Jahrgang 45 / Heft 1 / 2017
Geschäftsführender Herausgeber Martin Holtmann Assoziierte Herausgeber Beate Herpertz-Dahlmann Benno Schimmelmann Junior-Herausgeber Michael Kaess Paul Plener Redaktion der Fachgesellschaft Tobias Banaschewski Veit Roessner Marcel Romanos Renate Schepker
Zeitschrift für
Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie Psychotherapeutische und pharmakologische Behandlung der Zwangsstörung Bright light therapy for youth with affective dysregulation und weitere Beiträge
ADHS: Wenn Amfetamin, dann
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Attentin® 5 mg, 10 mg, 20 mg. Wirkst.: Dexamfetaminhemisulfat. Zus.: Jede Tabl. enthält 5 mg/10 mg/20 mg Dexamfetaminhemisulfat. Sonst. Best.teile: Isomalt (E953), Magnesiumstearat (Ph. Eur.), Crospovidon (nur bei 5 mg). Anw.geb.: Im Rahmen einer therapeut. Gesamtstrategie zur Behandl. von Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörungen (ADHS) bei Kindern u. Jugendlichen von 6 bis 17 Jahren, wenn das klinische Ansprechen auf eine vorangegangene Behandlung mit Methylphenidat unzureichend war. Die Behandl. soll unter Aufsicht eines Spezialisten für Verhaltensstörungen bei Kindern u./o. Jugendl. durchgef. werden. Diagnosestellung anhand DSM-V o. ICD-10. Eine Behandl. mit Dexamf. ist nicht bei allen Kindern mit ADHS indiz. u. der Entsch. zur Anwend. muss eine sehr sorgf. Beurteilung v. Schweregrad u. Chronizität der Sympt. des Kindes vorausg. Alter des Kindes u. das Potential für Missbrauch, Fehlgebrauch u. Zweckentfremdung sind zu berücksichtigen. Gegenanz.: Bek. Überempfindlichkeit gg. Dexamfetamin o. einen der sonst. Bestandt.; bek. Überempfindlichkeit o. Idiosynkrasie gg. sympathomimetischen Aminen; Glaukom; Phäochromozytom; während o. inn. v. mind. 14 Tagen n. Einn. v. MAO-Hemmern; Hyperthyreose o. Thyreotoxikose; Diagn. o. Anamn. v. schw. Depr., Anorexia nerv./anorekt. Störg., Suizidneig., psychot. Sympt., schw. affekt. Störg., Manie, Schizophr., psychopath./Borderline-Pers.k.störg.; Gilles de la Tourette Syndr. o. ähnl. Dystonien; Diagn. o. Anamn. v. schw. u. episod. (Typ I) bipol. affekt. Störg.; vorbest. Herz-Kreislauf-Erkr. einschl. mittelschw. u. schw. Hypertonie, Herzinsuffizienz, art. Verschlusskrankh., Angina pec., hämodyn. signifik., angeb. Herzfehler, Kardiomyopathien, Myokardinf., potentiell lebensbedr. Arrhythmien u. Kanalopathien; vorbest. zerebrovask. Erkrank.; Porphyrie; Patienten mit einer Vorgesch. von o. derzeit. Drogenabhängigkeit o. Alkoholismus; Schwangerschaft u. Stillzeit. Nebenw.: Sehr häufig: verm. App., verr. Gewichts- und Größenzun. b. läng. Anw. b. Kind.; Schlaflosigkeit, Nervosität. Häufig: Arrhythmien, Palpitationen, Tachykardie; Abdominalschm., Übelkeit, Erbrechen, trock. Mund; Veränd. d. Blutdr. u. d. Herzfrequenz (gew. Erh.); Arthralgie; Schwindel, Dyskinesie, Kopfschmerzen, Hyperaktivität; Abnorm. Verhalten, Aggressivität, Erregungs- und Angstzust., Depression, Reizbarkeit. Selten: Angina pect.; Akkommod.stör., verschw. Sehen, Mydriasis; Müdigkeit (Fatigue), Wachstumsverz. b. läng. Anw. b. Kind.; Hautausschl., Urtikaria. Sehr selten: Anämie, Leukopenie, Thrombozytop., thrombozyt. Purpura; Herzstillstand; Leberfunktionsst., einschließl. Erh. d. Leberenzymw., hepat. Koma; Muskelkrämpfe; Konvulsionen, choreoathetoide Bewegungen, intrakran. Hämorrhagie, Tour. Syndrom; Halluzinationen, Psychose/psychot. Reaktionen, Selbstm.versuch (einschl. vollend. Selbstm.), Tics, Verschl. v. vorbest. Tics; Erythema multif., exfoliative Dermat., Arzneimittelexanthem; Zerebr. Vaskul. u./o. Hirngefäßverschl. Nicht bekannt: Kardiomyopathie, Myokardinf.; Isch. Kolitis, Diarrhoe; Brustschm., Hyperpyrexie, Überempfindlichk. einschließl. v. Angioödem u. Anaphylaxie, plötzl. Todesfälle; Azidose; Rhabdomyolyse; Ataxie, Benommenheit, Dysgeusie; Konz.sstör., Hyperreflexie, Schlaganfall, Tremor. Sehr selten Fälle von schlecht dokumentiertem MNS; Verwirrtheit, Delirium, Drogenabhäng., Dysphorie, emotion. Labilität, Euphorie, Beeinträcht. d. Leistungen i. kognit. Tests, veränd. Libido, Nachtangst, Zwangsverh., Panikzuständ., Paranoia, Ruhelosigkeit; Nierenschädigung; Impotenz; Schwitzen, Alopezie, Raynaud-Syndr.; Kardiovaskul. Kollaps; Das Absetzen o. eine Dosisred. einer starken u. längerfr. Anw. v. Amfetamin kann zu Entzugssympt. führen. Warnhinweis: Enthält Isomalt (E953). Verschreibungspflichtig. Weit. Hinw. s. Fachinfo. Stand d. Inform.: Tabl. 5 mg 01/16 und Tabl. 10 mg/20 mg 04/16. MEDICE Arzneimittel Pütter GmbH & Co. KG, 58638 Iserlohn. www.adhs-infoportal.de
MEDICE Arzneimittel Pütter GmbH & Co. KG Kuhloweg 37 58638 Iserlohn
Zeitschrift für
Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie
45. Jahrgang / Heft 1 / 2017
Psychotherapeutische und pharmakologische Behandlung der Zwangsstörung Bright light therapy for youth with affective dysregulation und weitere Beiträge
Geschäftsführender Herausgeber
M. Holtmann, Hamm
Assoziierte Herausgeber
B. Herpertz-Dahlmann, Aachen B. Schimmelmann, Bern
Junior-Herausgeber
M. Kaess, Heidelberg P. Plener, Ulm
Redaktion der Fachgesellschaft
T. Banaschewski, Mannheim V. Rößner, Dresden M. Romanos, Würzburg R. Schepker, Ravensburg
Gegründet von
H. Stutte und H. Harbauer
Frühere Herausgeber
B. Blanz, G. Lehmkuhl, H. Remschmidt, M. Schmidt, P. Strunk, A. Warnke, J. Hebebrand
Beirat
T. Banaschewski, Mannheim K. Becker, Marburg S. Bender, Köln H. Christiansen, Marburg A. Dempfle, Kiel M. Döpfner, Köln J. M. Fegert, Ulm G. Fink, Köln H.-H. Flechtner, Magdeburg C. M. Freitag, Frankfurt a. M. M. Gerlach, Würzburg A. von Gontard, Homburg S. Herpertz, Heidelberg A. Hinney, Essen K. von Klitzing, Leipzig K. Konrad, Aachen T. Legenbauer, Hamm
Verlag
Hogrefe AG, Postfach, Länggass-Strasse 76, 3000 Bern 9, Telefon ++41 (0)31 300 45 00 zeitschriften@hogrefe.ch, www.hogrefe.ch
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Druck
AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten im Allgäu
ISSN
1422-4917 (Print), ISSN 1664-2880 (Online), ISSN-L 1422-4917
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Indexierung
Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie ist gelistet in Medline, Social Sciences Citation Index, Social Scisearch, Current Contents/Social and Behavioral Sciences, Journal Citation Reports/Social Sciences Edition, EMBASE, EMCARE, PsycINFO, PsyJOURNALS, Europ. Reference List for the Humanities (ERIH), IBZ, IBR und Scopus. Impact Factor (2015) 1.132 (Journal Citation Reports® Social Science Edition, Thomson Reuters 2015)
Elektronischer Volltext
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Umschlagfoto
© Schule im Heithof/LWL-Universitätsklinik Hamm
M. M. Nöthen, Bonn L. Poustka, Wien T. Renner, Tübingen F. Resch, Heidelberg V. Roessner, Dresden M. Romanos, Würzburg G. Romer, Münster A. Rothenberger, Göttingen R. Schepker, Ravensburg K. Schmeck, Basel F. Schneider, Aachen S. Schneider, Bochum G. Schulte-Körne, München M. Schulte-Markwort, Hamburg Chr. Stadler, Basel R. Thomasius, Hamburg S. Walitza, Zürich
Die Zeitschrift ist das offizielle Organ der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie.
Inhalt Editorial
„Spenderkinder“ – psychische und ethische Herausforderungen der Reproduktionsmedizin
5
Gerd Lehmkuhl und Wolfgang Oelsner Einladung zum XXXV. DGKJP-Kongress
7
Jörg M. Fegert Übersichtsarbeiten/ Review Articles
Neue Entwicklungen bei der psychotherapeutischen und pharmakologischen Behandlung der Zwangsstörung im Kindes- und Jugendalter
9
Timo D. Vloet, Beate Herpertz-Dahlmann und Michael Simons Originalarbeiten/ Original Articles
Entwicklung elterlicher Verhaltensbeurteilung vom Kindergarten bis zum zweiten Schuljahr bei Kindern in Abhängigkeit ihrer Leseleistungen: Erste Ergebnisse einer Longitudinalstudie
23
Josefine Horbach und Thomas Günther Morning bright light therapy: a helpful tool for reducing comorbid symptoms of affective and behavioral dysregulation in juvenile depressed inpatients? A pilot trial
34
Sarah Bogen, Tanja Legenbauer, Stephanie Gest and Martin Holtmann Freizeitaktivitäten, Resilienz und psychische Gesundheit von Jugendlichen
42
Norbert Karpinski, Narges Popal, Julia Plück, Franz Petermann und Gerd Lehmkuhl Unterschiede in der Mutter-Kind-Bindung bei Frauen mit und ohne Soziale Phobie
49
Ariane Kraft, Susanne Knappe, Katja Petrowski, Johanna Petzoldt und Julia Martini Häufigkeit psychischer Störungen bei unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen in Deutschland
58
Marco Walg, Ewgeni Fink, Mark Großmeier, Miguel Temprano und Gerhard Hapfelmeier Fallbericht/Case Report
Komplexe Krisenintervention bei einem 16-jährigen schwangeren Mädchen nach unbegleiteter Flucht aus Eritrea
69
Andrea Dixius und Eva Möhler Rezensionen
Bewegungs- und Sporttherapie bei psychischen Erkrankungen des Kindes- und Jugendalters
75
Ansgar Quiske Systemische Therapie
76
Renate Schepker Gesellschaftsseiten
Feature: Endlich KJPPP – die Bedeutung der neuen Musterweiterbildungsordnung für die Zukunft unseres Fachgebietes
77
Renate Schepker und Marcel Romanos Policy: Übergang zwischen Jugend- und Erwachsenenalter: Herausforderungen für die Transitionspsychiatrie
80
Jörg M. Fegert, Iris Hauth, Tobias Banaschewski und Harald J. Freyberger DGKJP-News: Mitteilungen
86
Helmut Remschmidt © 2017 Hogrefe
Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie (2017), 45 (1)
STAXI-2 KJ Das State-Trait-Ärgerausdrucks-Inventar – 2 für Kinder und Jugendliche Deutschsprachige Adaptation und Erweiterung des State-Trait Anger Expression Inventory–2 Child and Adolescent (STAXI-2 C/A) von Thomas M. Brunner und Charles D. Spielberger Katharina Kupper / Sonja Rohrmann Einsatzbereich Kinder und Jugendliche von 9 bis 16 Jahren, sowohl für Fragestellungen in der psychologischen und klinischen Forschung als auch in der psychotherapeutischen Praxis zur Diagnostik und Therapieplanung bzw. -evaluation. Selbst- und Fremdbeurteilung können unabhängig voneinander eingesetzt und ausgewertet werden.
Test komplett Bestehend aus: Manual, je 10 Fragebogen Selbst- und Fremdbeurteilung, je 10 Auswertungsbogen Selbst- und Fremdbeurteilung, 20 Profilbogen (Selbst- und Fremdbeurteilung) und Box. Best.-Nr. 03 199 01 € 106,00 / CHF 127.00
Verfahren Das STAXI-2 KJ ist ein Verfahren zur Erfassung von situationsbezogenem und dispositionellem Ärger, Ärgerausdruck und Ärgerkontrolle. Mit der Selbstbeurteilungsversion kann der situationsbezogene Ärger bzw. Zustandsärger (State-Ärger) erfasst werden, der in die Subskalen Ärgergefühl und State-Ärgerausdruck unterteilt wird. Darüber hinaus wird der dispositionelle Ärger (Trait-Ärger) mit den Subskalen Ärger-Temperament und Ärger-Reaktion erfasst sowie der Ärgerausdruck, der sich in den nach außen gerichteten Ärgerausdruck und den nach innen gerichteten Ärgerausdruck unterteilen lässt. Zusätzlich wird die Ärgerkontrolle erfasst. In der Fremdbeurteilungsversion wird auf die Erfassung des situationsbezogenen Ärgers, der eine Ärgerinduktion voraussetzen würde, verzichtet. Zuverlässigkeit Selbstbeurteilung: interne Konsistenzen zwischen Ѓ = .71 und .88; Korrelationen
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zur Überprüfung der Retest-Reliabilität moderat bis hoch (rtt = .33 und .53). Fremdbeurteilung: interne Konsistenzen zwischen Ѓ = .70 und .83; Korrelationen zur Überprüfung der Retest-Reliabilität hoch (rtt = .51 bis .76). Gültigkeit Die Konstrukvalidität wurde durch die Berechnung der konvergenten und diskriminanten Validität über Korrelationen mit konstruktnahen und konstruktfernen Verfahren sowie durch die Überprüfung der theoretisch angenommenen Faktorenstruktur mithilfe von Konfirmatorischen Faktorenanalysen, durch Überprüfung von Alters- und Geschlechtsunterschieden und dem Vergleich einer Paper-Pencil- mit einer Online-Erhebung belegt. Die Kriteriumsvalidität wurde durch den Vergleich einer klinischen Stichprobe mit Kindern und Jugendlichen der Allgemeinbevölkerung überprüft. Normen Selbstbeurteilung: N = 324 Kinder und Jugendliche im Alter von 9 bis 16 Jahren; Fremdbeurteilung: N = 305 Bezugspersonen für den gleichen Altersbereich; Gesamtnormen in Form von Prozenträngen und Stanine-Werten. Bearbeitungsdauer Selbstbeurteilung ca. 10 Minuten, Fremdbeurteilung ca. 5 Minuten; Auswertung ca. 5 Minuten.
Editorial
„Spenderkinder“ – psychische und ethische Herausforderungen der Reproduktionsmedizin Gerd Lehmkuhl und Wolfgang Oelsner Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters der Universität zu Köln
„Spenderkinder“ nennen sich Betroffene, die durch eine heterologe bzw. donogene Samenspende gezeugt wurden. In den letzten Jahren wurde das früher eher tabuisierte Thema in der Öffentlichkeit sehr präsent. Hierzu trug ein Gerichtsurteil bei, das 2013 einer jungen Frau das Recht auf Datenkenntnis ihres bislang unbekannten genetischen Vaters zusprach. Im Januar 2015 stellte der deutsche Bundesgerichtshof das Recht des Kindes auf Auskunft über die Identität des Samenspenders fest. Die aktuelle Rechtsprechung verlangt eine 30-jährige Aufbewahrungspflicht der Spenderdaten. Kinder besitzen das Recht, ab dem 16. Lebensjahr Kenntnis ihres genetischen Vaters zu erhalten. Forciert durch gesellschaftspolitische Themen wie Work-Life-Balance, Frauen und Beruf oder gleichgeschlechtliche Partnerschaften und deren Kinder- oder Adoptionswünsche dominiert in den Medien die Perspektive der Eltern. Nach Schätzungen verdanken in Deutschland derzeit über 100 000 Menschen ihr Leben einer donogenen Samenspende. Vermutlich haben nur etwa 10 % von ihnen davon Kenntnis. Die Mitglieder des Vereins „Spenderkinder“ verlangen eine frühe Aufklärung und befürchten, dass Geheimhaltung ein Klima nicht nachzuvollziehender Spannungen und Ablehnung hervorruft. Auch die im Verein „DI-Netz“ organisierten „Eltern nach Samenspende“ plädieren für frühe Aufklärung. Unser Wissen über Lebensläufe, an deren Start Samenspende, Leihmutterschaft oder andere reproduktionsmedizinische Interventionen standen, ist noch recht dürftig. Ob die medizinische Weiterentwicklung Biografien befreit oder verunsichert, bleibt ebenfalls eine offene Frage. Die in den letzten Jahren publizierten Daten stellen eine steigende Aufklärungsrate bis knapp 40 % fest. Dies spricht dafür, dass – auch dank der öffentlichen Diskussionen – das Thema weniger tabuisiert und ein offenerer © 2017 Hogrefe
Umgang damit möglich wurde. Verschiedene Autoren weisen darauf hin, dass eine späte Information Reaktionen von Wut, Verbitterung und Aggressivität hervorruft. Die Spenderkinder fühlen sich getäuscht, in ihrer Identität und in ihrem Selbstbild verunsichert. Oft entsteht der Wunsch, mehr über den Spender und seine Eigenschaften zu erfahren. Spät aufgeklärte Spenderkinder durchlaufen häufig eine Phase der erhöhten Verunsicherung und einer schmerzhaften Neuorientierung (Oelsner & Lehmkuhl, 2016). Dabei ist eine abschließende Bewertung möglicher psychischer Probleme, die im Zusammenhang mit assistierter Zeugung auftreten können, noch nicht möglich. Eine groß angelegte Studie, die 2015 in der Zeitschrift Human Reproduction publiziert wurde, wertet die Daten von fast 2 ½ Millionen Personen aus, die zwischen 1969 und 2006 in Dänemark geboren wurden (Svahn et al., 2015). Bei den Eltern von 124 269 Personen, das sind rund 5 % der Gesamtzahl, war eine Fertilitätsbehandlung durchgeführt worden. Die Autoren stellten fest, dass diese Kinder häufiger von psychiatrischen Erkrankungen wie Schizophrenie, affektiven Störungen, ADHS und Abweichungen in der psychischen Entwicklung betroffen waren als die Vergleichsgruppe der Nachkommen von Eltern ohne Fertilitätsprobleme. Das Risiko der Kinder, wegen irgendeiner psychischen Störung aufzufallen, war im Mittel um 23 % größer. Der aus der Studie herauslesbare signifikante Zusammenhang zwischen Fertilitätsproblemen/-maßnahmen und späteren psychischen Belastungen verliert allerdings seine erhellende Kraft im sehr Unspezifischen der Aussage, denn es bleibt offen, welche reproduktionsmedizinischen Maßnahmen mit welchen späteren Verhaltensauffälligkeiten verbunden sind. Auch wenn die Rechtslage eindeutig ist, ergeben sich doch eine ganze Reihe ethischer Fragen: Können Eltern
Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie (2017), 45 (1), 5–6 DOI 10.1024/1422-4917/a000497
6
Gerd Lehmkuhl und Wolfgang Oelsner, „Spenderkinder“ – Herausforderungen der Reproduktionsmedizin
Beratungsverpflichtungen vor Inanspruchnahme reproduktionsmedizinischer Maßnahmen auferlegt werden? Wenn ja, durch wen? Können Eltern verpflichtet werden, ihr Kind über die Art der Zeugung aufzuklären? Und wenn ja, zu welchem Zeitpunkt sollte dies geschehen? Welche möglichen Verpflichtungen kommen auf den biologischen Vater zu? Was ist, wenn die erwachsen gewordenen Spenderkinder ihm eine andere Bedeutung zumessen wollen, als sie in den Verträgen der einst Handelnden vorgesehen wurde? Der Zwiespalt zwischen biologischen und emanzipatorischen, zwischen emotionalen und ethischen Aspekten wird nicht immer harmonisierend zur Deckung gebracht werden können. Auch die sozialen Auswirkungen auf familiäre Strukturen werden auf Dauer erheblich sein. Alle Entwicklungen der vergangenen Jahre deuten jedoch darauf hin, dass „das werdende Leben mehr und mehr zum Objekt instrumentalisierender Eingriffe und immer weniger als Subjekt mit je eigenen Begabungen und Gegebenheiten angenommen wird“ (Deckers, 2015). Dieser Prozess der „Entsubjektivierung“ verändert das Band zwischen den Generationen und wirkt sich auf Bindungsverhalten, Identitätsfindung und die sozialen Bezugssysteme aus. Wir müssen uns darauf einstellen, dass Prägung weniger durch Herkunft erfolgt und die biologischen
Wurzeln uns weniger verorten. Durch die Möglichkeiten der Reproduktionsmedizin haben sich Planung und Ablauf von Schwangerschaften entscheidend erweitert – die Auswirkungen sind auch für die Kinder- und Jugendpsychiatrie von Relevanz.
Literatur Deckers, D. (2015). Behinderung als doppeltes Stigma. FAZ, 13.6.2015, S. 1. Oelsner, W., & Lehmkuhl, G. (2016). Spenderkinder. Künstliche Befruchtung, Samenspende, Leihmutterschaft und die Folgen. Munderfing: Fischer & Gann. Svahn, M. F., Hargreave, M., Nielsen, T. S. S., Plessen, K. J., Jensen, S. M., Kjaer, S. K., et al. (2015). Mental disorder in childhood and young adulthood among children born to women with fertility problems. Human Reproduction, 30(9), 2129–2137.
Univ.-Prof. em. Dr. med. Gerd Lehmkuhl Klinik und Poliklinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kinder- und Jugendalters der Universität zu Köln Robert-Koch-Straße 10 50931 Köln Deutschland gerd.lehmkuhl@uk-koeln.de
Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie (2017), 45 (1), 5–6
© 2017 Hogrefe
Einladung zum XXXV. DGKJP-Kongress 22. bis 25. März 2017
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Kurz vor dem XXXV. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik, der vom 22. bis 25. März 2017 stattfinden wird, möchte ich die Gelegenheit nutzen, Sie noch einmal herzlich nach Ulm einzuladen. Der Kongress stellt das Thema „Dazugehören“ ins Zentrum, und dieses Motto findet sich in vielen Facetten des Kongresses wieder. In unserer täglichen therapeutischen Arbeit sind wir oft mit Kindern und Jugendlichen in Kontakt, für die „Dazugehören“ zum zentralen Lebenswunsch wird, da sie sich im Rahmen von psychischen Belastungen, durch Mobbingerfahrungen oder auch aufgrund ihrer Nationalität ausgegrenzt fühlen. Die Bedürfnisse dieser Kinder und Jugendlichen sollen im Zentrum der wissenschaftlichen und klinisch orientierten Beiträge des Kongresses stehen. Es erwarten Sie namhafte Key-Note-Speaker, der aktuelle Stand der wissenschaftlichen Debatte wird in zahlreichen State-of-the-Art-Vorträge dargestellt. Dazu finden die neuesten Entwicklungen in aktuell erschienenen Leitlinien ihre Beachtung, ebenso wie zahlreiche wissenschaftliche und klinische Vorträge. In bewährter Weise wird es verschiedene Fortbildungskurse geben, in den Praxisseminaren soll der Fokus auf die klinisch-praktische Anwendbarkeit der vorgestellten Themen gerichtet werden. Darüber hinaus finden sich Pround Contra-Debatten, ebenso wie interaktiv ausgerichtete Lunch-Symposien am Kongress, sodass wir hoffen, Ihnen ein abwechslungsreiches Programm als Brückenschlag zwischen Wissenschaft und Praxis bieten zu können. Detaillierte Informationen finden Sie auf der KongressHomepage http://www.dgkjp-kongress.de, ab Ende Februar steht auch die Kongress-App zum Download für Sie bereit. Über unsere Aktivitäten halten wir Sie auch gerne per Social Media auf dem Laufenden, wenn Sie uns auf Facebook oder Twitter folgen wollen. „Dazugehören“ ist nicht zuletzt auch ein politisches Thema. Hier sei an die Debatten zum Teilhabegesetz des letzten Jahres erinnert, sowie an den Diskurs um eine „große“ oder sogar „inklusive“ Lösung. Ein seit dem Jahr 2015 anhaltend aktuelles, sowohl politisch als auch klinisch © 2017 Hogrefe
hoch relevantes Thema stellt die Versorgung geflüchteter Minderjähriger dar. In einem speziellen Schwerpunkt im Rahmen des am 25. März stattfindenden UNICEF-Tages wird dieser Thematik eindrucksvoll Rechnung getragen. Wir würden uns sehr freuen, wenn Sie uns also auch am letzten Kongresstag „treu“ bleiben, dazugehören und das hochkarätig besetzte Programm für sich nutzen, um sich über aktuelle Entwicklungen zu informieren und gegebenenfalls Angehörige und Mitarbeiter sowie ehrenamtlich in der Flüchtlingsarbeit Engagierte einladen, an diesem Tag nach Ulm nachzukommen. Für dieses gemeinsam mit UNICEF veranstaltete Programm ist der Eintritt frei! „Dazugehören“ meint auch das Zusammenführen verschiedener Berufsgruppen, die mit psychisch belasteten Kindern und Jugendlichen in Kontakt treten. Besonders dankbar sind wir deshalb der Baden-Württemberg-Stiftung, dass Sie den Kongress als Mitveranstalterin unterstützt, um den interdisziplinären Dialog und den Austausch mit der Praxis wie in ihren Projekten, die auf dem Kongress präsentiert werden, zu fördern. So bieten wir zum Beispiel erstmals spezielle Lehrerveranstaltungen an, auch für die Schüler selbst wird es eigene Programmpunkte geben. Die Öffnung hin zu anderen Fachdisziplinen findet Ihren Niederschlag in gemeinsamen Veranstaltungen mit Trägern der Jugendhilfe und anderen medizinischen Disziplinen, sowie im Austausch mit Mitgliedern anderer deutschsprachiger kinder- und jugendpsychiatrischer Verbände. „Dazugehören“ heißt bei einem Kongress, sich nicht zuletzt auch als Teil einer Gruppe von interessierten Kolleginnen und Kollegen zu erleben. Wir bieten Ihnen viele Möglichkeiten an, in Kontakt zueinander zu treten. Sei es in der eigens eingerichteten YICAP-Lounge, in der Sitzgelegenheiten zum Austausch bereit stehen, sei es im Rahmen des zusätzlich buchbaren Lunch-Paktes beim gemeinsamen Mittagessen, sei es bei gemeinsamer sportlicher Aktivität („Run with the secretaries“) oder im Rahmen des Gesellschaftsabends. Wir würden uns freuen, wenn auch Sie im März 2017 in Ulm „Dazugehören“ wollen. Ihr Prof. Dr. Jörg M. Fegert
Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie (2017), 45 (1), 7 DOI 10.1024/1422-4917/a000509
MOT 4-6
VSK
Motoriktest für vier- bis sechsjährige Kinder
Verhaltensskalen für das Kindergartenalter
3., überarbeitete und neu normierte Auflage
U. Koglin / F. Petermann
R. Zimmer Einsatzbereich: Der MOT 4-6 erfasst den motorischen Entwicklungsstand von Kindern im Vorschulalter (4 bis 6 Jahre). Für Kinder mit Behinderungen oder Entwicklungsverzögerungen kann über diesen Altersbereich hinaus das motorische Entwicklungsalter ermittelt werden. Der Test ermöglicht eine quantitative Auswertung der Ergebnisse, er kann darüber hinaus aber auch als prozessbegleitendes Beobachtungsverfahren verwendet werden. Das Verfahren: Der MOT 4-6 besteht aus 17 Testaufgaben (und einer Aufwärmaufgabe), die in spielerischer, kindgerechter Weise den motorischen Entwicklungsstand des Kindes erfassen und sich sieben motorischen Bereichen zuordnen lassen (z.B. gesamtkörperliche Gewandtheit und Koordinationsfähigkeit, feinmotorische Geschicklichkeit, Gleichgewichtsvermögen). Neben der Ermittlung eines Normwertes (Gesamttestwert), der die Einordnung des Testergebnisses im Vergleich zur durchschnittlichen Leistung in der betreffenden Altersgruppe ermöglicht, gibt der Test dem Praktiker zusätzlich nützliche Hilfen zur qualitativen Beobachtung und Beurteilung der motorischen Performanz des Kindes an die Hand. Bearbeitungsdauer: Für die Durchführung des Tests müssen 20 bis 30 Minuten veranschlagt werden.
04 082 01
Test komplett
628,00 €
Einsatzbereich: Kinder im Alter zwischen 3;0 und 6;6 Jahren. Das Verfahren kann von Psychologen, Kinder- und Jugendpsychiatern, Kinderärzten, Pädagogen, Sonderpädagogen und Kindheitspädagogen eingesetzt werden. Das Verfahren: Die VSK dienen der ökonomischen Erfassung von Verhaltensproblemen und sozial-emotionalen Kompetenzen von Kindern im Kindergartenalter. Sie liegen in zwei parallelen Versionen, eine für Eltern (VSK-EL) und eine für pädagogische Fachkräfte (VSK-PF), vor. Eventuelle Unterschiede in der Beurteilerperspektive können somit objektiviert und zum Gegenstand eines Elterngesprächs und der Erziehungs- bzw. Förderplanung gemacht werden. Jede Fragebogenversion umfasst jeweils 49 Fragen, die sich auf Verhaltensprobleme und sozial-emotionale Kompetenzen beziehen. Zusätzlich sind jeweils 12 ergänzende Fragen zur Gesundheit und Entwicklung des Kindes enthalten. Die Verhaltensprobleme werden anhand von insgesamt 31 Items erfasst, die vier Skalen zugeordnet werden: „Ängstlichkeit“, „Hyperaktivität und Unaufmerksamkeit“, „Aggressives Verhalten“ und „Emotionsdysregulation“. Für die sozial-emotionalen Kompetenzen stehen insgesamt 18 Items zur Verfügung, die sich auf drei Skalen verteilen: „Soziale Kompetenz“, „Emotionswissen/Empathie“ und „Selbstregulation“. Darüber hinaus können eine „Gesamt-Problemskala“ und eine „Gesamt-Ressourcenskala“ ermittelt werden, die eine globale Einschätzung der Verhaltensprobleme bzw. sozial-emotionalen Kompetenzen erlauben. Bearbeitungsdauer: Die Bearbeitungszeit beträgt je Version ca. 10 bis 15 Minuten. Die Auswertung nimmt jeweils ca. 5 Minuten in Anspruch.
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Übersichtsarbeit
Neue Entwicklungen bei der psychotherapeutischen und pharmakologischen Behandlung der Zwangsstörung im Kindes- und Jugendalter Timo D. Vloet1,2, Beate Herpertz-Dahlmann1 und Michael Simons1 1
2
Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters, Universitätsklinikum der RWTH Aachen Lehr- und Forschungsgebiet Klinische Neuropsychologie des Kindes- und Jugendalters an der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes und Jugendalters, Universitätsklinikum der RWTH Aachen
Zusammenfassung: Den Goldstandard in der Behandlung von Zwangsstörungen im Kindes- und Jugendalter stellen die kognitiv-behaviorale Therapie sowie die Medikation mit selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmern dar. In den letzten Jahren wurden vermehrt auch alternative psychotherapeutische und v. a. psychopharmakologische Behandlungsstrategien untersucht, die möglicherweise bei therapieresistenten Zwangsstörungen erfolgreich sein könnten. Die vorliegende Übersichtsarbeit fasst diese neuen Entwicklungen zusammen, wobei ein Schwerpunkt auf expositionsbezogene psychotherapeutische bzw. pharmakologische Ansätze im glutamatergen System gelegt wurde. Hinsichtlich neuer pharmakologischer Behandlungsoptionen bei Kindern und Jugendlichen unterstreicht die derzeitige Datenlage, v. a. im Hinblick auf den Grad der nachgewiesenen Evidenz sowie mögliche unerwünschte Nebenwirkungen, die Bedeutung einer optimal durchgeführten Kombinationstherapie. Dabei kann diese einer Monotherapie mit kognitiv-behavioraler Therapie im Einzelfall überlegen sein. Eine grundsätzliche Überlegenheit der Kombinationstherapie ist derzeit allerdings nicht nachgewiesen. Schlüsselwörter: Zwangsstörung, Psychotherapie, Pharmakotherapie, Glutamat, Metakognitive Therapie
New developments in the psychotherapeutic and pharmacological treatment of pediatric obsessivecompulsive disorder Abstract: Cognitive-behavioral therapy (CBT) and selective-serotonin reuptake inhibitors (SSRI) represent the gold standard in the therapy of pediatric obsessive compulsive disorder (OCD). Recently many new psychotherapeutic and psychopharmacological treatment options have been investigated which might be helpful in therapy-resistant OCD. The present review summarizes new developments and emphasizes especially psychotherapeutic methods of exposition as well as pharmacological approaches within the glutamatergic system. Data indicate that the combination of CBT and SSRI still is the gold standard, especially because new pharmacological approaches are not well evidence based and are limited by side effects. However, the combination of CBT and SSRI is not generally more effective than CBT alone. Keywords: Obsessive compulsive disorder, psychotherapy, pharmacology, glutamate, metacognitive therapy
Einleitung Zwangsstörungen betreffen ca. 0.3 % bis 5 % aller Kinder und Jugendlichen und treten häufig gemeinsam mit anderen psychiatrischen Störungen auf (Weidle, Ivarsson, Thomsen, Lydersen & Jozefiak, 2015). Effektive Therapieverfahren mit gutem Evidenzgrad sind neben der störungsspezifischen Psychoedukation und der Verminderung © 2016 Hogrefe
psychosozialer Belastungsfaktoren derzeit v. a. die kognitivbehaviorale Therapie (cognitive-behavioral therapy, CBT) sowie die Medikation mit selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmern (selective-serotonin reuptake inhibitors, SSRI) (Übersicht bei Thomsen, 2013). Ein Großteil der Patienten zeigt unter der Therapie mit CBT oder SSRI bzw. der Kombination beider Ansätze eine deutliche Verminderung der Zwangssymptomatik. Allerdings kommt es bei vielen
Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie (2017), 45 (1), 9–22 DOI 10.1024/1422-4917/a000445
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T. D. Vloet et al., Psychotherapeutische und pharmakologische Behandlung der Zwangsstörung
Patienten auch nur zu einem unzureichenden bzw. gänzlich fehlenden Ansprechen. So konnte eine aktuelle Metaanalyse zeigen, dass bei der CBT eine Remissionsrate von knapp 60 % besteht, während diese für Pharmakotherapie bei ca. 50 % liegt (Metaanalyse von McGuire et al., 2015). Auch ist noch offen, ob eine Kombinationsbehandlung grundsätzlich einer Monotherapie überlegen ist (s. u.). Insgesamt wurden in den letzten Jahren erhebliche Forschungsbemühungen sowohl im Bereich der Erwachsenenals auch der Kinder- und Jugendpsychiatrie unternommen, um neue psychotherapeutische und psychopharmakologische Behandlungsansätze auf ihre Wirksamkeit hin zu überprüfen. Aufbauend auf unsere vorangegangene Übersicht zur kindlichen Zwangsstörung (Vloet, Simons & Herpertz-Dahlmann, 2012) sollen in der vorliegenden Arbeit v. a. diese neuen Behandlungsansätze dargestellt und im Hinblick auf ihre Relevanz und Anwendbarkeit bei Kindern und Jugendlichen eingeordnet werden.
Besonderheiten und Neuerungen der diagnostischen Einordnung Zwangsstörungen bestehen in der Regel aus Zwangsgedanken und Zwangshandlungen, welche oft aufeinander bezogen sind. Zwangsgedanken lösen aversive Gefühle wie Angst und im Falle von z. B. Kontaminationsgedanken auch Ekelgefühle aus, während Zwangsrituale diese Gefühle abschwächen. In manchen Fällen dienen Rituale der Abwehr vermeintlicher Gefahren, ohne dass ein sinnhafter Zusammenhang offensichtlich wäre, z. B. wenn eine Jugendliche ihre Stifte gerade hinlegen muss, um zu verhindern, dass ihre Eltern sterben. In der Regel treten Zwangsgedanken und -handlungen gemeinsam auf. Insbesondere bei jüngeren Kindern und bei Patienten mit komorbider Tic-Störung können jedoch auch Zwangshandlungen ohne vorausgehende Zwangsgedanken auftreten. Häufig handelt es sich dabei um Berührungs- oder andere taktile Zwänge, die durch einen Impuls, ein Unvollständigkeitsempfinden oder durch ein Bedürfnis nach Richtigkeit („Not just right“Zwänge; vgl. Sica et al., 2015) ausgelöst werden. Im ICD-10 könnte man diese Zwänge unter Zwangsstörung mit vorwiegend Zwangshandlungen (F42.1) klassifizieren, während der Subtyp mit vorwiegend Zwangsgedanken (F42.0) klinisch oft nicht sinnhaft angewendet werden kann, da zwar Zwangsgedanken ohne offensichtliche Zwangsrituale bestehen können, in so gut wie allen diesen Fällen aber verdeckte bzw. mentale Rituale bestehen (vgl. Vloet et al., 2012). Weder im DSM-IV noch im DSM-5 wird diese Form der Subtypisierung vorgenommen. Während in der ICD-10 die Ich-Dystonie, also eine gewisse Einsicht in die Unsin-
nigkeit der Zwangsgedanken und -rituale, als Diagnosekriterium festgeschrieben ist, differenziert das DSM-5 zwischen guter, geringer und fehlender Einsicht. Ferner ist nach DSM-5 anzugeben, ob zusätzlich gegenwärtig oder in der Vorgeschichte eine Tic-Störung vorliegt bzw. vorlag. „Pathologisches Horten“ wird im DSM-5 nicht mehr unter dem Terminus „Zwangsstörung“ subsumiert, sondern als eigenständige Störung im Zwangsspektrum aufgeführt. Im Hinblick auf eine ausführliche Darstellung der Neuerungen des DSM-5 verweisen wir auf die Arbeit von Walitza (2014).
Was bedeutet Therapieerfolg? Die Children’s Yale-Brown Obsessive Compulsive Scale (CY-BOCS) wird in allen wesentlichen Studien zu Zwangsstörungen bei Kindern und Jugendlichen als Maß für die Schwere der Zwangsstörung und als primäres Erfolgsmaß für den Therapieerfolg verwendet. Je fünf Fragen zu Zwangsgedanken und -handlungen werden auf einer Skala von 0 bis 4 geratet. Somit ergibt sich ein Gesamtwert von 0 bis 40 mit folgender Schweregradzuordnung: leichte Zwangsstörung (10–18), mittelgradige Zwangsstörung (19–29), schwere Zwangsstörung (30 und höher). Bei „Not just right“-Zwängen finden sich in der Regel keine auffälligen Angaben in der Skala „Zwangsgedanken“, sodass hier für die Einschätzung des Schweregrades der Gesamtwert weniger aussagekräftig ist als der Wert der Skala „Zwangshandlungen“. Als Response auf die Behandlung wird eine Symptomremission in der CY-BOCS um 25 % gewertet, als Remission eine Reduktion um 45 % bis 50 % und gleichzeitig ein Gesamtwert ≤ 14 (Storch, Lewin, De Nadai & Murphy, 2010).
Prädiktoren für den Behandlungserfolg Die Studienlage zu Prädiktoren für eine erfolgreiche Behandlung ist uneinheitlich. In der Pediatric OCD Treatment Study (POTS, 2004) erwiesen sich die Schwere der Zwangsstörung vor der Behandlung, die funktionelle Beeinträchtigung, komorbide externalisierende Symptome, geringe Einsicht in die Unsinnigkeit der Symptome und die familiäre Akkomodation, also die Einbindung der Familie in die kindlichen Zwänge, als Prädiktoren (Garcia et al., 2010). In einer Studie zur familienorientierten CBT, in der die Expositionsbehandlung des Kindes ergänzt wurde um Interventionen, die auf die Reduktion familiärer Akkomodation abzielen, zeigte sich, dass ein geringeres Ausmaß elterlicher
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Schuldzuweisungen und familiärer Konflikte sowie ein höherer Familienzusammenhalt vor der Behandlung mit günstigeren Behandlungseffekten einhergingen (Piacentini et al., 2011). In der kürzlich veröffentlichten multizentrischen skandinavischen Nordic Long-term OCD Treatment Study (NordLOTS) wiederum zeigte sich nur das Alter als signifikanter Prädiktor: präpubertäre Kinder respondierten besser auf die Behandlung als ältere (Torp et al., 2015).
Psychotherapeutische Verfahren Die Behandlung der Wahl ist derzeit die CBT und hier speziell die Exposition mit Reaktions- bzw. Ritualverhinderung (exposure with response prevention, ERP). Dabei werden die Patienten mit Zwangsgedanken bzw. angstauslösenden Stimuli konfrontiert und die darauf bezogenen Zwangsrituale blockiert. Nach klassischem – und noch heute publiziertem Verständnis – wirkt die ERP durch Habituation; allerdings verweisen Wewetzer und Wewetzer (2014) darauf, dass Habituation darüber hinaus auch zu kognitiven Veränderungen führt. Wesentlich wird für die habituationsorientierte Behandlung erachtet, dass es bei der Konfrontation zu einem Anstieg von Angst bzw. Anspannung kommt und die Patienten die Erfahrung machen, dass die Angst von alleine nachlässt. Während der therapeutische Nutzen der ERP unumstritten ist, ist der Wirkmechanismus sehr wohl Gegenstand intensiver Kontroversen. Mehr kognitiv orientierte Ansätze legen weniger Wert auf Habituation als auf Realitätstestung: Die Patienten sollen lernen, dass die befürchtete „Katastrophe“ ausbleibt. Entscheidend sind dabei Veränderungen in folgenden kognitiven Bereichen: • Inflationäre Verantwortlichkeit: Patienten geben sich die alleinige Verantwortung für einen vermeintlichen Schaden infolge des Unterlassens ihrer Rituale. • Gefahrenüberschätzung: Patienten überschätzen die Wahrscheinlichkeit, mit der es zu einer negativen Konsequenz kommt. • Unsicherheitsintoleranz: Patienten glauben, sie müssten 100 % sicher sein, dass bei Unterlassen des Rituals nichts passiert. • Perfektionismus: Patienten streben die perfekte Lösung ihrer Probleme an. • Überbewertung von Gedanken: Patienten halten normale Gedanken für zu wichtig, weil sie beispielsweise glauben, dass ihre Gedanken wahr werden. • Kontrollierbarkeit von Gedanken: Patienten glauben, dass bestimmte Gedanken kontrolliert werden müssen. Auch in der Metakognitiven Therapie (MCT) nach Wells (Simons, 2012) spielt ERP eine zwar nicht zentrale, aber © 2016 Hogrefe
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durchaus wesentliche Rolle. ERP dient hier der Modifikation der wesentlichen metakognitiven Überzeugungen. Dies sind die letzten beiden der o. g. kognitiven Bereiche, nämlich: • Überbewertung von Gedanken: Gedanken werden gleichgesetzt mit Handlungen (z. B. „Wenn ich das denke, dann tue ich das auch“), Ereignissen/Tatsachen (z. B. „Wenn ich denke, dass etwas Schlimmes passiert, dann passiert das auch“ oder „Wenn ich denke, ich bin kontaminiert, dann bin ich auch kontaminiert“) oder Objekten (z. B. „Gedanken können auf Objekte übertragen werden“). • Gedankenkontrolle: Patienten denken, sie müssten die überbewerteten Gedanken kontrollieren, insbesondere unterdrücken (können). Neuere verhaltenstherapeutische Ansätze (Craske et al., 2008) sehen den entscheidenden Wirkmechanismus der ERP ebenfalls nicht in der Habituation (= Angstreduktion), sondern in der Angsttoleranz und – vergleichbar mit kognitiven Ansätzen – in der „Erwartungsverletzung“. Kircanski und Peris (2015) fanden kürzlich ERP, aber nicht initiale Angstaktivierung und Habituation als einen konsistenten Prädiktor für den Behandlungserfolg. Für die Dauer der ERP ist wichtig, nach welchem Rational sie durchgeführt wird. In der habituationsorientierten ERP wird eine Angstreduktion um mindestens 50 % angestrebt; eine vorherige Beendigung der Intervention gilt als ungünstig. Entsprechend lange dauerte diese Form der ERP, während eine ERP, die einem der anderen Rationalen folgt, in der Regel wesentlich kürzer ist.
Wirksamkeit von Kognitiver Verhaltenstherapie In ihrer Metaanalyse fanden Franklin und Kollegen (2015) 14 randomisierte kontrollierte Studien (RCT) aus den Jahren 1998 bis 2013, die insgesamt die Wirksamkeit von CBT für Kinder und Jugendliche mit Zwangsstörungen belegen. In zwei dieser Studien war die Behandlung primär kognitiv orientiert (Bolton et al., 2011; Williams et al., 2010) und ebenso wirksam wie die behavioral- und habituationsorientierten Behandlungen. Die NordLOTS belegte die gute Wirksamkeit von CBT auch außerhalb spezialisierter universitärer Einrichtungen (Torp et al., 2015). Wie Tabelle 1 zu entnehmen ist, bewegen sich die Remissionsraten üblicherweise zwischen 40 % und 60 %. Je jünger die Kinder sind, desto mehr werden die Eltern in die Behandlung einbezogen. Mittlerweile existieren familienbezogene ERPManuale für die Behandlung von „Vorschulkindern“ (d. h. Kinder im Alter von 3 bis 8 Jahren), die einem sogenannten „treatment as usual“ (TAU) bzw. familienbezogener Ent-
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Tabelle 1. Psychotherapiestudien, Response- und Remissionsraten. Studie*
Freeman et al., 2014 Lewin et al., 2014
Alter
5–8
3–8
POTS 2004
De Haan et al., 1998 Piacentini et al., 2011 Bolton et al., 2011
8–18
8–17
10–18
N
Behandlung
Response %
Remission %
63
FB-CBT
72
k. A.
64
FB-RT
41
k. A.
17
FB-ERP
64.7
58.8
14
TAU
7.1
28
CBT
39
28
SSRI
21
28
CBT + SSRI
54
12
CBT
67
k. A.
12
SRI
42
k. A.
49
FB-CBT
57
43
22
PRT
23
18
36
CBT (kognitiv orientiert, 12 Sitzungen)
61
36
Kurz-CBT (5 Sitzungen)
49
0
Bolton & Perrin, 2008
8–17
10
ERP
60
Storch et al., 2013
7–17
14
CBT + SSRI (standardisierte Dosis)
57.1
42.9
17
CBT + SSRI (langsam titriert)
64.6
23.5
16
CBT + Placebo
62.5
18.8
5
MCT
100
100
5
ERP
100
100
CBT
k. A. (72.6)
Simons et al., 2006 Torp et al., 2015
8–17
7–17
269 (241 completer)
40
k. A. (49.4)
Anmerkungen. FB-CBT = familienbasierte CBT; FB-RT = familienbasierte Entspannung; FB-ERP = familienbasierte ERP; TAU = treatment as usual; PRT = Psychoedukation und Entspannung; * Studien, in denen Patienten sich vor Behandlungsbeginn schon in Pharmakotherapie befanden, werden ebenso wenig aufgeführt wie Studien ohne Angaben zu Response und Remission.
spannung deutlich überlegen waren (Freeman et al., 2014; Lewin et al., 2014).
Psychotherapeutische Behandlungsfehler Eine rezente Studie an behandlungsresistenten Zwangspatienten zeigte, dass vermeidbare Behandlungsfehler ursächlich für therapeutische Misserfolge sein können (Krebs et al., 2015); beispielsweise werde die ERP-Behandlung oftmals zu sehr den Patienten überlassen und nicht in der Behandlungssitzung eingeübt. Die Autoren betonen die herausragende Bedeutung der behavioralen Komponente der Behandlung. Sie verweisen zudem auf die norwegische Studie von Valderhaug, Gunnar Gotestam und Larsson (2004), die zeigt, dass häufig nicht für Zwangsstörungen evaluierte Therapieverfahren wie systemische oder psychodynamische Therapie eingesetzt werden und Verhaltenstherapeuten zu wenig Gebrauch von ERP machten. Die ERP sollte möglichst in dem Kontext stattfinden, in dem sich die Zwänge abspielen; insofern ist häufig ein „home treatment“ indiziert. Unsere eigenen Erfahrungen mit Metakognitiver Therapie verweisen ebenfalls auf die Bedeutsamkeit verhaltensbezogener Interventionen (z. B. in Form von ERP und Verhaltensexperimenten). Bei einer ausschließlich gesprächsorientierte kognitiven oder metakognitiven Behandlung besteht die Gefahr, in „fruchtlosen Diskussionen“ zu enden. Appelle des Therapeuten an die Vernunft des Patienten beweisen nur, dass der Therapeut das Störungsbild nicht verstanden hat, denn die meisten Patienten sind sich der Unsinnigkeit der Zwänge durchaus bewusst. Absolut kontraindiziert sind Strategien wie „Gedankenstopp“, bei denen Zwangsgedanken unterdrückt werden sollen, da dies in der Regel zur Exazerbation der Zwangsgedanken führt („Rebound-Effekt“; Wegner, Schneider, Carter & White, 1987). Versuche, den Begriff Gedankenstopp zu retten, indem man ihn auf Gedankenrituale bezieht, stiften unnötige Verwirrung und sind unseres Wissens international unbekannt; dort spricht man weiterhin von Reaktions- oder Ritualverhinderung.
Pharmakotherapie SSRI Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (serotonin reuptake inhibitors, SRI) stellen die medikamentöse Therapie der Wahl für die kindliche Zwangsstörung dar. Dazu liegen
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mehrere randomisierte kontrollierte Studien vor, die sich speziell auf Clomipramin (z. B. De Haan, Hoogduin, Buitelaar & Keijsers, 1998), Sertralin (z. B. POTS, 2004), Fluoxetin (z. B. Liebowitz et al., 2002), Paroxetin (Geller et al., 2004) und Fluvoxamin (Riddle et al., 2001) beziehen. Es konnte jeweils gezeigt werden, dass die Zwangssymptomatik im Vergleich zu Placebo- und Wartelistenbedingung hoch signifikant reduziert wurde (s. auch Übersichten bei Vloet et al., 2012; Wewetzer & Wewetzer, 2014). Metaanalysen zeigen im Vergleich zu Placebo mittlere bis hohe Effektstärken (um 0.5) und eine niedrige „numberneeded-to-treat“ (NNT = 5) (Übersicht bei Bloch & Storch, 2015). Geller und Mitarbeiter (2003) fanden in ihrer Metaanalyse Hinweise darauf, dass das serotoninspezifische Trizyklikum Clomipramin den selektiven SRI (SSRI) überlegen ist, wobei diese sich in ihrer Effektivität untereinander nicht unterschieden. Allerdings liegt unseres Wissens bisher keine Studie zum direkten Vergleich von Clomipramin und einem SSRI bei Kindern und Jugendlichen mit Zwangsstörungen vor. Dies mag auch daran liegen, dass Clomipramin durch seine im Verhältnis weniger spezifische Bindung an 5-HT2-Rezeptoren häufiger unerwünschte (anticholinerge, adrenerge und histaminerge) Nebenwirkungen verursacht, sodass die SSRI Clomipramin im klinischen Alltag häufig vorgezogen werden (s. u. a. Watson & Rees, 2008). Zudem wird neuerdings diskutiert, ob die angenommene bessere Wirksamkeit von Clomipramin im Vergleich zu SSRI möglicherweise nur auf methodischen Unterschieden in den Studien beruht (Übersicht bei Bloch & Storch, 2015). Bezüglich der Zulassungssituation in Deutschland ist festzuhalten, dass für Kinder und Jugendliche mit Zwangsstörungen derzeit lediglich Sertralin ab dem 6. und Fluvoxamin ab dem 8. Lebensjahr eine Indikation haben. Allgemein sollte das Ziel sein, eine adäquate klinische Wirksamkeit bei insgesamt tolerablen Nebenwirkungen zu erreichen. Ist dies nicht möglich, sollte der Wechsel auf einen alternativen SSRI erwogen werden, wobei vor Umstellung jeweils auf einen ausreichend hohen und langen Therapieversuch geachtet werden sollte. Dies ist deshalb wichtig, da bisher Daten zur Remission von Zwangsstörungen bei Kindern und Jugendlichen durch subtherapeutische SSRI-Dosierungen nicht vorliegen. Zudem sollte auch beachtet werden, dass weiterführende pharmakologische Maßnahmen wie z. B. die Augmentation mit Atypika z. T. nicht unerhebliche Nebenwirkungen haben. Generell ist davon auszugehen, dass mit einem Wirkeintritt von SSRIs und Clomipramin erst nach 4 bis 10 Wochen zu rechnen ist. Die Beurteilung des therapeutischen Effektes sollte nicht vor Ablauf von 8 bis 12 Wochen erfolgen (Übersicht bei Walitza et al., 2011). Hinsichtlich der Höhe der SSRIDosierung wurden die meisten RCTs im Kindesbereich © 2016 Hogrefe
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bisher mit den von der Federal Drug Administration (FDA) empfohlenen Höchstdosen an SSRI durchgeführt. Daten einer Metaanalyse bei Erwachsenen (Bloch, McGuire, Landeros-Weisenberger, Leckman & Pittenger, 2010) konnten in diesem Kontext zeigen, dass bei der Behandlung der Zwangsstörung (anders als z. B. bei depressiven Störungen) eine signifikante Dosis-Wirksamkeits-Korrelation besteht. Demnach werden bei Erwachsenen z. T. auch „supratherapeutische“ Dosen (z. B. bis 400 mg Sertralin) eingesetzt, die bei sogenannten „non-respondern“ ein Ansprechen auf die Medikation bewirken konnten (z. B. Ninan et al., 2006). Allerdings war der Wirksamkeitszuwachs unter hohen Dosen insgesamt nur moderat und mit signifikant häufigeren Nebenwirkungen assoziiert (Metaanalyse von Bloch et al., 2010). Vor dem Hintergrund der fehlenden Datenlage bei Kindern und Jugendlichen in diesem Dosisbereich sowie dem z. T. differenten Nebenwirkungsprofil im Kindesalter im Vergleich zu Erwachsenen (für Details siehe Vloet et al., 2012) sollte daher eine SSRITitration über den empfohlenen Bereich hinaus nur bei Therapieresistenz (s. u.) bei den Kindern und Jugendlichen erwogen werden, die die bisherige SSRI-Medikation ohne Nebenwirkungen gut vertragen haben. Die Aufdosierung sollte aufgrund der fehlenden Datenlage im Kindes- und Jugendalter dann äußert achtsam erfolgen. Hinsichtlich der derzeit empfohlenen Dosierungen sowie Sicherheit und Nebenwirkungen verweisen wir auf unsere vorangegangene Übersichtsarbeit (Vloet et al., 2012).
Augmentation mit Atypika Kindliche Patienten mit Zwangsstörungen profitieren oft nicht oder zumindest nicht ausreichend von einer Behandlung mit CBT und SSRI (Übersicht bei Krebs & Heyman, 2015). Selbst unter den sehr guten Bedingungen der POTS (POTS, 2004) konnte bei über 46 % der Probanden keine vollständige Remission der Zwangssymptomatik erreicht werden. Ursachen für einen nicht ausreichenden Therapieerfolg könnten u. a. in psychiatrischen Komorbiditäten liegen, wobei gezeigt werden konnte, dass z. B. das gleichzeitige Bestehen einer Tic-Symptomatik das Ansprechen auf eine SSRI-Behandlung deutlich verringert (für eine Übersicht siehe z. B. Ginsburg, Kingery, Drake & Grados, 2008 sowie unten). Sogenannte „Behandlungsresistenz“ bzw. nur partielles Ansprechen auf die Behandlung besteht, wenn trotz CBT und Therapie mit zwei unterschiedlichen SSRI in ausreichend hoher Dosis für jeweils 10 Wochen bzw. Clomipramin über 3 Wochen weiter zumindest eine moderate Zwangssymptomatik (CY-BOCS > 16) besteht. In diesen Fällen sind Augmentationsstrategien indiziert, die u. a. die Kombination zweier SSRI bzw. eines SSRI und Clomi-
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pramin vorsehen. Speziell für die Kombination eines SSRI mit Clomipramin liegen allerdings derzeit nur einzelne Studien für Erwachsene, keine hingegen aus dem Kindes- und Jugendalter vor (für Details zur Behandlung siehe Übersichten bei Vloet et al., 2012; Bloch & Storch, 2015). Hinsichtlich der Kombination eines SSRI mit niedrig dosierten Neuroleptika besteht hingegen zumindest im Erwachsenenalter eine sehr robuste Datenlage (Metaanalysen von Bloch et al., 2006; Dold, Aigner, Lanzenberger & Kasper, 2013). Während in der älteren Metaanalyse keine Unterschiede hinsichtlich der Wirksamkeit verschiedener Neuroleptika gefunden wurden, zeigen neuere Daten differenzielle Befunde. So wurden von Dold und Mitarbeitern (2013) Studien mit insgesamt fast 400 Probanden ausgewertet, die eine Augmentation mit Quetiapin, Risperidon, Olanzapin, Aripripazol oder Haloperdiol erhielten. Eine signifikante Wirksamkeit wurde für Risperidon nachgewiesen. Hinsichtlich Aripripazol und Haloperidol waren die Befunde uneinheitlich; keine signifikanten Ergebnisse wurden bei Quetiapin und Olanzapin gefunden. Neben diesen Befunden liegen auch erste systematisch erhobene Daten bei Kindern und Jugendlichen vor. So konnten Masi, Pfanner, Millepiedi und Berloffa (2010) zeigen, dass bei fast 60 % von Adoleszenten, die mit zwei SSRI erfolglos behandelt wurden, die Augmentation mit Aripripazol zu einer signifikanten Besserung der Symptomatik führte. In einer ebenfalls kürzlich durchgeführten weiteren randomisierten kontrollierten Studie bei Kindern sprachen 50 % der ehemaligen „non-responder“ auf eine Augmentationsstrategie mit zwei unterschiedlichen Neuroleptika (Risperidon und Aripripazol) an, die sich in ihrer Wirksamkeit nicht voneinander unterschieden (Masi, Pfanner & Brovedani, 2013). Zumeist werden hierbei im klinischen Alltag im Vergleich zur Behandlung psychotischer Störungen allenfalls moderate bis geringe Dosen eingesetzt. Unserer Erfahrung nach sind z. B. Risperidon-Dosierungen von bis zu 2 mg pro Tag (0.06 mg/kg Körpergewicht) ausreichend. Vor dem Hintergrund des Nebenwirkungsprofils der Neuroleptika erscheint eine aktuelle Studie von Simpson und Mitarbeitern (2013) beachtenswert, in der erstmalig gezeigt werden konnte, das zumindest bei Erwachsenen eine zusätzliche CBT der Augmentation von SSRI mit Risperidal überlegen war. Besonders wichtig erscheint, dass eine Zwangserkrankung nicht vorschnell als „therapieresistent“ eingeschätzt wird. So konnten Krebs und Mitarbeiter (2015) kürzlich zeigen, dass bei einer Gruppe von 43 Jugendlichen, die ursprünglich als „therapieresistent“ eingeschätzt wurden, 80 % durch eine optimierte CBT- und SSRI-Behandlung auch 3 Monate nach Behandlungsende noch klinisch
deutlich gebessert bzw. sogar in Remission waren. Speziell die Qualität der zuvor durchgeführten CBT wurde bei über 95 % der Probanden rückblickend als unzureichend eingeschätzt.
Behandlung Tic-verwandter Zwangsstörungen Im DSM-5 wurde die „Tic-verwandte Zwangsstörung“ als neuer Subtyp eingeführt (Übersicht bei Walitza, 2014). Entsprechend der Annahme, dass die betroffenen Patienten schwieriger zu behandeln sind, schneller die Therapie abbrechen und häufiger eine therapieresistente Zwangsstörung zeigen, empfahlen Mansueto und Keuler bereits 2005 neben einer Augmentation des SSRI mit einem Neuroleptikum auch eine spezielle Anpassung der CBT (u. a. eine längere Behandlung, da sich Therapieerfolge später einstellen, bzw. die Durchführung von Entspannungstechniken, um das Anspannungsniveau der Patienten zu reduzieren). In Übereinstimmung damit konnte die POTS (March et al., 2007) zeigen, dass eine Sertralin-Monotherapie bei bestehender komorbider Tic-Störung nicht erfolgreich war, allerdings unterschied sich der Behandlungserfolg bei Probanden mit bzw. ohne komorbide Tic-Störung auch nicht in den Behandlungsarmen CBT oder „Kombinationstherapie“. Auch auf Paroxetin und Fluvoxamin scheinen diese Patienten insgesamt schlechter anzusprechen (Storch et al., 2008; Übersicht bei Keeley, Storch, Merlo & Geffken, 2008). In ihrer Übersicht kommen Bloch und Mitarbeiter (2006) zu dem Schluss, dass zumindest adulte Patienten mit Zwängen und Tics eher von einer Augmentation mit einem niedrig dosierten Neuroleptikum profitieren. Eine neuere Untersuchung konnte zeigen, dass dies ebenfalls bei Kindern und Jugendlichen zuzutreffen scheint (Masi et al., 2013). Allerdings sind die Befunde nicht einheitlich: In einer aktuellen Untersuchung von Skarphedinsson und Mitarbeitern (2015) wurde z. B. nachgewiesen, dass Kinder und Jugendliche mit Zwängen und Tics, die nach einer 14-wöchigen CBT keine signifikante Verbesserung der Zwangssymptomatik gezeigt hatten, ohne eine medikamentöse Augmentation, allein durch eine sich anschließende verlängerte Sertralin-Medikation über weitere 16 Wochen, gut profitierten. Möglicherweise sind hier methodische Unterschiede zwischen den Studien bzw. eine unterschiedliche Ausprägung der Tic-Symptomatik in den untersuchten Populationen für die differenten Befunde verantwortlich. In diesem Kontext wurden in einer Untersuchung im Rahmen der POTS II (Conelea et al., 2014) entsprechend der neuen Kriterien des DSM-5 auch Probanden eingeschlossen, die eine Tic-Symptomatik
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hatten, ohne die diagnostischen Kriterien für eine chronische Tic-Störung voll zu erfüllen. Es zeigte sich, dass diese Probanden sich von denen ohne Tics nicht hinsichtlich des Behandlungserfolges in den drei Studienarmen Medikation, Medikation und CBT, Medikation und modifiziertes CBT unterschieden. Vor dem Hintergrund der Heterogenität der Zwangsstörung ist möglicherweise eine weitere Subtypisierung über die einfache Klassifikation nach Komorbiditäten hinaus notwendig. Dabei könnte die zukünftige Berücksichtigung des Verlaufs der Symptomatik, neurokognitiver Dysfunktionen bzw. die Einbeziehung eines dimensionalen Ansatzes oder der von Endophänotypen für eine optimierte Therapiegestaltung hilfreich sein (Übersicht bei Pallanti & Grassi, 2014).
Kombinationstherapie Eine rezente Metaanalyse ermittelte für CBT (über zehn Studien) eine Remissionsrate von 57 % und für Pharmakotherapie (über drei Studien) eine Remissionsrate von 47 % (McGuire et al., 2015). Einige Studien überprüften, ob die Kombination von CBT und SSRI einer Monotherapie überlegen ist. In der ersten großen Wirksamkeitsstudie (POTS, 2004) war die Kombination von CBT und einer Pharmakotherapie (Sertralin) der Monotherapie mit CBT oder SSRI überlegen. Allerdings zeigte sich die Überlegenheit der Kombinationsbehandlung nur in einer der drei Behandlungszentren. Damit war die Überlegenheit der Kombinationstherapie nicht zweifelsfrei belegt, zumal es dafür eines Vergleiches mit einer weiteren Gruppe, die mit CBT und einem Placebo hätte behandelt werden müssen, bedurft hätte. Eine solche Studie führten Storch und Kollegen (2013) durch. Dabei erwiesen sich CBT in Kombination mit SSRI in Standarddosis (Remissionsrate 42.9 %; Effektstärke (ES) 1.01) oder angepasster Dosierung (Remissionsrate 23.5 %; ES 1.42) der CBT plus Placebo (Remissionsrate 18.8 %; ES 1.8) als nicht überlegen. Ivarsson und Mitarbeiter (2015) fanden in einer Metaanalyse von 14 Studien, dass CBT zwar der Pharmakotherapie überlegen, die Kombinationstherapie jedoch nur der Pharmakotherapie, nicht jedoch der CBT überlegen ist. Entgegen der Empfehlungen amerikanischer Behandlungsleitlinien (American Academy of Child and Adolescent Psychiatry Committee on Quality Issues, 2012) finden sie keine Belege dafür, dass mittelgradige und schwere Zwangsstörungen unbedingt mit Kombinationstherapie behandelt werden müssten. Stattdessen sollte immer mit CBT begonnen werden. Wenn diese nicht ausreicht, kann sie um eine Pharmakotherapie ergänzt werden. © 2016 Hogrefe
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Neuere pharmakologische Ansätze Glutamatmodulierende Substanzen Viele Jahre über war ein Schwerpunkt des neurobiologischen Modells der Zwangsstörung der kortiko-striatothalamo-kortikalen Kreislauf, und zahlreiche Studien konzentrierten sich daher auf die Untersuchung des serotoninergen und dopaminergen Systems (Übersichten z. B. bei Vloet, Neufang, Herpertz-Dahlmann & Konrad, 2006; Vloet et al., 2012). Auf Basis von Tiermodellen wird in den letzten Jahren vermehrt untersucht, ob auch Glutamat eine zentrale Rolle bei repetitivem Verhalten zukommen könnte. Die Aminosäure Glutamat ist ein exzitatorischer Neurotransmitter, der einen hemmenden Einfluss auf zahlreiche neuronale Netzwerke hat. Es wird vermutet, dass exzessive Glutamataktivität durch eine Überaktivierung der N-Methyl-D-Säure (N-Methyl-DAspartat, NMDA) auf die Glutamatrezeptoren neurogenerativ bzw. neurotoxisch wirken könnte (Übersichten z. B. bei Hosenbocus & Chahal, 2013; Kariuki-Nyuthe, Gomez-Mancilla & Stein, 2014). Bei behandlungsnaiven Erwachsenen mit Zwangsstörungen konnten entsprechend erhöhte Glutamatspiegel in der zerebrospinalen Flüssigkeit bzw. Assoziationen zwischen Zwangsstörungen und Polymorphismen eines Glutamattransportergens (S1C1A1) nachgewiesen werden (Übersicht bei Pittenger, Bloch & Williams, 2011). Hinsichtlich der Befunde bei Kindern liegen ebenfalls erste Studien vor. So bestand laut einer älteren Bildgebungsuntersuchung von Rosenberg und Mitarbeitern (1997) bei unbehandelten Kindern mit Zwangsstörungen im Vergleich zu gesunden Kontrollen im Bereich des Nukleus caudatus ein erhöhter Glutamatspiegel. Eine aktuelle Studie bei Kindern und Jugendlichen konnte zeigen, dass eine Assoziation zwischen der Glutamatkonzentration im Bereich des anterioren cingulären Cortex und der Erkrankungsdauer bestand (Ortiz et al., 2015). Auf Basis dieser Befunde werden in den letzten Jahren vermehrt therapeutische Bemühungen unternommen, pharmakologisch auf das glutamaterge Neurotransmittersystem einzuwirken.
Riluzol Riluzol ist ein sogenannter „glutaminerger Modulator“, der über die Blockierung eines Natriumkanals auf die Glutamatfreisetzung einwirkt (Übersicht bei Bellingham, 2011). Eine Zulassung besteht derzeit nur für die amyotrophe Lateralsklerose im Erwachsenenalter. Für Kinder und Jugendliche besteht keine Zulassungsindikation. Im Bereich der psychiatrischen Störungen wurde die Substanz in mehreren offenen Studien bei der Generalisierten Angststörung, De-
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pressiven Störung, aber auch Zwangserkrankung im Erwachsenenalter eingesetzt. Insgesamt wurde Riluzol dabei bis auf gelegentliche, milde, transiente und reversible Transaminaseerhöhungen gut vertragen und zeigte positive Effekte (Übersicht bei Zarate & Manji, 2008). In einer ersten offenen Studie bei Probanden mit residualer Zwangssymptomatik im Alter zwischen 7 und 17 Jahren konnten Grant, Lougee, Hirschtritt und Swedo (2007) eine Effektivität von Riluzol nachweisen, wenn es additiv zu einer SSRI-Medikation eingesetzt wurde. Insgesamt wurde die Behandlung ebenfalls gut vertragen, die Gruppengröße war mit sechs Probanden allerdings sehr klein. In einer nachfolgend durchgeführten randomisierten, placebokontrollierten Studie derselben Gruppe (Grant et al., 2014) wurde Riluzol ebenfalls additiv bei behandlungsresistenter Zwangsstörung bei 59 Probanden zwischen 7 und 17 Jahren eingesetzt. Hier zeigte sich die Riluzolbehandlung der Placebogabe allerdings nicht mehr als überlegen. Einschränkend muss festgehalten werden, dass bei 17 Probanden eine komorbide Autismus-Spektrum-Störung bestand und aus methodischen Gründen bei den Probanden jedwede bestehende Medikation zur Behandlung der Zwangsstörung fortgeführt wurde, auch wenn sich diese als erfolglos gezeigt hatte. Dabei wurde bei einem Probanden unter der Riluzolbehandlung eine Pankreatitis beobachtet, die als schwere Nebenwirkung von Riluzol v. a. im Kindesalter vermehrt aufzutreten scheint (Übersicht bei Grant, Song & Swedo, 2010). Zusammenfassend ist Riluzol nach der aktuellen Datenlage im Kindes- und Jugendalter nicht als klinische Routinebehandlung zu empfehlen und sollte allenfalls in Ausnahmen bei Versagen besser evidenzbasierter Therapien in Erwägung gezogen werden.
Ketamin Ketamin ist ein hochaffiner, nichtkompetitiver NMDA-Rezeptorantagonist, der auch an Opioid und Sigmarezeptoren bindet und möglicherweise auch die Dopamintransmission moduliert. Als Anästhetikum ist er im Kindesalter zugelassen und kann sowohl intravenös als auch nasal appliziert werden. Er wird im Bereich psychiatrischer Störungen des Erwachsenenalters in den letzten Jahren z. T. auch bei der therapieresistenten Depression eingesetzt (Übersicht bei Serafini, Howland, Rovedi, Girardi & Amore, 2014). Einige wenige Studien liegen zur Behandlung der therapierefraktären Zwangsstörung vor. In einer Untersuchung von Bloch und Mitarbeitern (2012) bei 10 erwachsenen Probanden war ein positiver Effekt auf die Zwangssymptomatik allerdings nur in den ersten 3 Stunden (!) nach der intravenösen Gabe von Ketamin zu beobachten. In der ersten Woche nach der Applikation waren dann bei
einem Teil der Probanden noch antidepressive Effekte zu beobachten. In eine randomisierten kontrollierten Studie (RCT) von Rodriguez und Mitarbeitern (2013) wurden 15 adulte Probanden eingeschlossen, die in der Hälfte der Fälle mit einer verringerten Zwangssymptomatik nach Ketamingabe in der ersten Woche reagierten. Im Placeboarm fand sich dagegen keine Verbesserung der Symptomatik. Die differenten Befunde begründen sich möglicherweise in methodischen Unterschieden zwischen den Studien (für Details s. Bloch & Storch, 2015). Bisher liegen keine Untersuchungen für das Kindesalter vor.
D-Cycloserin (DCS) DCS ist ein partieller NMDA-Rezeptoragonist, der zuerst im Tierversuch eine Verstärkung des Extinktionslernens zeigen konnte (z. B. Walker, Ressler, Lu & Davis, 2002) und im Verlauf auch bei Erwachsenen mit verschiedenen Angststörungen im Rahmen von Pilotstudien und RCTs eingesetzt wurde (z. B. Otto et al., 2010). Im Hinblick auf Zwangsstörungen liegen derzeit drei randomisierte placebokontrollierte Studien bei Erwachsenen vor, die uneinheitliche Ergebnisse gezeigt haben (Übersicht bei Ori et al., 2015). Dabei wird u. a. vermutet, dass die positive Wirkung von DCS auf CBT durch Interaktionen mit ebenfalls applizierten SSRI vermindert oder aufgehoben werden könnte (Andersson et al., 2015). Eine kürzlich veröffentlichte Metaanalyse von Xia, Du, Han, Liu und Wang (2015) fand insgesamt nur einen Trend zu signifikant besseren Behandlungserfolgen unter einer Augmentation mit DCS und betont die Bedeutung eines differenziellen Behandlungsplanes mit individuell dosierten DCS-Gaben und in Anzahl und Frequenz angepassten CBT-Sitzungen. In einer ersten Pilotuntersuchung bei 30 Kindern und Jugendlichen (Alter 8–17) mit Zwangsstörungen (Storch et al., 2010) wurde DCS begleitend zu CBT randomisiert, doppelblind und placebokontrolliert eingesetzt. Beide Gruppen zeigten über die Behandlung eine signifikante Reduzierung der Symptomatik, wobei der DCS-Arm signifikant bessere Ergebnisse erzielte als der Placeboarm (gemessen an CY-BOCS bei mittlerer Effektstärke: Cohen’s d = 0.31). Ob DCS dabei über eine verbesserte Extinktion zum höheren Therapieerfolg beiträgt, ist derzeit noch nicht klar. Von Park und Mitarbeitern (2014) wurde vermutet, dass der Effekt möglicherweise auch über eine erhöhte Compliance und verbesserte Mitarbeit der Kinder und Jugendlichen durch die erleichterte Extinktion zustande kommen könnte. Allerdings konnte dies in der durchgeführten Studie nicht nachgewiesen werden. Vor dem Hintergrund von Befunden im Tierversuch, in denen DCS auch einen positiven Effekt zeigte, wenn es erst nach einer Exposition eingesetzt wurde, konnte kürz-
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lich von Mataix-Cols und Kollegen (2014) bei 27 Jugendlichen mit Zwangsstörungen gezeigt werden, dass die DCS-Gabe nach CBT einer Behandlung mit CBT und anschließender Placebogabe nicht überlegen war. Entsprechend einer aktuellen Cochrane-Analyse von Ori und Mitarbeitern (2015) besteht insgesamt kein Unterschied hinsichtlich der Effektivität von CBT, CBT und DCS bzw. CBT und Placebo bei der Behandlung von Angst- und Zwangsstörungen. Dies gilt sowohl für Untersuchungen bei Erwachsenen als auch bei Kindern und Jugendlichen. Dabei waren die eingeschlossenen Studien oft durch methodische Schwächen bzw. nur kleine Untersuchungsgruppen charakterisiert.
Memantin Memantin ist wie Ketamin ebenfalls ein nichtkompetitiver NMDA-Rezeptorantagonist und bei Erwachsenen für die Behandlung der Alzheimerdemenz zugelassen. Über die Bindung am Rezeptor scheint Memantin die durch Glutamat ausgelöste Überaktivierung der Rezeptoren zu hemmen und auf diese Weise die Erregung zugehöriger neuronaler Netzwerke zu reduzieren (Übersicht bei Hosenbocus & Chahal, 2013). Im Erwachsenenbereich existiert zur Behandlung der Zwangsstörung eine offene Studie mit 14 Probanden, die Memantin nach erfolgloser Augmentationstherapie mit einem Neuroleptikum erhielten und eine klinische Besserung der Symptomatik zeigten (Aboujaoude, Barry & Gamel, 2009), weiter eine randomisierte kontrollierte Studie über 8 Wochen, in denen 42 Probanden mit schwerer Zwangsstörung Memantin (bis zu 20 mg/Tag) bzw. Placebo zusätzlich zu einer Fluvoxaminmedikation erhielten. Alle Probanden mit der Memantin-Augmentation zeigten eine partielle oder vollständige Remission (Ghaleiha et al., 2013). In einer weiteren RCT von Haghighi und Mitarbeitern (2013) konnte ebenfalls gezeigt werden, dass eine signifikante Verbesserung der Symptomatik durch Memantin zusätzlich zu SSRI bzw. Clomipramin erzielt werden konnte. Erste Anwendungsbeschreibungen für das Kindes- und Jugendalter liegen für die Autismus-Spektrum-Störung sowie die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung vor (Übersicht bei Hosenbocus & Chahal, 2013). Im Hinblick auf Zwangsstörungen existiert allerdings derzeit nur eine Fallbeschreibung eines 15-jährigen Mädchens mit therapieresistenter Symptomatik, die eine Verbesserung der Symptomatik durch die Augmentation von Citalopram (80 mg/Tag) mit Memantin zeigte (Hezel, Beattie & Stewart, 2009). Insgesamt liegt damit keine gute Datenlage zur Effektivität von Memantin zur Behandlung von Zwangsstörungen im Kindes- und Jugendalter vor. Damit © 2016 Hogrefe
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bleibt diese pharmakologische Off-label-Option Einzelfällen vorbehalten, in denen sonstige evidenzbasierte Therapieverfahren erfolglos waren.
Topiramat Topiramat ist ein Antiepileptikum, das direkt an AMPA (αamino-3-hydroxy-5-methyl-4-isoxazolepropionic acid) Glutamatrezeptoren bindet. Mowla und Mitarbeiter (2010) setzten Topiramat bei 49 adulten Probanden ein, bei denen eine vorherige SSRI-Behandlung eine Zwangsstörung nicht signifikant verbessern konnte. Unter einer Aufdosierung bis 200 mg pro Tag zeigten 50 % der so Behandelten eine klinische Verbesserung. Im Placeboarm war hingegen kein Proband gebessert. Allerdings zeigte sich in einer Folgeuntersuchung an 36 Probanden, die mit bis zu 400 mg Topiramat pro Tag behandelt wurden, dieser Effekt im Vergleich zu Placebo nicht (Berlin et al., 2011). Zudem musste in dieser Studie bei fast 70 % der Probanden die Medikation aufgrund von Nebenwirkungen reduziert oder sogar abgesetzt werden. Während hinsichtlich des Sicherheitsprofils von Topiramat aus der Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit Epilepsien oder Migräne zahlreiche Daten vorliegen, existieren keine Studien mit systematisch erhobenen Befunden zur Behandlung einer Zwangsstörung in diesem Altersbereich.
Resümee und Ausblick Wirksame Behandlungen für Kinder und Jugendliche mit Zwangsstörungen existieren in Form von ERP und Pharmakotherapie mit zugelassenen SSRI. Ist eine psychotherapeutische Behandlung mit einem nicht-evaluierten Verfahren erfolglos, sollte eine expositionsorientierte CBT eingeleitet werden. In der CBT sollte unbedingt mit ERP gearbeitet werden. Auch wenn viele Autoren immer wieder betonen, wie wichtig Habituation für den Erfolg der ERP ist, verweisen wir auf die Arbeiten von Craske und Mitarbeitern (2008) sowie Kircanski und Peris (2015), die Habituation als weniger wesentlich für den Behandlungserfolg ermittelten. Ferner verweist die bisherige Datenlage darauf, dass eine Kombination von CBT und SSRI einer Monotherapie mit CBT im Einzelfall überlegen sein kann; von einer grundsätzlichen Überlegenheit der Kombinationstherapie kann jedoch keine Rede sein. Eine wichtige Frage zukünftiger Forschung könnte sein, wie die Wirksamkeit von ERP optimiert werden könnte. Ob die MCT zu besseren Erfolgen führt als die bisherige CBT, ist empirisch noch zu überprüfen. Die Datenlage verweist zudem
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darauf, dass eine Verbesserung der Versorgungssituation notwendig ist, was insbesondere auch die Vermeidung von Behandlungsfehlern und die Durchführung einer optimalen CBT und Pharmatherapie entsprechend dem Goldstandard mit einschließt. Viele Kinder und Jugendliche mit Zwangsstörungen profitieren gut von einer SSRI-Behandlung. Andere pharmakologische Strategien bei Behandlungsresistenz sind im Kindes- und Jugendalter allerdings nicht gut untersucht. Bei Riluzol konnte eine Pilotstudie Behandlungserfolge zeigen; es fehlen aber derzeit methodisch bessere Untersuchungen, um über seine Wirksamkeit abschließend entscheiden zu können. Auch DCS könnte im Kindes- und Jugendalter möglicherweise hilfreich sein, allerdings zeigen auch hier die bestehenden Studien methodische Schwächen. Für andere Substanzen wie Memantin und Topiramat liegen hinsichtlich der Behandlung von Zwangsstörungen nur Befunde bei Erwachsenen vor, wobei ein Großteil der Betroffenen auch von diesen neuen Verfahren oft nicht ausreichend profitiert. Zudem ist insbesondere das Nebenwirkungsprofil vieler neuer Substanzen gerade für Kinder und Jugendliche ungünstig. Gerade vor diesem Hintergrund ist es wichtig, bei einer Therapie mit SSRI diese im Kindes- und Jugendalter auch ausreichend hoch zu dosieren (Übersicht bei Vloet et al., 2012) und ihren therapeutischen Effekt nicht vorschnell, d. h. nicht vor Ablauf von 8 bis 12 Wochen, als möglicherweise unzureichend zu beurteilen. Derzeit werden v. a. im Erwachsenenbereich zahlreiche Bemühungen unternommen, weitere Substanzen im Hinblick auf ihre Wirksamkeit bei Zwangsstörungen zu untersuchen, wobei hier nur einzelne Studien vorliegen und die Datenlage hinsichtlich der Wirksamkeit ebenfalls nicht ausreichend ist (z. B. N-Azetylzystein, Lamotrigen, Naloxon, Ondansetron, Koffein, Myo-inositol; Übersicht bei Pittenger & Bloch, 2014). Insgesamt unterstreicht die derzeitige Datenlage im Kindes- und Jugendalter zu neuen pharmakologischen Behandlungsoptionen die Bedeutung der optimalen Kombinationstherapie nach dem derzeitigen Goldstandard, wobei der Versorgung der Patienten mit qualitativ hochwertiger CBT besondere Bedeutung zukommt.
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Manuskript eingereicht: 23.12.2015 Nach Revision angenommen: 05.04.2016 Interessenkonflikt: Nein Artikel online: 13.06.16 PD Dr. Timo D. Vloet Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters Universitätsklinikum der RWTH Neuenhofer Weg 21 52074 Aachen Deutschland tvloet@ukaachen.de
CME-Fragen 1. Frage: Welche Aussage trifft nicht zu? a. Serotonin-Wiederaufnahmehemmer stellen die medikamentöse Therapie der Wahl für die kindliche Zwangsstörung dar. b. Metaanalysen zeigen im Vergleich zu Placebo mittlere bis hohe Effektstärken (um 0.5). c. Sertralin ist in Deutschland für Zwangsstörungen bei Kindern und Jugendlichen nur ab dem 16. Lebensjahr zugelassen. d. Fluvoxamin ist in Deutschland zur Behandlung der Zwangsstörung bei Kindern und Jugendlichen ab dem 8. Lebensjahr zugelassen. e. Es gibt Hinweise darauf, dass Clomipramin den selektiven SSRI überlegen ist, allerdings scheint Clomipramin häufiger unerwünschte Wirkungen zu verursachen. 2. Frage: Welche Aussage zur Behandlungsresistenz und Augmentation bei Zwangsstörungen trifft nicht zu? a. Kindliche Patienten mit Zwangsstörungen profitieren oft nicht oder zumindest nicht ausreichend von einer Behandlung mit kognitiv-behavioraler Therapie und SSRI. b. Das gleichzeitige Bestehen einer Tic-Symptomatik scheint das Ansprechen auf eine SSRI-Behandlung bei Zwangsstörungen deutlich zu verringern. c. Augmentationsstrategien sehen u. a. die Kombination zweier SSRI bzw. eines SSRI und Clomipramin vor. d. Für die Kombination eines SSRI mit niedrig dosierten Neuroleptika besteht für das Erwachsenenalter eine sehr robuste Datenlage. e. Leider liegen keine systematisch erhobenen Befunde zur Augmentation mit Neuroleptika im Kindes- und Jugendalter vor. © 2016 Hogrefe
3. Frage: Welche Aussage zur Behandlung Tic-verwandter Zwangsstörungen trifft nicht zu? a. Im DSM-5 wurde die „Tic-verwandte Zwangsstörung“ als neuer Subtyp eingeführt. b. Es wird angenommen, dass diese Patienten schwieriger zu behandeln sind als Patienten mit „reiner“ Zwangsstörung. c. Von einer Augmentation mit einem niedrig dosierten Neuroleptikum scheinen diese Patienten z. T. zu profitieren. d. Unter anderem wird empfohlen, die kognitiv-behaviorale Therapie bei diesen Patienten speziell anzupassen (u. a. längere Behandlung, Durchführung von Entspannungstechniken). e. Tic-verwandte Zwangsstörungen kommen typischerweise nur bei Erwachsenen vor. 4. Frage: Welche Aussage trifft nicht zu? a. In den letzten Jahren wird vermehrt untersucht, ob auch Glutamat eine zentrale Rolle bei der Entstehung von repetitivem Verhalten hat. b. Die Aminosäure Glutamat ist ein exzitatorischer Neurotransmitter. c. Bei behandlungsnaiven Erwachsenen mit Zwangsstörungen konnten erhöhte Glutamatspiegel nachgewiesen werden. d. Riluzol ist ein sogenannter „glutaminerger Modulator“. e. Riluzol ist für die Behandlung von Zwangserkrankungen im Kindes- und Erwachsenenalter zugelassen. 5. Frage: Welche Aussage trifft nicht zu? a. Ketamin ist ein hochaffiner, nichtkompetitiver NMDARezeptorantagonist. b. Ketamin ist als Anästhetikum im Kindesalter zugelassen.
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c. Zur Behandlung therapierefraktärer Zwangsstörungen liegen zahlreiche Studien vor, die einen dauerhaften positiven Effekt nach intravenöser Gabe von Ketamin zeigen. d. Im Erwachsenenalter wird Ketamin auch bei der therapieresistenten Depression eingesetzt. e. Ketamin ist für die Behandlung der kindlichen Zwangsstörung nicht zugelassen. 6. Frage: Welche Aussage zur kognitiven Verhaltenstherapie trifft nicht zu? a. Metaanalysen zeigen, dass die kognitive Verhaltenstherapie für Kinder und Jugendliche mit Zwangsstörungen wirksam ist.
Um Ihr CME-Zertifikat zu erhalten (min. 3 richtige Antworten), schicken Sie bitte den ausgefüllten Fragebogen mit einem frankierten Rückumschlag bis zum 27.02.2017 an die nebenstehende Adresse. Später eintreffende Antworten können nicht mehr berücksichtigt werden.
b. In den meisten Studien wurden Remissionsraten zwischen 40 und 60 % gefunden. c. Zum Teil liegen vermeidbare Behandlungsfehler vor, die therapeutische Misserfolge verursachen und zu scheinbar „behandlungsresistenten“ Zwangsstörungen führen können. d. Insbesondere das Unterdrücken von Zwangsgedanken hat sich als sehr effektive Intervention gezeigt. e. Neue Ansätze zur Behandlung der Zwangsstörung bedienen sich u. a. der Metakognitiven Therapie.
Daniela Pingel LWL-Universitätsklinik Hamm der Ruhr-Universität Bochum Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik Heithofer Allee 64 59071 Hamm, Deutschland
Fortbildungszertifikat Die Ärztekammer Niedersachsen erkennt hiermit 2 Fortbildungspunkte an. Stempel Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie 01/2017
Neue Entwicklungen bei der psychotherapeutischen und pharmakologischen Behandlung der Zwangsstörung im Kindes- und Jugendalter Die Antworten bitte deutlich ankreuzen! 1
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Ich versichere, alle Fragen ohne fremde Hilfe beantwortet zu haben.
Name Berufsbezeichnung, Titel Straße, Nr. Datum
Unterschrift
PLZ, Ort
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Originalarbeit
Entwicklung elterlicher Verhaltensbeurteilung vom Kindergarten bis zum zweiten Schuljahr bei Kindern in Abhängigkeit ihrer Leseleistungen: Erste Ergebnisse einer Longitudinalstudie Josefine Horbach1 und Thomas Günther1,2 1
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Lehr- und Forschungsgebiet Klinische Neuropsychologie des Kindes- und Jugendalters, Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters, Uniklinik RWTH Aachen Faculty of Health, Zuyd University, Heerlen
Zusammenfassung: Fragestellung: Der Verlauf von Lesestörungen wird durch häufig auftretende komorbide Verhaltensstörungen negativ beeinflusst. Querschnittstudien belegen diesen überzufälligen Zusammenhang zwischen Verhaltensproblemen und Teilleistungsstörungen. Bisher befassten sich wenige Studien mit der Veränderung des Verhaltens in Abhängigkeit mit der Leseentwicklung. Die vorliegende Longitudinalstudie geht der Frage nach, ob und in welcher Weise sich die Verhaltensbeurteilung von Kindern im Elternurteil (CBCL) vom Vorschulalter bis zum Ende der zweiten Klasse abhängig von den Leseleistungen der Kinder verändert. Methodik: Die Leseleistungen von 241 Kindern wurden vom Vorschulalter bis zur zweiten Klasse jährlich untersucht. Parallel beurteilten die Eltern mittels CBCL das Verhalten der Kinder. Ergebnisse: Varianzanalysen mit Messwiederholung zeigten, dass schwache Leser besonders in der ersten Klasse im Gesamtproblemwert der CBCL sowie im externalisierenden Verhalten auffälliger bewertet wurden als im Kindergarten. Im Vorschulalter unterschieden sich die später schwachen von guten Leser in externalisierenden und internalisierenden Symptomen noch nicht, jedoch wiesen sie mehr Aufmerksamkeitsprobleme auf. In der ersten und zweiten Klasse zeigten schwache Leser insgesamt mehr Verhaltensauffälligkeiten als gute Leser. Auch der Anteil der Kinder mit klinisch bedeutsamen Verhaltensauffälligkeiten nahm in der Gruppe der schwachen Leser in der Schulzeit zu. Schlussfolgerung: Diese Ergebnisse weisen darauf hin, dass die Konfrontation mit den Leistungsanforderungen in der Schule für die Kinder eine besondere Belastung darstellt. Schlüsselwörter: Externalisierende Störungen, internalisierende Störungen, Lesestörungen, Child Behavior Checklist, Aufmerksamkeitsauffälligkeiten
Development of parent’s judgment of behavioral problems from kindergarten to second grade in children dependent on their reading performance: First results of a longitudinal study Abstract: The development of reading disorders is complicated by frequently occurring comorbid behavioral disorders. Studies have shown this relation between behavior problems and learning disabilities but the causal relation is unclear so far. The present study investigates whether and in what way parents’ judgment (CBCL) of behavioral problems of children change from kindergarten to the end of second grade depending on children’s reading performance. Reading performance of 241 children was assessed every year from kindergarten to second grade. Parents judged children’s behavioral problems on CBCL. Variance analyses showed that poor readers are judged higher on the CBCL problem score and on externalizing behavior in first grade in comparison to kindergarten. In kindergarten, those children who were later classified as poor readers did not differ in externalizing and internalizing symptoms from good readers, but they had more attention problems. In first and second grade poor readers showed overall more behavior problems than good readers. Also the proportion of children with clinical relevant behavior disorders increased in the group of weak readers during first and second grade. The results indicate that the confrontation with performance requirements in school put a high burden on the children. Keywords: Dyslexia; externalizing disorders; internalizing disorders; Child Behavior Checklist; attention deficit
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Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie (2017), 45 (1), 23–33 DOI 10.1024/1422-4917/a000447
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J. Horbach und T. Günther, Verhaltensentwicklung bei guten und schwachen Lesern
Hintergrund Die Lese- und/oder Rechtschreibstörung gehört mit einer Prävalenz von etwa 3 % bis 8 % (Landerl & Moll, 2010; Moll, Kunze, Neuhoff, Bruder & Schulte-Körne, 2014) zu den umschriebenen Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten (ICD-10). Die Beeinträchtigung im Leselernprozess, die sich nicht durch Minderbegabung, Sehprobleme oder schlechten Unterricht erklären lässt, besteht, wenn eine deutliche Diskrepanz zwischen den Leseleistungen und dem intellektuellen Niveau liegt. Lesestörungen persistieren bis ins Erwachsenenalter und ihr Verlauf wird durch häufig auftretende komorbide Verhaltensstörungen noch erschwert (Esser, Wyschkon & Schmidt, 2002; Landerl & Wimmer, 2008). Dies bedeutet für Betroffene oft substanzielle Einschränkungen für akademische Karriere, Ausbildung und Berufschancen (SchulteKörne & Remschmidt, 2006). Bei einer Verhaltensstörung muss zusätzlich zum Vorliegen von Symptomen ein deutliches Leiden sowie eine klinisch bedeutsame Beeinträchtigung in der sozialen, schulischen oder beruflichen Funktionsfähigkeit vorliegen (Lehmkuhl, Poustka, Holtmann & Steiner, 2013). Kategoriale Ansätze vergeben in dichotomer Weise nach definierten Kriterien Diagnosen, die klar voneinander abgrenzbar sind. Nach einem solchen Klassifikationssystem, der ICD-10, können Aufmerksamkeitsstörungen, Störungen des Sozialverhaltens sowie emotionale Störungen unterschieden werden. Von den emotionalen Störungen tritt die Angststörung mit einer Prävalenz zwischen 9 % und 24 % am häufigsten zusammen mit der Lese- und/oder Rechtschreibstörung auf (Carroll, Maughan, Goodman & Meltzer, 2005; Goldston et al., 2007; Willcutt & Pennington, 2000). Zwischen 4 % und 14 % der Kinder mit LRS leiden zusätzlich an einer Depression (Bäcker & Neuhäuser, 2003; Carroll et al., 2005; Goldston et al., 2007). Die Prävalenz für eine Störung des Sozialverhaltens in Kombination mit LRS liegt bei 5 % bis 14 % (Bäcker & Neuhäuser, 2003; Carroll et al., 2005). Besonders die hohe Komorbidität zwischen Lese- und Aufmerksamkeitsstörung ist gut untersucht (Menghini et al., 2010; Ruland, Willmes & Günther, 2012; Willcutt et al., 2010; Willcutt, Pennington, Olson & DeFries, 2007). Die Prävalenzraten für das gemeinsame Auftreten der beiden Störungen liegt je nach Störungsdefinition zwischen 8.7 % und 40 % (Bäcker & Neuhäuser, 2003; Goldston et al., 2007; Sexton, Gelhorn, Bell & Classi, 2012; Willcutt et al., 2007; Willcutt & Pennington, 2000). Aus neuropsychologischer Sicht werden für beide Störungen charakteristische kognitive Defizite, v. a. ein Defizit in der Verarbeitungsgeschwindigkeit (Shanahan et al., 2006; Willcutt, Pennington, Olson, Chhabildas & Hulslander, 2005) beschrieben. Bildgebungsstudien weisen auf gemeinsame
biologische Prozesse beider Störungen hin. In beiden Störungsgruppen konnten einige ähnliche strukturelle/funktionelle Veränderungen, wie geringeres zerebellares Volumen, Dysfunktion in temporalen Regionen sowie striatale Dysfunktionen, nachgewiesen werden (für einen Überblick s. Germanò, Gagliano & Curatolo, 2010). Es wird vermutet, dass die hohe Komorbidität von Lese- und Aufmerksamkeitsstörung auf gemeinsame genetische Faktoren zurückzuführen ist (Plourde et al., 2015). Der kategorialen Klassifikation stehen dimensionale Ansätze gegenüber, denen die Annahme zugrunde liegt, dass psychische Merkmale kontinuierlich verteilt sind. Bei Verhaltensproblemen werden die beiden übergeordneten Störungsdimensionen internalisierende (ängstliche, depressive, rückzügliche Symptome) und externalisierende Verhaltensprobleme (aggressives, delinquentes Verhalten) unterschieden (Achenbach & Edelbrock, 1984; FröhlichGildhoff, 2007). Für beide Dimensionen finden sich Zusammenhänge zu Lesestörungen. Eine Metaanalyse von Hinshaw (1992) beleuchtete die Beziehung zwischen externalisierenden Verhaltensstörungen und schulischer Minderleistung. In der Kindheit zeigte sich ein stärkerer Zusammenhang zwischen Unaufmerksamkeit und Hyperaktivität und schulischer Minderleistung, während in der Adoleszenz besonders aggressives und antisoziales Verhalten mit akademischen Schwierigkeiten korrelierte. Die Ergebnisse einer Zwillingsstudie zeigten, dass externalisierende Verhaltensauffälligkeiten bei Zwillingspaaren mit und ohne Lesestörung durch gemeinsame familiäre Faktoren erklärt werden konnten, während die Entwicklung von internalisierenden Symptomen spezifisch nur den Zwilling mit Lesestörung betraf (Willcutt & Pennington, 2000). Eine finnische Längsschnittstudie ergab, dass Probleme in der Leseentwicklung während der Vorschule und ersten Klasse wachsende internalisierende Symptome vorhersagten, während in der zweiten Klasse externalisierende Auffälligkeiten stärker mit Leseproblemen assoziiert waren (Halonen, Aunola, Ahonen & Nurmi, 2006). Ob ein stärkerer Zusammenhang von Teilleistungsstörungen zu internalisierenden oder externalisierenden Auffälligkeiten gefunden wird, mag nicht nur vom Zeitpunkt der Untersuchung, sondern auch von der Beurteilerperspektive abhängen. So berichteten Eltern von Kindern mit Lesestörung mehr internalisierende Verhaltensprobleme, wohingegen Lehrer bei den selben Kindern externalisierende Symptome auffälliger beurteilten (Dahle & Knivsberg, 2013). Im Allgemeinen scheinen Fremdbeurteilungen (Eltern oder Lehrer) und Selbstbeurteilungen bezüglich externalisierender Auffälligkeiten zumindest moderat übereinzustimmen, wohingegen internalisierende Verhaltensweisen im Fremdurteil im Gegensatz zum Selbsturteil unterschätzt werden (Lehmkuhl et al., 2013; Salbach-Andrae, Klinkowski, Lenz & Lehmkuhl, 2009).
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J. Horbach und T. Günther, Verhaltensentwicklung bei guten und schwachen Lesern
Es scheint unerheblich für die Assoziation mit Verhaltensstörungen, an welcher Art Teilleistungsstörung (Dyskalkulie oder Dyslexie) die Kinder leiden (Kohn & Wyschkon, 2013). Allerdings zeigten Kinder mit kombinierten Lernstörungen in der Studie von Fischbach, Schuchardt, Mähler und Hasselhorn (2010) mehr sozial-emotionale Auffälligkeiten, mehr Aufmerksamkeitsprobleme sowie ein ausgeprägteres externalisierendes Problemverhalten und mehr soziale Schwierigkeiten als Kinder mit nur einer Teilleistungsstörung. Die aufgeführten Studien belegen einen überzufälligen Zusammenhang zwischen Verhaltensproblemen und Teilleistungsstörungen. Unidirektionale Hypothesen gehen eher davon aus, dass Verhaltensauffälligkeiten durch schulische Minderleistungen verursacht werden. Weniger Belege finden sich für die umgekehrte Verursachung (Hinshaw, 1992). So ergab eine Metaanalyse von sechs Längsschnittstudien, dass internalisierende sowie externalisierende Probleme gemessen beim Schuleintritt spätere akademische Leistungen nicht vorhersagten (Duncan et al., 2006). Einige Studien fanden Hinweise auf eine wechselseitige Einflussnahme beider Bereiche. Einer epidemiologischen Studie zufolge sagten die Leseleistungen von Kindern alle untersuchten Verhaltensprobleme (externalisierende, internalisierende Störungen, Selbstkontrolle und Leistungsmotivation) voraus. Umgekehrt konnte nur die Leistungsmotivation eine spätere Leseschwäche vorhersagen (Morgan, Farkas, Tufis & Sperling, 2008). Dieses Ergebnis spricht zwar dafür, dass zu einem gewissen Grad eine bidirektionale Beeinflussung gegeben ist, die Richtung der Verursachung aber im Allgemeinen eher von schulischem Versagen zu Verhaltensstörungen weist. Weitere Studien finden die Erklärung für die Assoziation zwischen Verhaltensauffälligkeiten und schulischen Minderleistungen durch beiden Bereichen zugrunde liegende dritte Faktoren, wie z. B. sprachliche Fähigkeiten (Petersen et al., 2013), geringe Arbeitsgedächtnisleistungen (Alloway, Gathercole & Elliott, 2009) oder familiäre Einflussfaktoren (Klicpera & Schabmann, 1993). Eine Studie für den deutschsprachigen Raum, die sich mit der Wechselwirkung von Vorläuferfähigkeiten des Schriftspracherwerbs und Verhaltensauffälligkeiten befasste, ergab, dass Vorschulkinder mit schwächerer phonologischer Bewusstheit bereits vorschulisch mehr Verhaltensauffälligkeiten zeigten als Kinder mit höheren Werten in der phonologischen Bewusstheit (Fröhlich, Koglin & Petermann, 2010). Da diese Studie kein längsschnittliches Design aufwies, kann die Vermutung der Autoren, dass Verhaltensstörungen bei Kindern mit späterer Lese-Rechtschreibstörung schon vorschulisch beobachtbar sind, nicht als gesichert angenommen werden. Eine der wenigen Längsschnittstudien zu dem hier interessierenden Zusammenhang interpretierte ihr Ergebnis, dass rückzügliches © 2016 Hogrefe
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Verhalten und Viktimisierung bei schwachen Lesern über die Zeit deutlich zunahm, so, dass der größere Impuls für das Zusammenwirken von Leistungs- und Verhaltensproblemen von den schulischen Leistungsproblemen ausgehe (Gasteiger-Klicpera, Klicpera & Schabmann, 2006). Interaktionistische, bio-psycho-soziale Entwicklungsmodelle sehen die Entwicklung von Verhaltensstörungen als einen komplexen Prozess von Wechselwirkungen und Rückkopplungsschleifen zwischen biologischen, psychologischen und sozialen Faktoren (Herpertz-Dahlmann, Resch, Schulte-Markwort & Warnke, 2003; Lehmkuhl et al., 2013). Ein ungünstiges Zusammenwirken von bestimmten Risikofaktoren und vulnerablen Entwicklungsphasen kann demnach maßgeblich für die Entwicklung von Verhaltensstörungen sein. So ist der Übergang vom Kindergarten in die Schule eine solch vulnerable Phase, in der Risikofaktoren wie Ablehnung durch Mitschüler oder schulische Leistungsprobleme Auslöser von Verhaltensproblemen sein können (Beelmann & Raabe, 2007; Hens, 2009). Die vorliegende Studie geht deshalb der Frage nach, ob und in welcher Weise sich das Verhalten von Kindern, gemessen durch die Verhaltensbeurteilung im Elternurteil (CBCL), vom Vorschulalter bis zum Ende der zweiten Klasse abhängig von ihren Leseleistungen longitudinal verändert. In vielen Untersuchungen, so auch in der vorliegenden Studie, wird als Variable für schulische Minderleistung die Leseleistung herangezogen, weil sie zum einen für die Teilhabe an der Gesellschaft essenziell ist und sich eine schlechte Lesefähigkeit zum anderen nahezu auf alle weiteren Schulleistungen erschwerend auswirkt. Vor dem Hintergrund der bisherigen Befunde sowie der modelltheoretischen Vorstellung wird erwartet, dass Kinder mit schwachen Leseleistungen (Risikofaktor) am vulnerablen Übergang vom Kindergarten in die Schule mehr Verhaltensprobleme zeigen als Kinder mit guten Leseleistungen.
Methode Stichprobe und Untersuchungsdurchführung Die hier vorgestellten Daten sind Teil eines umfangreichen, von der DFG geförderten Projektes (GU-1177/1-1), das sich mit der Prädiktion von Leseentwicklung beschäftigt. Im Rahmen dieser Längsschnittuntersuchung wurden monolingual deutsch aufwachsende Vorschulkinder über 160 Kindertagesstätten der Städteregion Aachen rekrutiert. Dazu erhielten alle Familien mit Vorschulkindern Informationsmaterial über die Studie durch ihre Kita. 530 interes-
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J. Horbach und T. Günther, Verhaltensentwicklung bei guten und schwachen Lesern
sierte Eltern haben sich mittels erhaltenem Fragebogen zurückgemeldet. Davon wurden mehrsprachige Kinder sowie Kinder mit chronischen Erkrankungen ausgeschlossen. Alle anderen Kinder wurden zu individuellen Untersuchungen in der Uniklinik RWTH Aachen eingeladen. Die Kinder wurden zu jedem Untersuchungszeitpunkt individuell mit verschiedenen standardisierten und experimentellen kognitiven Tests untersucht. Zusätzlich wurde von den Eltern eine Einschätzung des Verhaltens ihres Kindes erhoben. An der ersten Untersuchung (T0) im letzten Kindergartenhalbjahr nahmen 292 Kinder (166 männlich) teil. Ein Jahr später, Ende der ersten Klasse (T1), wurden 264 Kinder nachuntersucht. Hauptgründe für den Drop-out von 10 % waren Umzug oder Nichterreichbarkeit der Familien. Im darauffolgenden Jahr, Ende zweite Klasse (T2), konnten bei einem weiteren Drop-out von 9 % noch Daten von 241 Kindern erhoben werden. Der Gesamt-Drop-out von T0 zu T2 betrug 17 %. Die durch den Drop-out verlorenen Kinder unterschieden sich von den eingeschlossenen Probanden hinsichtlich ihrer Verhaltensbeurteilungen (CBCL) nicht signifikant. Allerdings wies die Gruppe der eingeschlossenen Kinder einen höheren IQ , ermittelt durch die CPM (Bulheller & Häcker, 2002), auf (M = 105.28, SD = 13.2) als die Drop-out-Gruppe (M = 98.44, SD = 12.34; t(291) = 2.57, p = .01) und konnte bereits mehr Buchstaben lesen (M = 13.15, SD = 8.41 vs. M = 7.1, SD = 6.55; t(291) = 3.87, p < .001).
Untersuchungsinstrumente Verhaltensbeurteilung: Zu allen drei Zeitpunkten wurde eine Elternbefragung mittels identischer Fassung der Child Behavior Checklist 4–18 (CBCL; Döpfner et al., 1988) durchgeführt. Die CBCL besteht aus Kompetenz- und Problemitems. Für die vorliegende Studie sind die 120 Problemitems relevant. Diese werden in acht Syndromskalen unterteilt, die wiederum zwei übergeordneten Skalen zugeordnet sind. Die internalisierenden Auffälligkeiten enthalten die Syndromskalen „sozialer Rückzug“, „körperliche Beschwerden“ und „ängstlich/depressiv“. Die externalisierenden Auffälligkeiten werden aus den Skalen „dissoziales Verhalten“ und „aggressives Verhalten“ zusammengesetzt. Die Syndromskalen „Aufmerksamkeitsprobleme“, „soziale Probleme“ und „schizoid/zwanghaft“ sind keiner übergeordneten Skala zugeordnet. Pro Item werden Antworten von 0 = nie zutreffend über 1 = manchmal zutreffend bis 2 = genau/häufig zutreffend vergeben. Durch die Summe der Antworten aller Items wird zusätzlich zu den differenzierten Skalen ein Gesamtscore gebildet. Altersnormen werden getrennt für Jungen und Mädchen ermittelt. Als klinisch auffällig werden in den acht Subskalen der CBCL Ausprägungen mit einem T-Wert ≥ 70 einge-
schätzt. Die übergeordneten Skalen Gesamtproblemwert, internalisierendes und externalisierendes Verhalten werden ab einem T-Wert von ≥ 63 als klinisch auffällig eingestuft (Ziegert, Neuss, Herpertz-Dahlmann & Kruse, 2002). Leseleistungen: Da die Kinder zu T0 noch nicht lesen konnten, wurde der stärkste Prädiktor späterer Leseleistungen, das frühe Schriftwissen, anhand der Buchstabenkenntnis erfasst (für einen Überblick vgl. Hammill, 2004). Den Kindern wurde eine Tafel mit allen 26 Graphemen des Alphabets vorgelegt. Als Score wird die Anzahl der korrekt bezeichneten Buchstaben verwendet. Zu T1 und T2 wurde mittels SLRT-II (Salzburger Leseund Rechtschreibtest; Moll & Landerl, 2010) die Lesegeschwindigkeit sowie -genauigkeit beim Lesen von Wörtern und Pseudowörtern erfasst. Die Kinder hatten die Aufgabe, innerhalb einer Minute so viele Wörter (bzw. Pseudowörter) wie möglich zu lesen. Die Anzahl der gelesenen Items pro Minute bildete den Score. Das Lesesinnverständnis wurde mittels ELFE 1–6 (Ein Leseverständnistest für Erst- bis Sechstklässler; Lenhard & Schneider, 2006) untersucht. Der Test bietet die Überprüfung auf Wort-, Satz- und Textebene. Im Wortverständnisteil werden einem Bild vier Wortalternativen gegenübergestellt, die graphemisch und phonemisch dem Zielwort möglichst ähnlich sind. Die Aufgabenform zur Erfassung des Leseverständnisses auf Satzniveau besteht darin, für einen dargebotenen Satz die passende Auswahlalternative zu finden, wobei es sich bei den Alternativen um Wörter oder kurze Satzteile handelt. Die Auswahlalternativen gehören derselben Wortart an und ähneln sich ebenso graphemisch und phonemisch. Der dritte Untertest, die Überprüfung des Leseverständnisses auf Textniveau, wurde nur in der zweiten Klasse durchgeführt, da in eigenen Pilotuntersuchungen mit Erstklässlern festgestellt wurde, dass diese aufgrund des langsamen Lesetempos noch nicht in der Lage sind, mehr als ein bis zwei Aufgaben zu lesen. Scores ergaben sich aus der Summe der gelösten Aufgaben pro Untertest. Für die zweite Klasse konnte zusätzlich ein Gesamtscore aus kumulierten zWerten der Untertests gebildet werden.
Bildung von Leseleistungsgruppen Zu T2 wurden alle erhobenen Rohwerte der Leseleistungen in z-Werte transformiert und zu einem Gesamtlesescore gemittelt. Als schwache Leser wurden Kinder definiert, die einen z-Wert unter –1 erreichten, als durchschnittlich bis gute Leser Kinder, die einen z-Wert > –0.5 erzielten (vgl. Gasteiger-Klicpera et al., 2006). Da die Verhaltensentwicklung retrospektiv betrachtet werden sollte, erschien es sinn-
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voll, die Einteilung in der zweiten Klasse vorzunehmen. Nach dieser Einteilung wurden 35 Kinder (24 männlich) als schwache Leser und 171 Kinder (90 männlich) als mindestens durchschnittliche Leser (zur einfacheren Lesbarkeit im Folgenden als „gute Leser“ bezeichnet) klassifiziert. Die schwachen Leser unterschieden sich von den guten Lesern hinsichtlich ihres Alters nicht (t(204) = .165, p = .869). Kinder mit einen z-Wert zwischen –1 und –0.5 erfüllten weder die Kriterien für eine Leseauffälligkeit noch erzielten sie durchschnittliche Leseleistungen und wurden daher von den Analysen ausgeschlossen (n = 35).
Datenauswertung Die Berechnungen erfolgten mit IBM SPSS Statistics 22. Zunächst wurden bivariate Zusammenhänge zwischen den Leseleistungen zu den einzelnen Zeitpunkten sowie den Verhaltenseinschätzungen pro Zeitpunkt über die Gesamtstichprobe (N = 241) berechnet, um die Stabilität der beiden Bereiche über die drei Zeitpunkte festzustellen. Danach wurde der bivariate Zusammenhang zwischen Leseleistungen und Verhaltensbeurteilung pro Zeitpunkt bestimmt. Um die Entwicklung der Verhaltensbeurteilung vom Vorschulalter bis zur zweiten Klasse von schwachen und guten Lesern zu untersuchen, wurden Varianzanalysen mit Messwiederholung durchgeführt. Aufgrund ungleicher Kovarianz der Gruppen (Box’ M-Test p = .036) wurden die Analysen für beide Gruppe separat berechnet. Der Vergleich beider Leseleistungsgruppen pro Zeitpunkt in ihrer Verhaltensbeurteilung wurde mittels Zweistichproben-t-Tests für unabhängige Stichproben durchgeführt. Um auch kleine Effekte nicht zu übersehen, wurde auf eine Korrektur für multiples Testen verzichtet. Abschließend wurden die prozentualen Anteile von Kindern mit klinisch relevanten Auffälligkeiten in der Verhaltensbeurteilung pro Leseleistungsgruppe und Zeitpunkt bestimmt.
27
Klasse (T1 und T2) korrelierten die jeweiligen Leseleistungen (Geschwindigkeit und Verständnis) mit rSLRT = .833, p < .001 bzw. rELFE = .825, p < .001 sehr stark miteinander. Die Buchstabenkenntnis (M = 12.51, SD = 8.43) gemessen im Vorschulalter (T0) hing bedeutsam mit der Lesegeschwindigkeit in der ersten Klasse für Wörter (r = .544, p < .001), für Pseudowörter (r = .460, p < .001) und dem Leseverständnis für Wörter (r = .617, p < .001) und Sätze (r = .597, p < .001) zusammen. Auch die Verhaltensbeurteilung der gesamten Gruppe blieb über die drei Zeitpunkte recht stabil. Ein Vergleich der Korrelationskoeffizienten mittels Fishers z-Transformation (Tab. 1) zeigte für alle Skalen stärkere Zusammenhänge innerhalb der Schulzeit (zwischen T1 und T2) als zwischen dem Übergang vom Kindergarten in die Schule (T0 und T1). Wie erwartet sind die geringsten Zusammenhänge zwischen T0 und T2 zu finden (rGes = .557, rint = .423, rext = .507, rSP = .475, rSZ = .277, rAP = .627). Im Vorschulalter (T0) konnten keine signifikanten Zusammenhänge zwischen dem frühen Schriftwissen und den Verhaltensbeurteilungen festgestellt werden. Auch Aufmerksamkeitsprobleme korrelierten zu diesem Zeitpunkt nicht signifikant mit dem frühen Schriftwissen. In der ersten und zweiten Klasse zeigten sich einige Zusammenhänge zwischen den Leseleistungen und dem bewerteten Verhalten, die eher schwach waren. In der ersten Klasse wurden signifikante Korrelationen zwischen der Wortlesegeschwindigkeit und dem CBCLGesamtwert (r = –.144, p = .021), den Subskalen soziale Probleme (r = –.207, p < .001) und Aufmerksamkeitsprobleme (r = –.239, p < .001) festgestellt. Vergleichbare Zusammenhänge zeigten sich zwischen Leseverständnisleistungen und dem CBCL-Gesamtwert (r = –.129, p = .038), den Subskalen soziale Probleme (r = –.214, p = .001) und Aufmerksamkeitsprobleme (r = –.235, p < .001). In der zweiten Klasse fanden sich signifikante Zusammenhänge zwischen den Leseleistungen (hier Gesamtwert des Lese-
Tabelle 1. Vergleich der Korrelationskoeffizienten der Verhaltensbeurteilung zwischen den Messzeitpunkten bei der Gesamtstichprobe.
Ergebnisse Korrelative Zusammenhänge der Leseleistungen und der elterlichen Verhaltensbeurteilung in der Gesamtstichprobe Wie erwartet blieben die Leseleistungen über die verschiedenen Zeitpunkte stabil. Von der ersten zur zweiten © 2016 Hogrefe
CBCL-Skalen
T0 & T1
T1 & T2
z
p
Gesamtscore
.746
.824
-2.324
.01
internalisierend
.578
.683
-2.057
.02
externalisierend
.677
.784
-2.708
.003
soziale Probleme
.619
.742
-2.795
.003
schizoid/zwanghaft
.412
.725
-5.717
< .001
Aufmerksamkeitsprobleme
.733
.821
-3.036
.001
Anmerkung. z = Fishers-z.
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verständnisses) und dem CBCL-Gesamtwert (r = –.174, p = .007), den externalisierenden Auffälligkeiten (r = –.142, p = .028) und den Subskalen soziale Probleme (r = –.263, p < .001) und Aufmerksamkeitsprobleme (r = –.285, p < .001).
schwachen Schüler. Die Leistungsdiskrepanz spiegelte sich ebenso deutlich in den Leseverständnisleistungen wider (ELFEWort: t(99.15) = 15.624, p < .001; ELFESatz: t(65.08) = 17.355, p < .001). Eine ANOVA mit Messwiederholung zeigte, dass die Verhaltensentwicklung beurteilt durch den Gesamtscore der CBCL für die Gruppe der guten Leser über die drei Zeitpunkte stabil blieb (F(1,52) = .707, p = .457). Für schwache Leser war der Haupteffekt für den Faktor Zeit (F(2) = 3.038, p = .055) knapp nicht signifikant. Ein signifikanter quadratischer Innersubjektkontrast (ISKqua) zeigte, dass das Verhalten der schwachen Leser besonders nach dem Übergang vom Kindergarten in die Schule auffälliger beurteilt wurde als zu den beiden Zeitpunkten T0 und T2 (F(1,32) = 5.056, p = .013) (Abb. 1). Vergleichbare Muster zeigten sich auch für die Skalen externalisierendes Verhalten (ISKqua: F(1,32) = 5.056, p = .032), Aufmerksamkeitsprobleme (ISKqua: F(1,32) = 9.06, p = .005) und soziale Probleme (ISKqua: F(1,32) = 7.618, p = .009). Für die Skalen internalisierendes Verhalten und schizoid/zwanghaft wurden keine signifikanten Änderungen der Verhaltensbeurteilung über die drei Zeitpunkte gefunden.
Entwicklung von Kindern mit unterschiedlichen Leseleistungen am Ende der zweiten Klasse Ein Vergleich der Leseleistungen der Kinder, die zu T2 als schwache bzw. mindestens durchschnittliche Leser klassifiziert wurden, zeigte, dass sich die Diskrepanz im Lesen auch bereits im ersten Schuljahr sowie im Kindergarten bestätigt (vgl. Tab. 2 für deskriptive Daten). Die später guten Leser konnten bereits im Kindergartenalter doppelt so viele Buchstaben benennen wie die später schwachen Leser (t(70.06) = 6.862, p < .001). Im ersten Schuljahr lasen die später guten Leser deutlich mehr Wörter (t(190.60) = 17.809, p < .001) und Pseudowörter (t(199) = 10.625, p < .001) innerhalb einer Minute als die später
Tabelle 2. Leseleistungen und Verhaltensbeurteilungen zu allen drei Messzeitpunkten im Vergleich zwischen schwachen und guten Lesern. Vorschule (T0) schwache Leser
erste Klasse (T1)
gute Leser
gute Leser
schwache Leser
gute Leser
p
M
SD
M
SD
p
M
SD
M
SD
p
< .001
–
–
–
–
–
–
–
–
–
–
SD
7.49
5.55
SLRT W
–
–
–
–
–
7.06
3.93
32.03
15.86
< .001
17.40
7.39
58.23
16.79
< .001
SLRT P
–
–
–
–
–
10.91
4.97
25.48
7.56
< .001
17.20
4.44
35.57
8.05
< .001
ELFE W
–
–
–
–
–
7.24
4.12
22.65
8.77
< .001
18.77
5.59
38.56
8.62
< .001
ELFE S
–
–
–
–
–
1.45
1.35
8.92
4.67
< .001
5.51
2.53
17.14
3.94
< .001
ELFE T
–
–
–
–
–
–
–
–
–
–
2.94
1.55
11.80
3.81
< .001
ELFE Ges
–
–
–
–
–
–
–
–
–
–
–4.22
1.15
1.92
1.90
< .001
CBCL Ges.
21.54
14.43
17.50
15.44
.155
25.09
20.13
17.90
15.87
.024
22.94
17.48
16.65
16.41
.042
CBCL int.
4.31
4.13
4.20
5.72
.914
5.36
5.66
4.66
4.83
.459
5.20
5.38
4.35
4.97
.363
CBCL ext.
8.77
6.12
7.31
6.96
.250
10.00
7.67
7.27
6.75
.039
9.06
7.58
6.52
6.92
.054
CBCL SP
1.00
1.61
.61
1.20
.099
1.67
2.43
.67
1.26
.028
1.34
1.91
.70
1.33
.065
CBCL SZ
.60
.70
.54
1.12
.776
.64
1.14
.48
.93
.393
.89
1.18
.45
.97
.046
CBCL AP
3.06
2.44
1.86
2.22
.005
4.09
3.49
1.93
2.39
.002
3.71
3.08
1.84
2.55
.002
15.29
SD
schwache Leser
M Buchstabenkenntnis
M
zweite Klasse (T2)
8.38
Anmerkungen. SLRT W = Lesegeschwindigkeit und -genauigkeit für Wörter; SLRT P = Lesegeschwindigkeit und -genauigkeit für Pseudowörter; ELFE W = Leseverständnis für Wörter; ELFE S = Leseverständnis für Sätze; ELFE T = Leseverständnis für Texte; ELFE Ges = Leseverständnis Gesamtwert; CBCL = Child Behavior Checklist; Ges. = Gesamtproblemscore; int. = internalisierende Auffälligkeiten; ext. = externalisierende Auffälligkeiten; SP = soziale Probleme; SZ = schizoid/zwanghaft; AP = Aufmerksamkeitsprobleme.
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Abbildung 1. Entwicklung der Verhaltensbeurteilung vom Kindergarten (T0) bis zur zweiten Klasse (T2) bei Kindern mit unterschiedlichen Leseleistungen
Gruppenvergleiche pro Zeitpunkt zeigten, dass sich die später schwachen Leser im Vorschulalter im Gesamtscore der CBCL, den externalisierenden und internalisierenden Verhaltensauffälligkeiten sowie in den Subskalen schizoid/ zwanghaft und soziale Probleme nicht bedeutsam von den später guten Lesern unterschieden. Hingegen zeigten die schwachen Leser bereits im Vorschulalter mehr Aufmerksamkeitssymptome als die guten Leser (t(204) = –2.864, p = .005). In der ersten Klasse hatten die schwachen Leser neben den mehr Aufmerksamkeitsproblemen (t(38.07) = –3.392, p = .002) zudem einen höheren Gesamtscore der CBCL (t(200) = –2.273, p = .024), mehr externalisierende Verhaltensauffälligkeiten (t(200) = –2.077, p = .039) und mehr soziale Probleme (t(35.43) = –2.284, p = .028) als gute Leser. Im internalisierenden Verhalten sowie auf der Skala schizoid/zwanghaft unterschieden sich die Gruppen nicht signifikant (internalisierendes Verhalten: t(200) = –.741, p = .459; schizoid/zwanghaft: t(200) = –.856, p = .393).
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Trotz besserer Verhaltensbeurteilung der schwachen Leser zu T2 als zu T1 unterschied sich die Gruppe auch am Ende des zweiten Schuljahres in einigen Skalen signifikant von guten Lesern. Schwache Leser erzielten wie in der ersten Klasse höhere Werte im Gesamtproblemscore der CBCL (t(203) = –2.044, p = .042) und hatten mehr Aufmerksamkeitsprobleme (t(44.11) = –3.365, p = .002). Die Unterschiede für die Skalen externalisierende Auffälligkeiten (t(203) = –1.941, p = .054), internalisierendes Verhalten (t(203) = –.911, p = .363) und soziale Probleme (t(41.07) = –1.900, p = .065) waren im Vergleich zur ersten Klasse nicht mehr signifikant. Jedoch zeigten die schwachen Leser nun auch deutlich höhere Werte auf der Skala schizoid/ zwanghaft (t(43.84) = –2.058, p = .046).
Verteilung von Verhaltensauffälligkeiten in den Leseleistungsgruppen Der Vergleich der prozentualen Anteile klinisch auffälliger Kinder mittels χ2-Test zeigte bedeutende Unterschiede zwischen schwachen und guten Lesern zu den verschiedenen Zeitpunkten (Tab. 3). In der Gruppe der guten Leser befanden sich zu allen Zeitpunkten zwischen 8 % und 12 % Kinder mit Verhaltensauffälligkeiten, beurteilt nach den übergeordneten Skalen der CBCL Gesamtproblemwert, internalisierendes und externalisierendes Verhalten, d. h., für die Gruppe der guten Leser fanden sich mittels χ2-Test keine signifikanten Unterschiede über die Zeitpunkte hinweg. Im Kindergarten wurden 14.3 % der schwachen Leser in den übergeordneten Skalen als verhaltensauffällig beurteilt. Der Anteil der klinischen Auffälligkeiten nahm in der ersten Klasse weiter zu (Gesamtscore 20 %, externalisierende Auffälligkeiten 17.1 %, internalisierende Auffälligkeiten 17.1 %) und blieb in der zweiten Klasse weitgehend stabil (Gesamtscore 22.9 %, externalisierende Auffälligkeiten 17.1 %, inter-
Tabelle 3. Prozentualer Anteil klinisch auffälliger Kinder in den CBCL-Skalen pro Leseleistungsgruppe und Zeitpunkt. Vorschule (T0) CBCL-Skalen
erste Klasse (T1) schwache Leser
gute Leser
zweite Klasse (T2) schwache Leser
gute Leser
χ2
schwache Leser
gute Leser
p
CBCL Ges.
14.3
9.9
20
11.1
22.9
10.5
.006
CBCL int.
14.3
10.5
17.1
11.7
17.1
11.1
.196
CBCL ext.
14.3
8.2
17.1
12.9
22.9
10.5
.009
CBCL SP
2.9
1.8
8.6
0.6
5.7
1.8
.002
CBCL SZ
2.9
2.9
8.6
2.3
8.6
2.3
.005
CBCL AP
2.9
2.9
11.4
1.8
11.4
4.1
< .001
Anmerkungen. CBCL = Child Behavior Checklist; Ges. = Gesamtproblemscore; int. = internalisierende Auffälligkeiten; ext. = externalisierende Auffälligkeiten; SP = soziale Probleme; SZ = schizoid/zwanghaft; AP = Aufmerksamkeitsprobleme.
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nalisierende Auffälligkeiten 22.9 %). Diese ansteigenden Auffälligkeitsraten waren in der Gruppe der schwachen Leser für die folgenden Skalen signifikant: Gesamtscore (χ2(2) = 6.31, p = .043), externalisierende Auffälligkeiten (χ2(2) = 5.69, p = .05), Unterskala soziale Probleme (χ2(2) = 8.5, p = .014), Unterskala schizoid/zwanghaft (χ2(2) = 7.58, p = .023) und Unterskala Aufmerksamkeitsprobleme (χ2(2) = 12.52, p < .001). Bezüglich der internalisierenden Skala befanden sich zwar numerisch mehr Kinder mit schwachen Leseleistungen im klinisch auffälligen Bereich, statistisch bestand aber kein bedeutender Unterschied zur Gruppe der guten Leser (χ2(2) = 1.8, p = .407).
Diskussion Ziel der vorliegenden Längsschnittstudie war es, die von Eltern beurteilte Verhaltensentwicklung bei Kindern vom Vorschulalter bis zur zweiten Klasse in Abhängigkeit von ihren Leseleistungen zu untersuchen. Im Vorschulalter unterschieden sich später schwache Leser von guten Lesern in der elterlichen Beurteilung durch die CBCL weder in den externalisierenden noch in den internalisierenden Verhaltensauffälligkeiten. Erst in der ersten und zweiten Klasse zeigten schwache Leser mehr Gesamtauffälligkeiten sowie mehr externalisierende Auffälligkeiten als Kinder mit mindestens durchschnittlichen Leseleistungen. Bei der Betrachtung der Verhaltensentwicklung der schwachen Leser über die drei Zeitpunkte (Vorschule, erste Klasse, zweite Klasse) zeigten sich durch eine ANOVA mit Messwiederholung quadratische Muster für die Mittelwerte der Gesamtauffälligkeiten, das externalisierende Problemverhalten, Aufmerksamkeitsprobleme und soziale Probleme, d. h., die Kinder wurden von ihren Eltern besonders in der ersten Klasse verhaltensauffälliger bewertet als in der Vorschule. In der zweiten Klasse fielen die Bewertungen wieder etwas weniger auffällig aus. Eine Erklärung dafür könnte sein, dass der Übergang vom Kindergarten in die Schule eine vulnerable Phase darstellt und von den Kindern als besonders belastend erlebt wird. Sie werden erstmals mit ihren Schwierigkeiten im Leseerwerb konfrontiert und stehen im direkten Vergleich mit den Mitschülern, die scheinbar mühelos die neuen Anforderungen meistern. Bei der Interpretation der Ergebnisse muss beachtet werden, dass in der vorliegenden Studie die Verhaltensauffälligkeiten der Kinder ausschließlich mittels elterlicher Befragung beurteilt wurden und weder eine individuelle Diagnostik erfolgte noch das kindliche Erleben selbst exploriert wurde. Somit kann nicht sicher festgestellt werden, ob sich tatsächlich das Verhalten der Kinder zur ersten Klasse hin verändert oder ob die Eltern möglicherweise durch den Schuleintritt wachsamer sind und sensibler
auf Verhaltensprobleme ihrer Kinder reagieren und diese deshalb in der Verhaltensbeurteilung höher bewerten. Da die Assoziation zwischen schulischen Minderleistungen und Verhaltensauffälligkeiten durch die Literatur gut belegt ist, erscheint die Erklärung, dass das Verhalten der Kinder sich tatsächlich verändert hat, wahrscheinlicher als die Überlegung, dass die Verhaltensbeurteilung durch die elterliche Sorge verzerrt ist. Zudem zeigte eine Studie von Hutzelmeyer-Nickels und Noterdaeme (2007) bei 6-jährigen Kindern, dass die CBCL mit 88 % korrekt negativer Klassifikation eine gute Spezifität aufweist, d. h. dass Kinder mit einem auffälligen Gesamtwert in der CBCL mit hoher Wahrscheinlichkeit auch nach einer umfassenden klinischen kinderpsychiatrischen Diagnostik nach dem multitaxialen Schema als auffällig eingestuft wurden. Die Sensitivität der CBCL hingegen zeigte sich als nicht zufriedenstellend. Weniger als die Hälfte der Kinder mit klinischer Diagnose erzielten auch auffällige Werte in der CBCL. Für die hier vorliegenden Ergebnisse kann man daher davon ausgehen, dass bei auffälliger elterlicher Bewertung mit hoher Wahrscheinlichkeit das Verhalten der Kinder wirklich auffällig war. Zwar fielen die Mittelwerte der Verhaltensbeurteilung in der zweiten Klasse etwas geringer aus als in der ersten Klasse, dennoch unterschieden sich die Leseleistungsgruppen weiterhin deutlich im prozentualen Anteil von klinisch auffälligen Kindern. Die Gruppe der mindestens durchschnittlichen Leser enthielt über die drei Zeitpunkte hinweg einen Anteil von 8 % bis 12 % auffälliger Kinder in den übergeordneten Skalen der CBCL, was den üblichen Prävalenzraten für Verhaltensstörungen entspricht (Ziegert et al., 2002). In der Gruppe der schwachen Leser befanden sich zu jedem Zeitpunkt höhere Anteile von Kindern mit klinisch bedeutsamen Auffälligkeiten. Im Vergleich zur Vorschule (alle übergeordneten Skalen 14.3 %) nahm dieser Anteil in der ersten Klasse zu (17 % bis 20 %). Entgegen der beobachteten Mittelwerte setzte sich eine leichte Zunahme des Anteils klinisch auffälliger Kinder auch in der zweiten Klasse in den Gesamtauffälligkeiten (23 %) und den externalisierenden Auffälligkeiten (23 %) fort. Der Trend, dass sich die Verhaltensprobleme mit zunehmender Schulbesuchsdauer verstärken, entspricht den Ergebnissen der Längsschnittstudie von Gasteiger-Klicpera und Kollegen (2006). In den Subskalen soziale Probleme, schizoid/zwanghaft und Aufmerksamkeitsprobleme wurden wie erwartet weniger Kinder als auffällig klassifiziert als in den übergeordneten Skalen, da das Kriterium für Auffälligkeit bei einem höheren t-Wert liegt (s. Methode). Dennoch unterschied sich die Zunahme des Anteils auffälliger Kinder über die drei Zeitpunkte zwischen den Leseleistungsgruppen deutlich. Während sich im Vorschulalter der Anteil der Kinder mit sozialen Problemen, Aufmerksamkeitsproblemen oder schizoiden/zwanghaften Auffälligkeiten zwi-
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schen guten und schwachen Lesern nicht unterschied (2 % bis 3 %), ließen sich hier in der ersten und zweiten Klasse deutliche Unterschiede beobachten. Bei den guten Lesern blieben die Anteile weitgehend stabil, wohingegen sich bei den schwachen Lesern vom Vorschulalter zur ersten Klasse die Anteile der Kinder mit sozialen Problemen und schizoiden/zwanghaften Auffälligkeiten verdreifachten, die mit Aufmerksamkeitsproblemen sogar vervierfachten. Diese erhöhten Raten von Verhaltensauffälligkeiten bzw. psychiatrischen Störungen bei Lesestörungen entsprechen den Befunden früherer Studien (z. B. Bäcker & Neuhäuser, 2003) und weisen neben den Fördermaßnahmen der Leistungsdefizite auf einen erhöhten Bedarf an psychotherapeutischer Unterstützung hin. Bezüglich der Assoziation von Leseleistungen und Aufmerksamkeitsproblemen zeigen die Daten der vorliegenden Studie nicht ganz eindeutige Befunde. Entsprechend der aktuellen Literatur, die eine genetische Verursachung der Komorbidität von Aufmerksamkeitsdefiziten und Lesestörungen nahelegt (Plourde et al., 2015), zeigten die schwachen Leser bereits im Vorschulalter höhere Mittelwerte in den Aufmerksamkeitsauffälligkeiten als die später guten Leser. Diese erhöhten Werte zeigten sich, wie zu erwarten, über alle Messzeitpunkte hinweg. Der Vergleich der Anteile von Kindern mit klinisch relevanten Aufmerksamkeitsstörungen hingegen zeigte, dass im Vorschulalter genauso wenig später schwache Leser wie gute Leser betroffen waren (2.9 %). In der ersten und zweiten Klasse nahm der Anteil klinisch auffälliger Kinder in der Gruppe der schwachen Leser drastisch zu, wohingegen er in der Gruppe der guten Leser stabil blieb. Denkbar wäre, dass von den Eltern der schwachen Leser zwar bereits im Vorschulalter eine Tendenz zu unaufmerksamem Verhalten beobachtet wurde, dieses Verhalten aber möglicherweise erst im Schulalter als störend empfunden wurde und damit bei mehr Kindern als klinisch relevant eingestuft wurde. Aus Sicht eines multifaktoriellen Krankheitsmodells, wie dem bio-psycho-sozialen Modell, wäre möglich, dass die bereits vorschulisch bestehenden latenten Aufmerksamkeitsprobleme als innerkindlicher Risikofaktor fungieren und in der vulnerablen Phase des Übergangs vom Kindergarten in die Schule in kumulierender Weise mit den Leistungsproblemen interagieren und diese wiederum die Aufmerksamkeitssymptome verstärken. Auch wenn in dieser Studie der Zeitpunkt der Verkettung von Aufmerksamkeitsstörungen und Lesestörungen nicht eindeutig bestimmt werden kann, entsprechen die vorliegenden Ergebnisse den Befunden zur häufigen Komorbidität von Aufmerksamkeitsstörungen und Lesestörungen (Germanò et al., 2010; Willcutt et al., 2005). In dieser Studie fanden sich pro Zeitpunkt keine signifikanten Unterschiede in der Beurteilung des internalisierenden Verhaltens zwischen schwachen und guten Lesern. © 2016 Hogrefe
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Auch konnte in der Verhaltensentwicklung über die Zeit innerhalb der Gruppe der schwachen Leser keine signifikante Zunahme der Mittelwerte von internalisierenden Auffälligkeiten beobachtet werden. Der Anteil der klinisch auffälligen Kinder in den internalisierenden Auffälligkeiten unterschied sich zwar numerisch zwischen den beiden Leseleistungsgruppen, jedoch statistisch nicht signifikant über die drei Zeitpunkte. Dieses Ergebnis verhielt sich nicht konform zu den Erwartungen, da frühere Studien Zusammenhänge zwischen internalisierenden Verhaltensstörungen und Lesestörungen nachweisen konnten (Bäcker & Neuhäuser, 2003; Halonen et al., 2006; Mugnaini, Lassi, La Malfa & Albertini, 2009; Willcutt & Pennington, 2000). Möglicherweise spielt hier das Geschlechterverhältnis der vorliegenden Stichprobe eine beeinflussende Rolle. Die Gruppe der schwachen Leser setzte sich aus ca. 70 % Jungen und 30 % Mädchen zusammen. Da Jungen eher zu externalisierenden Auffälligkeiten neigen, während bei Mädchen mehr internalisierende Auffälligkeiten zu finden sind (Daughters et al., 2009; Willcutt & Pennington, 2000; Ziegert et al., 2002), könnte dies eine Erklärung bieten. Aufgrund der zu geringen Gruppengröße wurde auf eine Analyse getrennt nach Geschlecht verzichtet. Auch scheinen junge Kinder häufiger externalisierende Störungen zu zeigen (Kuschel et al., 2004). Da die Literatur zum Zusammenhang von schulischen Minderleistungen und internalisierenden Verhaltensweisen überwiegend Schulkinder in höheren Klassenstufen untersucht (für einen Überblick s. Mugnaini et al., 2009), wäre es denkbar, dass sich dieser Zusammenhang erst mit zunehmender Schulerfahrung zeigt. Eltern neigen dazu, externalisierende Verhaltensauffälligkeiten stärker zu bewerten als internalisierende (Lehmkuhl et al., 2013). Da in der vorliegenden Studie kein Selbsturteil erfasst wurde, könnten internalisierende Probleme durch die Fremdbeurteilung ebenfalls unterschätzt worden sein. Die korrelativen Zusammenhänge zwischen Leseleistungen und Verhaltensstörungen waren pro Zeitpunkt eher schwach. Dies lässt vermuten, dass weitere moderierende Faktoren bei der Erklärung der Assoziation zwischen Verhaltensauffälligkeiten und schulischen Minderleistungen eine Rolle spielen. Ausgehend von einem mulitfaktoriellen Krankheitsmodell wären innerkindliche Faktoren wie das Temperament des Kindes, sprachliche sowie kognitive Fähigkeiten ebenso denkbar wie Umweltfaktoren, beispielsweise der soziale Status oder die familiäre und schulische Förderungsqualität (Hinshaw, 1992; Petersen et al., 2013). Erste Hinweise auf eine den beiden Störungen zugrunde liegende genetische Komponente fanden Willcutt und Pennington (2000). Die Berücksichtigung all dieser Aspekte wäre nötig, um die kausale Verkettung von Schulleistungsproblemen und Verhaltensauffälligkeiten zu klären.
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J. Horbach und T. Günther, Verhaltensentwicklung bei guten und schwachen Lesern
Die Daten der vorliegenden Längsschnittstudie zeigen, dass Eltern das Verhalten von schwachen Lesern besonders beim Übergang vom Kindergarten in die Schule als auffällig bewerten. Dies spricht dafür, dass der Eintritt in die Schule und die damit verbundene Konfrontation mit schulischen Minderleistungen einen wichtigen Faktor beim Ausprägen späterer Verhaltensauffälligkeiten darstellen. Zudem nimmt der Anteil der Kinder mit klinisch bedeutsamen Verhaltensauffälligkeiten in der Schulzeit zu. Therapeutisch erscheint es daher zum einen sinnvoll, an den Leistungsproblemen anzusetzen, zum anderen ist bei einem großen Anteil der Kinder zusätzlich eine psychotherapeutische Unterstützung nötig. Eine Sensibilisierung der Grundschullehrer erscheint ebenfalls von Bedeutung, da Verhaltensproblematiken durch schulisches Versagen bereits sehr früh auftreten können. Daher sollte eine Verbesserung der Früherkennung der Kinder mit Risiko für schulische Probleme bereits im Vorschulalter angestrebt werden, um durch rechtzeitige Maßnahmen Verhaltensauffälligkeiten vorzubeugen.
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Danksagung Das Projekt wurde gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG; GU-1177/1-1).
Manuskript eingereicht: 20.10.2015 Nach Revision angenommen: 11.03.2016 Interessenkonflikt: Nein Artikel online: 13.06.2016
Dr. rer. medic. Josefine Horbach Lehr- und Forschungsgebiet Klinische Neuropsychologie des Kindesund Jugendalters, Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters Uniklinik RWTH Aachen Neuenhofer Weg 21 52074 Aachen Deutschland jhorbach@ukaachen.de
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Original Article
Morning bright light therapy: a helpful tool for reducing comorbid symptoms of affective and behavioral dysregulation in juvenile depressed inpatients? A pilot trial Sarah Bogen1, Tanja Legenbauer1, Stephanie Gest, and Martin Holtmann1 1
Ruhr Universität Bochum, LWL Universitätsklinik Hamm
Summary: Objective: In recent years, bright light therapy (BLT) has been used to treat depression and to stabilize circadian rhythms. In this study we evaluated whether it is also helpful for comorbid symptoms of affective and behavioral dysregulation in depressive inpatients. Method: This article reports a secondary analysis comparing two subgroups of depressive participants with comorbid affective and behavioral dysregulation, captured with the dysregulation-profile of the Strengths and Difficulties Questionnaire (SDQ-DP; n = 16 vs. n = 11). Participants were randomly allocated to active BLT (10,000 lux) or control BLT (approx. 100 lux), and received 45 minutes of BLT for 2 weeks. SDQ-DP scores, sleep parameters, and circadian preference were assessed at baseline, after the intervention, and 3 weeks later. Results: No direct effects on SDQ-DP scores were observed. Sleep improved in both conditions. Only in the active BLT condition was a circadian phase advance found. Correlation and regression analyses indicated an indirect, circadian effect for improved SDQ-DP scores. Conclusions: The data of this pilot trial should be considered preliminary and merely descriptive. Further research is warranted. Keywords: Bright light therapy, adolescent inpatients, SDQ-dysregulation profile, sleep, circadian preference
Zusammenfassung: Fragestellung: Lichttherapie wird zur Behandlung von Depressionen sowie zur Stabilisierung des zirkadianen Rhythmus’ eingesetzt. Die vorliegende Pilotstudie untersucht die Wirksamkeit von Lichttherapie bei stationären depressiven Jugendlichen mit Symptomen komorbider affektiver und behavioraler Dysregulation. Methodik: In dieser Studie werden Ergebnisse einer Sekundäranalyse berichtet, in der zwei Gruppen von depressiven Patienten mit komorbiden Symptomen affektiver und behavioraler Dysregulation (erfasst durch das DysregulationsProfil des Fragebogens für Stärken und Schwächen – SDQ-DP; n = 16 vs. n = 11) randomisiert entweder der aktiven Lichttherapie (10 000 lux) oder der Kontrollbedingung zugeordnet (ca. 100 lux) wurden. Alle erhielten täglich 45 Minuten morgendliche Lichttherapie über einen Zeitraum von zwei Wochen. Werte des SDQ-DP, Schlafparameter und die zirkadiane Präferenz wurden vor Beginn der Studie, nach zwei Wochen Intervention und weitere drei Wochen später erhoben. Ergebnisse: Symptome der affektiven und behavioralen Dysregulation zeigten keine direkten Verbesserungen als Folge der Lichttherapie. Schlafparameter zeigten Verbesserungen unabhängig der Lichtbedingung. Eine Vorverlagerung des zirkadianen Rhythmus’ wurde nur bei den Teilnehmern der aktiven Lichtbedingung gefunden. Die Ergebnisse der Korrelationen und Regressionen legen die Vermutung nahe, dass eine Verbesserung der Symptome affektiver und behavioraler Dysregulation durch einen indirekten, zirkadianen Weg möglich ist. Schlussfolgerungen: Weitere Studien sind notwendig, um die vorläufigen Ergebnisse dieser Pilotstudie zu replizieren. Schlüsselwörter: Lichttherapie, stationäre Jugendliche, SDQ-Dysregulationsprofil, Schlaf, zirkadiane Präferenz
Introduction A mixed psychiatric condition conceptualized as severe affective and behavioral dysregulation in children and adolescents has gained interest in recent years and can be captured by specific dysregulation subscales derived from existing items on either the Child Behavior Checklist (CB-
CL-Dysregulation profile [CBCL-DP]; Althoff, Verhulst, Rettew, Hudziak & van der Ende, 2010; Holtmann et al., 2007; Hudziak, Althoff, Derks, Faraone & Boomsma, 2005) or the Strengths and Difficulties Questionnaire (SDQ-Dysregulation profile [SDQ-DP]; Holtmann, Becker, Banaschewski, Rothenberger & Roessner, 2011; Woerner, Becker & Rothenberger, 2004). Predominant symptoms of
Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie (2017), 45 (1), 34–41 DOI 10.1024/1422-4917/a000442
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S. Bogen et al., BLT for youth with SDQ-DP/Lichttherapie bei Jugendlichen mit SDQ-DP
children and adolescents with severe affective and behavioral dysregulation include irritability, aggression, “affective storms,” hyperarousal, mood instability, and suicidal behavior (Holtmann et al., 2007). Moreover, severe dysregulation of affect and behavior has consistently been found to be associated with difficulties falling sleep and sleeping through the night as well as a reduced need for sleep (Ayer et al., 2009; Holtmann, Bölte, Goth & Poustka, 2008; Legenbauer, Heiler, Holtmann, Fricke-Oerkermann & Lehmkuhl, 2012; Mehl et al., 2006). Since a complex interaction exists between sleep and both internalizing and externalizing symptoms (Fallone, Owens & Deane, 2002; Meijer, Reitz, Dekovic, van den Wittenboer & Stoel, 2010), one gateway for the treatment of severely dysregulated youth – and for the prevention of devastating long-term consequences – may lie in the resolution of their sleep problems. Interventions targeting sleep disturbances in youth showed improvements of both behavioral and emotional functioning (Harvey, Mullin & Hinshaw, 2006). One type of intervention influencing sleep disturbances and shifting circadian preference is morning bright light therapy (BLT; Gooley, 2008). The use of BLT as an adjuvant, innovative treatment option for affective and behavioral problems was recently proposed (Heiler, Legenbauer, Bogen, Jensch & Holtmann, 2011). Initially developed as a treatment for seasonal affective disorder, BLT was subsequently shown to improve depressive symptoms, sleep quality, and reset circadian parameters (Even, Schroeder, Friedman & Rouillon, 2008). In a primary analysis of a 2-week randomized controlled study on the feasibility and clinical effects of BLT in 57 depressed juvenile inpatients, compared to a dim light control condition BLT led to specific improvements of subjective sleep parameters as well as to a shift of circadian preference toward morningness (Bogen, Legenbauer, Gest & Holtmann, 2015). Enhanced sleep quality and the circadian phase advance largely predicted the reduction of depressive symptoms. Based on these results, this explorative secondary analysis examines whether BLT also has beneficial effects on the regulation of sleep and circadian phase in youths with comorbid severe affective and behavioral dysregulation as well as on the symptom level of affective and behavioral dysregulation (Heiler et al., 2011). Because one may assume an intimate relationship between sleep, circadian preference, affect regulation, and emotional and behavioral functioning (Neitzert Semler & Harvey, 2005; Van Dongen, Maislin, Mullington & Dinges, 2003; Gau et al., 2007; Harvey et al., 2006), we hypothesize that changes in sleep quality and sleep restoration, shifts of circadian preference and improvements in affective regulation are correlated with each other. Improvements of sleep and a circadian phase advance as a result of BLT are assumed to be of predictive value for a reduction of affective and behavioral problems. © 2016 Hogrefe
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Methods Sampling A group of 57 medication-naïve participants between 12 and 18 years were recruited from an inpatient psychiatric care setting. All of them had a diagnosis of moderate to severe depression according to ICD-10. Thereof, 27 participants additionally showed symptoms of affective and behavioral dysregulation as assessed with the SDQ-DP. For a detailed participant flow chart of the original sample see Bogen et al. (2015).
Design and Procedure One week after admission to a tertiary care hospital for child and adolescent psychiatry, eligible participants were informed about study objectives and the study design by one of the main investigators. They randomly received 2 weeks of either active (10,000 lux) or inactive (100 lux) BLT in addition to treatment as usual on the respective units (TAU – including individual and group psychotherapy in addition to medical, psychological, and nursing care; approaches such as in-hospital schooling, occupational therapy, arts therapies, sports and movement therapy, and family-focused interventions). In order to reduce possible expectation bias, participants were informed that the aim of the study was to compare to different types of BLT. Interventions were conducted following the “Clinician’s Manual for Light and Wake Therapy” (Wirz-Justice, Benedetti & Terman, 2009), and were conducted five times a week, 45 minutes each, for a total duration of 2 weeks. Behavioral assessments were made before entering the study (T1), after 2 weeks of intervention (T2; T1-T2 → 2 weeks in between), and 3 weeks later (T3; from T2-T3 → 3 weeks in between). This study was approved by the Medical Ethical Committee of the Ruhr University Bochum, Germany (Reg.No. 3996-11). Written consent was given by both the participant and the person with primary custody. For a more detailed description of the study design and trial procedures see Bogen et al. (2013).
Measures Strengths and Difficulties Questionnaire (SDQ) The SDQ was used to identify participants with symptoms of affective and behavioral dysregulation. Normally, the SDQ is conducted as a brief behavioral screening questionnaire comprising 25 attributes assessing emotional symp-
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S. Bogen et al., BLT for youth with SDQ-DP/Lichttherapie bei Jugendlichen mit SDQ-DP
toms, conduct problems, hyperactivity/inattention, peerrelationship problems, and prosocial behavior (Goodman, 1997, 2001; Klasen et al., 2000). More recently, a score derived from certain existing items of the SDQ has been used to assess symptoms of affective and behavioral dysregulation (SDQ-DP; Holtmann et al., 2011a) and to monitor short-term changes of SDQ-DP scores during the BLT trial (Goodman, 1997). The following items were identified as capturing this so-called SDQ-DP: Item 13 “often unhappy, down-hearted or tearful”; item 8 “many worries, often seems worried”; item 12 “often fights with other children or bullies them”; item 22 “steals from home, school or elsewhere”; item 2 “restless, overactive, cannot stay still for long”. The self-report version of the SDQ was used since self-ratings from adolescents were shown to better contribute to the diagnostic process in the clinical setting than ratings by parents (Arman, Amel & Maracy, 2013; Van der Meer, Dixon & Rose, 2008). Psychometric properties of the SDQ-DP were robustly tested and validated (Holtmann et al., 2011a; Woerner et al., 2004). Instructions were given that the SDQ was used to assess affective and behavioral symptoms over the last week. Sleep Questionnaire B – revised (SF-B/ R) The SF-B/R was used to subjectively assess sleep and sleep difficulties (Görtelmeyer, 2011). It contains 31 questions assessing the last 2 weeks. Sleep indices can be calculated including “sleep quality” and “restorative sleep.” For clinical populations, internal consistency can be considered moderate to excellent (alpha = .68 to .92). Test-retest reliability indicates that relatively stable sleep-related behavior and experiences are assessed (r = .53 to r = .91). Morningness – Eveningness Questionnaire (MEQ) The MEQ was administered to estimate circadian preference (Griefahn, Künemund, Bröde & Mehnert, 2001; Horne & Ostberg, 1976). This questionnaire assesses circadian preference based upon 19 questions that can be added up to a total score, with higher scores indicating “morningness” (scores ranging from 59 to 86: moderate to definite morningness) and lower scores implying “eveningness” (scores ranging from 16 to 41: moderate to definite eveningness), with a neutral circadian preference with scores in between (scores ranging from 42 to 58: neutral type). Full-scale internal consistency can be considered sufficient (.82; Shahid, Khairandish, Gladanac & Shapiro, 2012); a high test-retest reliability was repeatedly reported with up to r =.96 (Griefahn, 2002; Kerkhof, 1984).
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Statistical Analyses Secondary analyses of the data were also conducted (for primary data analyses, see Bogen et al., 2015). The analyses were based on an intention-to-treat sample (ITT sample). Missing values were replaced by using “last-observation-carried-forward” values. This method has shown to be a very conservative data substitution, likely to underestimate within-group changes (Prakash, Risser & Mallinckrodt, 2008). In order to investigate the course of means of SDQ-DP scores, sleep quality, restorative sleep, and circadian preference during BLT, 3 × 2 repeated measures GLM analyses were conducted with time x light condition, with an alpha level set at .05 to detect significant interactions. Furthermore, bivariate Pearson’s correlations were calculated to investigate possible linear relationships between changes in SDQ-DP scores, sleep quality, restorative sleep, and circadian preference using difference scores (T1-T2 and T1-T3, respectively). Standard multiple regression analyses were performed to further analyze the predictive value of changes in sleep parameters and circadian preference on changes in SDQ-DP scores.
Results Sample Characteristics Based on self-report ratings, 27 out of 57 participants (47 %) were classified as SDQ-DP positive (exceeding the SDQ-DP cutoff of 5). Significant group differences at baseline were found for age and MEQ total score, and were taken into consideration in further analyses1. No significant group differences could be found in relation to gender or number of co-morbidities (p < .05). Details are shown in Table 1.
Differences Between BLT Conditions for Sleep Parameters, Circadian Preference and SDQ-DP Scores During the Course of BLT Results of sleep parameters including sleep quality and restorative sleep indicated that participants in both BLT conditions showed improvements, so that GLM measures did
In this subsample, no significant group differences of depression scores over time during the course of BLT were found. Therefore, depression scores were not considered in secondary analyses (F(2, 48) = 0.335; p = .72).
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Table 1. Sample characteristics Total sample
Active BLT
Control BLT
X2/T
df
p
Absolute numbers, n
27
16
11
Female, n
22
13
9
1
0.970
.68
15.6 (1.3)
16.0 (0.8)
14.9 (1.6)
25
–2.292
.03
1.0 (1.1)
0.7 (0.7)
1.5 (1.4)
25
1.914
.07
Age (years), M (SD) Number of co-morbidities, n (SD)
Note: M = mean, SD = standard deviation, BLT = bright light therapy, MEQ = Morningness-Eveningness Questionnaire, SQ = sleep quality, RS = restorative sleep.
Table 2. Values and GLM results for sleep quality, restorative sleep, and circadian preference separated by BLT conditions Active BLT (n = 16)
Control BLT (n = 11)
df
F
p
Partial eta2
T1
T2
T3
T1
T2
T3
SQ M (SD)
2.35 (0.8)
3.10 (1.2)
3.24 (1.3)
2.07 (0.3)
2.37 (0.6)
2.71 (0.6)
2
0.482
.62
.02
RS M (SD)
1.69 (0.6)
2.83 (1.1)
2.63 (1.1)
2.12 (0.6)
2.46 (0.7)
2.60 (0.8)
2
2.186
.12
.09
MEQ M (SD)
39.8 (8.8)
48.0 (10.6)
50.1 (10.1)
47.0 (5.0)
49.9 (5.9)
49.5 (7.5)
1
6.283
.02
.22
Note: M = mean, SD = standard deviation, SQ = sleep quality, RS = restorative sleep, MEQ = Morningness-Eveningness Questionnaire.
not reveal significant time x light condition interactions. If we take into account baseline group differences for circadian preference, the scores of participants in the active BLT condition shifted more toward morningness than scores of the control condition, resulting in a statistically significant time x light condition interaction effect. For test statistics please see Table 2. Against our expectations, BLT did not have an additional direct influence on the symptom level of affective and behavioral dysregulation as measured with the SDQ-DP. Although active BLT proved to positively influence the course of SDQ-DP scores, especially in the short term, GLM repeated measures revealed no significant time x light condition interaction effect. Please see the course of SDQ-DP scores in Figure 1.
Figure 1. Course of SDQ-DP scores from baseline (T1) to follow-up (T3) separated for bright light condition.
Correlations Between Changes in SDQ-DP Scores, Sleep Parameters, and Circadian Preference We found significant moderate to large negative correlations between difference scores of SDQ-DP with difference scores of sleep quality, restorative sleep and circadian preference. Details are shown in Table 3.
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Predictive Value of Sleep Parameters and Circadian Preference for SDQ-DP Scores In order to estimate the proportion of variance in the change of SDQ-DP scores that can be accounted for by changes of sleep quality, restorative sleep, and circadian preference, we performed standard multiple regressions. Directly after 2 weeks of BLT (T1-T2), the regression model did not explain a significant proportion of variance. Including follow-up measures (T1-T3), a total of 50 % of variance of SDQ-DP difference scores were explained by the coefficients. Changes of sleep quality thereby showed to be a statistical significant predictor for changes in SDQ-DP scores. Statistical indices of the linear regression models are displayed in Table 4.
Discussion The results of this explorative analysis indicate no additional direct effect of BLT on the symptom level of affective and behavioral dysregulation as assessed with the
Table 3. Correlations between difference scores of SDQ-DP scores, sleep quality, restorative sleep, and circadian preference separated for T1–T2 and T1–T3 ΔSQ
ΔRS
ΔMEQ
T1–T2
ΔSDQ-DP scores
–.53*
–.41*
–.36
T1–T3
ΔSDQ-DP scores
–.71**
–.53**
–.42*
Note: Δ = change over time, SDQ-DP = Strengths and Difficulties Questionnaire dysregulation profile, SQ = sleep quality, RS = restorative sleep, MEQ = Morningness-Eveningness Questionnaire, *p < .05; **p < .001.
Table 4. Summary of linear regression analyses for predicting SDQ-DP difference scores Variable T1-T2
B
SE B
ß
T
p
SQ
–.981
.577
–.428
–1.700
.12
RS
–.496
.635
–.220
–.780
.44
.014
.050
.074
.286
.78
SQ
–1.516
.619
–.715
–2.449
.02
RS
.074
.720
.031
.102
.92
–.006
.038
–.033
–.165
.87
MEQ T1-T3
MEQ
Note: Overall models: (T1–T2): F(3, 20) = 2.862, p = .06, R2 = 0.30, adjusted R2 = 0.20; (T1–T3): F(3, 20) = 6.679, p = .003, R2 = 0.50, adjusted R2 = 0.43; SQ sleep quality, RS restorative sleep, MEQ MorningnessEveningness Questionnaire.
SDQ-DP. However, the results of the correlation and regression analyses indicated that improved sleep parameters and a circadian phase advance were associated with a reduction of SDQ-DP scores. Only improved sleep quality was of predictive value for a reduction of SDQ-DP scores in the long-term. Based on these results, one might assume that improved sleep and an advanced circadian phase might have positively influenced SDQ-DP scores as a secondary effect by an indirect, circadian mechanism, as was already assumed by Heiler et al. (2011). Whereas a circadian phase advance was observed in the active BLT condition, neither direct light-induced nor indirect secondary influences of the circadian phase advance on sleep and SDQ-DP were found. Both the daily structures on the units and the therapeutic setting may have positively affected sleep quality and restorative sleep beyond the additional effects of 2 weeks of added BLT. Another aspect to consider is a possible placebo effect, which might have led to improved sleep in both conditions. Placebo effects are relatively high in BLT trials since it is difficult to “blind” a participant when using broad-spectrum intense white light as the active condition (Golden et al., 2005). Existing approaches to find a suitable placebo are the use of either dim light (< 300 lux), light of a specific wavelength (dim red light), or using low-density negative air ion exposure as placebo conditions (Goel et al., 2005). However, these approaches often led participants to guess which condition they have been allocated to, thereby influencing expectations. To minimize expectation bias elicited by either bright or dim light, in this trial all participants, irrespective of group allocation, received the same kind of neutral information regarding the use and efficacy of BLT. Since this study was conducted in an acute psychiatric setting and not in a sterile laboratory, setting effects as well as expectation bias cannot fully be excluded and might have elicited additional effects. Further research including different types of placebo conditions is warranted to clarify this issue. It was assumed that, next to improved sleep, a circadian phase advance would also be reflected in the regression models as an essential factor for a reduction of SDQ-DP scores as was also found by Ryback et al. (2006). This, surprisingly, was not the case in this sample. It is common knowledge that circadian preference, part of normative development in adolescence, shifts toward eveningness (Crowley, Acebo & Carskadon, 2007; Kim, Dueker, Hasher & Goldstein, 2002). It is, however, unclear how much time is needed for a circadian phase advance to become clinically relevant or to indirectly influence other symptoms such as affective and behavioral dysregulation as secondary effect. Since circadian preferences show rather long-term effects on affect and behavior (Gau et al., 2007; Goldstein et al., 2007; Lange & Randler, 2011; Van der
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Heijden et al., 2013), the time frame in this sample might have been too short to assess the follow-up effects of a shifted circadian rhythm.
Limitations Several limitations have to be discussed. First of all, this article reports results of a secondary analysis including subgroups with only few participants of a larger sample, which is a main weakness. Also, BLT was added to TAU on the respective units. TAU was identical for all participants, although we did not assess, for example, the number of psychology sessions or potential other confounders such as menstrual phase, another limitation of the study. Affective and behavioral problems were assessed by using the SDQ-DP score (Woerner et al., 2004), which only constitutes a screening measurement and cannot be compared to a thorough clinical evaluation. There are no norms for the SDQ for a 2-week window as it was used in this study. However, it has proved to be a robustly tested and validated possibility of assessment (Holtmann et al., 2011a). Whereas in population-based studies prevalence rates of affective and behavioral dysregulation generally vary between 1 %–3.8 %, in clinical contexts the rate is considerably higher. It is important to keep in mind that prevalence of affective dysregulation may vary due to age (Juksch et al., 2011). In the present sample, however, the rate of participants with a positive SDQ-DP was considerably higher with 47 % of all participants. One has to consider that the SDQ-DP partly assesses depression-related symptoms with the items “often unhappy, down-hearted or tearful” as well as “many worries, often seems worried”. Since all of the participants had a diagnosis of moderate to severe depression, one might assume that the high rate of SDQDP positive in this sample might rather have reflected the severity and variety of affective and behavioural difficulties instead of the specific phenotype discussed in the literature (Holtmann et al., 2011; Juksch et al., 2011). Another limitation constitutes the short time frame in which BLT treatment was possible. Although a short duration (2 weeks) seems to be just as effective as a longer duration (5 weeks; Levitt & Levitan, 2003) for depressive symptoms, for symptoms of affective and behavioral dysregulation no empirical recommendations are yet available. This study was conducted in an intensive psychiatric care setting. Therefore, taking into account the first week in which the participants got the possibility to familiarize with the setting, daily interventions and the possibility to monitor follow-up effects were restricted. The effects of sleep and circadian preference on affect can, particularly, be seen in the long term (Gau et al., 2007; Goldstein et al., 2007; Lange & Randler, 2011; Van der Heijden et al., © 2016 Hogrefe
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2013). In future studies, it seems essential to monitor the long-term effects of BLT to follow-up on the secondary effects of a circadian shift toward morningness. It can be assumed that more time is needed for a phase advance to positively affect affective and behavioral dysregulation. In summary, although no direct effects on the symptom level of affective and behavioral dysregulation were found, results indicated that sleep quality and a shift of circadian preference toward morningness might positively influence SDQ-DP scores by an indirect, circadian mechanism. These results seem promising, although they need further testing, since the data presented must be considered as preliminary with merely descriptive, hypothesis generating results that should be interpreted cautiously.
Funding This work was supported by the LWL Research Institute Bochum, Germany [grant no. V006-2010].
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Manuscript submitted: 01.11.2015 Accepted after revision: 01.02.2016 Conflicts of interest: MH served in an advisory or consultancy role for: Lilly, Novartis, and Bristol-Myers Squibb, and received conference attendance support or was paid for public speaking by AstraZeneca, Janssen-Cilag, Lilly, Neuroconn, Novartis, Medice and Shire. The present work is unrelated to the above grants and relationships. The other authors have no conflicts of interest. Article online: 13.06.2016
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Prof. Dr. Tanja Legenbauer Abteilung Kinder- und Jugendspychiatrie Ruhr Universtität Bochum, LWL Universitätsklinik Heithofer Allee 64 59071 Hamm Germany Tanja.legenbauer@rub.de
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ziert. Gerade für Ärzte, Psychologen oder Betreuer dieser Kinder und Erwachsenen ist es deshalb essenziell zu wissen, welche Verhaltensweisen für diese Menschen normal sind und welche tatsächlich auf eine psychische Störung hinweisen.
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Originalarbeit
Freizeitaktivitäten, Resilienz und psychische Gesundheit von Jugendlichen Norbert Karpinski1, Narges Popal2, Julia Plück2, Franz Petermann1 und Gerd Lehmkuhl2 1 2
Zentrum für Klinische Psychologie und Rehabilitation, Universität Bremen Klinik und Poliklinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters, Klinikum der Universität zu Köln
Zusammenfassung: Fragestellung: Bislang ist unzureichend geklärt, welche Faktoren in unterschiedlichen Entwicklungsphasen des Jugendalters zur Resilienzförderung entscheidend beitragen können. Die vorliegende Studie untersucht u. a. die Bedeutung außerschulischer Aktivitäten auf die Resilienz. Methode: Die Untersuchungsstichprobe umfasst 413 Jugendliche (w = 214) im Alter von 11 bis 19 Jahren (M = 14.8), die aktuell von persönlichen Problemen (Stimmungslage, Konzentrationsschwächen, Verhalten im Umgang mit anderen) berichten. Die Wirkung von außerschulischen Freizeitaktivitäten auf die Resilienz (erfasst mit dem RS25) wurde anhand von linearen (hierarchischen) Regressionsmodellen analysiert. Neben den außerschulischen Aktivitäten (Sport, Hobbys, Mitgliedschaft in Organisationen, häusliche Pflichten) wurden die Subskalen des SDQ (Strengths and Difficulties Questionnaire) und die besuchte Schulform der Jugendlichen berücksichtigt. Aufgrund von Varianzinhomogenität bei den Werten der abhängigen Variablen (RS25-Gesamtwert) wurden zwei unterschiedliche Modelle (Modell_A: Real- u. Gymnasialschüler; Modell_B: Hauptschüler) spezifiziert. Ergebnisse: Die beiden Modelle haben mit R = .516 (Modell_A) und R = .643 eine zufriedenstellende Varianzaufklärung. Bei beiden Modellen ergeben sich signifikante positive Einflüsse des prosozialen Verhaltens (Model A: β = 2.815; Modell_B: β = 3.577). Negative Auswirkungen ergeben sich bei beiden Modellen für emotionale Probleme (Modell_A: β = –1.697; Modell_B: β = –2.596). Bei Modell_A ergibt sich ein weiterer negativer Einfluss für die Hyperaktivität (SDQ) mit β = –1.078 und ein positiver Einfluss für sportliche Aktivitäten (β = 16.314). Bei Modell_B wirken „Probleme mit Gleichaltrigen“ (SDQ) mit β = 1.508 und die Mitgliedschaft in Organisationen mit β = 15.775 positiv auf die Resilienz. Schlussfolgerung: Die vorliegenden Befunde verweisen auf eine wichtige Rolle von prosozialem Verhalten und emotionaler Kompetenz bei der Ausprägung von Resilienz. Die Wirkung von außerschulischen Aktivitäten muss in Anbetracht der hier vorgestellten Ergebnisse offensichtlich in Abhängigkeit vom sozialen Umfeld (hier die Schulform) gesehen werden. Insofern könnten diese Ergebnisse die Grundlage für spezifische Förderungsprogramme bilden. Schlüsselwörter: Resilienz, SDQ, Verhaltensauffälligkeiten, emotionale Probleme, prosoziales Verhalten, Freizeitaktivitäten
Leisure activities, resilience and mental stress in adolescents Abstract: Objective: To date, the factors contributing to emergence of resilience in different stages of adolescence have yet to be sufficiently examined. This study looks at the influence of extracurricular activities on resilience. Method: The sample consists of 413 adolescents (f = 14.8) reporting personal problems (mood, concentration problems, behavior). The effect of extracurricular activities on resilience (gathered by the RS25) was analyzed by linear regression models. Predictor variables in these models were extracurricular activities (sport, hobbies, club memberships, household duties) and the subscales of the SDQ (Strengths and Difficulties Questionnaire). Because of the lack of homoscedasticity, two different regression models (model A: Realschule and Grammar School. Model B: Hauptschule) were specified. Results: The explained variance of both models (model A: R = .516; model B: R = .643) is satisfactory. In both models “prosocial behavior” (SDQ) turns out to be a significant positive predictor for resilience (model A: β = 2.815; model B; β = 3.577) and emotional symptoms (model A: β = -1.697; model B: β = -2.596) are significant negative predictors for resilience. In addition, model A presents significant positive influences of sport (β = 16,314) and significant negative influences of “hyperactivity” (SDQ). In contrast, in model B “club memberships” (β = 15.775) and” peer relationship problems” (β = 1.508) are additional positive predictors. Conclusions: The results of the study demonstrate the important role of prosocial behavior and emotional competence in the manifestation of resilience. The effect of extracurricular activities proves to depend on the social environment (type of school). Thus, these results could form the basis for further more specific developmental programs. Keywords: resilience, behavioral disorders, emotional problems, prosocial behavior, leisure activities
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Einleitung Als die „Klassiker“ der Resilienzforschung werden die bekannten Längsschnittstudien von Emmy Werner und Ruth Smith (Kauai-Studie, 1992), Michael Rutter (Isle of Wight-Studie, 1981) und Norman Garmezy (Minnesota Risk Research Project, 1974) betrachtet (s. Bengel & Lyssenko, 2012). Hierbei erfolgte die längsschnittliche Erforschung von Schutzfaktoren, die Kindern trotz widriger Lebensumstände bzw. dem Vorliegen von Risikofaktoren dazu verhalfen, sich unauffällig zu entwickeln. Mit Schutzfaktoren können negative Konsequenzen relativiert und ein normales Funktionsniveau nach traumatischen Ereignissen oder Rückschlägen wiederhergestellt werden (Staudinger & Greve, 2007). Laut Lösel und Bender (2007; vgl. auch Pechmann, Petermann, Brähler, Decker & Schmidt, 2015) erhöhen Risikofaktoren die Wahrscheinlichkeit des Auftretens von psychischen Störungen; Schutzfaktoren wirken hingegen vor dem Auftreten von Risikofaktoren als Resilienzen, die interaktiv im Sinne eines Puffereffektes die Entstehung psychischer Störungen verhindern oder abmildern. Nach Rutter (1985, 2013) ist die Bezeichnung „Schutzfaktor“ nur dann gerechtfertigt, wenn dieser die pathogenen Auswirkungen vorhandener Risikofaktoren vermindert. Kennzeichnend für Resilienzen ist die Fähigkeit, vorhandene Mechanismen zur Bewältigung alterstypischer Entwicklungsaufgaben trotz widriger Lebensumstände zu aktivieren (Maston & Powell, 2003; Petermann & Schmidt, 2006). Resilienzen sind dabei bereichsspezifisch ausgeprägt und liegen sowohl für den sozialen als auch für den emotionalen Bereich vor; solche Resilienzen sind nicht angeboren, sondern entwickeln sich schrittweise im Kontext der Kind-Umwelt-Interaktion (vgl. Greve, Leipold & Meyer, 2009; Holtmann, Poustka & Schmidt, 2004; Noeker & Petermann, 2008). Resilienz und Vulnerabilität bilden zwar Gegensätze, dennoch wird deutlich, dass Resilienz nicht mit einer generellen „Unverwundbarkeit“ aufgrund von psychischer Robustheit verwechselt werden darf (Werner & Smith, 1982). Resilienz scheint vielmehr eine flexible und den jeweiligen Anforderungen angemessene Widerstandsfähigkeit zu sein (vgl. auch Leppert & Strauß, 2011; Schumacher, Leppert, Gunzelmann, Strauß & Brähler, 2005). Im Jugend- und jungen Erwachsenenalter stabilisiert sich die erworbene Resilienz und vielfach wird von einer resilienten Persönlichkeit ausgegangen (vgl. Block & Block, 1980). Resilienz wird dabei als relativ stabile Persönlichkeitseigenschaft verstanden (Bengel & Lyssenko, 2012; Block & Kremen, 1996; Klohnen, 1996; Leppert, Richter & Strauß, 2013). In dieser Hinsicht begründet eine früh erworbene Resilienz einen „krisenrobusten“ und stabilen Entwicklungsverlauf im Jugendalter (u. a. Ungar, © 2016 Hogrefe
Ghazinour & Richter, 2013). Aktuelle Studien belegen einen positiven Einfluss von außerschulischen Freizeitaktivitäten bei der Ausprägung von Resilienz und Alters- und Geschlechtseffekten (u. a. Crick & Zahn-Waxler, 2003; Maston, 2007; Noeker & Petermann, 2008; Ungar et al., 2013). Soziale Vernetzung wurde bereits von Rutter (1985) als schützender Faktor vor negativen Auswirkungen stresshafter Lebenskrisen beschrieben. Eine australische Studie belegt, dass gerade Jugendliche mit niedrigem sozioökonomischem Hintergrund von außerschulischen Aktivitäten durch Erlangung eines höheren Selbstwertgefühls und einer besseren Selbstwahrnehmung entscheidend profitieren (Blomfield & Barber, 2011). Die vorliegende Untersuchung überprüft, inwieweit durch den SDQ erhobene Stärken und Schwächen sowie außerschulische Aktivitäten Einfluss auf die Ausprägung der als „trait“-Merkmal erfassten Resilienz von Jugendlichen haben. Dabei gingen wir von der Arbeitshypothese aus, dass sich unterschiedliche Ausprägungen von Resilienz am ehesten abbilden lassen, wenn die aktuelle Situation problembehaftet ist bzw. von den Jugendlichen als belastet eingeschätzt wird.
Methodik Stichprobe Insgesamt wurden die Daten von N = 774 Jugendlichen im Alter zwischen 11 und 19 Jahren erhoben. Die Befragung fand 2009 an sechs Regelschulen (je zwei Gymnasien, Realschulen und Hauptschulen im Großraum Köln) statt. In die weitere Auswertung wurden nur diejenigen Jugendlichen aufgenommen, die zum Zeitpunkt der Untersuchung ihre Situation als problematisch einschätzten (N = 413). Das Alter der Jugendlichen lag im Mittel bei 15 Jahren (SD = 2.02). Die Geschlechterrelation war mit 53 % Jungen ausgeglichen. 53 % der Befragten besuchten ein Gymnasium, 26 % eine Realschule und 21 % eine Hauptschule. Im Schuljahr 2008/09 waren, laut Amt für Statistik und Einwohnerwesen der Stadt Köln, im gesamten Bezirk Köln 50 948 Schüler an allen weiterführenden allgemeinbildenden Schulen (ohne Gesamtschulen) registriert (58 % an Gymnasien, 24 % an Realschulen, 18 % an Hauptschulen). Die vorliegende Stichprobe umfasst damit etwa 1.5 % der Grundgesamtheit und bildet die Verteilung der erfassten Schulformen vergleichbar ab.
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Erhebungsinstrumente Aktivitäten Für die Erfassung der außerschulischen Freizeitaktivitäten und sozialen Kompetenzen der Jugendlichen wurden entsprechende Items (Sportaktivitäten, Hobbys, Mitgliedschaft in Organisationen, häusliche Pflichten) des Youth Self-Report (YSR, 11–18; Arbeitsgruppe Deutsche Child Behavior Checklist, 1998) ausgewählt. Resilienz Die Resilienzskala (RS25) von Wagnild und Young (1993) hat in der Gesundheitsforschung zur Identifikation von Bewältigungsmustern weite Verbreitung gefunden. Resilienz wird hier als Persönlichkeitseigenschaft verstanden, die Anpassungsvorgänge erleichtert. In dieser Studie wird die autorisierte deutschsprachige Fassung von Schumacher und Kollegen (2005), deren eindimensionale Struktur über 46 % der Gesamtvarianz aufklärt, verwendet. Mit 25 Items wird die Zustimmung zu positiven Aussagen zur eigenen Resilienz auf einer siebenstufigen Antwortskala von „1 – stimme nicht zu“ bis „7 – stimme völlig zu“ erfasst. Abhängigkeiten der Resilienz von Alter und Geschlecht ließen sich bei der Validierung dieser Fassung an Erwachsenen nicht nachweisen. Eine Normierung der RS25 für Kinder und Jugendliche liegt bisher nicht vor. In der vorliegenden Stichprobe liegt die interne Konsistenz der RS25Gesamtskala bei α = .83 und damit nach den Schwellenwerten von Kline (2005) im sehr guten Bereich (0.80 ≤ α ≤ 0.89). Die Bandbreite der Trennschärfen der Items liegt zwischen .13 ≤ rit ≤ .56. Persönliche Einschätzung von aktuellen Problemen Mit der Frage: „Würdest Du sagen, dass du insgesamt gesehen in einem oder mehreren der folgenden Bereiche Schwierigkeiten hast: Stimmung, Konzentration, Verhalten im Umgang mit anderen?“, wurde erhoben, ob die Jugendlichen zum Zeitpunkt der Befragung nach ihrer Selbsteinschätzung Probleme in den genannten Bereichen haben. Die Antwortkategorien waren vierstufig von „0“ („nein“) bis „4“ („ja“, massive Schwierigkeiten“) skaliert. Verhalten Im Strenghts and Difficulties Questionnaire (SDQ ; Goodman, 2001) beurteilen die Jugendlichen ab einem Alter von elf Jahren 25 Items auf einer dreistufigen Antwortskala. Diese können zu vier Skalen von Verhaltensproblemen („emotionale Probleme“, „Hyperaktivität/Aufmerksamkeitsprobleme“, „Probleme im Umgang mit Gleichaltrigen“, „Verhaltensauffälligkeiten“; je 5 Items) einem übergeordneten Problem-Gesamtwert aggregiert werden. Die Skala „prosoziales Verhalten“ erfasst mit fünf Items positive Eigenschaften in der Interaktion mit dem sozialen Um-
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feld. Zudem wurden soziodemografische Angaben zu Alter, Geschlecht, Schule und Klasse erfasst.
Design und Statistik Die Überprüfung der Vergleichbarkeit der Teilstichproben erfolgt bei den kategorialen Variablen („aktuelle Probleme“, Geschlecht und Schulformen) anhand von χ2-Tests. Die Vergleichbarkeit der kontinuierlichen Variablen, Alter und RS25-Gesamtwert wird mittels t-Testung bzw. Varianzanalysen (Schulformen) geprüft. Die Analyse des Einflusses von Stärken und Schwächen (SDQ ) und von außerschulischen Aktivitäten auf die Resilienz erfolgt explorativ mittels hierarchischer Regressionsanalyse. Die Skalen des SDQ und das Alter der Jugendlichen werden hierbei als kontinuierliche Prädiktoren der Resilienz (RS25) eingesetzt. Der SDQ-Gesamtwert wird wegen der linearen Abhängigkeit mit den Subskalen nicht berücksichtigt. Das Geschlecht und die außerschulischen Aktivitäten, die mit dem YSR erhoben wurden, werden dichotom, als sogenannte Dummy-Variablen (z. B. Sportaktivität, ja = 1, nein = 0), berücksichtigt, da hier allerhöchstens ein ordinales Datenniveau angenommen werden kann. Bei den Schulformen wird vor der Operationalisierung der Dummy-Variablen geprüft, inwieweit diese Angaben zu einem dichotomen Prädiktor zusammengefasst werden können. Das Entscheidungskriterium ist hierbei die Varianzhomogenität der drei Schultypen in Bezug auf die abhängige Variable (RS25) der Regressionsanalyse. Bei allen Analysen wurde ein zweiseitiges Signifikanzniveau von p = .05 festgelegt, die Analysen wurden mit dem Statistikpakt SPSS in der Version 20 durchgeführt.
Ergebnisse Stichprobenbeschreibung Aus einer Gesamtstichprobe von N = 751 gaben insgesamt 413 Jugendliche an, zum Zeitpunkt der Befragung Verhaltensprobleme zu haben. Von den in die Auswertung einbezogenen 413 Probanden waren 214 weiblich. Die Überprüfung der Häufigkeitsverteilung ergab keine signifikanten Geschlechtsunterschiede (χ2 = .554; p = .460). Das mittlere Alter beträgt 14.38 Jahre (SD = 2.12); signifikante Unterschiede zwischen den Geschlechtern können mit t = .360 (df = 411) und p = .719 nicht festgestellt werden. Gleiches gilt für die Ausprägung der Resilienz (RS25). Der Mittelwert der Resilienz ist bei den weiblichen Teilnehmern mit 117.21, bei den männlichen Probanden mit 117.14 annähernd gleich (t = .049; df = 400; p = .961).
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Die Häufigkeitsverteilung der Schulformen zeigt mit χ2 = 12.10 (p = .002) signifikante Unterschiede: Bei den gymnasialen Schülern berichten mit n = 202 weniger als statistisch erwartet (232.9) aktuelle Verhaltensprobleme, bei den Realschülern sind es mit n = 114 signifikant mehr als erwartet (87.9) und bei den Hauptschülern sind es n = 97 (erwartet 92.3). Eine signifikant unterschiedliche Verteilung der Schulform unter Berücksichtigung des Geschlechts kann mit χ2 = 5.97 (df = 2; p = .058) nicht nachgewiesen werden. Signifikante Unterschiede zwischen den Schulformen ergeben sich beim Alter der Jugendlichen. Die Kontrastergebnisse der univariaten Varianzanalyse (F = 56.42; df = 2; p = .000) ergeben, dass die gymnasialen Schüler signifikant älter als die Haupt- und Realschüler sind. Zu den Realschülern beträgt der Altersunterschied 1.91 Jahre, zu den Hauptschülern 2.03 Jahre. Zwischen Real- und Hauptschülern gibt es keinen signifikanten Altersunterschied. Bei der Resilienz (RS25) ergeben sich mit F = 0.171; df = 2 und p =.843 keine signifikanten Unterschiede zwischen den Schulformen. Überprüfung der Varianzhomogenität Bei der univariaten Varianzanalyse mit der AV Resilienz (RS25) muss anhand des Levene-Tests mit F = 3.47, df = 2 und p = .032 die Annahme der Varianzhomogenität für die drei Schulformen verworfen werden. Nach Ausschluss der Hauptschüler aus dem Varianzmodell wurde die Annahme der Varianzhomogenität anhand des Levene-Tests mit F =
1.522, df = 1 und p = .215 bestätigt. Aufgrund dieses Befundes wird angenommen, dass sich die Population der Hauptschüler grundsätzlich von der der Realschüler und Gymnasiasten im Hinblick auf die mit dem RS25 gemessene Resilienz unterscheidet und somit zwei unterschiedliche Vorhersagemodelle begründet. Da keine Varianzhomogenität vorliegt und somit davon auszugehen ist, dass es sich bezüglich der abhängigen Variable (RS25) um nicht vergleichbare Gruppen handelt, erwies sich ein einziges Modell mit allen drei Schulgruppen als nicht zielführend. Bei der Population der Realschüler und Gymnasiasten wird im Modell A der schrittweise Ausschluss von Prädiktoren mit dem vierten Vorhersagemodell abgeschlossen. Das resultierende Modell weist mit R = .516 und R2 = .266 einen zufriedenstellenden linearen Zusammenhang zwischen den verbliebenen Prädiktoren auf. Bei diesem Modell haben „sportliche Aktivitäten“ mit β = 16.31 und die Skala „Prosoziales Verhalten“ mit β = 2.82 einen deutlichen positiven Einfluss auf die Resilienz der Jugendlichen. Die mit den Skalen „Emotionale Probleme“ (β = –1.7) und „Hyperaktivität“ (β = –1.08) wirken in diesem Modell signifikant negativ auf die Höhe der Resilienz. Alle anderen Prädiktoren dieser Analyse haben keinen statistisch bedeutsamen Einfluss auf die Resilienz dieser Teilstichprobe (vgl. Tab. 1). Modell B: Bei den Hauptschülern ist die Iteration der hierarchischen Regressionsanalyse nach sechs Iterationen
Tabelle 1. Regressionsmodell zur Vorhersage der Resilienz (RS25) bei Gymnasiasten und Realschülern (Modell A) Abhängige Variable
Resilienz (RS25)
Nicht in das Modell aufgenommene Prädiktoren
Modellgüte
Prädiktoren des Modells 2
R
R
F(df)
p
.516
.266
27.656
.000
Einflussgröße der Prädiktoren β
t
p
Prosoziales Verhalten
2.82
6.61
.000
Emotionale Probleme
–1.70
–5.521
.000
Hyperaktivität
–1.08
–3.051
.000
Sport
16.31
2.775
.002
Verhaltensprobleme
0.018
Verhaltensprobleme mit Gleichaltrigen
–.012
0.340
.815
Orga
0.078
–0.234
.120
Hobby
–0.003
1.558
.948
Häusliche Pflichten
–0.031
–0.065
.541
Männlich
–0.029
–0.612
.595
Weiblich
–0.029
–0.612
.595
.004
.078
.938
Alter
.734
Anmerkungen. R und R2 = Zusammenhangmaße; F = statische Prüfgröße des Zusammenhangsmaßes; p = Wahrscheinlichkeit; β = Einflussgewicht des Prädiktors; t = statistische Prüfgröße; Orga = Mitarbeit in Organisationen.
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abgeschlossen. Die Varianzaufklärung dieses Modells ist mit R2 = .4014 (R = .643) deutlich höher als beim Modell A (vgl. Tab. 2). Bei den Hauptschülern haben, wie im vorherigen Modell, das „Prosoziale Verhalten“ einen positiven (β = 3.57) und „Emotionale Probleme“ (β = –2.6) einen negativen Einfluss auf die Resilienz der Jugendlichen. Abweichend vom Modell B wirken hier die „Mitarbeit in Organisationen“ (β = 15.78) und „Probleme mit Gleichaltrigen“ (β = 1.51) positiv auf die Höhe der Resilienz. Festzuhalten ist, dass weder das Alter noch das Geschlecht bei beiden Modellen Einfluss auf die Höhe der Resilienz der Jugendlichen hat.
Diskussion Bei beiden Regressionsmodellen wird deutlich, dass emotionale Probleme mit einer verminderten Resilienz im Jugendalter in Zusammenhang stehen. Dieser Befund knüpft an andere Arbeiten an. So fand sich beispielsweise bei Erwachsenen, dass als niedrig eingeschätzte eigene Resilienzen sowohl mit Ängstlichkeit als auch Depressivität assoziiert auftreten (Campbell-Sills, Cohan & Stein, 2006). Da vor allem im Jugendalter Depressionen gehäuft auftreten, führen sie (auch mit Behandlung) zu vielfältigen Problemen (Groen & Petermann, 2013). Eine norwegische Studie von Nrugham, Holen und Sund (2010) ging bei
knapp 2800 Schülern der 8. und 9. Klasse in einem Längsschnittverlauf von sechs Jahren dem Zusammenhang zwischen Suizidalität, depressiven Symptomen und Resilienz nach. Jene Schüler, die positiv hoch belastet waren und über Suizidversuche berichteten, wiesen eine signifikant niedrigere Resilienz und zudem bedeutsam höhere Depressionswerte auf als psychisch unauffällige Schüler. Hohe Resilienzwerte im Alter von 20 Jahren, d. h. zum Zeitpunkt der späteren Nachfolgeuntersuchung, korrelierten negativ mit suizidalem Verhalten, selbst wenn diese Personen in den vorherigen zwei Untersuchungen Anzeichen von Depressionen und erlebter Gewalt angegeben hatten. Diese Befunde belegen eindrucksvoll, wie die Resilienz zur psychischen Stabilität im Entwicklungsverlauf beiträgt. Bei beiden Regressionsmodellen konnte die positive Wirkung von prosozialem Verhalten auf die Resilienz festgestellt werden. Dies korrespondiert mit Befunden von Filipp und Aymanns (2010), die betonen, dass Hilfeverhalten eine effektive Strategie der Emotionsregulation bildet. Nach einer Studie von Blomfield und Barber (2011) zeigen Jugendliche mit außerschulischen Freizeitaktivitäten ein positives Selbstwertgefühl und soziales Selbstkonzept im Vergleich zu Jugendlichen, die über keine außerschulischen Freizeitaktivitäten berichteten. Dieses traf insbesondere bei Jugendlichen mit einem niedrigen sozioökonomischen Status zu, wobei bei den Aktivitäten Erfolgserlebnisse maßgebend erscheinen. Ein daraus re-
Tabelle 2. Regressionsmodell zur Vorhersage der Resilienz (RS25) bei den Hauptschülern (Modell B) Abhängige Variable
Resilienz (RS25)
Nicht in das Modell aufgenommene Prädiktoren
Modellgüte
Prädiktoren des Modells 2
R
R
F(df)
p
.643
.414
15.370
.000
Einflussgröße der Prädiktoren β
t
p
15.78
4.876
.000
Prosoziales Verhalten
3.57
4.743
.000
Emotionale Probleme
–2.6
–3.817
.000
Verhaltensprobleme mit Gleichaltrigen
1.51
2.012
.000
–.096
–0.902
.369
Hyperaktivität
.023
0.253
.801
Sport
.089
1.030
.306
Hobby
.026
.297
.767
Häusliche Pflichten
.104
1.172
.244
Männlich
.102
1.092
.278
–.102
–1.092
.278
.050
.584
.561
Orga
Verhaltensprobleme
Weiblich Alter
Anmerkungen. R und R2 = Zusammenhangmaße; F = statische Prüfgröße des Zusammenhangsmaßes; p = Wahrscheinlichkeit; β = Einflussgewicht des Prädiktors; t = statistische Prüfgröße; Orga = Mitarbeit in Organisationen.
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sultierendes positives Selbstwertgefühl wird häufig als Schutzfaktor postuliert, der sich günstig auf die Resilienzentwicklung bei widrigen Lebensumständen auswirkt (zusammenfassend Noeker & Petermann, 2008). Die vorliegenden Befunde bestätigen im Grundsatz diese Annahmen. Offensichtlich sind dabei, in Abhängigkeit vom sozialen Umfeld (hier operationalisiert durch unterschiedliche Schulformen), unterschiedliche Aktivitäten zu berücksichtigen. Während bei der Gruppe der Gymnasiasten und Realschüler sportliche Aktivitäten einen deutlichen Einfluss auf die Resilienz zeigen, ist dies mit ähnlich hohem Einfluss (β) bei Hauptschülern die Mitgliedschaft in Organisationen. Bei den vorliegenden Ergebnissen ist hervorzuheben, dass bei der Gruppe der Hauptschüler ein grundsätzlich negativ zu bewertendes Verhalten („Verhaltensprobleme mit Gleichaltrigen“) positiv auf die Ausprägung der Resilienz wirkt. Denkbar ist, dass gerade bei dieser Gruppe, die zudem signifikant jünger als die andere ist, die „Ausbildung“ von Resilienz als „Schutzschirm“ gerade in der Konfrontation mit Gleichaltrigen gefördert wird. In diese Richtung weisen auch die Ergebnisse einer Studie von Bender und Lösel (1997), die bei 15- bis 18-jährigen Jugendlichen aus stationären Suchttherapieeinrichtungen feststellten, dass Cliquenzugehörigkeit und subjektiv empfundene Zufriedenheit über soziale Unterstützung mit gesunden Verhaltensmustern einhergehen und andererseits ein empfundener Mangel an sozialen Ressourcen, z. B. durch das Gefühl von Ablehnung entstehend, mit erhöhtem Aggressionsverhalten und Kriminalität in Verbindung steht.
Limitationen Einschränkend muss festgehalten werden, dass bei der vorliegenden Untersuchung keine Aussagen über die Art der Sportarten oder Organisationen getroffen werden können. Denkbar ist, dass hier qualitative Unterschiede unterschiedliche Effekte auf die Resilienz haben können. Ebenfalls ist festzuhalten, dass die Anzahl der einzelnen Gruppen zum Teil gering ist, insbesondere die der Hauptschüler, um von ausreichend gesicherten Befunden auszugehen. Hervorzuheben ist jedoch, dass es offensichtlich, abhängig vom sozialen Umfeld, unterschiedliche Parameter gibt, die einen Einfluss auf die Ausprägung von Resilienz haben, die aber aufgrund fehlender Informationen hier nicht aufgeklärt werden können. Diese sollten bei zukünftigen Studien berücksichtigt werden, um gegebenenfalls im Rahmen eines Strukturgleichungsmodells analysiert werden zu können. Dabei sollte vor allem die Möglichkeit von unterschiedlichen Wirkfaktoren in Abhängigkeit vom sozialen Umfeld berücksichtigt werden. © 2016 Hogrefe
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Manuskript eingereicht: 23.02.2015 Nach Revision angenommen:25.03.2016 Interessenkonflikt: Nein Artikel online: 13.06.2016 Prof. em. Dr. Gerd Lehmkuhl Klinik und Poliklinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters, Klinikum der Universität zu Köln Robert-Koch-Str. 10 50931 Köln Deutschland gerd.lehmkuhl@uk-koeln.de
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Originalarbeit
Unterschiede in der Mutter-Kind-Bindung bei Frauen mit und ohne Soziale Phobie Ariane Kraft1,a, Susanne Knappe1,a, Katja Petrowski2,3, Johanna Petzoldt1 und Julia Martini1,4 1 2 3 4
a
Institut für Klinische Psychologie und Psychotherapie, Technische Universität Dresden Institut für Bewegungstherapie und bewegungsorientierte Prävention und Rehabilitation, Deutsche Sporthochschule Köln Klinik und Poliklinik für Psychotherapie und Psychosomatik, Medizinische Fakultät, Technische Universität Dresden Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie, Medizinische Fakultät, Technische Universität Dresden Ariane Kraft und Susanne Knappe teilen sich die Erstautorenschaft.
Zusammenfassung: Fragestellung: Untersuchung der Bedeutung von mütterlicher Sozialer Phobie für die Entwicklung der Mutter-Kind-Beziehung in einer prospektiv-longitudinalen Studie. Methodik: Eine Teilstichprobe von 46 Frauen mit vs. ohne Lebenszeitdiagnose einer Sozialen Phobie und deren Kindern wurde analysiert. Soziale Phobien der Mütter wurden mit dem Composite International Diagnostic Interview für Frauen (CIDI-V) erhoben. Die Mütter wurden zum ante- und postnatalen Bonding befragt (MAAS, MPAS) und die Kinder wurden 16 Monate nach der Geburt mit dem Fremde-Situations-Test beobachtet. Ergebnisse: Kinder von sozialphobischen Müttern waren in der Verhaltensbeobachtung prozentual häufiger unsicher gebunden (45.4 % vs. 33.3 %) und brauchten signifikant länger, um den Kontakt zur Mutter in der Wiedervereinigungsphase wiederherzustellen (U = 160.0, p = .019). In Bezug auf das ante- (t = -.151, p = .881) und postnatale (t = .408, p = .685) Bonding der Mutter an das Kind sowie im widerstehenden (U = 262.5, p = .969), vermeidenden (U = 311.5, p = .258) und kontakterhaltenden (U = 224.0, p = .373) Verhalten des Kindes in der Fremden Situation zeigten beide Gruppen vergleichbare Werte. Schlussfolgerungen: Möglicherweise haben Mütter mit Sozialer Phobie eine gehemmte Verhaltensdisposition weitergegeben oder ihre Kinder weniger zur sozialen Interaktion ermutigt als Mütter ohne Soziale Phobie. Wenn Kinder von sozialphobischen Müttern Interaktionsängste zeigen, sollte eine Aufklärung über verschiedene Therapiemöglichkeiten sowie über mögliche Konsequenzen des eigenen (Vermeidungs-)Verhaltens für die kindliche Entwicklung erfolgen. Schlüsselwörter: Angststörung, Soziale Phobie, Mutter-Kind-Bindung, Bindungsverhalten, prospektiv-longitudinale Studie
Maternal bonding and infant attachment in women with and without social phobia Abstract: Objective: To examine the association of maternal social phobia with maternal bonding and infant attachment in a prospective-longitudinal study (MARI study, N = 306). Method: A subsample of 46 women with and without lifetime social phobia (Composite International Diagnostic Interview for Women, CIDI-V) and their infants was investigated. Mothers reported antenatal and postnatal bonding (MAAS, MPAS). Infants’ attachment classifications/behavior were observed in the strange situation test at 16 months after delivery. Results: The rate of insecure attachment was higher in infants of mothers with social phobia (45.4 % vs. 33.3 %), and infants needed significantly more time to reconnect with their mothers during reunion in the strange situation (U = 160.0, p = .019). There were no group differences with regard to maternal bonding during pregnancy (t = -.151, p = .881) and after delivery (t = .408, p = .685) and resistant (U = 262.5, p = .969), avoidant (U = 311.5, p = .258) as well as contact-keeping behaviors (U = 224.0, p = .373) of the infant in the strange situation. Conclusions: Mothers with social phobia may transmit their inhibited behavioral disposition to their infants or fail to encourage their infants to interact with other people. Mothers with social phobia should be informed about the possible link of maternal avoidance behavior with adverse infant development and should be provided with information on treatment options. Keywords: anxiety disorder, social phobia, attachment, bonding, prospective-longitudinal study
Einleitung Den vielen Ansätzen zur Bindungsforschung ist gemein, dass hiermit ein „emotionales Band“ zwischen der Mutter (bzw. den Eltern) und dem Kind verstanden wird © 2016 Hogrefe
(Condon, 1993). Konzeptuell kann dabei zwischen mütterlicher Bindung an das Kind (engl.: „Bonding“) und kindlicher Bindung an die Mutter bzw. an eine primäre Bezugsperson (engl.: „Attachment“) unterschieden werden.
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Verschiedene Studien zeigen, dass psychische Störungen der Mutter (bspw. Angst- und depressive Störungen) die Entwicklung der emotionalen Beziehung zwischen Mutter und Kind beeinträchtigen können (Carter, GarrityRokous, Chazan-Cohen, Little & Briggs-Gowan, 2001; Condon & Corkindale, 1997; Manassis, Bradley, Goldberg, Hood & Swinson, 1994; Wan & Green, 2009), wobei insbesondere für die Postpartalzeit ein Zusammenhang zwischen mütterlicher Depression und einer ungünstigen Mutter-Kind-Bindung gut untersucht ist (u. a. Carter et al., 2001; Teti, Messinger, Gelfand & Isabella, 1995; Wan & Green, 2009). Auch berichten Frauen mit Angst- und/ oder depressiven Symptomen im Vergleich zu Frauen ohne diese Symptome häufig bereits in der Schwangerschaft (Condon, 1993; Hart & McMahon, 2006) und nach der Geburt (Feldman, Weller, Leckman, Kuint & Eidelmann, 1999; Figueiredo & Costa, 2009) eine weniger stark ausgeprägte emotionale Beziehung zu ihrem Kind. Zudem gibt es Hinweise, dass die Entwicklung der kindlichen Bindung ungünstig mit mütterlichen Angststörungen zusammenhängen könnte. Im Vergleich zur Untersuchung von Ainsworth, Bell und Stayton (1971) an gesunden Mutter-Kind-Dyaden, in der nur ein Drittel der Kinder (34 %) als „unsicher gebunden“ klassifiziert wurde, berichten Manassis und Kollegen (1994), dass mehr als die Hälfte der Kinder von Müttern mit einer diagnostizierten Angststörung (55 %) eine unsichere Bindungsklassifikation erhielten. In einer anderen Studie an Kindern von Müttern mit einer manifesten Angststörung (Buchheim et al., 2007) waren es sogar 83 %. Weiterhin berichten Stevenson-Hinde, Shouldice und Chicot (2011), dass Mütter mit unsicher-widerstehend gebundenen Kindern signifikant höhere Angstwerte aufwiesen als Mütter von sicher gebundenen Kindern. Andere Autoren finden jedoch keine Zusammenhänge zwischen mütterlicher Angst und einer ungünstigen Mutter-Kind-Bindung (Zachariah, 2009; Warren, Huston, Egeland & Sroufe, 1997). Die Studienlage kann daher als uneindeutig bezeichnet werden – nicht zuletzt aufgrund eher kleiner Stichproben, bei denen die mütterliche Psychopathologie auf dimensionaler Ebene und mittels Fragebögen statt auf der Ebene manifester psychischer Störungen und mittels diagnostischer Interviews erfasst wurde; ebenso fehlen prospektiv-longitudinale Studiendesigns. Damit bleibt bislang offen, welchen Erklärungsbeitrag mütterliche Angst(-störungen) – auch unabhängig von mütterlicher Depressivität oder depressiven Störungen – für das Bonding bzw. Attachment haben (Correia & Linhares, 2007; O’Connor, Heron & Vivette, 2002). Speziell für die Soziale Phobie oder Soziale Angststörung (SAD) als eine interpersonelle Störung (Alden & Taylor, 2004), die bei bis zu 6.4 % der (werdenden) Mütter vorliegt (Goodman, Chenausky & Freeman, 2014), chro-
A. Kraft und S. Knappe et al., Bindung bei Sozialer Phobie
nisch-persistierend verläuft und hoch komorbid mit depressiven Störungen ist (Wittchen & Fehm, 2003), wurde dies bisher kaum (vgl. Buchheim et al., 2007) untersucht. Bekannt ist, dass Kinder von Müttern mit einer SAD ein höheres Risiko haben, später selbst unter dieser oder einer anderen psychischen Störung zu leiden (Knappe, BeesdoBaum & Wittchen, 2010) und in der Gegenwart von fremden Personen eher schüchtern und ängstlich reagieren. Neben kindlichen Temperamentsfaktoren (z. B. Verhaltenshemmung; Biederman et al., 2001) und Erziehungsstilen (z. B. Überbehütung; Knappe et al., 2009; Budinger, Drazdowksi & Ginsburg, 2013) wird z. B. auch eine geringere oder fehlende Ermutigung der Mutter zur Interaktion mit Fremden als Erklärung herangezogen (Murray et al., 2007). Diese vornehmlich familiären Risikofaktoren sind insbesondere vor dem Hintergrund der Erstmanifestation der SAD im Kindes- und Jugendalter relevant, wenn Mütter (Familien) als primäre soziale Bezugspersonen und -modelle für das Erleben und Handeln in sozialen Interaktionen fungieren. So ergänzen Murray, Cooper, Creswell, Schofield und Sack (2007) Hinweise auf die spezifische Rolle mütterlicher SAD durch die Beobachtung, dass sich Mütter mit einer Generalisierten Angststörung nicht im Interaktionsverhalten von gesunden Müttern unterschieden. Darüber hinaus wird spekuliert, ob es bestimmte Zeitfenster für die familiäre Transmission der SAD gibt: genetische Faktoren sind möglicherweise eher auf phänotypischer Ebene, intrauterin oder peripartal relevant, während Umweltfaktoren im Verlaufe der postnatalen Entwicklung mehr Bedeutung zukommt (zum Überblick vgl. Wong & Rapee, 2015). Dies könnte als Hinweis auf spezifische Zusammenhänge dahingehend gewertet werden, dass mütterliche Angststörungen mit ungünstigem Attachment, und mütterliche depressive Störungen mit Bonding assoziiert sind. Vor diesem Hintergrund wurde in der vorliegenden Untersuchung der Frage nachgegangen, ob mütterliche SAD einen Risikofaktor für die Entwicklung einer problematischen Mutter-Kind-Beziehung darstellt. Es wurde zunächst untersucht, ob Frauen mit SAD in ihrer Schwangerschaft und nach der Geburt eine geringer ausgeprägte Bindung an ihr Kind (Bonding) berichten als Frauen ohne SAD. Zudem wurde die Bindungsqualität des Kindes an die Mutter (Attachment) in einer standardisierten Beobachtungssituation (Fremde Situation) erfasst mit der Frage, ob Kinder von Müttern mit einer SAD häufiger unsicher gebunden sind bzw. in der Fremden Situation ein anderes Bindungsverhalten zeigen als Kinder von Frauen ohne SAD. Aufgrund der hohen Komorbidität zwischen SAD und depressiven Störungen (Wittchen & Fehm, 2003) sowie Assoziationen zwischen mütterlichen depressiven Störungen mit kindlicher Bindungsunsicherheit (Carter et al.,
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A. Kraft und S. Knappe et al., Bindung bei Sozialer Phobie
2001; Wan & Green, 2009) wird zusätzlich die Bindungsklassifikation von Kindern sozialphobischer Mütter mit vs. ohne komorbide depressive Störung dargestellt.
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Material und Methoden
gezogen, die mit ihren Kindern an der Beobachtung zu T7 teilgenommen haben. In Tabelle 1 sind soziodemografische Merkmale dieser Mutter-Kind-Paare vergleichend dargestellt. Für die dargestellten soziodemografischen Merkmale ergaben sich keine signifikanten Unterschiede zwischen Frauen mit SAD und der Referenzgruppe.
Stichprobe
Durchführung und Instrumente
Die Analysen basieren auf einer Teilstichprobe der prospektiv-longitudinalen MARI-Studie (maternal anxiety and it’s relation to infant’s development) (Martini et al., 2013) aus dem Großraum Dresden. Die Rekrutierung erfolgte persönlich durch Studienmitarbeiter in Frauenarztpraxen, wenn die Frauen zwischen 18 und 40 Jahre alt waren, und die 12. Schwangerschaftswoche noch nicht vollendet war. Ausschlusskriterien waren: Mehrlingsschwangerschaften; drei oder mehr Fehlgeburten, Schwangerschaftsabbrüche, Totgeburten bzw. Kindsschädigungen bzw. invasive Sterilitätsbehandlungen in der Vorgeschichte; schwere körperliche/organische Erkrankungen, Kleinwuchs oder Skelettanomalien; Einnahme von Drogen bzw. Heroinsubstitution; ernste psychiatrische Erkrankungen; das Vorhaben, den Großraum Dresden zu verlassen sowie ungenügende Beherrschung der deutschen Sprache. Insgesamt wurden in der MARI-Studie N = 306 Frauen untersucht. Die Studie umfasste sieben Messzeitpunkte (T1: 10.–12. Schwangerschaftswoche (SSW), T2: 22.– 24. SSW, T3: 35.–37. SSW, T4: 10 Tage postpartum (pp), T5: 2 Monate pp, T6: 4 Monate pp; T7: 16 Monate pp). Zu T6 und T7 wurden jeweils Verhaltensbeobachtungen mit den Müttern und ihren Kindern (zu T7 Fremde Situation) durchgeführt. Alle Studienteilnehmerinnen wurden persönlich und schriftlich über die Ziele und den Ablauf der Studie informiert (informed consent). Das positive Votum der Ethikkommission der Medizinischen Fakultät des Universitätsklinikums Dresden liegt vor (EK 94042007). Insgesamt erfüllten N = 26 Teilnehmerinnen die Kriterien für eine SAD, wobei alle Fälle bereits vor der Schwangerschaft erstmals eintraten (Lebenszeitdiagnose; vgl. Martini et al., 2015). Davon stimmten N = 3 Frauen einer Verhaltensbeobachtung mit ihren Kindern nicht zu, und N = 1 Mutter brach die Verhaltensbeobachtung in der Fremden Situation ab. Demzufolge basiert die vorliegende Analyse auf N = 22 Frauen, die die Kriterien für eine SAD erfüllten und mit ihren Kindern an der Beobachtung zu T7 teilnahmen. Darüber hinaus wurde randomisiert eine Vergleichsgruppe von N = 24 Frauen ohne Angst- und depressive Störung vor, während und nach der Schwangerschaft
Die Erfassung der lebenszeitbezogenen mütterlichen SAD und anderen Angst- und depressiven Störungen (DSM-IV) erfolgte mit dem Composite International Diagnostic Interview für Frauen (CIDI-V; Martini, Wittchen, Soares, Rieder & Steiner, 2009) durch geschulte Interviewer (Lebenszeitversion zu T1, Intervallversion zu den Follow-upUntersuchungen T2, T3, T5, T6 und T7). Das CIDI ist ein standardisiertes diagnostisches Interview zur Erfassung psychischer Störungen nach DSM-IV und ICD-10. Für das WHO-CIDI liegen sehr gute Retest-Reliabilitäten (für Angst- und depressiven Störungen r = .52–.84, für Soziale Phobie r = .64; Wittchen, 1994) und Beobachterübereinstimmungen vor (r > .90; Wittchen, 1994). Zur Erfassung des mütterlichen antenatalen (2. Schwangerschaftstrimester) und postnatalen (4 Monate nach der Geburt) Bondings wurden die deutschen Übersetzungen der Maternal Antenatal Attachment Scale (MAAS; Condon, 1993) und der Maternal Postnatal Attachment Scale (MPAS; Condon & Corkindale, 1998) genutzt. In der MAAS werden Gedanken und Gefühle von werdenden Müttern in Bezug auf das sich entwickelnde Kind während der Schwangerschaft erfragt. Die MPAS erfasst hingegen die emotionalen Reaktionen der Mutter gegenüber ihrem Kind auf verschiedenen Bindungsdimensionen im 1. Lebensjahr. Die internen Konsistenzen für die Gesamtskalen liegen in der Originalversion bei α > .78. Die Retest-Reliabilität für ein 2-Wochen-Intervall wird mit r = .86 angegeben (Condon & Corkindale, 1998). Aufgrund der sorgfältigen (Rück-)Übersetzung waren die psychometrischen Eigenschaften der hier verwendeten deutschen Version vergleichbar mit denen der Originalversion. Die internen Konsistenzen lagen bei α = 0.82 (MAAS) bzw. α = 0.78 (MPAS). Das kindliche Bindungsverhalten (Attachment) wurde mit dem „Fremde-Situations-Test“ nach Ainsworth, Blehar, Waters und Wall (1978) erfasst, als die Kinder im Mittel 16 Monate (M = 15.9, SD = 0.86, Range 14–20 Monate) alt waren. Diese standardisierte Beobachtung, bestehend aus acht Episoden mit Spiel- und Trennungssituationen, dient der Einschätzung der Bindungsqualität des Kindes an die Mutter (sicher, unsicher-vermeidend, unsicher-widerstehend und unsicher-desorganisiert). Darüber hinaus
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A. Kraft und S. Knappe et al., Bindung bei Sozialer Phobie
Tabelle 1. Soziodemografische Merkmale der Mütter mit (N = 22) und ohne Sozialphobie vor der Schwangerschaft (N = 24). Frauen mit Sozialer Phobie (N = 22)
N
Frauen ohne Angst- und depressive Störung (N = 24)
%
N
%
Prüfgröße
p
Netto-Haushaltseinkommen (monatlich) weniger als 500 €
5
22.7
4
16.7
500–1 500 €
7
31.8
9
37.5
1 500–2 500 €
5
22.7
8
33.3
2 500–3 500 €
3
13.6
3
12.5
3 500–4 500 €
2
9.1
0
0.0
7
31.8
6
25.0
15
68.2
18
75.0
20
90.9
23
95.8
2
9.1
1
4.2
sehr erwünscht
13
59.1
13
54.1
eher erwünscht
9
40.9
9
37.5
eher nicht erwünscht
0
0.0
1
4.2
gar nicht erwünscht
0
0.0
1
4.2
männlich
15
68.2
12
50.0
weiblich
7
31.8
12
50.0
18
81.8
20
83.3
Kaiserschnitt
4
18.2
1
4.2
vaginal-operative Entbindung
0
0.00
3
12.5
0
0.0
1
95.8
22
100
23
4.2
–1
.692
–1
.746
–1
.600
–1
<= .999
–1
.245
–1
.121
–1
<= .999
t =–.9832
.331
t =.0942
.925
Familienstand verheiratet niemals verheiratet Zusammenleben mit Partner ja nein Erwünschtheit der Schwangerschaft
Geschlecht des Kindes
Geburtsmodus spontane Entbindung
Frühgeburt (vor 37.SSW) ja nein Gewicht MW
3512.3
3387.9
SD
511.6
334.8
MW
50.5
50.5
SD
1.7
1.5
Länge
Anmerkungen: N = absolute Häufigkeit; % = relative Häufigkeit in Prozent; M = Mittelwert; SD = Standardabweichung; * Mehrfachnennungen möglich; 1 Fisher’s Exact; 2 T-Test für unabhängige Stichproben bei homogenen Varianzen, p = Signifikanz (zweiseitig, α = .05). Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie (2017), 45 (1), 49–57
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A. Kraft und S. Knappe et al., Bindung bei Sozialer Phobie
können in der Wiedervereinigungsphase vier Verhaltensskalen (kontakterhaltendes, kontaktwiedererlangendes, vermeidendes und widerstehendes Verhalten) für die Interaktion mit der Mutter ausgewertet werden. Die Skala Kontakterhalten erfasst, wie aktiv und beharrlich das Kind versucht, den Kontakt mit dem Erwachsenen aufrechtzuerhalten, nachdem dieser hergestellt wurde. Das Wiedererlangen von Kontakt und Nähe beschreibt die Intensität und Ausdauer des Kindes, den Kontakt nach einer Kontaktunterbrechung wiederherzustellen. Auf der Skala Vermeiden von Nähe und Interaktion wird beurteilt, wie intensiv und anhaltend das Kind die Nähe und Interaktion zum Erwachsenen meidet. Wenn das Kind Abwehrverhalten gegenüber dem Erwachsenen zeigt (Ärger, wegstoßen, Gegenstände wegwerfen etc.), wird dies auf der Skala Widerstand gegen Kontakt und Nähe kodiert.
Auswertung Die Videokodierung wurde nach einer Expertenschulung mit der Software „Interact Version 9.0.7.“ (Mangold Software & Consulting GmbH, 2009) durchgeführt. Die Versuchsleiter und Kodierer waren bzgl. der mütterlichen Diagnosen verblindet. Alle Kodierer bekamen ein mindestens 3-wöchiges Training durch eine geschulte Expertin (KP) basierend auf dem Vorgehen von Ainsworth und Kollegen (1971). Um eine ausreichend hohe Beobachterübereinstimmung (Kappa > 0.8) zu erzielen, wurden nach dem Training mindestens 10 Videos kodiert (Murray et al., 1996). Die Kodierungen wurden engmaschig auf ihre Qualität durch KP geprüft und supervidiert. Zur Qualitätssicherung und Berechnung der Beobachterübereinstimmung wurden 20 % der Videos durch KP und die Kodierer kodiert. Für die Bindungsklassifikation ergab sich ein Kappa-Koeffizient von 1.00. Für die dimensionalen Skalen wurden aufgrund des metrischen Datenniveaus die Intraklassenkorrelation (ICC) berechnet. Sie gilt als das geeignetste Reliabilitätsmaß für intervallskalierte Ratings und ist definiert als Korrelation eines beliebigen Raterpaares (Wirtz & Caspar, 2002). Für die Skalen Kontakterhalten und Kontakt wiedererlangen ergab sich eine ICC von 0.84 und 0.76, für die Skala Widerstand eine ICC von 0.90 und für die Skala Vermeidung ein ICCWert von 0.93.
Statistische Datenauswertung Die Datenanalyse erfolgte mit SPSS (Version 20.0). Aufgrund der relativ kleinen Stichprobengröße wurde bei kategorialem bzw. alternativem Datenniveau der Fisher’s Exact Test, bei ordinalem Datenniveau der Mann-Whitney © 2016 Hogrefe
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U-Test und bei metrischem Datenniveau der T-Test für unabhängige Stichproben berechnet und mit einer Irrtumswahrscheinlichkeit von p < 0.05 abgesichert.
Ergebnisse Mütterliche SAD und ante- und postnatales Bonding Es zeigen sich keine signifikanten Unterschiede zwischen Frauen mit und ohne SAD im Bonding an das Kind während der Schwangerschaft (MAAS: MWkSAD = 75.8, SDkSAD = 8.1 vs. MWSAD = 76.2, SDSAD = 7.5, t = –.151, p = .881) oder nach der Geburt (MPAS: MWkSAD = 85.5, SDkSAD = 5.4 vs. MWSAD = 84.8, SDSAD = 6.5, t = .408, p = .685).
Mütterliche SAD und Attachment Ein deskriptiver Vergleich zwischen Frauen mit Sozialphobie und jenen der Studie von Ainsworth und Kollegen (1971) zeigte, dass in der vorliegenden Stichprobe sozialphobische Mütter prozentual weniger Kinder eine sichere Bindungsklassifikation aufwiesen (54.6 % vs. 66.1 %). Inferenzstatistisch konnte dieser Unterschied jedoch nicht abgesichert werden (Fisher’s Exact: p = .539). Weitere Details zu diesen Vergleichen sind bei der Korrespondenzautorin erhältlich. Es ergaben sich keine statistisch signifikanten Unterschiede in den Verteilungen der Bindungsklassifikationen bei Kindern von Frauen mit vs. ohne SAD (s. Tab. 2). Allerdings waren zwei Drittel der Kinder von Frauen ohne SAD sicher gebunden (66.7 %), bei Kindern sozialphobischer Frauen waren es nur etwa die Hälfte (54.6 %). Zudem wurde bei Kindern sozialphobischer Mütter prozentual häufiger eine unsicher-vermeidende Bindungsklassifikation vergeben (31.8 % vs. 20.8 %). In der Wiedervereinigungsphase der Fremden Situation bemühten sich die Kinder von Frauen mit einer SAD im Vergleich zu den Kindern von Frauen ohne SAD signifikant weniger, den Kontakt zu ihrer Mutter wiederzuerlangen (MWkSAD = 4.8, SDkSAD = 1.9 vs. MWSAD = 3.5, SDSAD = 1.9; U = 160.0, p = .019). In Bezug auf widerstehendes (MWkSAD = 1.9, SDkSAD = 1.5 vs. MWSAD = 2.0, SDSAD = 1.8; U = 262.5, p = .969), vermeidendes (MWkSAD = 2.3, SDkSAD = 2.1 vs. MWSAD = 2.6, SDSAD = 1.8; U = 311.5, p = .258) und kontakterhaltendes (MWkSAD = 4.0, SDkSAD = 2.0 vs. MWSAD = 3.5, SDSAD = 2.1; U = 224.0, p = .373) Verhalten der Kinder in der WiedervereinigungSADhase ergaben sich keine signifikanten Unterschiede.
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A. Kraft und S. Knappe et al., Bindung bei Sozialer Phobie
Tabelle 2. Ergebnisse des Fisher‘s Exact Test für die Bindungsklassifikationen der Fremden Situation. Frauen mit Sozialer Phobie (N = 22)
Frauen ohne Soziale Phobie (N = 24)
N
%
N
%
7
31.8
5
20.8
12
54.6
16
66.7
3
13.6
3
12.5
sicher (B)
12
54.6
16
66.7
unsicher (A+C)
10
45.4
8
33.3
Soziale Phobie vs. Frauen ohne Soziale Phobie Fishers Exakt (p)
Bindungsqualität A (unsicher- vermeidend) B (sicher) C (unsicher- ambivalent)
.761
.547
Anmerkungen: N = absolute Häufigkeit; % = relative Häufigkeit in Prozent; p = Signifikanz (zweiseitig, α = .05).
Attachment von Kindern sozialphobischer Frauen mit vs. ohne komorbide depressive Störung Insgesamt wurde bei 15 der 22 Frauen mit einer SAD eine komorbide depressive Störung diagnostiziert. Abbildung 1 zeigt, dass Frauen mit SAD ohne depressive Störung häufiger unsicher gebundene Kinder hatten als Frauen mit SAD und komorbider depressiver Störung (57.1 % vs. 40.0 %). Dabei handelte es sich bei den Frauen mit SAD ohne depressive Störung immer um eine unsicher-vermeidende Bindung. Bei Frauen mit SAD und depressiver Störung waren die Kinder zu gleichen Teilen unsicher-vermeidend und unsicher-ambivalent gebunden.
Abbildung 1. Häufigkeit (N) der Bindungsklassifikation für sozialphobische Frauen mit (N = 15) und ohne depressive Störung (N = 7)
Diskussion In der vorliegenden Studie wurde untersucht, ob das Vorliegen einer mütterlichen SAD, die bereits vor der Schwangerschaft erstmals eintrat, mit einer ungünstigen Entwicklung der Mutter-Kind-Beziehung assoziiert ist. Anders als in Studien, in denen Frauen mit Angstsymptomen allgemein ein geringeres ante- und postnatales Bonding berichten (Condon & Corkindale, 1997; Feldman et al., 1999), konnten in dieser Studie keine signifikanten Unterschiede speziell zwischen Frauen mit und ohne SAD hinsichtlich des Bondings beobachtet werden. Im Einklang mit früheren Befunden zu Angststörungen im Allgemeinen (Buchheim et al., 2007; Manassis et al., 1994; Stevenson-Hinde et al., 2011) zeigte diese Studie aber auch, dass bei Frauen mit SAD fast die Hälfte der Kinder unsicher gebunden waren im Vergleich zu etwa einem Drittel der Kinder von Frauen ohne SAD (45.4 % vs. 33.3 %). Dieses Ergebnis konnte jedoch aufgrund der geringen Stichprobengröße inferenzstatistisch nicht abgesichert werden. Ferner zeigte sich in der Verhaltensbeobachtung, dass die Kinder von Frauen mit SAD in der Wiedervereinigungsphase der Fremden Situation signifikant länger brauchten, um den Kontakt zur Mutter wiederherzustellen. Dieses Ergebnis steht im Einklang mit den Ergebnissen von Kaitz, Maytal, Devor, Bergman und Mankuta (2010), wonach Kinder von Müttern mit einer Angststörung bei sozialen Herausforderungen weniger kommunikatives und emotionales Verhalten, einen abgeflachten Affekt, Hemmung oder Vermeidung zeigen. Die Ergebnisse könnten aber auch dadurch erklärt werden, dass sozialphobische Mütter die standardisierte Beobachtungssituation aufgrund von Bewertungsängsten, erhöhter Selbstaufmerksamkeit oder sozialphobischen Kognitionen und Emotionen (z. B. Angst, Scham)
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anders wahrnahmen als Mütter ohne SAD. Möglicherweise verhielten sich diese Mütter in der Fremden Situation somit in ungewohnter Weise gegenüber ihren Kindern. Das könnte dazu geführt haben, dass auch ihre Kinder in der Beobachtungssituation irritiert waren und sich anders verhielten, z. B. indem sie ein unsicheres Kontaktverhalten gegenüber der Mutter zeigten. Diese Überlegungen unterstützen die Ergebnisse von Kaitz und Maytal (2005), wonach sich Kinder von Müttern mit einer Angststörung und gering ausgeprägter Feinfühligkeit eher zurückziehen oder keinen Kontakt zur Mutter suchen. Es wäre aber auch möglich, dass diese Kinder das beobachtete mütterliche Vermeidungsverhalten imitieren. Gerade im Hinblick auf die Wechselseitigkeit der Mutter-Kind-Interaktion muss daher offenbleiben, ob unsicher gebundene Kinder das mütterliche Verhalten evozieren oder verstärken, welche anderen kindbezogenen Merkmale (wie etwa frühkindliche Verhaltenshemmung) eine Rolle spielen und ob das Verhalten der Mutter z. B. in Alltagssituationen aus der eigenen Sorge heraus, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen, resultiert. In Situationen, in denen Mütter mit ihrem Kind im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit anderer stehen (z. B. wenn das Kind in der Öffentlichkeit weint), haben sozialängstliche Mütter ob ihrer Angst möglicherweise weniger Ressourcen als nicht-sozialängstliche Mütter, um die kindlichen Signale wahrzunehmen und adäquat (z. B. feinfühlig) zu reagieren. Das Kind könnte in solchen Situationen seine Mutter möglicherweise anders erleben als in der gewohnten Umgebung zu Hause. Ein solches inkonsistentes Verhalten wird im Zusammenhang mit der Entstehung und Aufrechterhaltung von psychischen Störungen diskutiert und könnte sich – wie in unserer Studie beobachtet – bereits im Säuglings- und Kleinkindalter ungünstig auf die Entwicklung der Mutter-Kind-Beziehung ausgewirkt haben (Berkic & Schneewind, 2007; Perrez & Bodenmann, 2009). Zugleich sollte auch hier betont werden, dass (antizipierte) Merkmale des Kindes mütterliches Verhalten prägen können. Da viele Studien auf eine negative Assoziation zwischen mütterlichen depressiven Störungen und kindlicher Bindungssicherheit verweisen (z. B. Wan & Green, 2009), wurde zusätzlich das Vorliegen depressiver Störungen berücksichtigt. Sozialphobische Frauen mit einer depressiven Störung hatten entgegen intuitiver Annahmen prozentual mehr sicher gebundene Kinder als sozialphobische Frauen ohne depressive Störung. Denkbar wäre, dass sozialphobische Frauen mit einer depressiven Störung weniger sozial responsiv (vgl. Murray et al., 2007) und emotional ausdrucksarmer reagieren als sozialphobische Mütter ohne eine komorbide depressive Störung. Eine komorbide Depression verdeckt daher möglicherweise Irritationen und Zeichen sozialer Angst bei den Müttern und erhöht so die Chancen auf eine sichere Bindung bei gegebener SAD. © 2016 Hogrefe
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Weiterhin zeigte sich, dass alle unsicher gebundenen Kinder von Müttern mit einer „reinen“ SAD als unsichervermeidend klassifiziert wurden. Hingegen waren Kinder von Frauen mit SAD und komorbider depressiver Störung zu gleichen Teilen unsicher-vermeidend und unsicherambivalent gebunden. Dieses Ergebnis könnte dadurch erklärt werden, dass sich zumindest einige der Mütter mit SAD und depressiver Störung inkonsequenter, teilnahmsloser und ablehnender gegenüber ihren Kindern verhalten (z. B. Carter et al., 2001), sodass dieses ambivalente mütterliche Verhalten das Risiko für die Entwicklung einer unsicher-ambivalenten Bindung erhöht hat. Insgesamt müssen die Subanalysen zum Vorliegen komorbider Depressionen aufgrund der geringen Stichprobengröße jedoch mit Zurückhaltung interpretiert werden.
Stärken und Limitationen der Studie Die Ergebnisse müssen auch vor dem Hintergrund der Stärken und Schwächen der Studie betrachtet werden. So stellen das streng prospektiv-longitudinale Design und die Erfassung mütterlicher Psychopathologie mittels eines standardisierten diagnostischen Interviews zu mehreren Erhebungszeitpunkten sowie deren computerisierte Auswertung eine maßgebliche Ergänzung innerhalb dieses Themenfeldes dar. Die Durchführungs- und Auswertungsobjektivität können als sehr gut bewertet werden. Zugleich führt eine kategoriale Diagnostik möglicherweise eher zu kleineren Fallzahlen als eine dimensionale Diagnostik, bei der auch subklinische Ausprägungen sozialer Ängste berücksichtigt werden könnten. Die Erfassung des Bondings erfolgte mittels etablierter Instrumente, auch wenn nicht ausgeschlossen werden kann, dass Frauen mit einer SAD aufgrund eigener hoher sozialer Standards bzw. ihrer Befürchtung abgelehnt zu werden, in den Fragebögen ein sozial erwünschtes Antwortverhalten zeigten und ihre Beziehung zum Kind positiver darstellten, als sie diese tatsächlich empfanden. Für das Attachment (Bindungsklassifikation und kindliches Verhalten) basierend auf der standardisierten Verhaltensbeobachtung ergaben sich sehr gute Beobachterübereinstimmungen. Insgesamt ist anzunehmen, dass mütterliche SAD (und andere psychische Störungen) einen relevanten Aspekt in der Gestaltung der Mutter-Kind-Interaktion darstellen. So wird u. a. das Bindungsverhalten eines Kindes als Erklärungsfaktor für die familiäre Transmission sozialer Angst und anderer psychischer Störungen betrachtet. Im Hinblick auf eine multifaktorielle Ätiologie von Bindungsstörungen, die Wechselseitigkeit der Mutter-Kind-Interaktion und letztlich den eher explorativen Charakter dieser Untersuchung ist jedoch von höchstens moderaten Effektstärken auszugehen. Daher können die Ergebnisse aus der Verhaltens-
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beobachtung auch Hinweise für Hypothesen über zugrunde liegende Prozesse liefern, etwa ob das Kontaktverhalten des Kindes spezifisch-prädiktiv für die Manifestation psychischer Störungen des Kindes sein kann. Zukünftige Studien in dieser Hinsicht würden auch von Betrachtungen zur Rolle väterlicher psychischer Gesundheit und des väterlichen Interaktionsverhaltens profitieren.
Fazit für die Praxis Die Ergebnisse dieser Studie zeigen auch, dass sozialphobische Mütter nicht per se als Risikogruppe für eine problematische Mutter-Kind-Beziehung verstanden werden dürfen. Es lassen sich zwar einerseits Hinweise darauf finden, dass der Anteil unsicher gebundener Kinder bei Müttern mit SAD prozentual höher sein könnte und dass die Kinder dieser Frauen in der Fremden Situation gewisse Verhaltensbesonderheiten aufweisen. Andererseits zeigen Mütter trotz psychischer Belastetheit mit einer SAD ein vergleichbares Bonding an ihre (ungeborenen) Kinder wie Mütter ohne Angst- und depressive Störung. Verlegene, unsichere und angespannte Interaktionsverhaltensweisen von (werdenden) Müttern mit SAD könnten bereits im Rahmen regelmäßiger Vorsorgeuntersuchungen bei Frauen- und Kinderärzten auffallen. Möglicherweise zweifeln diese Frauen besonders stark oder häufig an ihren Fähigkeiten in der neuen Mutterrolle, die mit verschiedenen gesellschaftlichen Erwartungen verknüpft ist. Daher ist es bei solchen Patientinnen besonders wichtig, ein vertrauensvolles Arzt-Patienten-Verhältnis aufzubauen (Martini, Weidner & Hoyer, 2008), um ggf. über mögliche Zusammenhänge zwischen eigenen Vermeidungstendenzen in angstbesetzten Situationen und frühkindlicher Entwicklung aufzuklären und bei Bedarf entsprechende Unterstützungsangebote zur weiteren Abklärung und ggf. Intervention zu formulieren.
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Jun.-Prof. Julia Martini, Dipl.-Psych. Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie Medizinische Fakultät, Technische Universität Dresden Schubertstr. 42 01307 Dresden Deutschland julia.martini@tu-dresden.de
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Originalarbeit
Häufigkeit psychischer Störungen bei unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen in Deutschland Marco Walg1, Ewgeni Fink2, Mark Großmeier1, Miguel Temprano3 und Gerhard Hapfelmeier1 1 2 3
Sana-Klinikum Remscheid Kaiserswerther Diakonie Düsseldorf Psychosoziales Zentrum Düsseldorf
Zusammenfassung: Fragestellung: Erstmals wird die Häufigkeit psychischer Störungen bei unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen in Deutschland untersucht. Methodik: Es handelt sich um eine retrospektive Datenanalyse. Von 2013 bis 2015 wurden Flüchtlinge mit auffälliger Symptomatik von einer Clearingstelle zur diagnostischen Einschätzung in einer kinder- und jugendpsychiatrischen Ambulanz vorgestellt. Hierzu wurde eine Spezialsprechstunde angeboten. Neben den Diagnosen wurde die Zahl der Notfallvorstellungen aufgrund psychischer Krisen vor und nach Einführung der Sprechstunde in der Klinik erfasst. Ergebnisse: Bei 56 von 75 Flüchtlingen (75 %) wurde eine psychische Störung festgestellt. Am häufigsten wurden Posttraumatische Belastungsstörungen und depressive Episoden diagnostiziert. Nach Einführung des Sprechstundenangebotes reduzierte sich die Zahl der Flüchtlinge, die aufgrund einer Krisensituation erstmals in der Klinik vorstellig wurden. Schlussfolgerungen: Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge stellen eine psychisch schwer belastete Gruppe dar. Die Einrichtung von speziellen Sprechstunden in Kooperation mit Clearingeinrichtungen und Wohngruppen begegnet in sehr guter Weise den Herausforderungen der gesundheitlichen Versorgung von Flüchtlingen. Insbesondere ermöglicht ein solches Angebot ein besseres Krisenmanagement. Schlüsselwörter: Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, UMF, psychische Störungen, Posttraumatische Belastungsstörung, Versorgung
The proportion of unaccompanied refugee minors suffering from psychiatric disorders in Germany Abstract: Objective: This article is the first investigation into the proportion of unaccompanied refugee minors suffering from psychiatric disorders in Germany. Method: In a retrospective study done between 2013 and 2015, any refugees showing symptoms of a psychiatric disorder during their stay in a residential refugee center were referred to an Outpatient Department of Child and Adolescent Psychiatry for diagnostic assessment. To this end, special consultation hours were arranged. Besides the diagnoses, the number of emergency consultations occurring before and after the implementation of the special consultation hours was recorded. Results: Of the 75 refugee minors (75 %) referred, 56 were suffering from a psychiatric disorder, with posttraumatic stress disorder and depression being the most common diagnoses. Following implementation of the consultation hours, the number of refugee patients initially admitted in the Child and Adolescent Psychiatry on an emergency basis fell. Conclusions: Unaccompanied refugee minors are a highly vulnerable group that poses great challenges to clinical care. The implementation of special consultation hours is a constructive option for meeting these challenges. In particular, this special offer enables improvement of crisis management in the case of emergency consultations. Keywords: unaccompanied refugee minors, URM, psychiatric disorders, posttraumatic stress disorder, clinical care
Einleitung Dem Halbjahresbericht 2015 des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR) zufolge befinden sich derzeit mehr als 60 Millionen Menschen weltweit auf der Flucht. 2015 sind außergewöhnlich viele Menschen über das Mittelmeer nach Europa geflohen. Wie bereits 2013 und 2014, stammten die meisten Flüchtlinge aus Syrien, Afghanistan und Somalia. In der ersten Jahreshälfte 2015 wurden in der Bundesrepublik Deutschland mit 159.900 weltweit die meisten Neuanträge auf Asyl gestellt.
Etwa die Hälfte der Flüchtlinge weltweit sind Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren. Ende Januar 2016 ist die Zahl der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge (UMF) in Deutschland auf über 60.000 gestiegen; Hauptherkunftsländer der UMF waren 2015 Afghanistan, Syrien, Irak, Eritrea und Somalia (Bundesfachverband unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (BumF), 2016). Die steigende Zahl Flüchtlinge stellt auch das Gesundheitssystem vor große Herausforderungen. Menschen, die in westliche Länder geflohen sind, weisen im Vergleich zur dortigen Allgemeinbevölkerung deutlich höhere Prävalen-
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M. Walg et al., Psychische Störungen bei UMF
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zen für Posttraumatische Belastungsstörungen (PTBS) auf (Fazel, Wheeler & Danesh, 2005). Eine Untersuchung aus dem Jahr 2006 zeigte bei Asylsuchenden in Deutschland eine PTBS-Punktprävalenz von ca. 40 % (Gäbel et al., 2006). Der BundesPsychotherapeutenKammer (2015) zufolge sind mindestens die Hälfte der Flüchtlinge psychisch krank. Sie leiden besonders häufig unter PTBS und Depressionen. Zudem ist von erhöhter Suizidalität auszugehen. Ca. 40 % der Flüchtlinge mit PTBS hatten bereits Suizidpläne oder Suizidversuche unternommen. Unter den Flüchtlingen stellen die UMF eine besonders vulnerable Gruppe dar. So weisen die UMF höhere Raten psychischer Störungen auf als begleitete minderjährige Flüchtlinge (vgl. Huemer et al., 2009). UMF berichten relativ häufig über Erfahrungen von körperlicher und sexueller Gewalt, Krieg und Trennung bzw. Verlust von Familienmitgliedern und weisen eine relativ hohe subjektive Belastung durch Symptome einer PTBS auf (Hodes et al., 2008). Eine Übersichtsarbeit von Witt, Rassenhofer, Fegert und Plener (2015) zeigt, dass die Prävalenzzahlen für psychische Auffälligkeiten bei UMF zwischen 20 und 81,5 % liegen. Die erheblichen Schwankungen sind in erster Linie auf die eingesetzten Methoden der unterschiedlichen Studien zurückzuführen. Die Autoren kommen zu dem Schluss, dass UMF in Bezug auf psychische Auffälligkeiten eine Hochrisikogruppe darstellen, da die Mehrzahl der Flüchtlinge (bis zu 97 %) traumatische Erfahrungen gemacht haben und ihnen wichtige Schutzfaktoren fehlen. Die meisten Untersuchungen stammen aus Europa. Es wird kritisch angemerkt, dass bisher keine Studie aus Deutschland zu Prävalenzzahlen psychischer Störungen bei UMF existiert. Der Herausforderung einer zunehmenden Inanspruchnahme der Kinder- und Jugendpsychiatrie durch die Hochrisikogruppe UMF begegneten die Autoren durch eine Kooperation zwischen einer Clearingstelle für UMF und der Ambulanz der pflichtversorgenden Kinder- und Jugendpsychiatrie. Es wurde eine spezielle Sprechstunde für UMF der Clearingstelle in der Ambulanz eingerichtet. Ziel dieser Maßnahme war es, die zum damaligen Zeitpunkt steigende Zahl an Notfallvorstellungen von UMF in der Kinder- und Jugendpsychiatrie durch eine Ausweitung des ambulanten Angebotes zu reduzieren. Die wöchentlich stattfindende Sprechstunde in der Ambulanz konnte von der Clearingstelle entweder für eine Erstvorstellung eines Bewohners oder für zwei Flüchtlinge zur Wiedervorstellung genutzt werden. Gemäß der Handreichung zum Umgang mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen in Nordrhein-Westfalen (Ministerium für Inneres und Kommunales des Landes Nordrhein-Westfalen, Ministerium für Familie, Kinder, Jugend, Kultur und Sport des Landes Nordrhein-Westfalen, 2013) erfolgte bei Hinweisen auf eine psychische Störung eine Vorstellung in der Sprech© 2016 Hogrefe
stunde zur Abklärung. Ein Ziel des Clearingverfahrens, die psychische und emotionale Situation der Flüchtlinge zu klären, sollte auf diese Weise erreicht werden. Die Clearingstelle war für die Organisation eines Übersetzers zuständig. Zudem ließ die Clearingstelle der Ambulanz vorab einen vorläufigen Clearingbericht zukommen, so dass den Mitarbeitern der Kinder- und Jugendpsychiatrie wesentliche Aspekte der Anamnese vorab bekannt waren und den UMF eine erneute umfassende Befragung erspart werden konnte. Von Seiten der kinder- und jugendpsychiatrischen Ambulanz erfolgten Diagnostik und ggf. Behandlung durch ein multiprofessionelles Team. Die Behandlung konnte neben einer ausführlichen Psychoedukation sowohl psychotherapeutische als auch psychopharmakologische Interventionen umfassen. Die diagnostische Einschätzung sowie Behandlungsempfehlungen wurden der Clearingstelle in Form eines Ambulanzbriefes zur Verfügung gestellt. Die vorliegende Arbeit untersucht die Häufigkeit psychischer Störungen nach ICD-10 unter männlichen UMF einer Clearingstelle in Düsseldorf. Zudem werden körperliche Beschwerden und somatische Erkrankungen der UMF erfasst. Neben der Häufigkeit psychischer Störungen bei UMF wird auch die Anzahl von Notvorstellungen in der pflichtversorgenden Kinder- und Jugendpsychiatrie erhoben. Seit Mitte 2013 bietet diese Klinik eine Spezialsprechstunde für UMF an. Die Anzahl der Notfallvorstellungen in Krisensituationen vor und nach Einrichtung dieses Angebotes wird verglichen.
Methode Es handelt sich um eine retrospektive Datenanalyse einer Inanspruchnahmepopulation. Den Bewohner-Akten einer Clearingstelle in Düsseldorf mit 12 Plätzen für männliche UMF wurde entnommen, wie viele UMF von 2012 bis 2015 notfallmäßig oder geplant in der pflichtversorgenden Kinder- und Jugendpsychiatrie vorstellig wurden. Zur Schätzung der Häufigkeit psychischer Störungen wurden die Clearing- und Ambulanzberichte der Bewohner verwendet, die von Mai 2013 bis Dezember 2015 in der Clearingstelle untergebracht waren. In diesem Zeitraum bot die kinder- und jugendpsychiatrische Ambulanz der pflichtversorgenden Klinik eine spezielle Sprechstunde für die Clearingstelle an. Alle Daten wurden in anonymisierter Form gespeichert und verarbeitet. Der Vorstellung in der Ambulanz stimmten sowohl die UMF als auch ihre Vormünder bzw. von den Vormündern bevollmächtigte Personen mündlich und schriftlich zu. Es erfolgte ein zweistufiges diagnostisches Vorgehen: In der Clearingstelle erfolgte ein Screening durch das psy-
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chologisch-pädagogische Team aufgrund von Verhaltensbeobachtungen und Gesprächen. Bei Hinweisen auf eine psychische Störung folgte eine umfassende diagnostische Einschätzung in der kinder- und jugendpsychiatrischen Ambulanz. Es wurden die Flüchtlinge in der Ambulanz vorgestellt, bei denen das psychologisch-pädagogische Team der Clearingstelle psychische Auffälligkeiten wie Schlafstörungen, Traurigkeit, leichte Reizbarkeit, sozialer Rückzug, erhöhte Schreckhaftigkeit, Konzentrations- und Lernschwierigkeiten, Substanzkonsum (außer Tabak) oder andere Symptome psychischer Störungen beobachtete oder den Gesprächen mit den Bewohnern entnahm. In den Clearinggesprächen, die mit Unterstützung durch Sprach- und Kulturmittler geführt wurden, wurden daher das Erleben traumatisierender Lebensereignisse und das Vorliegen der genannten Symptome erfragt. Zur diagnostischen Einschätzung in der kinder- und jugendpsychiatrischen Ambulanz wurde bei der Erstvorstellung ein teilstrukturiertes klinisches Interview durchgeführt, das insbesondere die aktuellen psychischen Auffälligkeiten und körperlichen Beschwerden aus Sicht der Jugendlichen, Familienanamnese, Substanzanamnese und die schulische Situation erfasste. Es erfolgten die Erhebung des psychopathologischen Befundes sowie eine körperlich-neurologische Untersuchung. Die Untersuchungen wurden mithilfe von Sprach- und Kulturmittlern durchgeführt, so dass sich die Jugendlichen in ihrer Muttersprache äußern konnten. Zudem schilderten die Mitarbeiter der Clearingstelle, welche Auffälligkeiten sie bei den Jugendlichen im Alltag beobachteten. Vorab wurde den Mitarbeitern der Institutsambulanz ein vorläufiger Clearingbericht übermittelt, der insbesondere Auskünfte über familiäre Hintergründe, Fluchtgründe und Fluchtwege beinhaltete. So konnten den Flüchtlingen erneute Fragen diesbezüglich erspart werden. In Abhängigkeit von dem Vorstellungsgrund erfolgten weitere spezifische testpsychologische Untersuchungen. Als diagnostisches Testverfahren wurden beispielsweise das Essener Trauma-Inventar für Kinder und Jugendliche (ETI-KJ; Tagay et al., 2011), Child Report of Post-traumatic Symptoms (CROPS; Greenwald & Rubin, 1999), Children’s Revised Impact of Event Scale (CRIES; Children and War Foundation, 2016), Symptom Checklist-90-Revised (SCL90-R; Derogatis, 1994) oder das Beck-Depressions-Inventar-II (BDI-II; Beck, Steer & Brown, 1996) eingesetzt. Die Fragebögen bearbeiteten die Probanden in ihrer Muttersprache, in englischer Sprache oder mit Unterstützung durch Sprach- und Kulturmittler. Die Diagnosen nach ICD-10 wurden im Rahmen einer multiprofessionellen Fallbesprechung gestellt, an der Fachärzte für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Assistenzärzte, Psychologische Psychotherapeuten, Psychologen und Sozialarbeiter beteiligt waren.
M. Walg et al., Psychische Störungen bei UMF
In der vorliegenden Untersuchung wurden keine diagnostischen Testverfahren oder strukturierte Interviews, wie es bei klinischen Studien üblich ist, standardmäßig für alle Probanden eingesetzt, da es sich um eine retrospektive Datenanalyse handelt und somit kein Untersuchungsdesign vorab geplant wurde. Der diagnostischen Einschätzung der beteiligten Personen kommt somit eine vergleichsweise große Bedeutung zu. Daher soll im Folgenden auf die Qualifikationen der hauptverantwortlichen Mitarbeiter von Ambulanz und Clearingstelle eingegangen werden. In der Clearingstelle entschieden maßgeblich zwei Mitarbeiter über die Vorstellung eines Flüchtlings in der Ambulanz: Ein Mitarbeiter mit B. A. Soziale Arbeit und abgeschlossenen Weiterbildungen in Traumapädagogik und Traumazentrierter Fachberatung, sowie ein DiplomPsychologe in Weiterbildung zum Psychologischen Psychotherapeuten. Beide Mitarbeiter der Clearingstelle waren zuvor im Psychosozialen Zentrum Düsseldorf tätig, wo sie praktische Erfahrung in der Arbeit mit Flüchtlingen gesammelt haben. Die UMF wurden in der Ambulanz stets bei einem Arzt und bei einem Diplom-Psychologen zur diagnostischen Einschätzung vorgestellt. Der ärztliche Mitarbeiter war Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin und absolvierte die Weiterbildung zum Facharzt für Kinderund Jugendpsychiatrie und -psychotherapie. Der Psychologe war approbierter Psychologischer Psychotherapeut und absolvierte u. a. Fortbildungen zur Begutachtung von psychisch reaktiven Traumafolgen bei Migranten und in aufenthaltsrechtlichen Verfahren. Auch bei der Abklärung somatischer Erkrankungen erfolgte ein zweistufiges Vorgehen: Alle UMF wurden im Rahmen des Clearings einem Hausarzt vorgestellt. Hier wurden standardmäßig körperliche Untersuchungen sowie Laborkontrollen durchgeführt. Bei Vorstellung in der kinder- und jugendpsychiatrischen Ambulanz erfolgte eine körperlich-neurologische Untersuchung. In Abhängigkeit von den geschilderten Beschwerden folgten weitere Untersuchungen (z. B. EEG, EKG).
Ergebnisse Im Zeitraum von Mai 2013 bis Dezember 2015 waren insgesamt 75 männliche UMF in der Clearingstelle untergebracht. Das Clearing in der Einrichtung dauerte im Durchschnitt 4,5 Monate (SD = 1,4). 56 Flüchtlinge wurden aufgrund von Symptomen einer psychischen Störung zur diagnostischen Einschätzung in der kinder- und jugendpsychiatrischen Ambulanz vorgestellt. Von den 56 UMF nahmen 5 lediglich einen Termin in der Ambulanz wahr. Die übrigen Flüchtlinge nahmen mehrere Termine zur Diagnostik, Verlaufskontrolle und Behandlung wahr. Im
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Abbildung 1. Anzahl der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge aus den 19 Herkunftsländern.
Tabelle 1. Häufigkeiten von psychischen Störungen (nach ICD-10), selbstverletzenden Verhaltensweisen und Komorbidität bei unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen. n
%
Posttraumatische Belastungsstörung (F43.1)
27
36.0
Depressive Episode (F32/F33)
20
26.7
Anpassungsstörung (F43.2)
12
16.0
Akute vorübergehende psychotische Störung (F23)
3
4.0
Alkoholmissbrauch (F10.1)
2
2.7
Paranoide Schizophrenie (F20.0)
1
1.3
Dissoziative Störung (F44)
1
1.3
Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen (F92)
1
1.3
Selbstverletzende Verhaltensweisen (X78)
4
5.3
11
14.7
Komorbidität
Durchschnitt fanden 11 Termine (SD = 10) pro Flüchtling in der Ambulanz statt. Die 56 vorgestellten UMF waren zum Zeitpunkt des Clearings im Alter zwischen 14 und 17 Jahren (MW = 16,2; SD = 0,9). Sie stammten aus 19 verschiedenen Ländern. Wie Abbildung 1 zeigt, kamen die meisten Flüchtlinge aus Afghanistan, Somalia und Guinea. Bei allen 56 UMF, die in der Clearingstelle Symptome einer psychischen Störung zeigten, wurden psychische Störungen diagnostiziert. 56 der 75 UMF (75 %) litten demnach unter mindestens einer psychischen Störung. Bei 11 der 56 Flüchtlinge wurde eine komorbide Störung © 2016 Hogrefe
festgestellt. Tabelle 1 zeigt, welche Diagnosen wie häufig gestellt wurden. Bei 27 von den insgesamt 75 UMF wurde eine PTBS diagnostiziert (36,0 %), bei 20 UMF eine depressive Episode (26,7 %) und bei 12 UMF eine Anpassungsstörung (16,0 %). Bei 4 Flüchtlingen (5,3 %) wurden selbstverletzende Verhaltensweisen (X78) festgestellt. Eine akute vorübergehende psychotische Störung wurde bei 3 (4,0 %), Missbrauch von Alkohol bei 2 (2,7 %) Flüchtlingen diagnostiziert. Bei jeweils einem UMF (1,3 %) wurden eine paranoide Schizophrenie, eine dissoziative Störung und eine kombinierte Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen diagnostiziert. Auf häufigsten litten die UMF also unter PTBS, einer depressiven Episode, und unter Anpassungsstörungen. 55 der 56 UMF (98 %) erlebten nach eigenen Angaben mindestens ein potentiell traumatisches Ereignis. Tabelle 2 ist zu entnehmen, dass die Jugendlichen am häufigsten über körperliche Gewalt durch fremde Personen (68 %) und Inhaftierung im Heimatland oder in einem Drittstaat während der Flucht (45 %) berichteten. Als Inhaftierung wurde auch die Gefangennahme durch Terrororganisationen wie Islamischer Staat, Al-Shabaab und Boko Haram gezählt. 23 Jugendliche (41 %) gaben an, die Tötung, Ermordung oder Hinrichtung eines Familienmitgliedes erlebt zu haben. Im Durchschnitt berichteten die UMF über 3 erlebte potentiell traumatische Ereignisse (MW = 3,1; SD = 1,6). Eine Analyse mittels U-Test nach Mann-Whitney zeigt einen Trend auf (U = 292,5; z = –1,6; p = 0,05 – einseitig), wonach Flüchtlinge mit einer diagnostizierten PTBS im Durchschnitt mehr potentiell traumatische Ereignisse erlebten (Median = 3; SD = 1,6) als Flüchtlinge mit einer anderen psychischen Störung (Median = 2; SD = 1,6). Der deskriptivstatistische Vergleich zwischen Flüchtlingen mit einer PTBS und der Gesamtstichprobe bezüglich der Häufigkeit potentiell traumatischer Lebensereignisse in Tabelle 2 zeigt, dass kein Ereignis, welches von mehreren Flüchtlingen erlebt wurde, zwangsläufig mit einer PTBS einhergeht. Auf inferenzstatistische Analysen muss aufgrund der geringen Stichprobengröße und der Heterogenität der Stichprobe verzichtet werden. Wie Tabelle 3 zeigt, litten bei der Vorstellung in der kinder- und jugendpsychiatrischen Ambulanz 55 von 56 UMF (98 %) unter körperlichen Beschwerden. Am häufigsten waren Ein- und Durchschlafstörungen (84 bzw. 80 %), Kopfschmerzen (55 %) und Bauchschmerzen (29 %). Bei 5 der 56 UMF (9 %) wurde eine somatische Erkrankung diagnostiziert: Bandscheibenschaden, traumatische Hodenatrophie infolge Folter, Nierensteine, Hashimoto-Thyreoiditis, Diabetes mellitus Typ 1. Die Anzahl der Flüchtlinge, die in den Jahren 2012 bis 2015 als Notfall in der Kinder- und Jugendpsychiatrie vorgestellt wurden, zeigt Abbildung 2. Deskriptivstatistisch zeigt sich, dass im Trend die Zahl der Notfallvorstellungen
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Tabelle 2. Häufigkeiten potentiell traumatischer Ereignisse in der Gesamtheit der UMF mit einer psychischen Störung und bei UMF mit diagnostizierter posttraumatischer Belastungsstörung (PTBS). Gesamt
Tabelle 3. Häufigkeit körperlicher Beschwerden bei UMF mit einer psychischen Störung. n
%
Körperliche Beschwerden
55
98.2
Einschlafstörung
47
83.9
Durchschlafstörung
45
80.4
PTBS
n
%
n
%
Körperl. Gewalt durch fremde Person
38
67.9
18
66.7
Inhaftierung
25
44.6
13
48.1
Kopfschmerzen
31
55.4
Tötung eines Familienmitgliedes
23
41.1
14
51.9
Bauchschmerzen
16
28.6
Körperl. Gewalt durch Familienmitglied
13
23.2
5
18.5
Schmerzen in Gliedern/Extremitäten/Gelenken
15
26.8
Andere Schmerzen
8
14.3
Folter
10
17.9
6
22.2
Übelkeit/ Erbrechen
8
14.3
Seenot auf Mittelmeer
10
17.9
6
22.2
Palpitationen
8
14.3
Terroranschlag
9
16.1
5
18.5
Zittern
8
14.3
Kriegshandlungen
9
16.1
6
22.2
Rückenschmerzen
7
12.5
Schwerer Unfall
9
16.1
5
18.5
Diarrhoe/ Obstipation
7
12.5
Morddrohung zwecks Rekrutierung
8
14.3
2
7.4
Schwindel
5
8.9
Dyspnoe
3
5.4
Dysurie
1
1.8
durch Terrororganisation1 Hinrichtung einer fremden Person
7
12.5
5
18.5
Entführung eines Familienmitgliedes
5
8.9
3
11.1
Sex. Gewalt durch fremde Person
4
7.1
1
3.7
Vergewaltigung einer fremden Person
2
3.6
1
3.7
Sex. Gewalt durch Familienmitglied
1
1.8
1
3.7
Naturkatastrophe
1
1.8
1
3.7
Entführung
1
1.8
1
3.7
Anmerkung. 1Als Terrororganisationen wurden IS, Taliban, Boko Haram sowie Al-Shabaab gezählt.
nach 2013 abnahm; besonders deutlich ist eine Reduzierung der Notfallvorstellungen von noch unbekannten Flüchtlingen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Dieser deskriptivstatistische Trend kann inferenzstatistisch bestätigt werden: In den Jahren 2014 und 2015 (aufgrund der geringen Fallzahlen wurden zwei Jahre zusammengefasst) waren die Flüchtlinge bei Notfallvorstellung in der Kinderund Jugendpsychiatrie mehrheitlich bereits durch das Sprechstundenangebot bekannt (χ2 = 4,5; df = 1; p < 0,05). In den Jahren 2012 und 2013 unterschieden sich die Häufigkeiten von bereits bekannten und unbekannten UMF nicht signifikant (χ2 = 1,3; df = 1; p = 0,25).
Abbildung 2. Zahl der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge, die als Notfall in der Kinder- und Jugendpsychiatrie in den Jahren 2012 bis 2015 vorgestellt wurden. Es wird unterschieden, ob die Flüchtlinge zum Zeitpunkt des Notfalls bereits in der Kinder- und Jugendpsychiatrie bekannt oder noch unbekannt waren.
Diskussion Die Ergebnisse stützen die Einschätzung, dass UMF eine psychisch schwer belastete Gruppe darstellen (Witt et al., 2015), bei der besonders PTBS und depressive Störungen verbreitet sind. In der vorliegenden Untersuchung wurde bei 75 % der UMF während der Clearingphase mindestens eine psychische Störung diagnostiziert. Die ermittelte Häufigkeit liegt somit deutlich über den geschätzten Prä-
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valenzen psychischer Störungen von 42 % (Jakobsen, Demott & Heir, 2014) und 56 % (Huemer et al., 2011), welche in früheren Studien mit Einsatz klinischer Interviews ermittelt wurden. Die vergleichsweise niedrige Häufigkeit psychischer Störungen in der Untersuchung von Jakobsen und Kollegen (2014) mag teileweise auf das eingesetzte Interviewverfahren Composite International Diagnostic Interview (CIDI; WHO, 1990) zurückzuführen sein, da dieses keine Anpassungsstörungen erfasst. In der vorliegenden Untersuchung stellt die Anpassungsstörung die dritthäufigste psychische Störung dar. Zudem zeigt eine Untersuchung von Komiti und Kollegen (2001), dass das CIDI im Vergleich zum klinischen Eindruck von Experten gerade für die PTBS eine auffällig niedrige Sensitivität aufweist. Die verschiedenen Häufigkeiten sind möglicherweise auch auf Unterschiede bei der Stichprobenauswahl zurückzuführen. In der Studie von Jakobsen et al. (2014) aus Norwegen wurden ausschließlich Daten von 160 UMF berücksichtigt, die freiwillig mehrere Fragebögen bearbeiteten und für die Fragebogenverfahren in deren Muttersprache vorlagen. Die Untersuchung von Huemer et al. (2011) aus Österreich beschränkte sich auf 41 UMF aus afrikanischen Staaten. Diesbezüglich ist beispielsweise bekannt, dass UMF aus Somalia weniger depressive Symptome aufweisen als UMF aus Afghanistan, Sri Lanka und dem Irak (Seglem, Oppedal & Raeder, 2011). Übereinstimmend mit früheren Studien (vgl. Witt et al., 2015) war die PTBS die am häufigsten diagnostizierte psychische Störung bei den UMF. Die ermittelte Häufigkeit von 36 % ist vergleichbar mit Ergebnissen einer Untersuchung von 222 UMF aus Großbritannien, wonach 34 % der UMF in Selbstbeurteilungsbögen den Grenzwert für PTBS überschritten (Bronstein, Montgomery & Dobrowolski, 2012). Als Selbstbeurteilungsbögen wurden das Stressful Life Events Questionnaire (SLE) und Reactions of Adolescents to Traumatic Stress (RATS; vgl. Bean, Derluyn, Eurelings-Bontekoe, Broekaert & Spinhoven, 2006) verwendet. Andere Untersuchungen, bei welchen die gleichen Selbstbeurteilungsbögen eingesetzt wurden, zeigten höhere Raten von bis zu 53 % (Smid, LensveltMulders, Knipscheer, Gersons & Kleber, 2011; Vervliet et al., 2014) und niedrigere Raten von 19 % für UMF, die den Grenzwert für PTBS überschritten (Derluyn & Brokaert, 2007). Die deutlichen Unterschiede in den geschätzten Prävalenzraten für PTBS bei UMF im selben Fragebogenverfahren weisen darauf hin, dass neben der Methodenauswahl weitere Faktoren die Ergebnisse von Studien zu Prävalenzzahlen bei UMF beeinflussen. So zeigt die Studie von Smid und Kollegen (2011), dass der Zeitpunkt der Untersuchung einen bedeutsamen Einfluss auf die Prävalenz von PTBS hat. In ihrer Untersuchung wurde zunächst eine Prävalenz von 40 % ermittelt. Bei einer Follow-upUntersuchung nach zwei Jahren wurde bei weiteren 16 % © 2016 Hogrefe
der UMF eine PTBS mit verzögertem Beginn festgestellt. Die Flüchtlinge, bei denen eine PTBS verzögert auftrat, fielen zuvor durch Symptome von Depression und Angststörungen auf. 98 % der UMF, die aufgrund psychischer Auffälligkeiten in der Ambulanz vorstellig wurden, berichteten, mindestens ein potentiell traumatisches Ereignis erlebt zu haben. Diese Häufigkeit stimmt mit dem Ergebnis einer vergleichbaren Untersuchung aus den Niederlanden überein (Batista Pinto Wiese & Burhorst, 2007), in der 58 von 59 UMF (98 %) in einem Zentrum für Kinder- und Jugendpsychiatrie mindestens ein traumatisches Erlebnis angaben. Der aufgezeigte Trend, wonach UMF mit PTBS mehr potentiell traumatisierende Ereignisse erlebten als UMF mit anderen psychischen Störungen, stützt den Befund eines Zusammenhangs zwischen der Zahl erlebter traumatischer Ereignisse und einer PTBS bei UMF (Jensen, Fjermestad, Granly & Wilhelmsen, 2015). Frühere Studien zeigen für depressive Symptome Prävalenzraten zwischen 11 und 47 % (vgl. Witt et al., 2015). In der vorliegenden Untersuchung wurde bei 27 % der UMF eine depressive Episode diagnostiziert. Die Vergleichbarkeit der Studien wird durch die Unterschiede in den Methoden zur Diagnostik (Selbstbeurteilungsbögen, Fremdbeurteilungsbögen, Aktenanalysen, klinische Interviews), dem Zeitpunkt der Erhebung und der Stichprobenauswahl sehr erschwert. Die Studien unterscheiden sich auch darin, ob Diagnosen festgelegt wurden oder lediglich von überschrittenen Grenzwerten in Testverfahren berichtet wird. Die vorliegende Untersuchung zeichnet sich dadurch aus, dass zwei verschiedene Institutionen in jeweils einem multiprofessionellen Team das Vorliegen psychischer Auffälligkeiten bzw. das Vorliegen einer psychischen Störung beurteilten. Zudem wurden die meisten Flüchtlinge über einen längeren Zeitraum in der Clearingstelle und bei mehreren Terminen in der Ambulanz gesehen, so dass auch der zeitliche Symptom-Verlauf bei der Diagnosestellung berücksichtigt werden konnte. Es wird davon ausgegangen, dass dies zu einer vergleichsweisen hohen Güte der Diagnostik geführt hat. Die vorliegende Untersuchung bestätigt frühere Ergebnisse, wonach externalisierende Auffälligkeiten bei UMF in der klinischen Praxis eine eher untergeordnete Rolle spielen (vgl. Ramel, Täljemark, Lindgren & Johansson, 2015). 98 % der in der kinder- und jugendpsychiatrischen Ambulanz vorstellig gewesenen UMF klagten über somatische Beschwerden. Dieses Ergebnis stimmt mit dem Befund einer früheren Studie überein, wonach 98 % der traumatisierten Flüchtlinge unter Schmerzen und 92 % unter anderen körperlichen Beschwerden litten (Buhman et al., 2014). Die relativ niedrige Häufigkeit diagnostizierter somatischer Erkrankungen (9 %) weist darauf hin,
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dass die somatischen Beschwerden im Zusammenhang mit der psychischen Belastung der Betroffenen stehen. So stellen Schlafstörungen spezifische diagnostische Merkmale sowohl der PTBS als auch einer depressiven Episode dar, was die Häufigkeit dieser Beschwerden erklärt. Auch andere somatische Beschwerden wie Obstipation, Diarrhö, Dyspnoe, Schmerzen jeder Lokalisation und Schwindel treten häufig im Rahmen einer depressiven Störung auf (vgl. Rudolf, Bermejo, Schweiger, Hohagen & Härter, 2006). Frühere Untersuchungen zeigen jedoch auch eine generell stärkere Neigung zur Somatisierung bei Migranten und Flüchtlingen (vgl. Hofmeister, 2014). Als Erklärungen für eine solche Tendenz zur Somatisierung werden Kommunikationsschwierigkeiten aufgrund von Sprachbarrieren, unterschiedliche Krankheitsmodelle und unterschiedliche Behandlungserwartungen diskutiert. Die Annahme einer erhöhten Somatisierungstendenz bei Menschen aus nicht-westlichen Kulturen wird jedoch auch kritisiert, da diese eine bewusste Betonung der körperlichen Beschwerden impliziert und da somatische Symptome kulturübergreifend bei psychischen Störungen auftreten (Kirmayer, 2001). In der vorliegenden Untersuchung waren bei keinem UMF die diagnostischen Kriterien nach ICD-10 für eine somatoforme Störung erfüllt. Frühere Studienergebnisse legen nahe, dass die Häufigkeit somatoformer Störungen bei UMF vergleichsweise gering ist. In nur 2 von 26 Untersuchungen zu psychischen Störungen bei UMF wurden somatoforme Störungen diagnostiziert (vgl. Witt et al., 2015). Eine dieser Studien zeigte, dass die Mehrheit der UMF (64 %) unter körperlichen Beschwerden litt, jedoch nur bei 8 von 59 Flüchtlingen (14 %) eine Somatisierungsstörung festgestellt wurde (Batista Pinto Wiese et al., 2007). Es ist jedoch wahrscheinlich, dass minderjährige Flüchtlinge durch Angabe somatischer Beschwerden Hilfe suchen, wenn ihnen weder Institutionen wie eine Kinder- und Jugendpsychiatrie noch psychische Krankheitskonzepte aus ihrem Herkunftsland bekannt sind. Wenn in diesem Fall das Vorliegen einer psychischen Erkrankung nicht in Betracht gezogen wird, drohen unnötige Untersuchungen, Fehlbehandlungen und eine Chronifizierung der psychischen Symptomatik (Hofmeister, 2014). Die steigende Zahl der UMF ist eine besondere Herausforderung für kinder- und jugendpsychiatrische Kliniken, Praxen und Praxen für Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie (vgl. Möhler et al., 2015). Besonders schwierig gestaltet sich häufig die Gefährdungseinschätzung bei Notfallvorstellungen. Neben der Sprachbarriere stellt der emotionale Zustand der Patienten in der Regel eine erhebliche Erschwernis bei der Einschätzung dar. Erfahrungsgemäß zeigen sich viele Flüchtlinge bei einer Notfallvorstellung misstrauisch und ängstlich, da ihnen aus dem Heimatland eine Kinder- und Jugendpsychiatrie nicht be-
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kannt ist oder sie an frühere Inhaftierungserfahrungen erinnert werden, beispielsweise bei Vorstellungen in Begleitung der Polizei oder auf einer geschützten Station. Durch Einrichtung der beschriebenen Sprechstunde für UMF in einer kinder- und jugendpsychiatrischen Ambulanz wurde eine Reduzierung dieser Schwierigkeiten erreicht. Die Ergebnisse dieser Untersuchung zeigen im Trend eine Reduzierung der Notfallvorstellungen nach Einführung der Sprechstunde. Vor allem zeigt sich, dass nach Einführung der Sprechstunde die Patienten bei einer Notfallvorstellung mehrheitlich in der Klinik bekannt waren. Dies hatte einerseits für die Mitarbeiter der Klinik den Vorteil, auf eine Akte mit Vorinformationen zurückgreifen zu können. Andererseits war die Kinder- und Jugendpsychiatrie den UMF bereits bekannt, was zu einer höheren Compliance führte, so dass meist auf eine Vorstellung mit Polizei oder Krankentransport verzichtet werden konnte. Die erhöhte Compliance und die Verfügbarkeit von Informationen über die Patienten reduzierten im Krisenfall die Belastung für die Flüchtlinge, die Mitarbeiter der Clearingstelle und die Mitarbeiter der Klinik erheblich. Sowohl für die Arbeit mit Flüchtlingen in der Clearingstelle als auch in der Ambulanz war die Inanspruchnahme von Übersetzern unbedingt erforderlich. Es wurden ausgebildete Sprach- und Kulturmittler eingesetzt, da diese zusätzlich zu ihren Übersetzungsleistungen wichtige Informationen zu kulturellen oder religiösen Hintergründen liefern und so zu einem besseren Verständnis beitragen. Aus Sicht der Autoren hat es sich bewährt, die Auswahl der Sprach- und Kulturmittler der Clearingstelle bzw. Wohngruppe zu überlassen. So war der Sprach- und Kulturmittler bei Vorstellung in der Ambulanz den Flüchtlingen schon bekannt, was ein gewisses Vertrauen förderte. Verständigungsprobleme aufgrund unterschiedlicher Dialekte konnten so vermieden werden. Durch die entsprechenden Ausbildungen und Erfahrungen der Mitarbeiter der Clearingstelle war zudem gewährleistet, dass Patient und Übersetzer nicht zu gegnerischen Bürgerkriegsparteien oder anderen verfeindeten Gruppen gehörten. Der Einsatz eines Übersetzers geht mit einem deutlich erhöhten Zeitaufwand einher. Die Anwesenheit einer zusätzlichen Person ist gerade im psychotherapeutischen Setting für viele zunächst gewöhnungsbedürftig. Die Erfahrung der Autoren ist jedoch, dass die Vorteile einer Inanspruchnahme eines ausgebildeten Sprach- und Kulturmittlers überwiegen. Es gibt den Patienten Sicherheit, sich in ihrer Muttersprache mitteilen zu können. Sprachliche Verständigungsprobleme werden vermieden. Relevante kulturelle und religiöse Besonderheiten können erläutert werden, so dass auch kulturelle Missverständnisse unmittelbar aufgeklärt werden können. Nur unter diesen Bedingungen kann ein gutes Verständnis des Patienten erreicht werden.
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Limitationen In die vorliegende Untersuchung gingen ausschließlich Daten von männlichen UMF ein. Die Ergebnisse können nicht ohne Weiteres auf weibliche UMF übertragen werden. Frühere Studien zeigen, dass weibliche UMF ein höheres Risiko für die Entwicklung psychischer Auffälligkeiten (Derluyn et al., 2007; Hodes et al., 2008; VölklKernstock et al., 2014) und mehr depressive Symptome aufweisen als männliche UMF (Seglem et al., 2011). Eine weitere Einschränkung stellt die relativ geringe Stichprobengröße dar. Da es sich um eine retrospektive Datenanalyse handelt, wurden keine diagnostischen Testverfahren oder strukturierte Interviews standardmäßig für alle Probanden eingesetzt, wie es bei klinischen Studien üblich ist. Die Diagnosen beruhen daher wesentlich auf den Einschätzungen der beteiligten Personen, die sich diesbezüglich austauschten. Bei diesem Vorgehen kann eine Verzerrung durch ein Confirmation-Bias nicht ausgeschlossen werden. Andererseits wird auch der Einsatz von standardisierten Testverfahren und klinischen Interviews kritisch betrachtet, da Validität und Reliabilität dieser Instrumente für die heterogene Gruppe von Flüchtlingen meist nicht untersucht sind (vgl. Hollifield et al., 2002). Da nicht alle UMF klinisch in der Ambulanz untersucht worden sind, könnten bei diesen Flüchtlingen Störungen übersehen worden sein, so dass die tatsächliche Häufigkeit psychischer Störungen höher liegen könnte. Weiterhin muss berücksichtigt werden, dass in der Phase des Clearings die Flüchtlinge in der Regel durch die unsichere Aufenthaltsperspektive emotional sehr stark belastet sind. Spontanremissionen nach einer Anerkennung als Flüchtling sind daher vorstellbar. Follow-up-Studien weisen jedoch eher auf einen chronischen Verlauf psychischer Störungen bei UMF hin (Jensen et al., 2014; Vervliet et al., 2014).
Schlussfolgerungen Studien zeigen übereinstimmend relativ hohe Prävalenzen psychischer Störungen bei UMF auf. Die ermittelten Häufigkeiten in verschiedenen Untersuchungen unterscheiden sich teilweise sehr deutlich. Unterschiedliche Untersuchungsmethoden und Untersuchungszeitpunkte erschweren die Vergleichbarkeit. Darüber hinaus stellt sich die Frage, ob UMF als eine homogene Gruppe betrachtet werden können oder ob nicht vielmehr differenzierte Betrachtungen von Prävalenzen psychischer Störungen unter Berücksichtigung der Herkunftsländer und des Geschlechts angezeigt sind. © 2016 Hogrefe
Follow-up-Untersuchungen zeigen, dass die Symptome bei UMF zeitlich relativ stabil sind (Jensen, Bjorgo Skardalsmo & Fjermestad, 2014; Vervliet, Lammertyn, Broekaert & Derluyn, 2014). Für die klinische Praxis bedeutet dies, dass sowohl Angebote zur diagnostischen Einschätzung als auch zur Behandlung erforderlich sind. Die Einrichtung von speziellen Sprechstunden in Kooperation mit Clearingeinrichtungen und Wohngruppen für UMF stellt eine Möglichkeit dar, den Herausforderungen der gesundheitlichen Versorgung von Flüchtlingen zu begegnen. Durch die Ausweitung des ambulanten Angebotes für diese Hochrisikogruppe kann Krisensituationen und Notfallvorstellungen vorgebeugt werden. Erschwert wird der Aufbau solcher Angebote aktuell häufig durch fehlende Standards, beispielsweise bei der Übernahme von Dolmetscherkosten oder bei Kostenzusagen für eine Behandlung.
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Manuskript eingereicht: 24.02.2016 Manuskript angenommen: 03.06.2016 Interessenkonflikt: Nein Artikel online: 23.08.2016
Dr. phil. Marco Walg Sana-Klinikum Remscheid Zentrum für seelische Gesundheit des Kindes- und Jugendalters Weststr. 103 42119 Wuppertal Deutschland marco.walg@sana.de
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CME-Fragen 1. Frage: Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge a. stellen in Bezug auf psychische Störungen eine Hochrisikogruppe dar. b. leiden mehrheitlich unter körperlichen Erkrankungen. c. können aufgrund der Sprachbarriere diagnostisch kaum eingeschätzt werden. d. simulieren mehrheitlich eine posttraumatische Belastungsstörung. e. weisen höhere Raten psychischer Störungen auf als begleitete minderjährige Flüchtlinge. 2. Frage: Die häufigsten Traumafolgestörungen bei unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen sind a. Störungen des Sozialverhaltens und Delinquenz. b. Depressive Störungen und Abhängigkeitssyndrome. c. Posttraumatische Belastungsstörungen und depressive Störungen. d. Dissoziative Störungen und somatoforme Störungen. e. Posttraumatische Belastungsstörungen und Panikstörungen. 3. Frage: Welche der folgenden Aussagen ist falsch? a. Fast alle unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge erlebten mindestens ein potentiell traumatisches Ereignis. b. Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge mit posttraumatischer Belastungsstörung erlebten durchschnittlich mehr potentiell traumatische Ereignisse als unbegleitete minderjährige Flüchtlinge mit anderen psychischen Störungen. c. Die häufigsten traumatischen Ereignisse von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen sind körperliche Gewalterfahrungen, Inhaftierung und Zeugenschaft der Tötung eines Familienmitgliedes. d. Ein potentiell traumatisches Ereignis führt bei unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen zwangsläufig zur Entwicklung einer posttraumatischen Belastungsstörung.
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e. Mehr als die Hälfte der untersuchten unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge mit posttraumatischer Belastungsstörung erlebte die Tötung eines Familienmitgliedes. 4. Frage: Welche der folgenden Aussagen sind richtig? a. Körperliche Beschwerden liegen bei unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen selten vor. b. Fast alle unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge klagen über körperliche Beschwerden. c. Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge mit Traumafolgestörungen leiden mehrheitlich unter Schlafstörungen. d. Körperliche Beschwerden stehen bei unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen selten im Zusammenhang mit einer psychischen Belastung. e. Die Häufigkeit somatoformer Störungen ist bei unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen vergleichsweise gering. 5. Frage: Welche der folgenden Aussagen sind falsch? a. Durch Ausweitung des kinder- und jugendpsychiatrischen Regelangebotes für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge kann krisenhaften Dekompensationen vorgebeugt werden. b. Sprach- und Kulturmittler stellen eine wesentliche Unterstützung bei der diagnostischen Einschätzung von minderjährigen Flüchtlingen dar. c. Bei der Inanspruchnahme von Sprach- und Kulturmittlern überwiegen die Nachteile. d. Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge mit Traumafolgestörungen sollten nach Möglichkeit zunächst im stationären Setting stabilisiert werden. e. Aufgrund häufiger Inhaftierungserfahrungen ist eine Hospitalisierung von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen nach Möglichkeit zu vermeiden.
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Um Ihr CME-Zertifikat zu erhalten (min. 3 richtige Antworten), schicken Sie bitte den ausgefüllten Fragebogen mit einem frankierten Rückumschlag bis zum 27.02.2017 an die nebenstehende Adresse. Später eintreffende Antworten können nicht mehr berücksichtigt werden.
Daniela Pingel LWL-Universitätsklinik Hamm der Ruhr-Universität Bochum Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik Heithofer Allee 64 59071 Hamm, Deutschland
Fortbildungszertifikat Die Ärztekammer Niedersachsen erkennt hiermit 2 Fortbildungspunkte an. Stempel
Häufigkeit psychischer Störungen bei unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen in Deutschland Die Antworten bitte deutlich ankreuzen! 1
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Ich versichere, alle Fragen ohne fremde Hilfe beantwortet zu haben.
Name Berufsbezeichnung, Titel Straße, Nr. Datum
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PLZ, Ort
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Fallbericht
Komplexe Krisenintervention bei einem 16-jährigen schwangeren Mädchen nach unbegleiteter Flucht aus Eritrea Andrea Dixius und Eva Möhler SHG-Kliniken Sonnenberg, Kleinblittersdorf, Deutschland
Zusammenfassung: Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge sind auf ihrer Flucht meist komplexen traumatischen Ereignissen ausgesetzt, besonders massiv trifft dies auf minderjährige Mädchen zu. An einem Wochenende wurde in der Kinder- und Jugendpsychiatrie ein 16-jähriges Mädchen zur Krisenintervention mit akuter Suizidalität aufgenommen. Das Mädchen war zuvor ohne Begleitung aus Eritrea geflüchtet und lebt in einer Jugendhilfeeinrichtung. Am Vortag war eine Schwangerschaft (23. SSW p. c.) festgestellt worden, die aus mehreren Vergewaltigungen während ihrer Flucht vom Sudan nach Nigeria hervorging. Alle Anzeichen der Schwangerschaft waren von dem Mädchen verleugnet worden. Als diese medizinisch festgestellt wurde, wollte die Patientin sich durch einen Sprung aus dem Fenster das Leben nehmen. Die Mitarbeiter der Jugendhilfeeinrichtung fragten nach einer ‚psychiatrischen Indikation‘ für einen Schwangerschaftsabbruch. Implikationen für eine medizinische Indikation aus psychiatrischen Gründen bei einem Schwangerschaftsstatus der 23. Woche werden sowohl unter ethischen Aspekten als auch unter der Betrachtung der posttraumatischen Symptomatik in dem vorliegenden Case Report diskutiert. Schlüsselwörter: Weiblicher unbegleiteter minderjähriger Flüchtling, Schwangerschaft, Indikation für Schwangerschaftsabbruch, Traumatisierung
A complex crisis intervention for a 16-year-old pregnant girl after unaccompanied emigration from Eritrea Abstract: Unaccompanied refugee minors are frequently confronted with multiple, potentially traumatizing events; girls tend to show most profound traumatizations. A 16-year-old female refugee minor was admitted to a child psychiatric ward over the weekend for acute suicidal behavior. The girl had fled unaccompanied from Eritrea and was living in a shelter home for adolescents. Pregnancy (23 weeks p. c.) had been diagnosed the previous day, stemming from several rapes that had occurred on her journey through Sudan and Nigeria. The girl had repressed all signs of the pregnancy from her consciousness. However, when it became medically undeniably apparent, she tried to end her life by jumping out of a window. The shelter home staff requested a psychiatric indication for termination of the pregnancy. Implications of medical indications for psychiatric reasons at a pregnancy state of 23 weeks as well as ethical aspects and considerations with regard to posttraumatic symptomatology are discussed in the following case report. Keywords: female unaccompanied refugee minor, pregnancy, indication for termination of pregnancy, traumatization, posttraumatic stress disorder
Einleitung Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge haben eine hohe Prädisposition für die Entwicklung von psychischen Störungen und im Besonderen von posttraumatischen Belastungssymptomen. Je nach Studie variieren die Angaben zur Prävalenz für die Ausbildung einer Posttraumatischen © 2016 Hogrefe
Belastungsstörung (PTBS) von 16 bis 54 % oder höher (Gavranidou et al., 2008; Ruf, Schauer & Elbert, 2010; Fazel et al., 2005; Bronstein & Montgomery, 2011). Die Vielzahl der traumatischen Erfahrungen ist ein Prädiktor für das Risiko, eine PTBS zu entwickeln (Mollica et al., 1998). Dabei spielen traumatisch belastende Ereignisse vor, während und nach der Flucht eine besondere Rolle.
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Flüchtlinge sind sicherlich als hoch vulnerable Gruppe zu sehen, mit Gefährdung, eine psychiatrische Erkrankung zu entwickeln (Huemer et al., 2009).
Exkurs zur Situation von Mädchen in Eritrea Nach Angaben von Human Rights Watch (2009) kommt es durch die Regierung in Eritrea zu schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen wie Folter, willkürliche Festnahmen, extreme Haftbedingungen, Zwangsarbeit, Einschränkungen der Bewegungs-, Meinungs- und Glaubensfreiheit. Das Militär kontrolliere alle Lebensbereiche der eritreischen Bevölkerung und verpflichte Mädchen und Jungen ab der 12. Schulklasse zum Militärdienst, dem sogenannten Nationalen Dienst. Besonders tragisch wird dabei die Situation von jungen Frauen und Mädchen ab dem Alter von 15 Jahren geschildert, ihnen drohe Zwangsheirat oder militärische Zwangsrekrutierung. Wer sich dem Militärdienst entziehe, gelte als Deserteur. Gefängnis, Folter oder Tod seien meist die Konsequenz. Eritrea sei auch eines der Länder mit einer sehr hohen Verbreitung der weiblichen Genitalverstümmelungen (FGM = Female Genital Mutilation). Alle vier Formen von FGM würden praktiziert, von sämtlichen Ethnien und Religionsgemeinschaften. Die Eingriffe würden zu ca. 60 % von traditionellen Beschneiderinnen durchgeführt, aber auch von dem Mädchen nahestehenden Personen wie Nachbarinnen, Großmütter oder auch von der eigenen Mutter (Terre des Femmes, 2015). Die Folgen seien meistens lebenslange physische und psychische Probleme. Motive seien, Mädchen einer spirituellen Reinigung zu unterziehen, „Schutz vor Schmutz“, ihre Jungfräulichkeit zu erhalten, ihre Fruchtbarkeit zu erhöhen oder durch bessere Heiratschancen wirtschaftlich abgesichert zu werden und auch soziale Ausgrenzung zu verhindern.
Kasuistik Die 16-jährige eritreische Jugendliche kam per Krankentransport als Verlegung aus der Kinderklinik zur Krisenintervention in die Kinder- und Jugendpsychiatrie (KJPP). Die Jugendliche sprach Tigrinya, sodass die direkte sprachliche Verständigung zunächst nicht möglich war. Die Patientin hatte in der Kinderklinik akute Suizidabsichten geäußert, wollte auf einen Balkon gehen und sich herunterstürzen. Akuter Auslöser der Suizidabsicht war eine am Vortag erstmalig festgestellte Schwangerschaft in der 23. SSW. Die Schwangerschaft war vorher von der Patientin nicht wahrgenommen, vielmehr gänzlich verleugnet worden.
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Sie blieb zunächst freiwillig in der Klinik, per Telefon konnte eine Dolmetscherin erreicht werden, die sie bereits kannte. Dies, und auch die Zusage der Dolmetscherin, dass sie in der nächsten halben Stunde in die Klinik käme, führte zunächst zur Stabilisierung der emotionalen Sicherheit der Patientin. Die Jugendliche schien durch die Anwesenheit der Dolmetscherin deutlich beruhigter und weniger angespannt. Mithilfe der Dolmetscherin wurde zunächst die aktuelle Situation bei der Jugendlichen erfragt und der psychische Befund erhoben: Die Patientin war allseits orientiert und ein Rapport war mit Hilfe der Dolmetscherin herstellbar. Inhaltliche oder formale Denkstörungen konnten nicht festgestellt werden. Die affektive Schwingungsfähigkeit war eingeschränkt. Intrusionen und Dissoziationen, Albträume, Schlaflosigkeit, Ängste und somatoforme Beschwerden wurden von der Patientin beschrieben. Sie wirkte sehr verzweifelt, weinte und schilderte, dass sie vergewaltigt worden sei und erst am Vortag erfahren habe, dass sie schwanger sei. Seit sie von der Schwangerschaft wisse, sei sie verzweifelt und Erinnerungen an die Vergewaltigung und an die Flucht würden immer wieder auftauchen. Dies sei vorher anders gewesen, jetzt habe sie nur noch Angst und Panik. Sie wolle nicht weiterleben, wenn sie das Kind austragen müsse. Sie konnte sich nicht von Suizidalität distanzieren. Die Patientin willigte aber ein, zunächst freiwillig in der KJPP zu bleiben.
Anamnese Zur aktuellen Situation erzählte die Patientin, sie habe sich seit einigen Tagen nicht gut gefühlt. Als sie sich mehrmals erbrochen habe, seien die Betreuer in der Wohngruppe in Sorge gewesen. Zuvor habe sie schon Bauchschmerzen und Husten gehabt und unter Übelkeit gelitten. Beim Treppensteigen habe sie Schmerzen gespürt und insgesamt sei sie körperlich schwach gewesen. Eine Betreuerin aus ihrer Wohngruppe habe sie dann in die Kinderklinik gefahren. Dort habe sie erstmals von ihrer Schwangerschaft erfahren. Sie habe sich daraufhin von dem Balkon der Klinik stürzen wollen, weil sie die Information in Verzweiflung gestürzt habe. Verzweifelt sei sie immer noch und sie wolle nicht mehr weiterleben. In der Kinderklinik, dann in der Gynäkologie, habe sie erfahren, dass sie bereits im 5. Monat schwanger sei. Sie sagte immer wieder, dies habe sie nicht gewusst. Seitdem wolle sie nur noch sterben, wenn sie das Kind austragen müsse. Auf der Flucht sei sie von mehreren Männern vergewaltigt worden. Es seien „Verbrecher“ gewesen. Sie habe alles vergessen wollen, jetzt kämen alle Bilder und Erinnerungen an das Erlebte wieder. Sie müsse an die schlimmen Ereignisse denken, wolle
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A. Dixius und E. Möhler, Kasuistik: Unbegleiteter weiblicher Flüchtling
aber lieber vergessen, sie empfinde nur noch Angst. Vergessen könne sie nur, wenn sie die Schwangerschaft abbrechen würde. Nur so könne sie ein normales Leben führen, sie wolle Deutsch lernen, zur Schule gehen und einen Beruf erlernen. Die wahrscheinlich komplex traumatisierte Jugendliche wollte unter allen Umständen einen Schwangerschaftsabbruch erwirken und hatte mit Hilfe ihrer Betreuer einen Termin zur Schwangerschaftskonfliktberatung in einer Beratungsstelle sowie einen weiteren Termin in der gynäkologischen Abteilung einer Universitätsklinik. Aus den Schilderungen der Betreuerin und nach Informationen der behandelnden Ärztin sei in der Kinderklinik nach sonographischer Untersuchung die Schwangerschaft festgestellt worden. Zudem seien laut Bericht per inspectio Verstümmelungen im Genitalbereich aufgefallen. Weitere Untersuchungen seien von der Patientin verweigert worden, eine Vorstellung im Perinatalzentrum der Frauenklinik erfolgte. Auch hier habe die Patientin nur eine sonographische Untersuchung zugelassen. Die Schwangerschaft wurde von der Patientin als Folge von Vergewaltigungen durch mehrere Männer auf ihrer Flucht geschildert. Sie sei ohne Eltern und ohne eine erwachsene Bezugsperson geflüchtet. Auf der Flucht habe sie weitere extrem belastende Ereignisse erlebt, ständig begleitet von starker Furcht vor Gewalt und Misshandlung. Besonders nachts sei sie zusammen mit den anderen Jugendlichen vielen Bedrohungssituationen ausgesetzt gewesen. Die Nächte hätte sie meistens im Freien verbringen müssen, oft seien „Verbrecher“ gekommen. Sie habe in dieser Zeit wenig geschlafen und Angst um ihr Leben gehabt. Schlafen könne sie heute noch kaum und sie habe Albträume. Sie habe beobachtet, wie andere Menschen misshandelt worden seien, ausgeraubt wurden oder einfach auf der Flucht im Stich gelassen worden seien. Die Schlepper seien zudem auch gefährlich gewesen. Die Jugendliche schilderte weiter, dass sie vor der Flucht in ihrer Heimat extremen Misshandlungs- und Gewaltsituationen ausgesetzt gewesen sei. Sie habe bereits häufig mitansehen müssen, wie andere Menschen geschlagen und vom Militär abgeführt wurden. Auch ihr habe die Zwangsrekrutierung gedroht. Ihre Familie habe sie nur wenig schützen können. Ihre Mutter und ihre Geschwister vermisse sie, über ihren Vater äußerte sich die Patientin nicht. Ihre Mutter und ihr Onkel, bei dem sie aufgewachsen sei, hätten ihr gesagt, sie müsse flüchten. Ihr Onkel habe die Flucht finanziert. Die Patientin gab an, dass sie sich vor ca. 6 Monaten auf die Flucht begeben habe. Ihre Mutter und ihre zwei jüngeren Geschwister wären in Eritrea geblieben. Sie sei mit anderen Jugendlichen in den Sudan gegangen, um von dort aus nach Libyen und dann nach Europa zu fliehen. © 2016 Hogrefe
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Sie hätten im Freien übernachten und ständig wachsam sein müssen, damit sie nicht ausgeraubt oder überfallen würden. Im Sudan seien sie von „Verbrechern“ überfallen worden. Es sei Nacht gewesen und mehrere Männer wären es gewesen, die sie dann vergewaltigt hätten. Sie und die anderen Jugendlichen hätten die Flucht nicht bis Libyen geschafft und seien zurück in den Sudan gegangen. Nach ein paar Tagen hätten sie sich erneut auf den Weg nach Libyen gemacht. Sie habe gedacht: „Jetzt ist es egal, entweder ich schaffe das oder ich werde sterben.“ Sie seien über das Meer nach Italien gekommen. Das Boot sei überfüllt gewesen, Wasser sei ins Boot eingedrungen. Sie habe nur sehr wenig zu trinken gehabt, einmal am Tag. Drei Tage seien sie über das Meer getrieben. Vor Italien seien „große Boote“ gekommen und hätten sie aufgegriffen und an Land gebracht. Von dort sei sie über Österreich nach Deutschland gekommen. Sie sei ständig unter großer Anspannung gewesen, habe aber gedacht, es gebe keinen Weg mehr zurück. Dies habe ihr geholfen, die Strapazen, auch in Europa, zu überstehen. Die Bedingungen in Eritrea seien sehr schlimm gewesen, sie schien bei diesem Gedanken stark belastet und verfiel in Dissoziationen, jedoch konnten diese rasch unterbrochen werden. Im Moment mache sie sich auch große Sorgen um ihre Familie und hoffe, irgendwann ihre Mutter und ihre Geschwister nach Deutschland holen zu können. Dafür würde sie einen guten Beruf lernen wollen. Nach Eritrea wolle sie nie wieder. Dort könne sie nicht überleben.
Verlauf Der Zustand der Patientin verschlechterte sich zunächst. Sie verweigerte in der KJPP die Nahrungsaufnahme mit der Begründung, sie faste aus religiösen Gründen. Am nächsten Tag konnte sie eine minimale Menge Nahrung und Flüssigkeit zu sich nehmen. Sie schilderte immer wieder, dass sie auf keinen Fall das Kind austragen wolle. Sie wolle dann nicht weiterleben. Emotional wechselte die Patientin zwischen Zuständen von emotionaler Überflutung und emotionaler Taubheit. Sie sagte, wenn sie die Schwangerschaft abbrechen könne, dann könne sie eine Zukunft haben. Ohne kongruente emotionale Beteiligung schilderte sie weiter, sie wolle nach dem Schwangerschaftsabbruch in die Schule gehen, Deutsch lernen und einen Beruf erlernen. Mögliche Belastungen durch den späten Schwangerschaftsabbruch waren nicht im Erleben der Patientin. Aufgrund des fortgeschrittenen Schwangerschaftsstadiums war eine psychiatrische Indikation zum Schwanger-
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schaftsabbruch nicht ohne Weiteres zu geben. Die Jugendliche war körperlich gesund, das Kind in diesem Schwangerschaftsstadium grundsätzlich lebensfähig. Im Akutbereich unserer Klinik erhielt die Patientin eine 1:1-Betreuung. Sie äußerte wiederholt, sich umbringen zu wollen und sich auch ggf. nach der Geburt des Kindes umzubringen. Eine Fallkonferenz mit der gynäkologischen Klinik der Universität wurde einberufen und die zuständige Ethikkommission eingeschaltet. Diese lehnte den Abbruch zu einem so späten Zeitpunkt ab. De facto hätte zu diesem Zeitpunkt nur eine medizinische Indikation gerechtfertigt sein können, wenn das Leben der Mutter durch das Austragen der Schwangerschaft in Gefahr sei und dieser Gefahr nicht anderweitig abzuhelfen sei. Die Ethikkommission war zu dem Schluss gekommen, dass der in diesem Fall vorliegenden Lebensgefahr der Mutter aufgrund von suizidalen Handlungen durch eine Unterbringung in der Kinder- und Jugendpsychiatrie abgeholfen werden könnte. Das Mädchen wurde weiterhin im Akutbereich der Klinik geführt. Dort verweigerte sie dann gänzlich Essen und Trinken. Dies führte zu Dehydratation und Bradykardie. Auch psychisch wurde die Jugendliche durch mangelnde Flüssigkeitszufuhr und Nahrungsverweigerung labiler. Ruminierende Gedanken um den Schwangerschaftsabbruchswunsch, Gedankeneinengung und Dissoziationen, emotionale Dysregulation und suizidale Gedanken waren erkennbar bzw. von der Patientin (mit Hilfe der Dolmetscherin) mitgeteilt worden. Therapeutisch versuchten wir, die Patientin mit klarer, aber achtsamer und validierender Haltung und Psychoedukation bezüglich ihrer körperlichen Verfassung zu erreichen und hofften, sie zum Trinken und zur Nahrungsaufnahme bewegen zu können. Die mögliche Alternative einer Ernährung per Infusion mit Aminosäuren-GlucoseElektrolytlösung wurde der Patientin dringend empfohlen, aber dies wurde von ihr ablehnt. Stattdessen ließ sie sich zur Nahrungsaufnahme nachmittags am 2. Tag des Klinikaufenthaltes bewegen. In Folge nahm sie ihre erste Mahlzeit zu sich, 2 Brötchen, 3 Becher gesüßten Tee und 1 Becher Wasser. Sie war dazu aufgestanden und hatte sich zusammen mit der Dolmetscherin und der Therapeutin an den Tisch gesetzt. Nach Nahrungsaufnahme war sie deutlich ansprechbarer und konnte sich aktiv an Gesprächen beteiligen. Wir vereinbarten mit der Patientin, dass sie regelmäßig und genügend essen und trinken müsse. Sie erstellte eine Liste mit Nahrungsmitteln – Milchprodukte lehnte sie ab und wünschte die Berücksichtigung ihrer veganen Ernährung. Darauf stellte die Klinikküche sich ein. Ab diesem Zeitpunkt nahm die Patientin regelmäßig und in ausreichender Menge Essen und Getränke zu sich.
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Sie ließ sich in Folge auch auf eine Blutentnahme ein. Alle Laborwerte waren im Normbereich, abgesehen von einem geringfügigen Eisenmangel. Die Patientin fragte erneut, ob ein Schwangerschaftsabbruch möglich sei. Eine klare Aufklärung über die Ablehnung des Schwangerschaftsabbruchs durch die Ethikkommission der Gynäkologie nach Betrachtung der Gutachten und der fortgeschrittenen Schwangerschaft wurde von ihr zur Kenntnis genommen, ohne dass sie im direkten Kontakt weitere Suizidabsichten äußerte. Am 3. Tag fand ein weiterer Termin mit der Dolmetscherin statt. Die Patientin äußerte den Wunsch, wieder in die Wohngruppe zurück zu dürfen. Allerdings wirkte sie noch immer emotional instabil, eine Eigengefährdung konnte nicht ausgeschlossen werden. Im Rahmen des Case Managements der KJPP wurde kurzfristig am selben Tag ein Termin mit der Bereichsleitung der Wohngruppe in der KJPP vereinbart. Der zuständige Bereichsleiter teilte mit, dass derzeitig der Verbleib der Jugendlichen in der Wohngruppe nach der Phase der Krisenintervention in Frage stünde. Es gäbe zwischenzeitlich die Überlegung, die Jugendliche in einer Mutter-KindEinrichtung aufzunehmen, dies sei aber noch nicht geklärt. Die Patientin fühlte sich zu diesem Zeitpunkt aber in der Wohngruppe wohl und hatte dort Kontakt zu weiteren Mädchen aus Eritrea. Sich alleine sprachlich mitteilen zu können, war ihr sehr wichtig. Am 5. Tag der Aufnahme wurde daher kurzfristig eine größere Helferkonferenz in der KJPP einberufen, mit Beteiligung des Vormundes, einer Mitarbeiterin des Jugendamtes, Mitarbeitern der Wohngruppe und mit Therapeutinnen der KJPP. In der interdisziplinären Fallkonferenz wurde festgelegt, dass die Patientin – sofern sie absprachefähig und nicht mehr suizidal sei – zurück in die Wohngruppe gehen könne. Außerdem wurde geplant, dass die Patientin erneut eine Beratung über die Möglichkeiten der Adoption und Pflegschaft für ihr Kind und/oder der Mutter-KindBetreuung zeitnah erhalten solle. Des Weiteren wurde seitens der KJPP ein Termin bei der nachbehandelnden Gynäkologin veranlasst und ihr alle relevanten Informationen übermittelt. Nach der Helferkonferenz wurden die Ergebnisse zusammen mit der Jugendlichen, der Dolmetscherin und der Therapeutin besprochen. Die Jugendliche willigte ein, zu ihrem eigenen Schutz und zur weiteren Stabilisierung noch in der KJPP zu bleiben, konnte aber ab diesem Zeitpunkt auch zur Überprüfung ihrer Absprachefähigkeit und zur Förderung ihrer Selbstwirksamkeit den Akutbereich verlassen und sich auf der offenen Psychotherapiestation aufhalten. Ein Aufenthalt im Außenbereich wurde mit Begleitung ermöglicht.
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A. Dixius und E. Möhler, Kasuistik: Unbegleiteter weiblicher Flüchtling
Erste Stabilisierungstechniken und Skills zur Stresstoleranz und Affektregulation wurden mit der Patientin besprochen und geübt. Trotz der ersten Stabilisierung war die Jugendliche durch die Schwangerschaft enorm belastet. Allerdings war sie in der Lage, ihre Situation anzunehmen und sich von Suizidabsichten deutlich zu distanzieren. Dabei sei der Gedanke an ihre Mutter und ihr Glaube hilfreich. Am Wochenende fanden durch die Betreuer der Wohngruppe Besuchskontakte statt und trotz sprachlicher Hürden konnte so eine wichtige Betreuungskontinuität gewährleistet werden. Dies war für den Stabilisierungsprozess bedeutsam und die Betreuer konnten alleine durch einen fürsorgenden Kontakt zu der Jugendlichen CaregiverFunktion übernehmen. Nach dem Wochenende, am 7. Tag der Krisenintervention, konnte die Patientin körperlich und psychisch stabilisiert entlassen werden. Sie distanzierte sich von Suizidalität. Allerdings war ihre Belastung durch die Schwangerschaft und die erlebten Traumata deutlich. Wir vereinbarten einen Wiedervorstellungstermin nach einer Woche. Die Jugendliche kam mit der Dolmetscherin zum vereinbarten Termin. Sie war im Kontakt offener und affektiv schwingungsfähig. Sie erzählte, dass es ihr besser gehe. Sie besuche täglich den Sprachunterricht. Sie gab an, nicht mehr suizidal zu sein. Ihre Schwangerschaft hatte die Jugendliche angenommen, was jedoch nach wie vor von sehr belastenden Gefühlen begleitet war. Antisuizidale Skills sah sie in Ablenkung und in entgegengesetztem Handeln, sie erlebte sie nach ihren Schilderungen als hilfreich. Der Gedanke an ihre Mutter, die sie geliebt habe, sowie die Erinnerung daran, dass ihr Onkel ihr die Flucht ermöglicht habe, seien auch die Garantie dafür, dass sie sich nichts antun würde. Ein Beratungstermin beim Pflegekinderwesen des Jugendamtes stehe noch aus, dies war jedoch im zentralen Interesse der Jugendlichen. Sie wollte sich mit den Themen Adoption, Pflegschaft ihres Kindes und Mutter-KindAngeboten auseinandersetzen. In einem Telefonat konnte dann ein Termin zeitnah zur Beratung vereinbart werden. Dem Mädchen wurde eine ambulante Psychotherapie angeboten. Dazu fand in einem weiteren Termin auch eine Psychoedukation über Therapiemöglichkeiten bei Vorliegen einer Posttraumatischen Belastungsstörung statt, der Fokus dabei lag, auch wegen der Schwangerschaft, zunächst auf der Stabilisierung der Jugendlichen. Erste Strategien zur Entspannung und zum affektiven und kognitiven Coping aus dem deutschsprachigen Manual der traumafokussierten kognitiven Verhaltenstherapie (TF-KVT) (Cohen, Mannarino & Deblinger, 2009; Kirsch, Fegert, Seitz & Goldbeck, 2011) sowie Skills aus der dialek© 2016 Hogrefe
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tisch behavioralen Therapie für Adoleszente (DBT-A) zur Stärkung der Belastungstoleranz wurden mit dem Mädchen besprochen und geübt. Auf eine Exposition durch narrative Aufarbeitung oder durch Eye Movement Desensitization and Reprocessing (EMDR) wurde angesichts der noch immer akuten Belastungssituation des Mädchens verzichtet. Mit der Jugendlichen wurde vereinbart, dass sie in Ruhe über die mögliche therapeutische Unterstützung nachdenken solle. Sie könne ohne weitere Wartezeit Termine in der KJPP über die Betreuer der Wohngruppe oder über die Dolmetscherin vereinbaren.
Diskussion Für die Kinder- und Jugendpsychiatrie gestaltete sich die Krisensituation neben der klinischen Einschätzung von Suizidalität und Abwendung der Eigengefährdung der Jugendlichen zu einer mehrdimensionalen Auseinandersetzung zwischen kinder- und jugendpsychiatrischer Begutachtung und der ethischen Thematik zum Umgang mit dem Thema fortgeschrittene Schwangerschaft und Schwangerschaftsabbruch nach Vergewaltigung bei einer komplex traumatisierten Patientin. Ein Schwangerschaftsabbruch war in diesem Fall von keiner der in Deutschland festgelegten Indikationen abgedeckt. Die Vergewaltigung hätte zwar Anlass zur kriminologischen Indikation geben können, diese hat jedoch folgende Geltungsvorschriften:
Kriminologische Indikation Wenn ein Strafdelikt Grund für die Schwangerschaft ist, also beispielsweise eine Vergewaltigung oder ein sexueller Missbrauch, dann ist ein Schwangerschaftsabbruch nicht rechtswidrig. Allerdings darf auch dann nur bis zur 14. Schwangerschaftswoche (beziehungsweise bis zur 12. Woche nach der Befruchtung) abgetrieben werden. Zudem hätte der psychiatrische Ausnahmezustand des komplex traumatisierten Mädchens eine medizinische Indikation – mit deutlich längerem Geltungsbereich – rechtfertigen können, aber auch hier sind Grenzen gesetzt. Der Gesetzgeber schreibt:
Medizinische Indikation Gibt es eine medizinische Indikation für einen Schwangerschaftsabbruch (BzgA, 2015), dann ist die Abtreibung nicht rechtswidrig und unter bestimmten Umständen
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A. Dixius und E. Möhler, Kasuistik: Unbegleiteter weiblicher Flüchtling
auch nach der 14. Schwangerschaftswoche möglich. Eine medizinische Indikation für eine Abtreibung liegt vor, wenn Leben, Gesundheit oder Psyche der Schwangeren gefährdet sind und sich diese Gefahr nicht anders abwenden lässt. Ein Sonderfall ist dabei der sogenannte Spätabbruch nach der 22. Schwangerschaftswoche. In diesem Fall erfolgt vor der Abtreibung der sogenannte Fetozid, also die gezielte Tötung des Fötus im Mutterleib. Das soll verhindern, dass ein zunächst lebensfähiges, aber schwer geschädigtes Kind die Abtreibung überlebt. Die Validierung der emotionalen Situation der Patientin und die nicht wertende, empathische Grundhaltung des Teams und der Therapeutin, ebenso wie die Möglichkeit, sich per Dolmetscherin zu artikulieren und die ihr wichtigen Aspekte zur Sprache zu bringen, boten ihr eine sichere Basis im Sinne eines Containments. Das Eingehen auf ihre ‚kulinarischen‘ Wünsche – um die Nahrungsaufnahme wieder zu ermöglichen – stärkte die Erfahrung von Selbstwirksamkeit und minderte dadurch die traumabedingten Gefühle von Ohnmacht, Hilflosigkeit und Ausgeliefertsein. Selbstwirksamkeitserfahrungen und sicherer Ort erschienen als hilfreichste Grundelemente der Intervention. Insbesondere ist zu betonen, dass ein Spätabbruch an sich auch traumatische Folgen haben kann (Adler et al., 1990) und auch eine Abtreibung nicht mehr zur „Elimination des Traumas“ beitragen kann, zumal das Mädchen einen orthodox-katholischen Hintergrund hatte. Durchaus werden hier auch andere Positionen vertreten, der vorliegende Fall schildert nur auch einen möglichen gangbaren Weg. Zudem verdeutlicht er die Komplexität der Probleme, der sich die Kinderpsychiatrie wird stellen müssen, angesichts einer großen und immer weiter wachsenden Zahl minderjähriger Flüchtlinge (Moehler et al., 2015) mit Traumata, die – nach Erreichen einer Grundsicherung – in zunehmendem Maße unsere kinderpsychiatrische Expertise benötigen werden. Witt et al. (2015) betonen einen Mangel an wissenschaftlichen Arbeiten aus Deutschland zum Thema „unbegleitete minderjährige Flüchtlinge“. Angesichts der großen Zahl dieser Kinder und Jugendlichen sollte dieser Herausforderung für unser Fach mit Entschlossenheit begegnet werden.
ngerschaftsabbruch/rechtslage-und-indikationen/ (letzter Abruf: 04.12.2015). Bronstein, I., & Montgomery, P. (2011). Psychological distress in refugee children: a systematic review. Clinical Child and Family Psychology Review, 14, 44–56. Cohen, J. A., Mannarino, A. P., Deblinger, E. (2009). Traumafokussierte Kognitive Verhaltenstherapie bei Kindern und Jugendlichen. Heidelberg: Springer. Fazel, M., Wheeler, J., Danesh, J. (2005). Prevalence of serious mental disorder in 7000 refugees resettled in western countries: a systematic review. Lancet, 365, 1309–1314. Gavranidou, M., et al. (2008). Traumatische Erfahrungen, aktuelle Lebensbedingungen im Exil und psychische Belastung junger Flüchtlinge. Kindheit und Entwicklung, 17, 224–231. Huemer, J., Karnick, N. S., Voelkl-Kernstock, S., Granditsch, E., Dervic, K., Friedrich M. H., et al. (2009). Mental health issues in unccompainied refugee minors. Child and Adolescent Psychiatry and Mental Health, 3, DOI: 10.1186/1753-2000-3-13. Human Rights Watch. (2009). Service for Life: State Repression and Indefinite Conscription in Eritrea, Abrufbar unter: https:// www.hrw.org/sites/default/files/reports/eritrea0409webwco ver_0.pdf. (letzter Abruf: 04.12.2015). Kirsch, V., Fegert, J., Seitz, D., & Goldbeck, L. (2011). Traumafokussierte kognitive Verhaltenstherapie (Tf-KVT) bei Kindern und Jugendlichen nach Missbrauch und Misshandlung. Kindheit und Entwicklung, 20, 95–102. Moehler, E., Simons, M., Kölch, M., Herpertz-Dahlmann, B., Schulte-Markwort, M., Fegert J. (2015). Diagnosen und Behandlung (unbegleiteter) minderjähriger Flüchtlinge. Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, 43, 381–383. Mollica, R. F., McInnes, K., Poole, C., Tor, S. (1998). Dose-effect relationships of trauma to symptoms of depression and post-traumatic stress disorder among Cambodian survivors of mass violence. The British Journal of Psychiatry, 173, 482–482. Ruf, M., Schauer, M., Elbert, T. (2010). Prävalenz von traumatischen Stresserfahrungen und seelischen Erkrankungen bei in Deutschland lebenden Kindern. Zeitschrift für Klinische Psychologie und Psychotherapie, 39, 151–160. Terre des Femmes. (2015). https://www.frauenrechte.de/online/ index.php/themen-und-aktionen/weibliche-genitalverstuem melung2/unser-engagement/aktivitaeten/genitalverstuem melung-in-afrika/fgm-in-afrika/1427-eritrea (letzter Abruf: 04.12.2015). Witt, A., Rassenhofer, M., Fegert J., Plener P. I. (2015). Hilfebedarf und Hilfeangebote in der Versorgung von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen. Eine systematische Übersicht. Kindheit und Entwicklung, 24, 209–234.
Literatur
Andrea Dixius Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik SHG Kliniken Sonnenberg 66271 Kleinblittersdorf Deutschland
Adler, N. E., David, H. P., Major, B. N., Roth, S. H., Russo, N. F., Wyatt, G. E. (1990). Psychological responses after abortion. Science, 248, 41–44. Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BzgA). (2015). Abrufbar unter: http://www.familienplanung.de/beratung/schwa
Manuskript eingereicht: 10.10.2015 Nach Revision angenommen: 16.05.2016 Interessenkonflikt: Nein Artikel online: 19.09.2016
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Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie (2017), 45 (1), 69–74
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Rezensionen Bewegungs- und Sporttherapie bei psychischen Erkrankungen des Kindes- und Jugendalters Ansgar Quiske Deimel, Hubertus und Thimme, Till (Hrsg.), Bewegungs- und Sporttherapie bei psychischen Erkrankungen des Kindes- und Jugendalters, Academia Verlag, Sankt Augustin 2016, 282 S., € 24.50, ISBN 978-3-89665-693-3
Den Autoren gelingt es in sehr fundierter und ansprechender Art und Weise, den Bogen zwischen Theorie, Forschung und klinischen Einsatzfeldern der Bewegungstherapie zu spannen. Aus praktisch-klinischer Sicht hervorzuheben ist die differenzierte Sicht der Autoren auf die unterschiedlichen Behandlungsebenen, wie z. B. Selbstwirksamkeit und Selbstkonzept, Affektregulation, Kontakt- und Beziehungsfähigkeit oder auch störungsspezifische Symptomatik. Die Bewegungstherapie wird in ihren breit gefächerten Einsatzmöglichkeiten dargestellt und die Autoren eröffnen eine Perspektive, die Bewegungstherapie als einen integralen Bestandteil einer ganzheitlichen Psychotherapie in der Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit psychischen Störungen zu verstehen. Ob Bewegungseinheiten mehr sind als Sport und eine klare therapeutische Zielsetzung bekommen, liegt nicht zuletzt auch in dem Erkennen der breit gefächerten Möglichkeiten der Bewegungstherapie und ihres gesteuerten
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und reflektierten Einsatzes im Rahmen einer multimodalen kinder- und jugendpsychiatrischen Behandlung. Dass dieses möglich ist, verdeutlichen die Autoren in vorbildhafter Weise. Ein Buch, das für den klinischen Praktiker eine ausgezeichnete Grundlage darstellt, Bewegungstherapie vor dem Hintergrund ihrer theoretischen Fundierung und praktischen Akzentsetzung im Behandlungsprozess von Kindern und Jugendlichen mit einer klaren Zielsetzung, und somit entwicklungs- und gesundheitsfördernd für die Klienten, einzusetzen.
Ansgar Quiske Ltd. Psychologe Abtlg. für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie LVR Klinik Bonn Bonn Deutschland
Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie (2017), 45 (1), 75–76 DOI 10.1024/1422-4917/a000482
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Rezensionen
Systemische Therapie Renate Schepker von Sydow, Kirsten, Systemische Therapie (Wege der Psychotherapie), München, Basel 2015, 181 S., EUR 24,90, Ernst Reinhart Verlag, ISBN 978-3-497-02508-4
Das kleine, aber gewichtige Buch ist ein wohltuend an empirischen Erkenntnissen orientiertes Werk zur systemischen Therapie, das sich gegenüber vielen anderen Veröffentlichungen in diesem Themenfeld durch seine Wissenschaftlichkeit auszeichnet – kein Wunder, ist die Autorin doch langjähriges Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats Psychotherapie. Der leider kurze historische Überblick schildert prägnant verschiedene Richtungen und Denktraditionen und geht auf die Versorgungspraxis im deutschsprachigen Raum ein. Die theoretischen Grundlagen sind sehr klar gefasst und – das zeichnet das Buch an vielen Stellen aus – werden jeweils mit praktischen Implikationen für die Behandlung versehen. Auch der Bindungskontext fehlt nicht. Besonders geglückt ist das Kapitel „Theoretische Integration“. Grundhaltungen des Therapeuten leiten die diversen Kapitel zum therapeutischen Prozess ein, in denen zunächst die wichtigen Methoden und Techniken des Verfahrens für Erwachsene, v. a. zur Paartherapie, und eigens für Kinder und Jugendliche sowie Familien dargestellt werden. Der Multifamilientherapie ist ein eigenes Kapitel gewidmet. Verdienstvoll ist das Kapitel über Manuale in der Anwendung für Jugendliche. Der bestehende Forschungsstand wird später nochmals in einem zusammenfassenden Kapitel gewürdigt, nachdem Indikationen und
Kontraindikationen, Ende der Behandlung und Probleme während der Behandlung ausführlich besprochen wurden. Der Band endet mit Ausblicken auf künftige Entwicklungen und einem Materialanhang mit Literaturempfehlungen, Erläuterungen und Glossar. Hervorzuheben an diesem Buch ist die Klarheit der sprachlichen Darstellung und die wissenschaftliche Präzision. Durchgängig ist beeindruckend, wie gut die Autorin Theorie, Forschungsergebnisse und Praxis durchdrungen hat, d. h. genau weiß, wovon sie spricht. Dadurch wird dem Leser indirekt Mut und Lust gemacht, selbst die verschiedenen Strategien anzuwenden und bestenfalls selbst zu forschen. Ein wissenschaftliches „Herabsehen“ auf die systemische Therapie war gestern. Dem Buch ist viel Verbreitung in der Wissenschaft, in der Ausund Weiterbildung und damit auch in der Praxis zu wünschen. Prof. Dr. Renate Schepker ZfP Südwürttemberg Abt. Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters Weingartshofer Str. 2 88214 Ravensburg Deutschland renate.schepker@zfp-zentrum.de
Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie (2017), 45 (1), 75–76 DOI 10.1024/1422-4917/a000503
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Endlich KJPPP – die Bedeutung der neuen Musterweiterbildungsordnung für die Zukunft unseres Fachgebietes Wenn dieses Feature erscheint, sind die Vorbereitungen für den 20. Deutschen Ärztetag bereits angelaufen, auf welchem die neue Musterweiterbildungsordnung (MWBO) diskutiert und abgestimmt werden soll. Damit dieses ehrgeizige Unterfangen gelingt, müssen die Überarbeitungen der MWBO zwischen Landesärztekammern und Bundesärztekammer erfolgreich koordiniert werden, was sich aufgrund oftmals widerstrebender Interessenlagen als zeitaufwendig und kompliziert darstellt. Für unser Fach stehen mit der MWBO wesentliche Neuerungen an. Dass unsere Fachverbände die Aufnahme des Begriffs „Psychosomatik“ in die Facharztbezeichnung vorgeschlagen haben, hat hierbei durchaus zu Diskussionen geführt. Die neue Facharztbezeichnung soll dann lauten: „Kinder- und Jugendpsychiatrie, -psychosomatik und -psychotherapie“ (KJPPP). Damit soll eine Angleichung an die Bezeichnungen der Fachverbände sowie vieler Kliniken erfolgen. Aber es gibt auch wesentliche inhaltliche Gründe für eine Integration des Begriffs „Psychosomatik“ in unseren Facharzttitel. Mit der Aufnahme der „-psychosomatik“ – wohlgemerkt mit Bindestrich und damit spezifischem Bezug auf Kinder und Jugendliche – wird zunächst nachvollzogen, dass unser Fachgebiet, anders als die Erwachsenen-Gebiete, keine Aufteilung in „Psychiatrie“ und „Psychosomatik“ vorgenommen hat. Dies wäre angesichts der Größe des Fachgebietes schlichtweg nicht sinnvoll gewesen, zumal es in den letzten Jahren und Jahrzehnten erhebliche Mühe erfordert hat, eine weitgehend flächendeckende Versorgung zu etablieren. Hätte man 1992 mit der Definition des Facharztes für Psychotherapeutische Medizin oder 2003 mit der Umbenennung in den heutigen Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie hellsichtig gleich die Erweiterung der Facharztbezeichnung vollzogen, hätte das niemanden verwundert. Heute ist mit den somato-psycho-somatischen Wechselwirkungen das Somatische stärker in den Vordergrund der Psychosomatischen Medizin gerückt, woraus ein gewisser Rechtfertigungsbedarf der Zuständigkeit eines psychiatrischen Faches hergeleitet wird. © 2017 Hogrefe
Die oftmals als psychosomatisch definierten Störungen wie Anorexia und Bulimia nervosa oder Ausscheidungsstörungen gehören seit jeher zum genuinen Diagnosespektrum und dem Zuständigkeitsbereich der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Darüber hinaus werden Ärzte unseres Faches vielfach in der „Somatopsychik“ hinzugezogen, nämlich immer dann, wenn bei chronischen somatischen Erkrankungen eine psychotherapeutische oder familientherapeutische Unterstützung erforderlich wird – bei pubertärer Diabetes-Entgleisung infolge von Verweigerungshaltungen des Jugendlichen etwa oder zur Begleitung einer Transplantationsvorbereitung bei Mucoviszidose, zur Behandlung von häufig auftretenden, eigenständig diagnoserelevanten Depressionen bei chronischen somatischen Erkrankungen, wie in der Psychoonkologie von Kindern. An vielen Standorten in Deutschland haben sich in der Folge enge Kooperationen zwischen der Kinderund Jugendpsychiatrie und -psychotherapie (KJPP) und der Pädiatrie sowie anderen somatischen Fächern ausgebildet und etabliert. Somit stellt die Aufnahme des Begriffs „Psychosomatik“ in die Facharztbezeichnung schlichtweg den späten Vollzug dessen dar, was schon immer in der Versorgungspraxis gelebt wurde. Die zweite große Neuerung wird die Flexibilisierung des Fächerkanons sein, welche sich nicht nur auf unser Fach bezieht, sondern grundsätzliches Konzept der neuen MWBO darstellt und die Position der Weiterbildungsassistenten stärken soll. Das Fach des Fremdjahrs soll zukünftig frei wählbar sein und kann sogar entfallen, womit das Nadelöhr für die Ärztinnen und Ärzte in Weiterbildung entschärft werden würde. Es hat zudem den Vorteil, dass es der Eigenverantwortung der Weiterbildungsassistenten, aber auch der Führung durch die Weiterbildungsbefugten obliegt, welche Kompetenzen im Pflichtjahr günstigstenfalls noch zu erwerben wären und welches Fachgebiet hier besonders naheläge. Darüber hinaus erleichtert die Regelung den Fachwechsel für Quereinsteiger aus ganz anderen Bereichen der Medizin (wie z. B. der Kinderchirurgie) und verkürzt im Einzelfall deren bisher aufzuwendende Wei-
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Feature
Renate Schepker und Marcel Romanos
Feature
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R. Schepker und M. Romanos, Endlich KJPPP – die Bedeutung der neuen Musterweiterbildungsordnung
terbildungszeit. Nicht zuletzt dürften Forschungsteams an Universitäten eine bessere Langzeitperspektive entwickeln können, wenn im Spannungsfeld zwischen dem laufenden Forschungsprojekt und den Weiterbildungsinteressen einzelner Teammitglieder Wechsel in andere Kliniken vermieden werden können, da auch 5 Jahre in der KJPPP zur Facharztprüfung führen können. Eine dritte Neuerung bezieht sich auf die zunehmend schwindenden Sektorengrenzen, sodass eine settingspezifische Festlegung von Weiterbildungszeiten nicht mehr zeitgemäß ist. So ist die Gleichsetzung von teilstationärer Behandlung mit ambulanter Tätigkeit inhaltlich oft unsinnig, zumal Tageskliniken zunehmend das gesamte Spektrum an Störungsbildern versorgen und als „AkutTageskliniken“ verhandelbar geworden sind. Je nach Versorgungsgebiet behandeln andererseits sozialpsychiatrische Praxen Krisen und Notfälle. Auch Tätigkeiten wie die poststationäre ambulante Weiterbehandlung durch Stationsärzte oder Home-Treatment-Konzepte sind in einer sektorenbezogenen Weiterbildung kaum in Weiterbildungszeiten abbildbar. Andererseits ist zweifellos in der Weiterbildung zur Qualitätssicherung das Kennenlernen ausschließlich stationär behandelbarer, schwerster Störungsbilder unverzichtbar. Dies könnte allerdings aus unserer Sicht durch die Beschreibung der Weiterbildungsstätte gelöst werden, indem „mindestens 24 Monate an einer Weiterbildungsstätte mit voller Weiterbildungsbefugnis“ abgeleistet werden müssen, wofür ausschließlich Weiterbildungsstätten mit vollstationären Einheiten infrage kommen . Weitere wesentliche Veränderungen in der geplanten MWBO sind die Orientierung am Kompetenzerwerb und das Führen eines elektronischen Logbuchs, das von den Weiterbildungsassistenten und von den Weiterbildungsbefugten im Verlauf der Weiterbildung gepflegt und adaptiert werden kann. Die bisherigen Logbücher boten weder den erforderlichen Platz noch die Möglichkeit, in der fortschreitenden Weiterbildung verbesserte Kompetenzen gegenüber dem in vorherigen Weiterbildungsgesprächen Dokumentierten zu überschreiben. So können nun auch mühelos besondere Kompetenzen hervorgehoben werden, woraus sich ein besseres „Profil“ eines jeden Weiterbildungsassistenten ersehen lässt. Zu begrüßen ist ebenfalls die Reduktion von „Richtzahlen“, die zwar in den somatischen Fächern größere Probleme gemacht haben als bei uns, die aber ähnliche unerwünschte Eigendynamiken generieren konnten. So haben wir uns dagegen entschieden, minimale Stundenzahlen für psychotherapeutische Behandlungen zu fordern, da dies im Einzelfall dazu führen kann, dass deutlich gebesserte Patienten weniger für deren eigenes Wohl denn für das Erfüllen der Richtzahl „zu Ende behandelt“ werden. Wegfallende Richtzahlen für teilweise weniger beliebte Inhalte,
z. B. das Erstellen von Gutachten, erhöhen die organisatorischen und persönlichen Anforderungen an den Weiterbildungsbefugten, die in Weiterbildung befindlichen Assistenten zu leiten. Damit wird die Weiterbildung andererseits zu einer wirklichen „Erwachsenenbildung“ und emanzipiert sich zum Teil aus dem früheren Abhängigkeitsverhältnis, mit allen Vor-und Nachteilen von Aushandlungsprozessen. Bei der Definition der Psychotherapie-Inhalte war es wesentliches Ziel, einerseits die Belastung der Weiterbildungsassistenten vertretbar zu halten, andererseits Anpassungen vorzunehmen, die für die Ausübung späterer Tätigkeiten in allen Berufsfeldern, z. B. auch der Richtlinienpsychotherapie, erforderlich sind. In den letzten Jahren konnte in vielen Regionen von Deutschland eine zunehmend bessere Versorgung durch unser Fachgebiet in allen Sektoren erreicht werden. Dennoch ist es von existenzieller Bedeutung, auch zukünftig alle Anstrengungen in der Weiterbildung zu unternehmen. Unser Fach zählt aktuell 2168 berufstätige Ärztinnen und Ärzte, wobei Ärztinnen im Jahr 2015 etwa 80 % der neu ausgesprochenen Gebietsanerkennungen ausmachten. Im Verhältnis zu 371 300 berufstätigen Ärzten insgesamt ist unser Fach somit vergleichsweise klein. Die Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie hat ebenfalls in den letzten Jahren stets eine der schlechtesten Facharztquoten (d. h. Fachärzte je ausgeschriebener Stelle). Von den jetzt berufstätigen 1387 Fachärztinnen und Fachärzten sind überdies 182 Kolleginnen und Kollegen 60 Jahre und älter (entspricht 13 %), was gegenüber der berufstätigen Ärzteschaft (11.4 %) eine ebenfalls nicht vorteilhafte Quote darstellt (Alle Zahlen dieses Abschnitts entsprechen dem Stand Ende 2015 nach Statistik der Bundesärztekammer http://www.bunde saerztekammer.de/fileadmin/user_upload/downloads/pdfOrdner/Statistik2015/Stat15AbbTab.pdf). Neben dem „dicken Brett“ der MWBO steht es nun für unser Fach zudem an, Approbationsfach zu werden. Dies bedeutet z. B., dass es – trotz unserer wiederholten Proteste – keine Verweise auf unser Fachgebiet im Nationalen Lernzielkatalog Medizin gibt. Das systematische Fehlen unserer Gebietsbezeichnung im Zusammenhang mit Störungsbildern, für die wir genuin die Versorgung tragen und die umfassende klinische und wissenschaftliche Kompetenz besitzen, erschwert das Anwerben von Ärzten in Weiterbildung noch weitergehend. Bei allen aktuellen Herausforderungen stellt die Weiterbildung in Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie eigentlich eine Erfolgsstory dar. Als ein eher weibliches Fach, mit Familienfreundlichkeit quasi im Titel, bieten wir multiple Möglichkeiten an Teilzeit-Weiterbildungsmodellen an. Unser Fach hat in der Evaluation der Weiterbildung gute Noten erhalten und schnitt damit in der 1. und 2. Evaluation der Weiterbildung (2009 und 2011) durch die Landesärztekammern ebenso gut ab wie
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R. Schepker und M. Romanos, Endlich KJPPP – die Bedeutung der neuen Musterweiterbildungsordnung
Prof. Dr. Renate Schepker ZfP Südwürttemberg Abt. Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters Weingartshofer Str. 2 88214 Ravensburg Deutschland renate.schepker@zfp-zentrum.de
Feature
der Durchschnitt in Deutschland – mit einem deutlich besseren Wert zur „Entscheidungskultur“, der Bestnote im Fach. Das bedeutet, dass sich bereits jetzt Weiterbildungsassistenten vor allem in der Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie mit ihren Beiträgen ernst genommen fühlen und dass uns Teamarbeit zum Wohle der Patienten in den Augen der jungen ärztlichen Kollegen gut zu gelingen scheint. Nun muss es gelten, dass wir unsere Stärken weiter ausbauen und die strukturellen Bedingungen für eine Verbesserung der Weiterbildung durch gemeinsame politische Interventionen verfolgen und umsetzen.
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Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie (2017), 45 (1), 77–79
Eckpunktepapier von DGKJP und DGPPN
Übergang zwischen Jugend- und Erwachsenenalter: Herausforderungen für die Transitionspsychiatrie Eckpunktepapier von DGKJP und DGPPN
Policy
Jörg M. Fegert, Iris Hauth, Tobias Banaschewski und Harald J. Freyberger
Der Übergang vom Jugend- in das Erwachsenenalter stellt für jeden Menschen eine große Entwicklungsaufgabe dar, welche oftmals gelingt, manchmal aber scheitert oder zu scheitern droht – dies betrifft insbesondere auch Menschen mit psychischen Erkrankungen. Die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (DGKJP) und die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) weisen nun in einem umfassenden Eckpunktepapier auf diese Herausforderungen hin und bieten Lösungsansätze, um den geplanten Übergang (Transition) von einer adoleszentenzentrierten hin zu einer erwachsenenorientierten psychiatrischen Versorgung optimal zu gestalten und die Heranwachsenden bei der Lösung damit verbundener Schwierigkeiten zu unterstützen. Die wichtigsten Forderungen von DGKJP und DGPPN auf einen Blick: • In der Krankenversorgung sind fächerübergreifende ambulante, teilstationäre, stationäre und komplementäre Angebote zu schaffen, die den Besonderheiten des Übergangs vom Jugendalter in das Erwachsenenalter Rechnung tragen und den zusätzlichen Bedarf an therapeutischen Angeboten, die auf entwicklungsspezifische Problematiken abzielen, berücksichtigen. • Diese Ansätze sind auf das komplementäre Versorgungssystem zu übertragen bzw. hier sind eigene Ansätze zur Leistungserbringung zu entwickeln und zu fördern. • In der Aus-, Fort- und Weiterbildung sind transitionspsychiatrische Programme zu etablieren, die den betei-
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ligten Berufsgruppen eine spezifische, bisher fehlende Expertise zur Verfügung stellen. Bei der Überarbeitung der Musterweiterbildungsordnungen beider Fächer sollte die Transitionsphase stärker berücksichtigt werden. Innovative, interdisziplinäre, fächerübergreifende Weiterbildungsangebote und Rotationsmodelle sollten gefördert werden. Forschungsbedarf besteht insbesondere in der neurobiologischen Grundlagenforschung, der Versorgungsforschung und der Interventionsforschung. Bisher fehlen systematische Forschungsförderungsprogramme, die Transitionsvorgänge fokussieren.
Politischer Handlungsbedarf besteht in den Feldern „Versorgungsstrukturen“ (Sozialgesetzbuch [SGB] V), „sektorenübergreifende Versorgungsmodelle“ (SGB V), „komplementäre Versorgungsangebote“ (SGB VIII und SGB XII) und „spezifische Forschungsförderung“ (Deutsche Forschungsgemeinschaft [DFG], Bundesministerium für Bildung und Forschung [BMBF], Stiftungen).
Hintergrund Der Übergang vom Jugend- in das Erwachsenenalter stellt für jeden Menschen eine große Entwicklungsaufgabe dar, welche oftmals gelingt, manchmal aber scheitert oder zu scheitern droht. Die Adoleszenz und das junge Erwachsenenalter sind eine besonders vulnerable Phase für die Entwicklung und Chronifizierung von
Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie (2017), 45 (1), 80–85 DOI 10.1024/1422-4917/a000502
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psychischen Störungen, in der eine bestmögliche Versorgung gewährleistet werden sollte. Der notwendige Übergang von einer adoleszentenzentrierten hin zu einer erwachsenenorientierten Versorgung stellt unter entwicklungsbezogenen Aspekten eine zusätzliche Herausforderung dar, in der die spezifischen Bedürfnisse der psychisch erkrankten Heranwachsenden zwischen 16 und 24 Jahren mit unterschiedlichen Reifungsprozessen und Entwicklungsbedingungen berücksichtigt werden müssen. Das psychiatrische Hilfesystem steht vor der Herausforderung, diesen Übergang optimal zu gestalten und die Heranwachsenden bei der Lösung damit verbundener Schwierigkeiten zu unterstützen. Gegenwärtig bestehen allerdings noch vielerorts erhebliche Schnittstellenprobleme zwischen den unterschiedlichen Versorgungssegmenten des Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalters, die mit höheren Therapieabbruchraten, Behandlungsdiskontinuitäten und weiteren den Verlauf und die Prognose beeinträchtigenden Faktoren assoziiert sind. Während sich die Übergänge zwischen Entwicklungsphasen jedoch individuell stark unterscheiden, werden formal in Bezug auf den Übergang vom Jugend- in das Erwachsenenalter scharfe Grenzen oder Übergangsphasen definiert. Mit dem 18. Geburtstag erreichen junge Menschen die Volljährigkeit. Fragen der Selbstbestimmung und der Einwilligung in die Behandlung ändern sich fundamental in der Nacht zum 18. Geburtstag. Dennoch kennt auch der Gesetzgeber in verschiedenen Kontexten Kriterien für eine individuelle Reifung. So kann eine Einwilligungsfähigkeit schon bei Adoleszenten von 14 oder 15 Jahren bestehen, wenn diese die Tragweite entsprechender Entscheidungen voll erfassen können. Im Strafrecht wird eine spezifische Kategorie der Heranwachsenden gebildet (18–21 Jahre), die bei Vorliegen bestimmter Unreifekriterien die Anwendung des Jugendstrafrechts auf junge Erwachsene ermöglicht (Gleichstellung eines Heranwachsenden mit einem Jugendlichen nach § 105 Abs. 1 Nr. 1 Jugendgerichtsgesetz [JGG]). Im Sozialrecht der Jugendhilfe (SGB VIII) sind Hilfen zur Erziehung und Eingliederungshilfen für seelisch Behinderte bzw. von seelischer Behinderung bedrohte jungen Menschen bis zum 21., in Ausnahmefällen sogar bis zum 27. Lebensjahr möglich (§ 41 SGB VIII). Bei erheblichen Reifungsdefiziten kann ab dem 18. Lebensjahr eine gesetzliche Betreuung eingerichtet werden, die häufig weiter den Eltern übertragen wird (§§ 1896 ff Bürgerliches Gesetzbuch [BGB]). Durch die Reform der Eingliederungshilfe und die bevorstehende Teilhabegesetzgebung im Erwachsenenbereich (Zuständigkeit: Bundesministerium für Arbeit und Soziales [BMAS]) und Kinder- und Jugendbereich (Zuständigkeit: Bundesministerium für Familie, Senioren, © 2017 Hogrefe
Frauen und Jugend [BMFSFJ]) muss diese für die komplementäre Versorgung vieler junger Menschen mit psychischen Problemen relevante Altersgrenze neu definiert und in den entsprechenden Leistungsbereichen neu ausgestaltet werden. Reifungsprozesse verlaufen selten linear. Vielmehr sind gerade bei jungen Menschen mit psychischen Störungen teilweise Entwicklungseinbrüche oder besonders stark betonte Selbstständigkeitsbestrebungen festzustellen. Entwicklungspsychologisch zeigen internationale Datenerhebungen (vgl. Seiffge-Krenke, 2015) eine zunehmende Verlängerung der Übergangsphase zwischen Jugendlichen- und Erwachsenenalter. In Südeuropa hat die wirtschaftliche Situation erheblich dazu beigetragen, dass junge Menschen oft bis zum 30. Lebensjahr bei ihren Eltern leben. Doch auch in Deutschland findet die häufig spöttisch als „Hotel Mama“ bezeichnete Lebensform zunehmend Verbreitung. Junge Menschen leben in einer Phase des Übergangs in den Beruf oder während des Studiums zwar oft schon in wechselnden Partnerschaften, ziehen dafür aber nicht mehr unbedingt von Zuhause aus. Das psychiatrische Hilfesystem ist auf die Besonderheiten im Übergang vom Jugend- in das Erwachsenenalter und die Probleme im Zusammenhang mit der Verlängerung der Adoleszenz bis in das dritte Lebensjahrzehnt (bzw. „Emerging Adulthood“ als eigenständige Entwicklungsphase), die sich seit den späten 1990er Jahren aufgrund soziologischer und kultureller Veränderungen in nahezu allen westlichen Industrienationen etabliert hat und mit zeitlichen Verschiebungen in objektiven soziologischen und psychologischen Markern des Erwachsenwerdens assoziiert ist (vgl. Seiffge-Krenke 2015), bislang noch zu wenig eingestellt. Nach ersten Anfängen in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen hat sich zwar – seit der Psychiatrie-Enquete in Deutschland (1975) flächendeckend – eine gegenüber der Erwachsenenpsychiatrie eigenständige Kinderund Jugendpsychiatrie mit eigener Facharztqualifikation (Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie) etabliert. In der personellen Ausstattung der Kliniken wird über die Psychiatrie-Personalverordnung der Tatsache Rechnung getragen, dass junge Menschen, neben der Krankenbehandlung, immer auch der Erziehung bedürfen. Im sogenannten „Pflege- und Erziehungsdienst“ werden gemischte Teams aus Krankenpflegepersonal, Heilerziehungspflegern, Erziehern sowie Sozialpädagogen vorgehalten. Klinikbeschulung und damit die Sicherstellung von Zugängen zu Bildung entsprechend der UN-Kinderrechtskonvention gehört in der stationären und teilstationären kinder- und jugendpsychiatrischen Behandlung zur Regel. Dieser attestierte erhöhte Personalbedarf endet aber abrupt mit Erreichen des 18. Lebens-
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Policy
Eckpunktepapier von DGKJP und DGPPN
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jahres, wenn die Personalverordnung der Erwachsenenpsychiatrie zur Anwendung kommt, auch wenn mit Entwicklungsaufgaben in Zusammenhang stehende psychische Probleme weiterhin einen spezifischen und erhöhten Personalbedarf erfordern. Die kinder- und jugendpsychiatrische Behandlung ist fast ausnahmslos eine Behandlung der gesamten Familie. Eltern und ggf. auch Geschwister werden stark in Behandlungsansätze und Angebote eingebunden. Die Sorgeberechtigten, in der Regel die Eltern, sind wichtige Entscheidungsträger in der kinder- und jugendpsychiatrischen Behandlung und können notfalls mit gerichtlicher Genehmigung durch das Familiengericht (§ 1631b BGB) auch selbst eine geschlossene Unterbringung ihrer Kinder veranlassen. Die jugendlichen Patienten werden als Teil eines Familiensystems gesehen und behandelt. Der Entwicklungsaspekt und bestimmte Entwicklungsaufgaben und Bildungsziele spielen eine zentrale Rolle in der Behandlung. Demgegenüber ist in der Erwachsenenpsychiatrie der Fokus stark auf die individualisierte Diagnostik und Therapie gerichtet und muss die Autonomie der Erwachsenen gegenüber ihren Herkunftsfamilien berücksichtigen. Entwicklungspsychologische Fragen treten dort gegenüber der Behandlung und Bewältigung der konkreten Erkrankungen zurück, störungsorientierten psychotherapeutischen und soziotherapeutischen Interventionsmethoden und der begleitenden psychopharmakologischen Therapie kommt hingegen eine höhere Bedeutung zu. Das zu behandelnde Altersspektrum reicht von jungen Erwachsenen bis in das hohe Lebensalter und hat mit einer notwendigen Spezialisierung einerseits die erkrankungsspezifischen Besonderheiten (Stichwort: spezielle Abteilungen für Störungsgruppen) und andererseits spezielle altersbezogene Prozesse (Stichwort: Alters- oder Gerontopsychiatrie) zu berücksichtigen. Die Vernetzung dieser beiden Bereiche des psychiatrischen Hilfesystems sollte verbessert werden, um den besonderen Problemen im Übergang vom Jugend- in das Erwachsenenalter und der neu entstandenen Entwicklungsphase „Emerging Adulthood“ Rechnung zu tragen. Bislang sind Altersübergänge sozialrechtlich unterschiedlich geregelt. In der ambulanten Versorgung durch niedergelassene Fachärzte für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie ist wie in der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie eine Altersgrenze von 21 Jahren etabliert, sodass im ambulanten Feld eine notwendige Übergangsphase weitgehend gewährleistet ist. Allerdings endet die ambulante Versorgung durch Institutsambulanzen der Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie mit 18 Jahren und darf nur in besonderen Versorgungsformen (IV-Verträge, Modellprojekte nach § 64b SGB V) oder auf Einzelantrag hin fortgeführt wer-
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den. Auch hier sollten entsprechende Transitionsangebote geschaffen werden.
Eckpunkte Eckpunkte der DGPPN und der DGKJP zur Transitionspsychiatrie der Adoleszenz und des jungen Erwachsenenalters Beide Fachgesellschaften verstehen unter Transition, in Anlehnung an internationale Definitionen im Gesundheitsbereich (vgl. Mayr et al., 2015), die gezielte Begleitung des Transitionsprozesses im Sinne einer Koordination der Anbieter und Sicherung der Versorgungskontinuität auf dem Weg von der jugendlichenzentrierten hin zur erwachsenenorientierten Versorgung. Diese Übergänge werden derzeit europaweit diskutiert und beforscht (vgl. EU-Milestones Projekt Förderkennzeichen HEALTH-F3-2013-602442).
Transitionsmedizin für Menschen mit psychischen Erkrankungen stärken Die Transitionsmedizin gestaltet insbesondere bei chronisch kranken Kindern und Jugendlichen die Übergänge aus einer oft sehr fürsorglich ausgestalteten kindermedizinischen Versorgung in die stärker vom Patienten selbst bestimmte Versorgung im Erwachsenenalter (vgl. Fegert, Petermann & Freyberger, 2015). Gerade früh auftretende chronische Erkrankungen wie z. B. der frühkindliche Autismus führen zu einer engen Bindung der Eltern der beeinträchtigten Kinder an das kinder- und jugendpsychiatrische Versorgungssystem. Deshalb wird der Übergang in die Erwachsenenpsychiatrie, die sich bislang weniger fokussiert mit kindheitsspezifischen Krankheitsbildern auseinander gesetzt hat, häufig solange wie möglich vermieden. Umgekehrt war es im Wesentlichen die Erwachsenenpsychiatrie, welche die im Kindes- und Jugendalter beginnenden psychotischen Erkrankungen in ihrem Langzeitverlauf betrachtet und so eine breite Debatte in beiden Fächern über die notwendige Früherkennung und Frühbehandlung z. B. der schizophrenen Störungen angestoßen hat (Bechdolf et al., 2012). Zu lange wurden in der Kinderund Jugendpsychiatrie Ersterkrankungen als Adoleszenzkrisen bagatellisiert und damit die Chance für eine Prävention und frühe Intervention nicht hinreichend genutzt. In der Konsequenz sind in Deutschland erste fächerübergreifende Früherkennungs- bzw. Frühbehandlungszentren in diesen Bereichen (z. B. Resch & Herpertz, 2015) entstanden.
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Die Transitionsphase ist auch durch erhebliche neurobiologische Veränderungen gekennzeichnet. In der Adoleszenz kommt es zu einem Umbau, verbunden mit dem Untergang überflüssiger synaptischer Verbindungen aus der früheren kindlichen Entwicklung und damit zur komplexen Reifung neuronaler Strukturen. Zentrale Elemente der Psychopathologie und des Verhaltens wie z. B. Risikoverhalten (risk taking behavior) werden dadurch wesentlich beeinflusst (vgl. Crone, van Duijvenvoorde & Peper, 2016). Beide wissenschaftlichen Fachgesellschaften unterstreichen die Notwendigkeit gemeinsamer und interdisziplinärer Forschung zur neurobiologischen Entwicklung in der Phase der Adoleszenz und im jungen Erwachsenenalter.
Alters- und reifungsspezifische Besonderheiten in der Therapie berücksichtigen Verschiedene, im Erwachsenenalter wesentliche und schwere psychische Erkrankungen wie Suchterkrankungen, psychotische Störungen oder selbstverletzendes Verhalten und Suizidalität zeigen Altersgipfel in der Adoleszenz oder im jungen Erwachsenenalter und sind, im Gegensatz zur Psychopathologie des Kindesalters, durch ihren Beginn in der Adoleszenz charakterisiert (Kaess & Herpertz, 2015). Allerdings zeigen verschiedene Längsschnittstudien, wie z. B. die neuseeländische DunedinLängsschnittstudie, dass die Hälfte aller psychischen Störungen der 25-jährigen Erwachsenen in die Pubertät, ja sogar ins Kindesalter zurückreicht, d. h. vor dem Alter von 15 Jahren beginnt (Kim-Cohen et al., 2003). Aus diesen typischen Verläufen ergeben sich entsprechende Kooperationsthemen, bei denen aber die jeweils alters- und reifungsspezifischen Bedürfnisse bei der Ausgestaltung von therapeutischen Angeboten mit bedacht werden müssen.
Transitionspsychiatrie in Weiterbildung und Versorgung fördern Verläufe entwicklungsbedingter Störungsbilder der Kindheit wie z. B. Autismus und Teilleistungsstörungen sind in den letzten Jahren stärker in Bezug auf ihre Auswirkungen in der Adoleszenzphase und im Übergang zum Erwachsenenalter thematisiert worden. Es besteht hier verstärkter Bedarf an Forschung und einer Verbesserung der psychosozialen Versorgung. In der Weiterbildung zu beiden Fachärzten gilt es, Kompetenzen für die Behandlung sowie die Verständigung bei © 2017 Hogrefe
der Behandlung im Transitionsalter stärker aufzubauen. E-Learning und neue Unterrichtsmethoden, welche auch fächerübergreifende Ausbildungsmodule ermöglichen, sind fächerübergreifend zu konzeptualisieren. In der ambulanten, teilstationären und stationären Versorgung müssen koordinierte Übergangs- und Behandlungspfade entwickelt werden, welche ein flexibles Casemanagement voraussetzen. Neue sektorenübergreifende Versorgungsmodelle sind gerade in diesem Bereich zu entwickeln.
Transitionspsychiatrische Erkenntnisse in Forensik beachten Auch in Bezug auf Delinquenz und multiple soziale Schwierigkeiten stellen das Jugendalter und das junge Erwachsenenalter ein Hochrisikoalter dar. Forensisch-psychiatrische Angebote und die entsprechende Gutachtenpraxis haben dies zu berücksichtigen. Beachtet werden muss, dass relativ viele kinder- und jugendpsychiatrische Patienten mit sogenannten „Störungen des Sozialverhaltens“ in Heimeinrichtungen der Jugendhilfe betreut werden und im jungen Erwachsenenalter zunächst selten von sich aus erwachsenenpsychiatrische Angebote wahrnehmen. Es gilt spezifischere Angebote für sogenannte „Care Leaver“ zu entwickeln, da diese Jugendlichen häufig in ihrer Vorgeschichte auch eine massive Traumabelastung aufweisen.
Bildungsabschlüsse fördern, Berufseinstieg erleichtern und Teilhabe ermöglichen Gerade unter den jungen Menschen mit psychischen Störungen gibt es einen wesentlichen Anteil, der beim Einstieg ins Berufsleben im Übergang zur Erwachsenenwelt scheitert oder erhebliche Probleme aufweist (vgl. Kölch et al., 2011). Für diese Gruppe sind spezialisierte Krankenversorgungsangebote (SGB V) und komplementäre Angebote der Arbeitsagenturen oder eine altersspezifische Ausgestaltung der Eingliederungshilfe dringend erforderlich.
Abstimmung komplementärer Versorgungssysteme verbessern Komplementäre Versorgungssysteme, z. B. in der Eingliederungshilfe, müssen aufeinander abgestimmt werden, um Übergänge und die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben systematischer als bisher zu unterstützen. Bei der bevorstehenden Teilhabereform müssen die zuständigen Ressorts (BMFSFJ für das Kindes- und Jugendalter und
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Forschung zur Entwicklungsneurobiologie intensivieren
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BMAS für das Erwachsenenalter) Konzepte und Übergänge koordinieren, ohne dabei die spezifischen Notwendigkeiten in den jeweiligen Altersgruppen zu vernachlässigen. Flexible Übergangsmöglichkeiten und Unterstützungsformen für heranwachsende Menschen müssen unbedingt erhalten bleiben.
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Neue kooperative Angebote entwickeln Während in der ambulanten kinder- und jugendpsychiatrischen und kinder- und jugendlichen-psychotherapeutischen Behandlung Übergänge und die Weiterbehandlung bis zum 21. Lebensjahr möglich sind, gilt für die teilstationäre und stationäre Behandlung eine klare Altersgrenze gegenüber der Erwachsenenpsychiatrie, die sich auch in der Psychiatrieplanung der Länder niederschlägt. Entwicklungspsychopathologisch sinnvoll wären hier spezifische, den Übergang unterstützende, reifungsadäquate teilstationäre und stationäre Angebote, wie sie interdisziplinär teilweise schon modellhaft entwickelt wurden. Zentral ist, dass solche Angebote der Krankenbehandlung in der Transitionsphase vom Jugend- ins Erwachsenenalter schwankenden, ja teilweise oszillierenden Reifungsverläufen Rechnung tragen und Kernelemente jugendpsychiatrischer Behandlungskompetenz und Settings mit Kernelementen erwachsenenpsychiatrischer Behandlungskompetenz in einem für junge Menschen geeigneten Rahmen mit der entsprechenden personellen Ausstattung vereinen sollten. Elternarbeit, Psychoedukation der betroffenen jungen Menschen und ihrer Angehörigen (Partner und Eltern), die Einbeziehung entwicklungsspezifischer Fragen in psycho- und soziotherapeutische Angebote, die Einbeziehung von Peergroups, die Unterstützung der Eingliederung in den Beruf oder die Unterstützung von Ausbildungszielen sind zentrale Charakteristika solcher integrierter Angebote, die einer spezifischen Ausgestaltung bedürfen.
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2. Diese Ansätze sind auf das komplementäre Versorgungssystem zu übertragen bzw. sind hier eigene Einrichtungsansätze zu entwickeln und zu fördern. 3. In der Aus-, Fort- und Weiterbildung sind transitionspsychiatrische Programme zu etablieren, die den beteiligten Berufsgruppen eine spezifische, bisher fehlende Expertise zur Verfügung stellen. 4. Bei der Überarbeitung der Musterweiterbildungsordnungen beider Fächer sollte die Transitionsphase stärker berücksichtigt werden. Innovative, interdisziplinäre, fächerübergreifende Weiterbildungsangebote und Rotationsmodelle sollten gefördert werden. 5. Forschungsbedarf besteht insbesondere in der neurobiologischen Grundlagenforschung, der Versorgungsforschung und der Interventionsforschung. Bisher fehlen systematische Forschungsförderungsprogramme, die Transitionsvorgänge fokussieren. 6. Politischer Handlungsbedarf besteht in den Feldern „Versorgungsstrukturen“ (SGB V), „sektorenübergreifende Versorgungsmodelle“ (SGB V), „komplementäre Versorgungsangebote“ (SGB VIII und SGB XII), „spezifische Forschungsförderung“ (DFG, BMBF, Stiftungen). Berlin, 23. Juni 2016
Hinweis DGKJP und DGPPN werden im Sinne dieser Stellungnahme auf dem ESCAP-Kongress in Genf vom 9. bis 11.07.2017 ein gemeinsames Symposium zur Transitionspsychiatrie ausrichten. Sprecher: Jörg Fegert, Harald Freyberger, Iris Hauth und Tobias Banaschewski. „Interdisciplinary outpatient, day-patient, inpatient and complementary services are to be created!“
Literatur Fazit Die Transitionspsychiatrie steht vor großen Herausforderungen und einem hohen Entwicklungsbedarf, der sich in den folgenden Bereichen darstellt: 1. In der Krankenversorgung sind fächerübergreifende ambulante, teilstationäre, stationäre und komplementäre Angebote zu schaffen, die den Besonderheiten des Übergangs von der Adoleszenz in das Erwachsenenalter Rechnung tragen und den zusätzlichen Bedarf an therapeutischen Angeboten, die auf entwicklungsspezifische Problematiken abzielen, berücksichtigen.
1.Bechdolf, A., Wagner, M., Ruhrmann, S., Harrigan, S., Putzfeld, V., Pukropet, R. et al. (2012). Preventing progression to firstepisode psychosis in early initial prodromal states. British Journal of Psychiatry, 200(1), 22–9 2.Crone, E. A., van Duijvenvoorde, A. C. & Peper, J. S. (2016). Annual Research Review: Neural contributions to risk-taking in adolescence – developmental changes and individual differences. Journal of Child Psychology and Psychiatry, 57, 353–368 3.Fegert, J. M., Streeck-Fischer, A. & Freyberger, H. J. (Hrsg.) (2009). Adoleszenzpsychiatrie. Psychiatrie und Psychotherapie der Adoleszenz und des jungen Erwachsenenalters. Stuttgart: Schattauer. 4.Fegert, J. M., Petermann, F. & Freyberger, H. J. (2015). Editorial – Transitionspsychiatrie der Adoleszenz und des jungen Erwachsenenalters. Zeitschrift für Psychiatrie, Psychologie und Psychotherapie, 63(3), 151–153
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10.Seiffge-Krenke, I. (2015). „Emerging Adulthood“: Forschungsbefunde zu objektiven Markern, Entwicklungsaufgaben und Entwicklungsrisiken. Zeitschrift für Psychiatrie, Psychologie und Psychotherapie, 63(3), 165–174
DGKJP Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie e. V. Reinhardtstr. 27B 10117 Berlin Deutschland geschaeftsstelle@dgkjp.de DGPPN Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde e. V. Reinhardtstr. 27B 10117 Berlin Deutschland sekretariat@dgppn.de
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5.Kaess, M. & Herpertz, S. C. (2015). Selbstverletzendes und suizidales Verhalten. In G. Lehmkuhl, F. Resch & S. C. Herpertz (Hrsg.), Psychotherapie im jungen Erwachsenenalter. Stuttgart Kohlhammer. 6.Kim-Cohen, J., Caspi, A., Moffitt, T. E., Harrington, H., Milne, B. J. & Poulton, R. (2003). Juvenile diagnoses in adults with mental disorder: developmental follow-back of a prospective-longitudinal cohort. Archives of General Psychiatry, 60(7). 709–717 7.Kölch, M., Kliemann, A., Bleich, S., Rau, T., Henn, K., unter Beteiligung von Diana Eschelbach und Dr. Thomas Meysen (DIJuF), (2011). Wissenschaftliche Begutachtung von ausgewählten Fragestellungen zum Hintergrundkontext des Projekts „Arbeitsbündnis Jugend & Arbeit“. Expertise, Bundesagentur für Arbeit. Ulm: Eigendruck. 8.Mayr, M., Kapusta, N. D., Plener, P. L., Pollak, E., Schulze, U., Freyberger, H. J. et al. (2015). Transitionspsychiatrie der Adoleszenz und des jungen Erwachsenenalters. Zeitschrift für Psychiatrie, Psychologie und Psychotherapie, 63(3), 155–163 9.Resch, F. & Herpertz, S. C. (2015). Die kooperative Adoleszentenstation in Heidelberg: Das „Frühbehandlungszentrum für Junge Menschen in Krisen“ – FBZ. In Lehmkuhl, G., Resch, F. & Herpertz, S. C. (Hrsg.), Psychotherapie im jungen Erwachsenenalter. Stuttgart Kohlhammer.
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Recht Die Justizministerinnen und Justizminister haben auf ihrer Herbstkonferenz am 17. November 2016 das besondere Schutzbedürfnis von Kindern und die Bedeutung der Kinderrechte und ihrer normativen Verankerung im Grundgesetz erörtert. Sie haben sich für die Aufnahme von Kinderrechten in das Grundgesetz ausgesprochen. Die Justizministerinnen und Justizminister schlossen sich damit dem Beschluss der Jugend-und Familienministerkonferenz vom 22./23. Mai 2014 an. Es solle nun alsbald die Einrichtung einer Bund-Länder-Arbeitsgruppe erfolgen und noch im Jahre 2017 eine gemeinsame Empfehlung für die Fachministerkonferenzen formuliert werden. Nach einem dazu ausgearbeiteten Papier der National Coalition für die Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention, einem Zusammenschluss aus 110 Verbänden, wären hierbei folgende Aspekte zu berücksichtigen: die Anerkennung des Kindes als Träger eigener Rechte; das Recht des Kindes auf Entwicklung, Entfaltung und Bildung; das Recht des Kindes auf Schutz vor Gewalt und anderen Gefährdungen; das Recht des Kindes auf Beteiligung an allen es betreffenden Entscheidungen; der Vorrang des Kindeswohls bei allen Kinder betreffenden Maßnahmen; die Verpflichtung des Staates, Chancengerechtigkeit und kindgerechte Lebensbedingungen für alle Kinder zu gewährleisten (http://www.netzwerk-kin derrechte.de/fileadmin/bilder/user_upload/Pressemit teilung_Kinderrechte_ins_Grundgesetz.pdf). Gesetzlich Versicherte haben ab 01.10.2016 bei vertragsärztlicher Behandlung Anspruch auf einen Medikationsplan gem. § 31a Sozialgesetzbuch (SGB) V, wenn sie mehr als drei verschiedene Medikamente einnehmen müssen. Der zunächst in Papierform mit auslesbarem Barcode erstellte Plan soll regelmäßig aktualisiert und ab dem 01.01.2019 in die elektronische Gesundheitskarte aufgenommen werden. Es können auch Krankenhäuser und Institutsambulanzen an der Erstellung von Medikationsplänen teilnehmen, sind dazu jedoch derzeit nicht verpflichtet. Die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) hat im Gesetzgebungsverfahren den einheitlichen Medikationsplan als substanzielles Instrument zur Überwindung von Sektorengrenzen in der Arzneimitteltherapie und Verbesserung der Arzneimitteltherapiesicherheit begrüßt, aber die ausschließliche Ausrichtung auf den ambulanten Bereich stark kritisiert. Die verwendeten Spezifikationen und Vorgaben
sollen nach Auffassung der DKG aus Gründen der Interoperabilität auch im Krankenhaus anwendbar sein, d. h. auf freiwilliger Basis. Das am 10.11.2016 vom Bundestag in zweiter und dritter Lesung beschlossene Psych-VVG (Gesetz zur Weiterentwicklung der Versorgung und der Vergütung für psychiatrische und psychosomatische Leistungen) ist zum 01.01.2017 in Kraft getreten (wir haben mehrfach über die Entwicklungen berichtet). Bis zum 30.06.2017 sollen sich die Partner der Selbstverwaltung sowie die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) auf eine Definition von Krankenhausstandorten einigen, es sollen Vorschläge zu Streichungen und Ergänzungen des OPS (Operationenund Prozedurenschlüssel) -Systems erarbeitet werden und es soll ein gemeinsamer Vorschlag für den neu einzuführenden Krankenhausvergleich nach § 4 (neu) der Bundespflegesetzverordnung vorgelegt werden. Bis 2020 werden vom Gemeinsamen Bundesausschuss verbindliche Vorgaben zur Personalausstattung erarbeitet. Diese werden wissenschaftlich durch eine große repräsentative Studie zum Ist-Stand vorbereitet. Die Teilnahme an diesem Survey wird durch die kinderpsychiatrischen Verbände stark empfohlen. Der Erfüllungsgrad der noch bis Ende 2019 gültigen Psychiatrie-Personalverordnung (Psych-PV) ist für die lokalen Pflegesatzverhandlungen bereits für 2016 offenzulegen. Bei Untererfüllung und nachgewiesenermaßen zweckentsprechender Mittelverwendung kann nachverhandelt werden.
Politik und Verbände Nach Beschluss der Bundesregierung in der Kabinettssitzung vom 19.10.2016 soll die Stiftung „Anerkennung und Hilfe“ ab Januar 2017 ihre Arbeit aufnehmen. Die Stiftung wurde für diejenigen ehemaligen Patienten gegründet, die zwischen dem 23. Mai 1949 und dem 31. Dezember 1975 in den alten Bundesländern und zwischen dem 7. Oktober 1949 und dem 2. Oktober 1990 in den jetzigen neuen Bundesländern (Zeitraum der ehemaligen DDR) stationär in Psychiatrien oder Behinderteneinrichtung aufgenommen waren. Es haben viele Kinder und Jugendliche dort Leid und Unrecht erfahren und leiden dadurch noch heute u. a. an den Folgen ungerechtfertigter Zwangsmaßnahmen, Strafen, Demütigungen oder unter finanziellen Einbußen
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Zur Person Frau Prof. Dr. Luise Poustka, derzeit Medizinische Universität Wien, hat den Ruf als Universitätsprofessorin an die Georg-August-Universität Göttingen angenommen. Herr Prof. Dr. Paul Plener, Zentralinstitut Mannheim, hat den Ruf auf eine W3-Professur an der Universität Ulm angenommen.
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Tagungsbericht 22. Weltkongress der International Association for Child and Adolescent Psychiatry and Allied Professions (IACAPAP) In der Zeit vom 18.–22. September fand in Calgary/Kanada der 22. IACAPAP-Weltkongress statt. Zu der Tagung waren 1 211 Teilnehmer aus 69 Ländern erschienen. An der Spitze lag Kanada mit 642 Teilnehmern, gefolgt von den USA mit 77, Japan mit 62, Australien mit 48, Großbritannien mit 34 und Deutschland mit 20 Teilnehmern. Der Kongress wurde eröffnet mit einer eindrucksvollen Darbietung von Tänzen und Musik der indianischen Ureinwohner Kanadas. Dieser Bevölkerungsgruppe wurde in Kanada, ebenso wie in Australien, in den letzten Jahren zunehmende Aufmerksamkeit geschenkt, wurden ihr doch durch Kolonisierung und Anglifizierung ihre Kultur und Sprache weitgehend weggenommen und im Rahmen kriegerischer Auseinandersetzungen viele von ihnen getötet. Umso mehr versucht Kanada, diese Personengruppe wieder mehr in die Gesellschaft zu integrieren und z. T. zu entschädigen. Auch in psychiatrischer Hinsicht will man sich um die „indigenous people“, wie sie in Kanada und auch in Australien genannt werden, vermehrt kümmern. Bei ihnen sind Alkoholismus, depressive Störungen und Suizidalität als Ausdruck der kulturellen und wirtschaftlichen Entwurzelung weit verbreitet. Dementsprechend waren auch im Kongressprogramm zahlreiche Vorträge dieser Problematik gewidmet. In seiner Eröffnungsansprache betonte IACAPAP-Präsident Bruno Falissard (Paris), dass dieser Kongress eine einmalige Gelegenheit sei, Kinder- und Jugendpsychiater und Vertreter verwandter Disziplinen zu versammeln, um sich über die gravierenden Probleme im Bereich der seelischen Gesundheit auszutauschen und Interventionen ausfindig zu machen, die weltweit Gültigkeit haben können. In gleichem Sinne äußerte sich auch Chris Wilkes (Calgary), der mit großem Engagement und rastlosem Einsatz diese gelungene Tagung vorbereitet hatte. Das Rahmenthema des Kongresses lautete: „Fighting Stima: Promoting Resiliency and Positive Mental Health“. Zu dieser Thematik fanden zahlreiche Keynote Lectures und mehr als 600 freie Vorträge statt. Es ist schwierig, wenn nicht gar unmöglich, einzelne Referate und Veranstaltungen hervorzuheben. Nur so viel sei betont: Das Thema Resilienz nahm einen großen Raum ein und wurde in eindrucksvollen Beiträgen von Patrick McGorry (Australien) und Rod McCormick (Kanada), insbesondere im Hinblick auf Probleme der indigenen Jugendlichen, behandelt. Auch die Ursprünge dissozialen und delinquenten Verhaltens fanden hohe Aufmerksamkeit, insbesondere in dem eindrucksvollen Vortrag von Richard Tremblay (Kanada),
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aufgrund unentgeltlicher Arbeit, unter den Folgen vorenthaltener Bildung und der Stigmatisierung durch aus heutiger Sicht unzutreffende Diagnosen. Für diesen Personenkreis soll, ebenso wie für die ehemaligen Heimkinder, ein Hilfesystem zur Verfügung stehen, das niederschwellig regionale Anlauf- und Beratungsstellen in jedem Bundesland bietet. Eine wissenschaftliche Aufarbeitung der damaligen Verhältnisse soll vom Bundesministerium für Gesundheit betreut werden. Ein Expertenbeirat wird berufen (http://www.bmas.de/DE/Themen/Teilhabe-Inklusion/ Stiftung-Anerkennung-und-Hilfe/unterstuetzungsleistungen-der-stiftung-anerkennung-und-hilfe.html;jsessionid= D84A17F96A6D247D12B12C59AB99511E). Die Vorstände der drei kinder- und jugendpsychiatrischen Fachverbände haben sich auf die Erteilung eines fachspezifischen Zertifikats zur Suchtmedizin geeinigt. Bereits in jugendpsychiatrischer Suchtbehandlung kompetente und einschlägig erfahrene Fachärzte für Kinderund Jugendpsychiatrie und -psychotherapie können das Bewerbungsformular auf der Homepage der Gemeinsamen Kommission Aus-, Weiter- und Fortbildung herunterladen (http://dgkjp.de/gemeinsame-kommissionen/ aus-weiter-und-fortbildung). Das Zertifikat ist ferner regulär über eine Teilnahme am Curriculum zu erwerben, das in diesem Sommer erneut angeboten wird. Bewerbungen unter peter.melchers@klinikum-oberberg.de. Die Aktion Psychisch Kranke hat das Projekt „Versorgung psychisch kranker Kinder und Jugendlicher in Deutschland – Bestandsaufnahme und Bedarfsanalyse“ abgeschlossen. Der Abschlussbericht ist in Kürze unter www.apk-ev.de/projekte/psychisch-kranke-kinder-undjugendliche verfügbar. Die DGKJP wird zur Bundestagswahl 2017 erneut Wahlprüfsteine herausgeben. Diese sind auf der Homepage der DGKJP (www.dgkjp.de) abrufbar und werden im nächsten Heft veröffentlicht.
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der über Längsschnittstudien über einen Zeitraum von 30 Jahren berichtete. Er konnte in seinen Studien einen erheblichen Einfluss der Epigenetik nachweisen. Integrative Ansätze zur Verbesserung der seelischen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen waren der Fokus der Keynote Lecture von Stanley Kutcher (Kanada), der über effektive Interventions- und Behandlungsinitiativen in Afrika berichtete. Einen sehr nachdenklichen Vortrag hielt Bruno Falissard (Frankreich), derzeitiger Präsident der IACAPAP, der die Frage aufwarf, ob wir in Klinik, Praxis und Forschung das Subjekt verloren haben. Er wandte sich gegen eine zu starke Partikularisierung der Medizin, bei der hinter Technik und Laborbefunden die Person des Patienten verlorenzugehen drohe. Entsprechend dem Rahmenthema waren zahlreiche Vorträge dem Problem der Stigmatisierung gewidmet. Unter ihnen stach das Referat von Heather Stuart (Kanada) besonders hervor. Sie berichtete über Pilotprojekte in Kanada, innerhalb derer eine „opening minds antistigma initiative“ erfolgreich initiiert wurde. Die traditionelle Gerald Caplan Lecture (in Erinnerung an den langjährigen und höchst erfolgreichen Schatzmeister der IACAPAP) wurde gehalten von Gregory Fritz (derzeitiger Präsident der American Academy of Child and Adolescent Psychiatry). Er sprach zum Thema „Pediatric Psychosomatic Medicine in the 21st Century“. Am Beispiel des Asthma bronchiale stellte er modellhaft die psychophysiologischen Zusammenhänge bei psychosomatischen Erkrankungen dar sowie Ansätze für ihre erfolgreiche Behandlung. Wie auf jedem IACAPAP-Kongress fand auch in Calgary wiederum das 2004 in Berlin begründete Donald Cohen Fellowship Program statt. Ziel dieses Programms ist es, die professionelle Entwicklung junger Kinder- und Jugendpsychiater und anderer „Mental Health Worker“ zu fördern. Auf den Kongressen werden die zuvor ausgewählten Teilnehmer von einer Gruppe von Mentoren betreut, die mit ihnen aktuelle Kongressveranstaltungen diskutieren, sie aber auch im Hinblick auf ihre berufliche Entwicklung beraten. Zum Kongress nach Calgary kamen 20 Fellows aus aller Welt, Europa war nur mit sechs Fellows vertreten, die übrigen kamen aus allen anderen Erdteilen. Für die 20 Teilnehmer waren zehn Mentoren tätig, so dass jeder der Mentoren sich mit zwei Teilnehmern intensiv beschäftigen konnte. Auf dem Kongress fand ferner ein Treffen früherer Teilnehmer der Helmut Remschmidt Research Seminare (HRRS) statt. Diese finden, im Gegensatz zum Donald Cohen Fellowship Program, nicht während des Kongresses, sondern ein Jahr vor dem kommenden Kongress als einwöchige Veranstaltung im jeweiligen Kongressland statt. Ziel dieser Seminare ist es, angehende Wissenschaftler
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auf eine Karriere in der Forschung vorzubereiten, wobei neben Vorträgen von erfahrenen Mentoren auch eigene Projekte in Kleingruppen intensiv diskutiert werden. Anwesend waren neben den 22 ehemaligen Teilnehmern sechs Mentoren, unter ihnen die derzeitigen Organisatoren der HRRS, Petrus de Vries (Kapstadt) und Per-Anders Rydelius (Stockholm). Viel Zuspruch fanden auch die gesellschaftlichen Veranstaltungen während des Kongresses, insbesondere das Galadinner, das in einem nostalgischen Technikmuseum stattfand, in dem historische Automobile, Tankstellenzubehör und allerlei andere technische Gegenstände vergangener Zeiten das Bild bestimmten. Über dem Raum schwebte ein Flugzeug aus den Anfängen der Luftfahrt. Insgesamt lässt sich sagen, dass auch der 22. IACAPAPKongress nicht nur sehr erfolgreich war, sondern auch die Weichen für künftige Entwicklungen der internationalen Kinder- und Jugendpsychiatrie gestellt hat. Der 23. IACAPAP Weltkongress wird in der Zeit vom 23.–27. Juli 2018 in Prag stattfinden, der 24. in Singapur – der genaue Zeitraum steht noch nicht fest. Helmut Remschmidt
Tagungen – upcoming „Essstörungen und assoziierte Krankheitsbilder“, 10.– 11. März 2017, Medizinische Universität Wien, AKH, Kliniken am Südgarten, Wien (http://www.karwautz.at/docu ments/programm2016.pdf oder http://www.ess-stoerung. eu/). „Dazugehören! Bessere Teilhabe für traumatisierte und psychisch belastete Kinder und Jugendliche“ XXXV. Kongress der DGKJP, 22.–25. März 2017, CCU und Maritim-Hotel Ulm (http://www.dgkjp-kongress.de/) – mit: Schüler- und Lehrerveranstaltung, Fortbildungsprogramm für ehrenamtliche Helfer bei Flüchtlingen u. v. a. m. „The Transition Congress“, 17. Internationaler Kongress derESCAP,9.–11. Juli2017,Genf,(http://www.escap.eu/escapcongresses/2017-geneva/). „30. Deutscher Jugendgerichtstag Herein-, Heraus-, Heran – Junge Menschen wachsen lassen“, 14.–17. September 2017, FU Berlin (http://www.dvjj.de/veranstaltungen/dvjj-veranstaltungen/30-deutscher-jugendgerichtstagherein-heraus-heran-junge-menschen-wachsen-lassen-0). „WPA XVII World Congress of Psychiatry“, 8.–10. Oktober 2017, Messe Berlin (http://www.wpaberlin2017.com/).
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Das praktische Handbuch zum Thema Familiencoaching
Miroslawa Britzkow / Susanne Jermies
Familiencoaching Ein Praxishandbuch 2015. 191 S., Kt € 29,95 / CHF 39.90 ISBN 978-3-456-85540-0 Auch als eBook erhältlich Ressourcenorientierte Arbeit: Das Erkennen und Nutzen der Stärken der einzelnen Familienmitglieder und der Familie als System erleichtert das Erarbeiten von Lösungen und das Erreichen von Zielen. Dr. Miroslawa Britzkow und Susanne Jermies wissen, wovon sie schreiben: Mit vielen konkreten, in der Praxis leicht umsetzbaren Interventionsmöglichkeiten führen sie in die neue spezifische Beratungsform des Familiencoachings ein.
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50 60
mg
So wenig wie möglich, so viel wie nötig! Medikinet® 5 mg, 10 mg, 20 mg. Wirkst.: Methylphenidathydrochlorid (MPH). Zus.setzg.: 1 Tabl. enthält: MPH 5 mg/10 mg/20 mg. Sonst. Best.teile: Mikrokristall. Cellul., vorverkleist. Stärke (Mais), Ca-hydrogenphos.-Dihydrat, Lactose-Monohydr., Mg-Stearat. Medikinet® retard 5 mg, 10 mg, 20 mg, 30 mg, 40 mg, 50 mg, 60 mg. Wirkst.: MPH. Zus.setzg.: 1 Hartkps. enthält MPH 5 mg/10 mg/20 mg/30 mg/40 mg/50 mg/60 mg. Sonst. Best.teile: Kps.inhalt: Sucrose, Maisstärke, Methacrylsäure-Ethylacrylat-Copolymer, Talkum, Triethylcitrat, Poly(vinylalkoh.), Macrogol 3350, Polysorbat 80, Na-hydroxid, Na-dodecylsulf., Simeticon, hochdispers. Si-dioxid, Methylcellul., Sorbinsäure, Indigocarmin-Al-salz. Kps.hülle: Gelatine, Ti-dioxid, Na-dodecylsulf., ger. Wasser; zusätzl. b. 10 mg u. 20 mg: Erythrosin, Patentblau V; bei 30 mg, 40 mg, 50 mg, 60 mg: Erythrosin, Fe(II,III)-oxid, Indigocarmin. Anw.: Im Rahmen einer therap. Ges.strat. zur Behandl. v. Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Störungen (ADHS) bei Kindern ab 6 J., wenn sich and. therapeut. Maßn. allein als unzureichend erwiesen haben. Die Behandl. muss unter Aufsicht eines Spezialisten für Verhaltensstörungen bei Kindern begonnen werden. Die Diagn. sollte anhand d. DSM-IV Krit. o. der Richtl. in ICD-10 gest. werden u. auf einer vollst. Anamn. u. Unters. d. Pat. basieren. Die Diagn. darf sich nicht allein auf das Vorhandens. eines o. mehrerer Sympt. stützen. Gegenanz.: Überempfindlichkeit gg. den Wirkst. o. einen der sonst. Bestandt.; Glaukom; Phäochromozytom; während od. inn. v. mind. 14 Tagen n. Einn. v. MAO-Hemmern; Hyperthyreose o. Thyreotoxikose; Diagn. o. Anamn. v. schw. Depr., Anorexia nerv./anorekt. Störg., Suizidneig., psychot. Sympt., schw. affekt. Störg., Manie, Schizophr.; psychopath./Borderline-Pers.k.störg.; Diagn. o. Anamn. v. schw. u. episod. (Typ I) bipol. affekt. Störg.; vorbest. Herz-Kreislauferkr. einschl. schw. Hypertonie, Herzinsuffizienz, art. Verschlusskrankh., Angina pec., hämodyn. signifik., angeb. Herzfehler, Kardiomyopathien, Myokardinf., Arrhythmien u. Kanalopathien; vorbest. zerebrovaskul. Erkrank.; (zusätzl. b. Medikinet® retard: bek. ausgepr. Anazidität d. Magens mit pH-Wert > 5,5, bei H2-Rezeptorenblocker- o. Antazidatherapie). Nebenw.: Sehr häufig: Schlaflosigk., Nervos., Kopfschm. Häufig: Nasopharyng.; Anorexie, vermin. Appetit, mäßig verr. Gewichts- u. Größenzunahme b. läng. Anw. b. Kindern; Affektlabil., Aggression, Unruhe, Angst, Depression, Reizbark., anorm. Verh.; Schwindel, Dyskinesie, psychomot. Hyperakt., Schläfrigk.; Arrhythmie, Tachykardie, Palpitationen; Hypertonie; Husten, Rachen- u. Kehlkopfschm.; Bauchschm., Durchfall, Übelkeit, Magenbeschw. u. Erbrechen; Mundtrockenh.; Haarausfall, Pruritus, Hautausschl., Urtikaria; Arthralgie; Fieber; Veränd. v. Blutdr. u. Herzfreq., Gewichtsabnahme. Gelegentlich: Überempf.keitsreakt. wie angioneurot. Ödem, anaphylakt. Reakt., Ohrschwellung, bullöse u. exfol. Hauterkrank., Juckreiz, Eruptionen; psychot. Störg.; akust., opt. u. takt. Halluzinationen; Wut, Suizidgedank., Stimmungsänd. u. -schwankungen, Rastlosigk., Weinerlichk.; Tics, Verschlimmer. best. Tics o. Tourette Syndrom, erh. Wachheit, Schlafstörg.; Sedierung, Tremor; Diplopie, verschw. Sehen; Thoraxschm.; Dyspnoe; Verstopfung; Anstieg v. Leberenzym.; Myalgie, Muskelzucken, Hämaturie, Müdigk., Herzgeräusche. Selten: Manie, Orient.losigk., Libidostörg., Schwierigk. b. d. Augenakkomodat., Mydriasis, Sehstörg., Angina pec., Hyperhidrosis, makul. Hautausschl., Erythem.; Gynäkomastie, Menstruationsstörg, vermind. Libido. Sehr selten: Anämie, Leukopenie, Thrombozytopenie, thrombozytop. Purpura; Suizidvers. (einschl. vollend. Suizid), vorüberg. depr. Verstimmung, anorm. Denken, Apathie, stereotype Verh.weisen, Überfokussierung; Krampfanf., choreo-athetoide Beweg., revers. ischäm. neurol. Defizit, Fälle v. schwach dokument. MNS; Herzstillst., Myokardinf.; zerebr. Arteriitis u./o. Hirngef.verschl.; periphere Kälte, Raynaud-Phänom.; gestört. Leberfunkt., einschl. hepat. Koma; Erythema multif., exfoliat. Dermatitis, fix. AM-Exanthem; Muskelkrämpfe, plötzl. Herztod; erhöhte alkal. Phosphatase u. erh. Bilirubin im Blut; red. Thromboz.zahl, anorm. Zahl d. weißen Blutkörp. Nicht bek.: Panzytopenie; Wahnvorstellungen, Denkstörg., Verwirrth.zust., Abhängigkeit, Logorrhoe; zerebrovaskul. Erkrank. (einschl. Vaskulitis, Hirnblut., Schlaganf., zerebr. Arteriitis, Hirngef.verschl.), Grand-Mal-Anf., Migräne; supra-ventrikul. Tachyk., Bradykardie, ventrikul. Extrasyst., Extrasyst.; trockene Haut; erektile Dysfunktion; Thoraxbeschwerden, Hyperpyrexie. Warnhinw.: Enthält Lactose (Tabl.) u. Sucrose (Kps.). Verschreibungspflichtig. Weit. Hinw. s. Fachinfo. Stand d. Inform.: 06/2015 (Tabl. u. 5 mg Kps); 07/2015 (10-60 mg Kps.). MEDICE Arzneimittel Pütter GmbH & Co. KG, 58638 Iserlohn. www.medikinet.de