallstricke. Das Literaturverzeichnis (für Kliniker) ist sehr knapp, zudem wird Ratgeber-Literatur separat aufgelistet und Literatur für Kinder und Jugendliche (incl. Bilderbücher); in der Regel findet man auch Hinweise auf Webseiten und Internetforen. Bewertung. Das vorliegende Praxishandbuch gibt eine sehr gut aufbereitete Übersicht über die Grundlagen, die Diagnostik, Psycho- und Pharmakotherapie. Die einheitliche Aufbereitung der Kapitel, der sparsame Umgang mit Literaturverweisen, das sehr ausführliche Sachregister (16 Seiten) und die Lesehinweise für Betroffene (Eltern, Lehrkräfte, Kinder und Jugendliche) zeichnet das vorliegende Buch aus. Das Herausgeberwerk erfüllt damit in vollem Umfang den Anspruch, der durch die Titelwahl «Praxishandbuch» der Leserschaft versprochen wurde. Prof. Dr. Franz Petermann Universität Bremen Zentrum für Klinische Psychologie und Rehabilitation Grazer Str. 6, 28359 Bremen Deutschland fpeterm@uni-bremen.de DOI 10.1024/1422-4917/a000401
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Kongressankündigung 17. bis 18. Juni 2016
Psychopharmakologie-Tage in Berlin Fort- und Weiterbildung in der Psychopharmaka-Therapie in Theorie und Praxis SEMINARIS Campus Hotel Berlin
Die Fortbildungsveranstaltung informiert zu folgenden Aspekten: Antidepressiva, Antipsychotika, Anxiolytika, Medikamente zur Behandlung von Schlafstörungen, Phasenprophylaktika, Substanzen zur Behandlung der ADHS, Antidementiva und andere Psychopharmaka. Grundlagen: Pharmakologie, Wirksamkeit, Unerwünschte Arzneimittelwirkungen, Kontraindikationen und Anwendungsbeschränkungen, Warnhinweise, klinisch relevante Wechselwirkungen, individualisierte Therapie und TDM. Außerdem werden besprochen: neue, noch nicht etablierte medikamentöse Behandlungen, nicht-pharmakologische Therapieverfahren und spezifische Aspekte der
Entwicklungspsychopharmakologie, die Besonderheiten bei der Behandlung von Kindern und Jugendlichen. Wiss. Leitung: Prof. Dr. Borwin Bandelow CME-Punkte werden bei der Berliner Landesärztekammer beantragt Anmeldung und Information: www.agnp.de Christian von Grafenstein Wissenschaftlicher Referent Verein zur Durchführung Neurowissenschaftlicher Tagungen e. V. Schwanenhof 4, 97070 Würzburg Tel:+49 931 20790247 Fax:+49 931 20790246 cvgrafenstein@vereinneurowissenschaft.de
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