Jahrgang 5 / Heft 1 / 2016
Lernen und Lernstörungen
Geschäftsführende Herausgeberin Liane Kaufmann Herausgeber Michael von Aster Cordula Löffler Marianne Nolte Silvia Pixner Gerd Schulte-Körne
In Zusammenarbeit mit
Fachverband für integrative Lerntherapie e.V.
Verständliche Einführung in die Audiologie
Martin Kompis
Audiologie 4., vollst. überarb. Auflage 2015. 280 S., 107 Abb., 29 Tab., Kt € 29.95 / CHF 39.90 ISBN 978-3-456-85553-0 AUCH ALS E-BOOK
Martin Kompis präsentiert Audiologie als interdisziplinäres Wissensgebiet: Er richtet sein Buch u. a. an alle Mitarbeitenden in den Gesundheitsberufen, alle Studierenden der Logopädie und der Medizin, an Ingenieure und Hörgeräteakustiker – kurzum an alle, die in einen ersten Kontakt mit diesem interessanten Feld treten. In verständlicher, anschaulicher Form, vielfach anhand von Illustrationen und Grafiken, beschreibt und definiert er wesentliche Grundlagen und Aspekte der Audiologie und ihre gängigen Methoden.
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Auch in der nunmehr 4. Auflage bleibt das Lehrbuch eingängig und kompakt in Struktur und Inhalt. Martin Kompis hat Ihre Hinweise zur letzten Ausgabe aufgenommen und den Inhalt vollständig überarbeitet, aktualisiert und ergänzt. Dies betrifft insbesondere die Kapitel über Sprachaudiometrie und Cochlea Implantate sowie die Abschnitte über Auditorische Synaptopathien / Neuropathien und implantierbare Hörhilfen. Auf der beiliegenden Mixed-Mode CD finden Sie neben einer Audiometrie-Übungs-Software und zahlreichen Hörbeispielen fertige PowerPoint-Präsentationen mit sämtlichen Abbildungen und Tabellen des Buches zur didaktischen Nutzung im Unterricht.
Lernen und Lernstörungen
5. Jahrgang/Heft 1/Januar 2016 Geschäftsführende Herausgeberin Liane Kaufmann Herausgeber Michael von Alster Cordula Löffler Marianne Nolte Silvia Pixner Gerd Schulte Körne
Fachverband für integrative Lerntherapie e.V.
Geschäftsführende Herausgeberin
PD Dr. Liane Kaufmann Landeskrankenhaus Hall Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie A Milser Str. 10 6060 Hall in Tirol Österreich liane.kaufmann@tirol-kliniken.at
Assoziierte Herausgeber
Prof. Dr. Cordula Löffler, Weingarten Prof. Dr. Marianne Nolte, Hamburg Dr. Silvia Pixner, Hall in Tirol Prof. Gerd Schulte-Körne, München Prof. Michael von Aster, Potsdam, Berlin und Zürich
Redaktion
Marlies Lipka, Ludwigsburg (Leitung); Ursula Chaudhuri, Göttingen; Jasmin Leitner, Hall in Tirol
Beirat
Daniel Ansari, London, Ontario Günter Esser, Potsdam Silke Göbel, York Thomas Günther, Aachen Judith Hollenweger, Zürich Lutz Jäncke, Zürich Petra Küspert, Würzburg Kristin Krajewski, Frankfurt a. M. Karin Kucian, Zürich Karin Landerl, Graz Jens-Holger Lorenz, Heidelberg Elisabeth Moser Opitz, Zürich
Verlag
Hogrefe AG, Länggass-Str. 76, Postfach, 3000 Bern 9, Schweiz Tel. +41 (0)31 300 45 00, Fax +41 (0)31 300 45 93 verlag@hogrefe.ch, www.hogrefe.com
Anzeigenleitung
Josef Nietlispach, Hogrefe AG, Länggass-Str. 76, Postfach, 3000 Bern 9, Schweiz, Tel. +41 (0)31 300 45 69, Fax +41 (0)31 300 45 91 inserate@hogrefe.ch
Satz & Druck
AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten im Allgäu, Deutschland
ISSN
ISSN-L 2235-0977, ISSN (Print) 2235-0977, ISSN (Online) 2235-0985
Erscheinungsweise
4 Hefte jährlich
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Jahresabonnement Institute: € 135.− / CHF 174.−; Private: € 71.− / CHF 95.−; plus Porto und Versandgebühren: Schweiz CHF 14.− / Europa € 13.− / übrige Länder CHF 26.−; Einzelheft € 34.− / CHF 46.− zzgl. Porto und Versandgebühren zeitschriften@hanshuber.com
Indexierung
PsyJOURNALS, PsycINFO und PSYNDEX
Weitere Angaben
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Elektronischer Volltext
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Korbinian Möller, Tübingen Hans-Christoph Nürk, Tübingen Bea Latal, Zürich Franz Petermann, Bremen Ralph Radach, Wuppertal Marcel Romanos, München Hubert Schaupp, Graz Elsbeth Stern, Zürich Günther Thomé, Frankfurt Susanne Walitza, Zürich Sabine Walper, München
Lernen und Lernstörungen ist Mitgliederzeitschrift des Fachverbands für integrative Lerntherapie e. V. (FiL) und des Legasthenie-Zentrums Berlin e. V.
Inhalt Editorial
Flüchtlingskinder
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Matthias von Aster, Michael von Aster, Marlies Lipka & Liane Kaufmann Fokus Anwendung
Die TUebinger LernPlattform zum Erwerb numerischer und orthografischer Kompetenzen (TULPE): Individualisierte Förderung durch adaptive Lernspiele
7
Stefanie Jung, Stefan Huber, Juergen Heller, Torsten Grust, Korbinian Möller & Hans-Christoph Nuerk Der Einsatz von Lernsoftware bei Lernstörungen – Gewinn und Verlust aus psychologischer Sicht
33
Karin Schweizer Lesen macht stark. Ein Diagnose- und Förderinstrument für die Grundschule
58
Kathrin Hippmann, Simone Jambor-Fahlen & Michael Becker-Mrotzek Fokus Forschung
LeFiS-Lernförderung in Schulen – Evaluation eines Modellprojekts zur schulinternen Lerntherapie für Kinder mit Lese- & Rechtschreibschwierigkeiten
17
Christina Balke-Melcher, Kirsten Schuchardt, Josef-Godehard Wolpers & Claudia Mähler LRS-Elterngruppenprogramm: Teilnehmerzufriedenheit und subjektive Effektivität
44
Anke Buschmann & Bettina Multhauf Wissen – kurz notiert
«Lesen durch Schreiben» auf dem Prüfstand
69
Cordula Löffler Rezensionen
Lernen und Lernstörungen 2016; 5(1): 3
70
3
BALDT
Berufsverband Akademischer Legasthenie-Dyskalkulie-TherapeutInnen
Der Berufsverband Akademischer LRS-TherapeutInnen sieht sich als kompetenter und verantwortungsbewusster Ansprechpartner für alle Betroffenen und deren Eltern sowie für Berufsgruppen, die mit dieser Problematik konfrontiert sind. A-5431 Kuchl, +43 680 30 60 831, office@lrs-therapeuten.org www.lrs-therapeuten.org, www.legasthenie-dyskalkulie.at
Das Beste von Paul Watzlawick – in einem Band! Trude Trunk (Hrsg.) / Paul Watzlawick
Man kann nicht nicht kommunizieren Das Lesebuch
Zusammengestellt von Trude Trunk und mit einem Nachwort von Friedemann Schulz von Thun. 2., unveränderte Auflage 2016. 376 Seiten € 19.95 / CHF 26.90 ISBN 978-3-456-85600-1 AUCH ALS E-BOOK
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Umfassend und aktuell: das Wissen der Psychologie Markus Antonius Wirtz (Hrsg.)
Dorsch – Lexikon der Psychologie 17., überarb. Aufl. 2014. 2060 S., Gb € 74.95 / CHF 99.00 ISBN 978-3-456-85460-1
Der Dorsch ist seit vielen Studentengenerationen das Standardwerk, das eine umfassende Orientierung über Grundlagen, Konzepte und Begriffe der Psychologie ermöglicht. Das Lexikon der Psychologie wendet sich an Studierende der Psychologie, Psychiatrie und Pädagogik, Wissenschaftler und praktizierende
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Fachpersonen dieser und verwandter Fächer sowie an interessierte Laien. Der neue Dorsch bietet insgesamt 12'500 Stichwörter von rund 600 Fachautoren aus allen Bereichen der Psychologie.
Flüchtlingskinder
Editorial
Flüchtlingskinder
D
ie sogenannte Flüchtlingskrise hat unsere Bildungseinrichtungen und die Institutionen der Jugendhilfe ebenso erreicht wie die medizinischen und psychotherapeutischen Versorgungssysteme. Begleitete und auch zahlreiche unbegleitete Kinder- und Jugendliche aus den nahöstlichen Kriegsgebieten müssen untergebracht, mit dem Lebensnotwendigen versorgt und schließlich nach oft qualvoll langen Zeiten des Wartens und der Unsicherheit neu beheimatet werden. Es gilt nun, diesen Andrang mit seinen besonderen Anforderungen an Sprach- und Kulturvermittlung in ohnehin schon oft überlasteten Strukturen der Jugendhilfe, der Bildung und der Gesundheitsversorgung zu bewältigen. Nicht selten bestehen auch Traumafolge- und andere Symptome, die spezifische Behandlungs- und Fördermaßnahmen erforderlich machen. Der Blick auf junge Menschen aus anderen Kulturkreisen, die oftmals unter großen Entbehrungen aufgewachsen und akuter Lebensgefahr entronnen sind, fordert uns in besonderer Weise heraus. Wir machen dabei natürlich belastende aber auch bereichernde Erfahrungen. Flexibilität und Einfallsreichtum sind ebenso gefordert wie Hinnahme- und Hingabefähigkeit. Flucht hat das Ziel, sich von einem bedrohten zu einem sicheren Ort zu bewegen. Versuchen wir einmal, uns zu vergegenwärtigen, wie sich diese Bewegung aus der Perspektive der Flüchtenden und der aufnehmenden Menschen vor dem Hintergrund ihrer Vorgeschichte anfühlen mag. Auf der Seite der Flüchtenden geriet ein mehr oder weniger sicheres Lebensgefühl in zunehmende und schließlich existenzbedrohende Bedrängnis, vielfach mit traumatisierenden Erfahrungen. Der Entschluss zur Flucht bedeutet Entwurzelung, die Flucht selber Stress, Entbehrung und Angst vor dem unbekannten Neuen. Wie Kinder dies erleben und bewältigen können, hängt in hohem Maße von der individuellen inneren Verfasstheit ihrer erwachsenen Bindungspersonen ab. Das von vielen Flüchtlingen erlebte spontane «Willkommen» beim Eintreffen war gewiss wohltuend, das von vielen danach Erlebte ungewisse Warten sicher quälend. Dabei gibt es nicht nur die Flucht der Opfer, sondern auch eine schwerer zu deutende gegenläufige Flucht von Tätern. Wir kennen das tragische Phänomen von Amokläufen, die sich bei Jugendlichen überzufällig häufig gegen schulisches Leben richten und nicht selten aus einem Gefühl des Scheiterns und der sozialen Isolation erwachsen. Der Täter erlebt in der zerstörerischen Tat eine, nicht sel-
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ten auch medialen Vorbildern entnommene, kompensatorische Selbsterhöhung. In der Verführung junger Menschen zu radikalisierter religiöser Gewalt sehen wir nun eine Entsprechung auf breiterer gesellschaftlicher Ebene. Die eigene Existenz in Tötungs- und Selbsttötungsakten im vermeintlichen Dienst an einem Gott zu opfern und zu erhöhen, mag zu vorderst sehr irdischen, kriminellen und antisozialen Motiven und Mächten folgen. Dazu verführt werden aber besonders leicht solche jungen Männer, denen es an Teilhabe und Zugehörigkeit mangelt, deren geringes Selbstwertempfinden besonders anfällig ist für kompensatorischen Größenwahn. Auf unserer Seite, der Seite der aufnehmenden Menschen und Gemeinschaften, erleben wir von natürlichem Mitgefühl getragene spontane Hilfsbereitschaft, aber eben auch Ängste vor dem Fremden und vor befürchteten Veränderungen des unmittelbar Vertrauten und Gewohnten. Solche Ängste gedeihen ebenfalls am Besten in bildungsfernen oder benachteiligten Lebensverhältnissen. Die psychosozialen Umstände und Bedingungen der Lernentwicklung tragen wesentlich zum Gelingen oder Scheitern von Bildung, sowohl der Wissens- wie insbesondere auch der Herzensbildung, bei. Das Abwehren und Ausgrenzen von vermeintlich Fremdem resultiert aus der Angst vor Identitätsverlust. Was heißt das? Die Merkmale und Horizonte einer reifen Persönlichkeit und humanen Identität gründen zunächst in gelingenden und stabilen frühen familiären Bindungen. In der Kindheit braucht solche Reifung schulisches Lernen, das Knüpfen von Beziehungen im örtlichen Umfeld, gemeinschaftliche Aktivitäten, Orientierung und Geborgenheit in einer heimatlichen Region. In der Adoleszenz erfordert sie das Verstehen von Regeln und Institutionen eines verfassten Gemeinwesens mit dem Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Nation, Sprache und Kultur. Im Erwachsenwerden wird dann endlich auch die Verbundenheit mit den übernationalen, auch überabendländischen Zusammenhängen der gesamten Spezies in ihrem globalen Lebensgefüge erreicht. Für einen Menschen mit so weit gespannter, gefestigter Identität weckt Fremdheit eher Neugier und Interesse als ein Gefühl der Bedrohung und des Verlustes. Diese reife Identität ist die Basis für Mitgefühl, Anteilnahme und Verantwortung gegenüber den aktuellen und zukünftigen Herausforderungen unserer Zeit und muss das Ziel guter Erziehung, schulischer Bildung und Psychotherapie ebenso sein wie das Anliegen ambitio5
Flüchtlingskinder
nierter Familien-, Gesundheits-, Kultur- und Bildungspolitik. Die schon vor dem aktuellen Flüchtlingsstrom oft verbissen geführten Debatten über Chancengleichheit und Inklusion erhalten nun eine ganz neue Dringlichkeit. Für die jetzt ankommenden Kinder und Jugendlichen wünscht man sich sehnlichst einen sicheren Ort, eine Angst beruhigende, Neugier anregende und Orientierung bietende Tagesstruktur, in der sich ausreichend viele und gut ausgebildete Fachkräfte um eine inklusive, individualisierende und die Verschiedenheit der soziokulturellen Lebens- und Bildungsbiographien berücksichtigende Lern- und Förderkultur bemühen, jenseits allzu starrer curricularer Vorgaben und unterrichtsdidaktischer Traditionen. Für ein Gelingen der kommenden Herausforderungen sind entschlossene und nachhaltige Investitionen in vorschulische und schulische Erziehungs- und Bildungsreformen mindestens ebenso erforderlich wie in Sicherheits-, Verwaltungs- und Infrastrukturmaßnahmen. Im Licht neurowissenschaftlicher Erkenntnis sollten wir in dem Zustrom der Flüchtlinge eine unverhoffte Anreicherung unserer Umwelt mit neuen Eindrücken und Aufgaben erkennen. Ein solches ‹enriched environment› stimuliert die Synaptogenese und fördert Neuroplastizität, und mit ihr so zentrale und für das langfristige Überleben wichtige Intelligenzfunktionen wie Flexibilität, Kreativität und Anpassungsfähigkeit. Für die Zukunft wird sich dieser Zustrom als ein Vorteil für unsere alternde, schrumpfende und gelegentlich träge und übersättigt anmutende Gesellschaft erweisen. Möge die deutsche Kanzlerin Recht behalten: «Wir schaffen das, aber es wird vieler Anstrengungen bedürfen und auch eines hohen Maßes an neuem Denken.» Dr. med. Matthias von Aster Landshut; Deutschland Prof. Dr. med. Michael von Aster Berlin, Potsdam, Zürich; Deutschland, Schweiz
Inhalte der aktuellen Ausgabe von Lernen und Lernstörungen Wir freuen uns, Ihnen mit der vorliegenden Ausgabe von «Lernen und Lernstörungen» eine neue Rubrik vorstellen zu dürfen. Diese Rubrik trägt den Titel «Wissen – kurz notiert» und soll nun in jeder Ausgabe vertreten sein. Das Ziel dieser kurzen Rubrik ist es, die Leser und Leserinnen unserer Zeitschrift auf aktuelle – und teilweise kontrovers diskutierte – Themen aus Wissenschaft und Anwendung hinzuweisen. In der aktuellen Rubrik erörtert Cordula
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Löffler die Ergebnisse einer rezenten Metaanalyse, welche die Effektivität der Unterrichtsmethode «Lesen durch Schreiben» untersuchte. Zudem beinhaltet die vorliegende Ausgabe unserer Zeitschrift fünf Beiträge aus Anwendung und Wissenschaft, von denen zwei Arbeiten (BalkeMelcher et al., 2016; Jung et al., 2016) inhaltlich noch zum Schwerpunktheft Schulpsychologische Diagnostik gehören (siehe Heft 4/2015). Im «Fokus Anwendung» stellen Jung et al. (2016) die «TUebinger LernPlattform zum Erwerb numerischer und orthografischer Kompetenzen (TULPE)» vor. Bei dem Programm TULPE handelt es sich um adaptive OnlineLernumgebungen, bei denen PC-unterstützte Lernspiele zur Förderung der Rechen- und Rechtschreibleistung an die individuellen Bedürfnisse der Kinder angepasst werden können. Des Weiteren erörtert in der Rubrik «Fokus Anwendung» Karin Schweizer (2016) Vor-, aber auch Nachteile beim Einsatz von Lernsoftware. Sie geht dabei besonders auf das lerntherapeutische Setting ein, zu dem sie auch die Ergebnisse einer Online-Umfrage zum Thema darstellt. Wichtig scheint dabei die individuelle Passung zu sein. Eine Klassifikation bietet zudem einen Überblick über die Arten von Lernsoftware. Der Beitrag von Hippmann, Jambor-Fahlen und Becker-Mrotzek (2016) stellt das Diagnose- und Fördermaterial «Lesen macht stark» vor. Neben der Darstellung des Materials werden auch Untersuchungsergebnisse beleuchtet, die zeigen, dass die Entwicklung des Leseerwerbs flexibel verlaufen kann. So sollte die Lesekompetenz regelmäßig überprüft werden, da der Kompetenzerwerb unterschiedliche Verläufe zeigen kann und «Entwicklungsschübe» ebenso beobachtet werden können wie auch Stagnation oder gar Rückschritte. Im «Fokus Forschung» sind zwei Arbeiten abgedruckt. Balke-Melcher und Kollegen (2016) berichten über die Wirksamkeit einer innerschulischen lerntherapeutischen Fördermaßnahme (LeFis – Lernförderung in Schulen) zur Behandlung von Lese-Rechtschreibschwierigkeiten. Bei dieser Studie handelt es sich um ein Modellprojekt, das aktuelle Gesetzesänderungen zur inklusiven Schule berücksichtigt. Beim zweiten Beitrag des «Fokus Forschung» handelt es sich um eine empirische Arbeit von Multhauf und Buschmann (2016). Die Autoren untersuchten die Wirksamkeit sowie die Akzeptanz und Teilnehmerzufriedenheit eines Gruppentrainings für Eltern von Kindern mit Lese- und/oder Rechtschreibschwierigkeiten. Wir wünschen unseren Leserinnen und Lesern eine anregende Lektüre. Marlies Lipka & Liane Kaufmann
Lernen und Lernstörungen 2016; 5(1): 5 – 6
TUebinger LernPlattform (TULPE)
Fokus Anwendung
Die TUebinger LernPlattform zum Erwerb numerischer und orthografischer Kompetenzen (TULPE) Individualisierte Förderung durch adaptive Lernspiele Stefanie Jung, Stefan Huber, Juergen Heller, Torsten Grust, Korbinian Müller und Hans-Christoph Nuerk Digitale Medien haben nicht nur die Kinderzimmer erobert, sondern sind mittlerweile fester Bestandteil einer modernen Schulbildung. Der Einsatz von Online-Lernumgebungen und -spielen, in und außerhalb von pädagogischen Kontexten, erlaubt es selbst traditionelle Lerninhalte spielerisch und unabhängig von Ort und Zeit zu vermitteln. Die im Folgenden vorgestellte «TUebinger LernPlattform zum Erwerb numerischer und orthografischer Kompetenzen (TULPE)» bietet individuelles Lernen zentraler Kulturtechniken auch außerhalb des Klassenraums. Mithilfe adaptiver Verfahren lassen sich die Rechen- und Rechtschreibspiele der TULPE an individuelle Lernermerkmale anpassen: Zuerst wird in einer adaptiven Diagnostik der Lern- und Förderbedarf eingeschätzt. Entsprechend dieser Einschätzung können in einem zweiten Schritt Lernspiele adaptiert bzw. Lern- und Spielpartner mit ähnlichem Leistungsniveau ausgewählt werden. Auf diese Weise soll effektives Lernen ermöglicht werden, das den Bedürfnissen unserer Kinder in ihrer digitalisierten Lebenswirklichkeit entspricht.
Digitale Medien – Realität und Lebenswirklichkeit
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igitale Medien gehören heute fest zur Lebenswelt von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen; sie prägen ihre tägliche Freizeitgestaltung und sind Bestandteil ihrer sozialen Interaktion und Kommunikation. Der kompetente Umgang mit diesen Medien ist eine wesentliche Schlüsselqualifikation für den Wissenserwerb, weit über die schulische Bildung hinaus. Damit avanciert Medienkompetenz in der aktuellen bildungspolitischen Diskussion – neben Rechtschreiben, Lesen und numerischmathematischen Fähigkeiten – zu einer zentralen Kulturtechnik in unserer Informationsgesellschaft (Bundesministerium für Bildung und Forschung, BMBF, 2014). Doch kaum ein anderes Thema wird in der Bildungsforschung so intensiv und kontrovers diskutiert wie die Potentiale und Risiken der Nutzung digitaler Medien in und außerhalb von Schulen (und anderen Bildungseinrichtungen). Dabei geht es sowohl um kommerzielle Unterhaltungsspiele als auch um digitale Lernspiele, die oft mit den englischsprachigen Begriffen ‚Educational Games‘ oder ‚Serious Games‘ beschrieben werden. Die Diskussion dreht sich u. a. um die Gegenüberstellung möglicher positiver Spieleffekte (z. B. verbesserte Aufmerksamkeit, gesteigerte Motivation, Wissenszuwachs, etc.) und negativer AuswirLernen und Lernstörungen 2016; 5(1): 7 – 15 DOI 10.1024/2235-0977/a000112
kungen (z. B. Aggressivität, körperlicher Erregtheit, Suchtpotential, soziale Isolation, etc., für eine weiterführende Übersicht siehe u. a. Appel & Schreiner, 2014; Connolly, Boyle, MacArthur, Hainey & Boyle, 2012) sowie um Möglichkeiten und Grenzen digitaler Lernspiele (s. a. Felicia, 2011; Ritterfeld, Cody & Vorderer, 2009; Ritterfeld, 2011). Darüber hinaus steht auch die sinnvolle Ergänzung formeller (schulischer) Lernkontexte durch informelle (außerschulische) Bildungsangebote in Form von digitalen Lernarrangements im Fokus der Diskussion. Insgesamt lässt sich sagen, dass die Einstellungen von Schüler- und LehrerInnen zur Nutzung digitaler Medien in der Schule vergleichsweise positiv sind (Herzig & Grafe, 2007). Dennoch ist die Diskrepanz zwischen häuslicher und schulischer Nutzung digitaler Medien in Deutschland im Vergleich zu den anderen OECD-Staaten sehr groß (Bildung in Deutschland, 2006). Die Verknüpfung von formellen und informellen Lernkontexten stellt hierzulande somit für die Institution Schule im Speziellen aber auch für die Bildungsforschung allgemein eine besondere Herausforderung dar. Lernplattformen Lernen und Lehren erfordern vielseitige Aufgaben und Prozesse. Zur Unterstützung von Lern- und Lehrprozessen gewinnen computerunterstützte Lernplattformen (= web7
Fokus Anwendung
TUebinger LernPlattform (TULPE)
basierte oder virtuelle Lernumgebungen) auch im schulischen Kontext zunehmend an Bedeutung. Der Begriff Lernplattform umfasst eine Vielzahl unterschiedlicher Software-Systeme, die Lern- und Lehrprozesse organisieren. Je nach System und Umsetzung i) stellen sie Lerninhalte zur Nutzung bereit; ii) bieten administrative Werkzeuge (z. B. Benutzer- und Kursverwaltung, Methoden zur Evaluation) für Lehrende an und iii)fördern die Kommunikation zwischen Lernenden untereinander und mit Lehrenden, z. B. im Chat oder in Foren (vgl. Bäumer, Malys & Wosko, 2004). Lernplattformen fungieren damit als flexible, orts- und zeitunabhängige Schnittstelle zwischen Lernern und Lehrenden. Zur Anwendung von Lernplattformen in der Schule gibt es hierzulande bislang nur wenige empirische Untersuchungen. Aus Vergleichen mit anderen europäischen Ländern lässt sich jedoch ableiten, dass Lernplattformen vor allem im Sekundarbereich eingesetzt werden, während ihr Einsatz in der Primarstufe eher selten ist (Petko, 2010). Zudem werden in Abhängigkeit von Schulform und Unterrichtsfach unterschiedliche Funktionen angeboten. Für den flexiblen Einsatz digitaler Medien sind geeignete technische und organisatorische Rahmenbedingungen erforderlich (Friedrich, Hron & Töpper, 2011), um online individuelles, didaktisch aufbereitetes und pädagogisch begleitetes Lernen realisieren zu können. Digitale Lernspiele Spielend entdecken Kinder ihre Welt. Sie lernen spielend. Spielen ist essentiell mit Lernen verbunden und doch wird Lernen in der Schule vor allem mit voranschreitender Klassenstufe zunehmend formalisiert. Ein großer Teil der Lehrinhalte wird über Schulbücher vermittelt (Herzig & Grafe, 2007) und spielerische Elemente lassen sich kaum (noch) entdecken. Digitale Lernspiele basieren auf der engen, scheinbar untrennbaren Beziehung von Spielen und Lernen. Als Schnittstelle zwischen beiden nutzen sie Elemente aus digitalen Spielangeboten (Computer- oder Videospiele) zur Vermittlung von Lerninhalten. Sie versuchen Lernen an die digitale Lebenswelt der Kinder und Jugendlichen anzupassen und den Bedürfnissen einer neuen Generation von Lernern gerecht zu werden. Ihre Eignung als Lernmedium steht stark im Fokus öffentlicher Diskussionen, in der verschiedene, mitunter synonym verwendete Begriffe für digitale Lernspiele bzw. den Einsatz digitaler Spielangebote im Lernkontext verwendet werden: u. a. «Serious Games», «Educational Games», «Game-Based-Learning» oder «Edutainment». Alle Konzepte haben gemein, dass sie positive Spielelemente (z. B. Motivation und Begeisterung) mit didaktischen und pädagogischen Konzepten verbin8
den und sie «ernsthaft» im Bildungskontext einsetzen. Die eindeutige Abgrenzung dieser Begriffe ist jedoch schwierig (vgl. Egenfeldt-Nielsen, 2007). Eine mögliche Kategorisierung orientiert sich am Verhältnis von didaktischen zu spielerischen Elementen, wobei «Serious Games» und «Edutainment» die jeweils entgegengesetzten Pole besetzen (Wechselsberger, 2009). Während der Anteil didaktischer Elemente in «Serious Games» stark ausgeprägt ist, fokussiert «Edutainment» eher die Unterhaltungsebene. Eine für die weitere Darstellung geeignete Definition digitaler Lernspiele findet sich bei Hawlitschek (2013, p. 23). Sie versteht darunter «Computerspiele, · die explizit und systematisch in Hinblick auf ein bestimmtes Lernziel und für den Einsatz in einem pädagogischen Kontext konzipiert wurden, · die ein positives Spielerleben beim Spieler auslösen, · deren Effektivität bei der Vermittlung der Lerninhalte nachgewiesen werden konnte.» Dass digitale Lernspiele vielseitig zur Vermittlung unterschiedlicher Lerninhalte eingesetzt werden können, ist weitgehend unstrittig. Die Frage nach ihrer Effektivität kann jedoch nicht umfassend beantwortet werden: Eine Reihe von Studien konnten positive Lerneffekte belegen, u. a. bei beim Mathe- und Sprachenlernen (Li & Ma, 2010; Torgerson & Zhu, 2003) sowie beim Training allgemeiner kognitiver Fähigkeiten (Ke & Graboski, 2007; Warren, Dondlinger & Barab, 2008). Allerdings stellte sich immer wieder heraus, dass die Effektivität digitaler Lernspiele von zahlreichen Faktoren abhängt. Nach einer aktuellen Metaanalyse von Wouters, van Nimwegen, van Oostendorp und van der Spek (2013) sind Lerneffekte stärker, wenn digitale Lernspiele in der Gruppe gespielt werden; spielerische Gestaltung, Verständlichkeit der Instruktionen und die Einbettung in einen sorgfältig durchdachten didaktischen Rahmen sind ebenso entscheidende Faktoren für den Lernerfolg (vgl. Ke, 2009). Jedoch zeigt sich auch, dass digitale Lernspiele nicht per se motivierender sind als klassische Lernarrangements (Wouters et al., 2013). Als mögliche Ursachen führen die Autoren u. a. an, dass Vorgaben, wie z. B. wann und auf welche Weise digitale Lernspiele gespielt werden, dem Lerner die eigene Kontrolle und damit auch die Motivation zum Spielen nehmen können bzw. der flow des Spiels durch eine Fokussierung auf zu lernende Inhalte unterbrochen werden kann. Diese Faktoren können die Identifikation mit dem Spiel(-avatar) und das Eintauchen in die Spielwelt (auch Immersion, engl. presence) beeinflussen und somit ein unterhaltsames Spielerleben erschweren (s.a. Ritterfeld, 2011). Darüber hinaus kann eine Vielzahl von Lernspielen nicht mit den grafisch-technischen Möglichkeiten kommerzieller Computerspielentwicklungen konkurrieren (Petko, 2008). Aus Lernen und Lernstörungen 2016; 5(1): 7 – 15
Spieler-(Lerner)-Perspektive werden digitale Lernspiele daher den Erwartungen, die an sie geknüpft sind, nicht immer gerecht. Aus Lehrerperspektive besteht das Risiko, dass Kosten und pädagogischer Nutzen digitaler Lernspiele in einem Missverhältnis stehen. Eine weitere, häufig genannte Einschränkung sind die fehlenden individuellen Differenzierungsmöglichkeiten digitaler Lernspiele: Während ein Spiel einige Schüler überfordert, kann dasselbe Spiel andere langweilen. Den Lernspielen fehlt es bisweilen an erkennbarer Adaptivität (Petko, 2008). Vor allem Schüler mit einem geringeren Leistungsniveau erleben das Spielen gegen bessere Spielpartner dann oft als frustrierend (Liu, Li, & Santhanam, 2013). Dieses Erleben geht mit einem Motivationsverlust einher, der sowohl Nutzungsdauer und -häufigkeit beeinflussen und sich zudem auf Aufmerksamkeitsprozesse und die Qualität der Verarbeitung kognitiver Lerninhalte auswirken kann (z. B. Pekrun, 1992). Eine Möglichkeit dem entgegenzuwirken und das motivierende Element digitaler Lernspiele zu erhalten, bieten adaptive Verfahren. Adaptivität – Der Individualität gerecht werden Zentrales Ziel und zugleich hoher Anspruch aller Lehrund Lernsituationen ist es, Lernende entsprechend ihres aktuellen Leistungsstandes zu fördern, zu fordern und Lernangebote an den unterschiedlichen Gegebenheiten und Bedürfnissen zu orientieren. Gerade computerbasierte Lernumgebungen, wie Lernplattformen und Lernspiele, bieten die technischen Voraussetzungen, um mithilfe von Adaptivität das «Verhalten» der Lernumgebung an die Merkmale des Lerners anzupassen. Adaptive Lernsysteme werden bereits jetzt als eine der nächsten Generationen web-basierter Lernumgebungen diskutiert (z. B. Verdú, Regueras, Verdú, De Castro & Pérez, 2008); insbesondere, da sie es u. a. erlauben, Lernmaterialien automatisiert je nach individuell benötigter Lern- und Verarbeitungszeit in unterschiedlicher Dauer, Komplexität und Struktur anzubieten und dabei individuelles Vorwissen und Lernstrategien zu berücksichtigen. Damit vereinen sie diagnostische und lernförderliche Elemente. Diese grobe Zweiteilung findet sich auch bei der Anwendung von Adaptivität in computerbasierten Lernumgebungen: Diagnostik: Adaptive Erfassung der Lernerkompetenzen In einer adaptiven Eingangsdiagnostik erfolgt eine erste Einstufung des Lerners, meist in Form eines Wissenstests. Zusätzlich zum getesteten (domänenspezifischen) Wissen, können auch weitere Merkmale, z. B. individuelles Vorwissen, Alter und Geschlecht sowie Lernermerkmale und -gewohnheiten (vgl. Kickmeier-Rust, Albert & Roth, 2007; Oblinger, 2004) erfasst werden. Im Gegensatz zu klassischen Tests, in denen eine bestimmte AnLernen und Lernstörungen 2016; 5(1): 7 – 15
zahl an Aufgaben in immer derselben Reihenfolge vorgegeben wird, orientiert sich die Aufgabenauswahl und -reihenfolge beim adaptiven Testen an dem individuell gezeigten Antwortverhalten: Wird eine Aufgabe «falsch» beantwortet, erhält der Lerner als nächstes eine einfachere Aufgabe. Ist die Lösung «richtig», folgt eine schwierigere Aufgabe. Durch dieses sukzessive Vorgehen wird der Lerner nicht über- und nicht unterfordert. Darüber hinaus kann die Testdauer erheblich reduziert werden, ohne dass Messpräzision und -information verloren gehen (für eine detaillierte Einführung: van der Linden & Glas, 2000). Lernförderung: Adaption des Lernangebots Auf Grundlage der Einstufung des Lerners wird in einem zweiten Schritt das Lernangebot bzw. die Lernumgebung selbst angepasst. Dies kann sehr unterschiedlich umgesetzt werden: Die Anpassung des Lernangebots auf individuelle Lernverläufe wird im Folgenden als intra-individuelle Adaptivität bezeichnet. Sie umfasst vorwiegend die Individualisierung hinsichtlich Schwierigkeit und Komplexität, kann jedoch auch individuelles Vorwissen, Lern- und Lösungsstrategien berücksichtigen. Inter-individuelle Adaptivität hingegen meint die Auswahl besonders geeigneter, d. h. im Allgemeinen ähnlich leistungsstarker Lernoder Spielpartner (bzw. Spielgegner). Neben der adaptiven Gestaltung des Lernangebots wird in dieser Phase auch das individuelle Lernverhalten durch den Computer dokumentiert. So können u. a. die Entwicklung von Lernprozessen und -strategien, Spielstände aber auch Fehleranzahl und -typen erfasst werden (u. a. Kalyuga, 2006). Adaptivität kann in computerbasierten Lernumgebungen sehr unterschiedlich realisiert werden. Eine Vielzahl aktueller computerisierter adaptiver Testverfahren beruht auf mathematischen Modellen der Item-Response-Theorie (IRT, auch probabilistische Testtheorie), denen eine hohe Testökonomie (Effizienz) und Messgenauigkeit zugeschrieben wird (u. a. Kubinger, 1993). In diesen Modellen wird versucht das wahrscheinliche Verhalten eines Lerners (bzw. einer Testperson), dem bestimmte (latente) Fähigkeiten zugrunde liegen, vorherzusagen, wenn ihm eine bestimmte Aufgabe, deren Eigenschaften (wie z. B. Schwierigkeit) man berechnen kann, gestellt wird. Somit wird eine, an der Fähigkeit des Lerners orientierte, selektive Vorgabe einzelner Aufgaben ermöglicht.
Digitale Medien und die Förderung zentraler Kulturtechniken Rechnen, Lesen und Rechtschreiben gehören zu den Schlüsselqualifikationen unserer Informationsgesellschaft. Sie sind wesentlicher Bestandteil und zugleich Grundlage von Schul- und beruflicher Bildung. Störungen 9
Fokus Anwendung
TUebinger LernPlattform (TULPE)
Fokus Anwendung
TUebinger LernPlattform (TULPE)
im Erwerb dieser Fähigkeiten resultieren in Defiziten, die ohne geeignete Intervention bis ins Erwachsenenalter bestehen können (z. B. Parsons & Bynner, 2005; Daniel, Walsh, Goldston, Arnold, Reboussin et al. 2006). Klassische Interventionsprogramme zum Rechtschreiben und Rechnen, die häufig schulischem Lernen ähneln, können Kinder in ihrer digitalen Lebenswelt heute meist nur schwer erreichen. Daher wurde in den letzten Jahren verstärkt nach neuen spielerischen Ansätzen zur Förderung schriftsprachlicher und numerisch-mathematischer Fähigkeiten gesucht. Aktuell existieren verschiedene digitale Lernangebote und -spiele, die übergreifend (z. B. Lernwerkstatt: http://www.lernwerkstatt.de; Dybuster: http://www.dybuster.com/de) oder relativ spezifisch klassische Bildungsangebote zu Lesen/Rechtschreiben (z. B. Tintenklex: http://www.legasthenie-software.de) und Rechnen (z. B. The Number Race: http://www.lacourseauxnombres.com/nr/home.php; für eine Übersicht siehe auch Moeller, Fischer, Nuerk & Cress, 2015) ergänzen. Während viele dieser Lernumgebungen einen hohen Lernerfolg versprechen und z. T. mit werbewirksamen Preisen ausgezeichnet wurden (z. B. Meister Cody – Talasia, Kaasa health als «Best Educational Game in Europe»), sind nur einige wissenschaftlich evaluiert worden (Rechtschreiben: z. B. Kast, Baschera, Gross, Jaencke & Meyer, 2011; Rechnen: z. B. Wilson, Dehaene, Pinel, Revkin, Cohen et al., 2006; Butterworth & Laurillard, 2010). Unbestritten ist jedoch das Potential web-basierter Lernumgebungen attraktive Lernangebote zu gestalten, die mithilfe des Internets unabhängig von Ort und Zeit genutzt werden und sich mithilfe adaptiver Verfahren an die individuellen Voraussetzungen und Bedürfnisse der Lerner anpassen können. TUebinger LernPlattform zum Erwerb numerischer und orthografischer Kompetenzen (TULPE) Die «TUebinger LernPlattform zum Erwerb numerischer und orthografischer Kompetenzen» bietet individuelles Lernen unabhängig von formellen Bildungsangeboten. Um dies zu gewährleisten, wurde sie so entwickelt, dass ein Zugriff (auf die Lernplattform auf http://lernplattform.iwm-kmrc.de1) mit verschiedenen Endgeräten (Computer, Tablet-PC und/oder Smartphone) möglich ist. Ein wesentliches Unterscheidungsmerkmal und zugleich großer Vorteil gegenüber anderen Lernplattformen, ist die Anwendung adaptiver Verfahren zur individuellen Anpassung des Lernangebots: Auf intra-individueller Ebene werden Lernspiele entsprechend des in einer ersten Diagnostik eingeschätzten Lernund Förderbedarfs angepasst. Auf inter-individueller
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Ebene werden Lern- und Spielpartner entsprechend ihres Leistungsniveaus ausgewählt, so dass eine möglichst ausgeglichene Paarung entsteht. Die «TUebinger LernPlattform» vereint dabei (fast) alle Merkmale klassischer Lernplattformen (vgl. Bäumer et al., 2004). Sie i) stellt eine Auswahl an Lernspielen bereit; ii) bietet eine Benutzerverwaltung zum Anlegen von Benutzerprofilen, auf denen persönliche Informationen (Alter, Geschlecht, Lieblingsfach, Hobbies, etc.) der Nutzer hinterlegt werden können aber nicht müssen. Darüber hinaus können hier Lernstatus und -verlauf dokumentiert und ausgewertet werden; iii)ermöglicht die Kommunikation der Spieler untereinander (auch während des Spiels). und ergänzt diese Elemente mit intra- und interindividueller Adaptivität für ein hohes Maß an Individualisierung von Spielen und Lernen. Lernspiele der TUebinger LernPlattform zum Erwerb numerischer und orthografischer Kompetenzen (TULPE) Derzeit bietet die TULPE eine Auswahl von jeweils vier Rechtschreib- und Rechenspielen. Alle Lernspiele können im Einzel- oder Mehrspieler-Modus für bis zu fünf Mitspieler gespielt werden. Gerade das Spielen, Interagieren und Kommunizieren mit mehreren Mitspielern gleichzeitig ist eine Besonderheit dieser Lernspiele und Grundlage gemeinsamen, interaktiven Lernens. Rechtschreibspiele Der Entwicklung der Rechtschreibspiele ging eine detaillierte Analyse der linguistischen Eigenschaften, auf denen die verschiedenen Rechtschreibregeln beruhen, voraus. Sie diente der Erfassung individueller Kompetenzen in zentralen orthografischen Bereichen, der Identifizierung möglicher Rechtschreibschwierigkeiten sowie der Ableitung adäquater Förderschwerpunkte. Dazu wurde die Rechtschreibleistung von Haupt- und RealschülerInnen bei zentralen Rechtschreibregeln (u. a. Konsonantenverdoppelung, Groß- und Kleinschreibung, Vokaldehnung, Auslautverhärtung) erfasst. Das Testmaterial wurde hinsichtlich Frequenz, Erwerbsalter, semantischen und morpho-phonologischen (z. B. Betonung, Sonorität) Merkmalen kontrolliert. Die Auswertung erfolgte mit Modellen der Item-Response-Theorie (IRT). Diese ermöglichen es, die Schwierigkeiten von Testitems und die Rechtschreibkompetenz der Schüler und Schülerinnen getrennt voneinander zu betrachten. Somit können der individuelle Leis-
Aufgrund von Entwicklungsarbeiten ist die TULPE u. U. zeitweise nicht erreichbar.
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TUebinger LernPlattform (TULPE)
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4. Wortbausteine: Dieses Spiel basiert ebenfalls auf dem Konzept der Wortfamilien: Visuell präsentierte Wörter (z. B. sperrig, versperrt, Läufer, verlaufen, Lesebuch, lesbar, etc.) sollen verschiedenen Stammmorphemen zugeordnet werden (z. B. sperr-, lauf-, les-). Beide Spiele Wortfamilien und Wortbausteine trainieren das Bewusstsein für morphologische Konsistenz, ein entscheidendes Konzept in der Orthografie. In einigen Untersuchungen konnte gezeigt werden, dass ein derartiges Training die Entwicklung korrekter Rechtschreibfähigkeiten fördert (Ise & Schulte-Körne, 2010). Rechenspiele Die Spiele zur Verbesserung der Rechenleistungen trainieren die klassischen Grundrechenarten sowie die Zuordnung von numerisch-räumlichen Relationen. Fast alle Spiele sind als sogenannte Wahl-Reaktionsaufgaben implementiert. Bei diesen Aufgaben werden zwei oder mehr mögliche Lösungen zu einem Problem präsentiert. Der Lerner muss das richtige Ergebnis aus einer Auswahl falscher Ergebnisse herausfinden. 1. Multiplikationsspiel: Zur Übung von Multiplikationsfakten, dem sog. «Einmaleins», wird zuerst das Ergebnis einer Multiplikationsaufgabe präsentiert (z. B. 24). Dann werden Multiplikationsaufgaben, die zum richtigen Ergebnis führen (z. B. 3 × 8 oder 4 × 6), und Distraktoren gezeigt (z. B. 4 × 8 oder 6 × 6). Es sollen die Aufgaben mit der Maus markiert werden, die das gesuchte Produkt ergeben. Beim inversen Multiplikationsspiel wird die Aufgabe präsentiert und das korrekte Ergebnis soll ausgewählt werden. 2. Partnerzahl: Dieses Additionsspiel übt das Platz × Wert oder Stellenwertsystem arabischer Zahlen. Partnerzahl trainiert die Addition im Zahlenraum bis 10. Den Spielern wird eine Zahl präsentiert (z. B. 4) und sie sollen aus
Abbildung 1. 1A: Doppelungsspiel zum Training phonologischer Bewusstheit 1B: NumberLine (Zahlenstrahl-) Spiel zum Training numerischer und räumlicher Relationen
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tungsstand berücksichtigt und bestehende Defizite mit einem adäquat an den Lernstand angepassten Schwierigkeitsniveau adressiert werden. 1. Doppelungsspiel: In der deutschen Sprache folgt – mit wenigen Ausnahmen (z. B. Bus) – auf einen kurzen Vokal ein Doppelkonsonant (z. B. Mann). Das Doppelungsspiel trainiert die Diskrimination von Vokallängen. Sie stellt eine Grundvoraussetzung für die korrekte Realisierung von Doppelkonsonanten dar (Landerl, 2005; Ise & Schulte-Körne, 2010). Das Spiel besteht aus zwei Phasen: In der ersten Phase – Identifikation – geht es um die Vokallängenidentifikation bei einem auditiv vorgegeben Wort (z. B. Tasse). An diese Phase schließt sich ein sogenanntes «Minispiel» an, in dem herabfallende Münzen eingesammelt werden sollen, wofür Punkte vergeben werden. Auf den Münzen sind verschiedene Doppelkonsonanten abgebildet. Die Spieler dürfen nur die Münzen einsammeln, die den identifizierten Doppelkonsonanten des eingangs präsentierten Zielworts tragen. (z. B. ‚ss‘). Im Anschluss an das Minispiel folgt die zweite Phase des Doppelungsspiels – Produktion. Hier soll das Zielwort korrekt eingetippt werden. In beiden Phasen erhalten die Spieler kindgerechtes Feedback zu ihrem Antwortverhalten. Dazu werden fröhliche oder traurige Gesichter (Smileys) gezeigt, je nachdem, ob die Aufgabe richtig oder falsch gelöst wurde. Abbildung 1A zeigt beispielhaft den Ablauf des Doppelungsspiels. 2. LeTris: Das Spiel «LeTris» ähnelt dem Computerspieleklassiker «Tetris». Indem Wörter nach auditiver Vorgabe (z. B.: KETTE) aus zufällig herunterfallenden Buchstaben (z. B.: L, T, E, K, etc.) zusammengesetzt werden sollen, trainiert es sowohl Wortsynthesefähigkeiten als auch Aufmerksamkeitsprozesse. Wird das Zielwort korrekt zusammengesetzt, verschwindet die betreffende Zeile vom Spielfeld; andernfalls bleibt die Zeile bestehen. Je mehr Wörter fehlerhaft zusammengesetzt werden, desto mehr Zeilen verbleiben auf dem Bildschirm, was schließlich zur Beendigung des Spiels führt (Game Over). 3. Wortfamilien: Wörter werden einer Wortfamilie (z. B. spielen, Spiel, verspielt, spielerisch, etc.) zugeordnet, wenn sie das gleiche Stammmorphem (z. B. -spiel) besitzen. Das Erkennen dieser morphologischen Beziehung ist ein weiterer Grundbaustein für die Entwicklung ungestörter Lese- und Rechtschreibfähigkeiten (Carlisle & Katz, 2006). Das Spiel Wortfamilien nimmt sich dieser Grundfertigkeit an: Zu Beginn wird ein Wort visuell präsentiert (z. B. passen). Dann wird eine Auswahl weiterer Wörter gezeigt (Schwimmflosse, Pass, Eis, verpassen, etc.). Die Spieler sollen sich möglichst alle Wörter zu der präsentierten Wortfamilie merken und diese korrekt eingeben. Sie erhalten Rückmeldung darüber, wie viele und welche Wörter sie richtig erkannt und geschrieben haben.
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TUebinger LernPlattform (TULPE)
einer Menge von Lösungsmöglichkeiten die Zahl auswählen, die addiert werden muss, damit sich die Summe 10 ergibt (z. B. 6). 3. Über 10: Über 10 ist eine Erweiterung des PartnerzahlSpiels. Hier wird die Addition mit Übertrag trainiert. Zuerst markieren die Spieler den Summanden, der sich mit der vorgegebenen Zahl (z. B. 8 + 2) zu 10 addiert. Im Anschluss soll die Zahl ausgewählt werden (z. B. 7), die zur richtigen Lösung der eingangs präsentierten Aufgabe (z. B. 8 + 9) führt. 5. NumberLine: Hier werden räumliche Repräsentationen von Zahlen trainiert. In dieser Aufgabe sollen zwei oder mehr Spieler die ungefähre Position einer vorgegebenen Zahl auf einem Zahlenstrahl markieren. Sobald ein Spieler seine Markierung gesetzt hat, kann kein weiterer Spieler diese Position als richtige Lösung angeben. Weder sehr genaue und langsame Schätzungen noch schnelle und inakkurate Strategien führen hier zum Ziel. Zahlenstrahl-Spiele wurden bereits erfolgreich zum Training von Zahl- und Raumrelationen und Vermittlung entsprechender Lösungsstrategien eingesetzt (Link, Schwarz, Huber, Fischer, Nuerk et al., 2014). Abbildung 1B zeigt ein Beispiel des Zahlenstrahlspiels. Die Rechtschreib- und Rechenspiele der TULPE entsprechen in vollen Umfang der obigen Definition digitaler Lernspiele (Hawlitschek, 2013, p. 23): i) Sie wurden explizit zur Förderung numerischer und schriftsprachlicher Fähigkeiten entwickelt; ii) Die Spiele wurden von der entsprechenden Zielgruppe (fünfte und sechste Klasse) getestet, fanden positive Resonanz und wurden von einem großen Teil der Schülerinnen und Schüler mit Freude und Motivation gespielt. iii)Ihre Effektivität bei der Vermittlung von Rechen- und Rechtschreibkompetenzen wurde bereits in einer Pilotstudie wissenschaftlich evaluiert (Jung, Roesch, Huber, Heller, Grust et al., 2015). Für die Rechtschreibspiele Doppelungsspiel, Wortfamilien und Wortbausteine konnten dabei differentielle Interventionseffekte nachgewiesen werden. Für die Rechenspiele Multiplikationsspiel, Partnerzahl und Über 10 ergab sich lediglich eine generelle Verbesserung über die Studie hinweg. Im Rahmen dieser Evaluation wurden Spielpartner entsprechend ihrer Rechen- und Rechtschreibfertigkeiten ausgewählt, so dass zwischen ihnen keine großen Leistungsunterschiede bestanden. Dieses Vorgehen erwies sich als sehr effektiv – auch wenn es in der Vorbereitung einige Zeit in Anspruch nahm und eine genaue Einschätzung durch den Klassenlehrer voraussetzte – und bestärkt uns in der Entwicklung und Bereitstellung eines individuellen und adaptiven Lernangebots. 12
Individualisiertes, adaptives Lernen mit der TUebinger LernPlattform zum Erwerb numerischer und orthografischer Kompetenzen Adaptive Lernspiele können unterschiedliche individuelle Fähigkeiten und Lernverhalten erkennen, darauf reagieren und das Spielerlebnis – stets mit Blick auf den Lernerfolg – selbständig differenziert gestalten. Auf der TULPE wird die Adaptivität mit Methoden der Item-ResponseTheorie umgesetzt. Für numerische und schriftsprachliche Aufgaben wurden dazu spezifische Aufgabenschwierigkeiten geschätzt und zugeordnet. Diese Parameter werden für die automatisierte selektive Vorgabe von Aufgaben entsprechend des individuellen Kompetenzniveaus des Lerners benötigt. Die Umsetzung der Adaptivität erfolgt auf der TULPE gemäß der oben beschriebenen Unterscheidung zwischen Diagnostik und Lernförderung. 1. Adaptive Diagnostik der Rechtschreibund Rechenkompetenz Zur ersten Einschätzung der Rechen- und Rechtschreibfähigkeiten und als Grundlage für individualisiertes Lernen wurde eine Initiale Diagnostik entwickelt. Sie ist den Lernspielen vorangeschaltet. Je nachdem, für welches Spiel sich ein Lerner entscheidet, wird mithilfe eines kurzen Tests der aktuelle Leistungsstand beim Rechtschreiben oder Rechnen erfasst. Im Bereich numerischer Fähigkeiten
Abbildung 2. 2A: Schematischer Ablauf der Initialen Diagnostik am Beispiel Rechtschreibung 2B: Veränderung der Personenfähigkeiten im Verlauf der Rechtschreibdiagnostik für die Groß-Klein-Schreibung, Dehnung und Doppelung: grün = korrekte Schreibung entsprechend der spezifischen Rechtschreibregel, rot = falsche Schreibweise, schwarz = Regel für dieses Wort nicht relevant
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2. Adaptivität der Lernspiele Um das Lernen mit der TULPE effektiv zu gestalten, werden die Lernspiele intra- und interindividuell adaptiv an das schriftsprachliche und numerische Kompetenzniveau der Lerner angepasst. Auf intra-individueller Ebene wird der individuelle Leistungstand eines Lerners berücksichtigt. Zum einen lässt sich daran Lernerfolg und -verlauf des Lerners bewerten und beurteilen. Zum anderen kann bei Spielen mit computergesteuerten Spielpartnern, die Spielweise des Computers so angepasst werden, dass die individuelle Erfolgsrate für den Lerner stets bei über 50 % liegt. Die inter-individuelle Adaptivität findet in Lernspielen mit mehreren Lern- und Spielpartnern Anwendung. Das Lernspiel kann entsprechend des Leistungsniveaus des aktuellen Mit- oder Gegenspielers angepasst werden oder in Relation zu allen registrierten Spielern modifiziert werden. Mithilfe gespeicherter Spieldaten lässt sich für jeden Spieler und jedes Spiel eine Art Kompetenzindex bestimmen anhand dessen gleichstarke Mit- oder Gegenspieler ausgewählt werden können (ähnlich wie der ELO-Wert im Schach, vgl. Elo, 1978). Finden sich keine gleichstarken Spielpartner, so können z. B. leistungsstärkere Spieler ein Handicap erhalten. Solche Handicaps können etwa durch Verzögerungen bei der Aufgabenpräsentation oder bei der Registrierung des Antwortverhaltens realisiert werden. Dadurch wird angestrebt, Erfolgsraten auszubalancieren und somit die Motivation der Lerner unabhängig vom individuellen Fähigkeitslevel aufrecht zu erhalten. Während die adaptive Diagnostik bereits implementiert ist, stellt die Umsetzung und Bereitstellung der adaptiven Lernen und Lernstörungen 2016; 5(1): 7 – 15
Lernspiele auf der «TUebinger LernPlattform zum Erwerb numerischer und orthografischer Kompetenzen» den nächsten Meilenstein auf dem Weg zur maßgeschneiderten und motivierenden Förderung schriftsprachlicher und numerischer Kompetenzen dar.
Lernen mit digitalen Medien – Perspektiven und Ausblick Web-basierte Lernumgebungen – Lernplattformen und digitale Lernspiele – haben sich in den letzten Jahren zu vielversprechenden Instrumenten für den Einsatz in und außerhalb von pädagogischen Kontexten entwickelt. Selbst beim Lernen der zentralen Kulturtechniken Rechtschreiben und Rechnen, das traditionell eher mühsam und zeitaufwendig ist und überwiegend in der Schule stattfindet, hat sich ihr Einsatz fraglos bewährt (siehe Butterworth & Laurillard, 2010, Kast et al., 2011). Mit computerunterstützten Lernumgebungen können diese Fähigkeiten spielerisch gefördert und Defizite verringert werden (siehe Li & Ma, 2010; Torgerson & Zhu, 2003). Lerneffekte sind dabei oft sogar höher, wenn digitale Lernspiele in der Gruppe gespielt werden (Wouters et al., 2013). Aus diesem Grund werden Lernspiele auf der TULPE auch im Mehrspielermodus angeboten. Der oft als motivierend angesehene Charakter von Lernspielen ist jedoch anfällig. So deutet die aktuelle Metaanalyse von Wouters und Kollegen (2013) darauf hin, dass digitale Lernspiele nicht motivierender sind als klassische Lernmethoden. Dabei scheint es entscheidend, wie selbständig ein Nutzer über das Spiel und die Lerninhalte entscheiden kann und wie tief er in der Spielewelt versinkt. Dennoch scheinen sich motivationale Prozesse regulieren zu lassen: Bei der Evaluation der Rechtschreibund Rechenspielen der TULPE ergab sich, dass ein Aufeinandertreffen gleichfähiger Lern- oder Spielpartner entscheidend dafür ist, dass insbesondere leistungsschwächere Lerner weder Motivation noch Freude am Spiel verlieren – was sich negativ auf den Lernerfolg in Lernspielen auswirken kann (Liu et al., 2013). Hier ansetzend bietet die Implementierung von Adaptivität eine vielversprechende Methode, um Lernspiele automatisiert entsprechend des Leistungsniveaus des aktuellen Mitoder Gegenspieler anzupassen. Darüber hinaus ermöglicht sie eine hohe Individualisierung diagnostischer Verfahren und darauf aufbauend die Auswahl spezifischer Lerninhalte. Wie in der personalisierten Medizin werden unseres Erachtens auch Lernspiele und Lernangebote stärker personalisiert und an die individuellen Bedürfnisse adaptiert werden müssen, damit möglichst effektiv gelernt werden kann. Dadurch steigen die Anforderungen an die Entwicklung von Lernplattformen und -spielen, für deren Bewältigung eine 13
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wird z. B. das Rechnen in den Grundrechenarten überprüft. Die Rechtschreibfähigkeiten werden hinsichtlich der verschiedenen Rechtschreibregeln (z. B. Groß-KleinSchreibung, Doppelung, Dehnung, Auslautverhärtung, etc.) untersucht. Entscheidend dabei ist, dass bereits nach der Eingabe eines jeden Wortes automatisch bewertet wird, ob es entsprechend jeder einzelnen Rechtschreibregel richtig oder falsch geschrieben wurde. Dies ist notwendig, um für die nächste Aufgabe ein leichteres oder schwierigeres Wort auszuwählen und vorzugeben – je nachdem, ob das aktuelle Wort falsch oder richtig geschrieben wurde. Abbildung 2 zeigt den schematischen Ablauf der Initialen Diagnostik am Beispiel Rechtschreibung (A) und auch die Veränderung der geschätzten Fähigkeiten eines Lerners im Verlauf der Diagnostik für die drei Rechtschreibregeln: Groß-Klein-Schreibung, Doppelung und Dehnung (B). Auf Basis dieser Initialen Diagnostik können in einem nächsten Schritt die Lernspiele entsprechend des Leistungsniveaus des Lerners angepasst und Förderschwerpunkte abgeleitet werden, so dass, z. B. ein bestimmtes Lernspiel empfohlen werden kann.
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enge Zusammenarbeit von Informatik, Psychologie, Pädagogik sowie weiteren beteiligen Fachdisziplinen unerlässlich ist. Gelingt es adaptive Verfahren in web-basierte Lernumgebungen zu integrieren und somit ihr didaktisches und motivationales Potential nutzbar zu machen, bieten sie ein erfolgversprechendes Lernmedium, das der digitalisierten Lebenswirklichkeit unserer Kinder entspricht.
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Stefanie Jung Diplom Lehrund Forschungslogopädin (2010, RWTH Aachen). Arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Leibniz-Institut für Wissensmedien und an der Universität Tübingen. Ihre Forschungsschwerpunkte umfassen das (Wiederer-)Lernen sprachlicher Kompetenzen, das evidenzbasiertes Vorgehen in der Sprachtherapieforschung sowie die Entwicklung webbasierter Interventionen.
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Fokus Anwendung
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Die längsten Beziehungen des Lebens …
Jürg Frick
Ich mag dich – du nervst mich Geschwister und ihre Bedeutung für das Leben Mit einem Geleitwort von Franz Petermann. 4., überarb. und erg. Aufl. 2015. 480 S., 15 Abb., 15 Tab., Kt € 29.95 / CHF 39.90 ISBN 978-3-456-85571-4 AUCH ALS E-BOOK
Die Rolle von Geschwistern in der Entwicklung eines Menschen wird immer noch - sogar von Fachleuten! - unterschätzt. Der Autor beleuchtet dieses interessante Thema von verschiedenen Seiten und veranschaulicht es an zahlreichen Beispielen. • Welche Rolle spielen Geschwisterkonstellationen und -positionen? • Wie und warum entstehen Eifersucht und Rivalität? • Wie nehmen Eltern Einfluss auf das Verhältnis von Geschwistern? • Warum können Geschwisterbeziehungen entwicklungsfördernd oder -hemmend sein? • Was bringt es, sich mit den eigenen Geschwisterbeziehungen auseinanderzusetzen?
www.hogrefe.com
Dem Autor geht es aber auch um Möglichkeiten zur Neugestaltung von Geschwisterbeziehungen sowie um Langzeitauswirkungen in Partnerschaft oder Beruf. Fragebögen zur Reflexion der eigenen Geschwistererfahrung runden das Buch ab. Ergänzt wird das Buch mit kurzen Texten junger Erwachsener über ihre Geschwistererfahrung.
LeFiS-Lernförderung in Schulen
Empirische Arbeit
LeFiS-Lernförderung in Schulen – Evaluation eines Modellprojekts zur schulinternen Lerntherapie für Kinder mit Lese- & Rechtschreibschwierigkeiten Christina Balke-Melcher1, Kirsten Schuchardt1, Josef-Godehard Wolpers2 und Claudia Mähler1 1 Stiftung
Universität Hildesheim Stadt und Landkreis Hildesheim
Zusammenfassung. Kinder mit Schwierigkeiten im Lesen und Rechtschreiben haben es im schulischen Alltag besonders schwer. Sie in diesen Bereichen zu unterstützen und zu fördern, blieb bisher meist den Eltern überlassen, d. h. war auf den außerschulischen Bereich beschränkt. Dies ändert sich jedoch zunehmend und die Verantwortung zur Förderung wird mehr und mehr den Schulen übertragen. Im vorliegenden Artikel wird ein Pilotprojekt vorgestellt, in welchem Lernförderung für Kinder mit Lese-Rechtschreibschwächen innerschulisch durch Lerntherapeuten durchgeführt wurde. Das Projekt und seine Wirksamkeit werden im Kontext des «Response to Intervention» – Ansatzes diskutiert. Schlüsselwörter: Lese-Rechtschreibschwäche/-störung, Lerntherapie, Förderung, RTI-Modell, Inklusion
Einleitung
L
ese-Rechtschreibschwierigkeiten gehören für viele Kinder zum schulischen Alltag, belasten deren Familien und sind eine Herausforderung für die Lehrkräfte. Unterschieden werden Kinder mit Leserechtschreibschwäche (Prävalenz 4 – 6 %, Fischbach et al., 2013), welche im Vergleich zu Kindern der gleichen Klassenstufe unterdurchschnittliche Leistungen in der Rechtschreibung, im Lesen oder in beiden Schriftsprachbereichen zeigen, und Kinder mit Lese-und/oder Rechtschreibstörung (ICD-10, WHO, 2005) (Prävalenz 2 – 4 %, Fischbach et al., 2013), bei denen zusätzlich zur unterdurchschnittlichen Schulleistung eine erwartungswidrige Diskrepanz zur durchschnittlichen Intelligenz vorliegt (Schulte-Körne & Remschmidt, 2003). Die Prävalenzschätzungen der Lese-Rechtschreibstörung werden international diskutiert (vgl. Wyschkon, Kohn, Ballaschk & Esser, 2009), da verschiedene wissenschaftliche Studien keine Unterschiede bzgl. der Symptomatik, der zugrunde liegenden kognitiven Defizite oder des Ansprechens auf Förderung zwischen lediglich lernschwachen Kindern und Kindern mit Lese-
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Rechtschreibstörung aufzeigen konnten (z. B. Weber, Marx & Schneider, 2002; Mähler & Schuchardt, 2011). Das 2013 veröffentlichte DSM-5 macht deshalb keinen Unterschied mehr zwischen Lese-Rechtschreibschwäche und -störung (APA, 2013). Als Folge der Lese-Rechtschreibschwäche und der damit zusammen hängenden Versagenserfahrung kommt es häufig zu psychischen Symptomen wie Angst und Depression (Roth &Warnke, 2001). Findet keine geeignete Förderung statt, persistiert die Lese-Rechtschreibstörung häufig bis ins Erwachsenenalter (Landerl & Wimmer, 2008). Schulte-Körne und Remschmidt (2003) weisen darauf hin, dass die gesamte Bildungs- und Berufslaufbahn beeinträchtigt sein kann, wenn Kinder mit LeseRechtschreibschwierigkeiten nicht ausreichend unterstützt werden. Fördermöglichkeiten Frühe Förderung ist folglich für Kinder mit Lese-Rechtschreibschwierigkeiten unverzichtbar. Die verschiedenen Förderzugänge lassen sich inhaltlich aufteilen in symptomspezifische sowie funktions-und wahrnehmungsbezogene Trainings. Für die symptomspezifischen 17
Fokus Forschung
2 Jugendamt
Fokus Forschung
LeFiS-Lernförderung in Schulen
Förderprogramme wurde vielfach nachgewiesen, dass sowohl die Lesefertigkeiten (z. B. Kuhn & Stahl, 2003; Vellutino, Fletcher, Snowling & Scanlon, 2004; Müller, Križan, Hecht, Richter & Ennemoser, 2013) als auch die Schreibfertigkeiten (z. B. Schulte-Körne & Mathwig, 2001; Weber et al., 2002; Reuter-Liehr, 1993; Unterberg, 2005) effektiv trainiert werden können. Dabei haben jedoch auch interventionsunabhängige Faktoren erheblichen Einfluss auf die Effektivität der Förderung, z. B. das Alter der geförderten Kinder, die Dauer der Förderung (Elbaum, Vaughn, Hughes & Moody, 2000) und der individuelle Interventionsleiter. Ise, Engel und Schulte-Körne (2012) belegten, dass sich signifikante Erfolge in der Entwicklung der Lese- und Schreibleistungen nur zeigten, wenn der Interventionsleiter1 eine Lehrkraft oder der Autor der Interventionsstudie, also ein Experte, war. Ob die Förderung im Einzel- oder im Gruppenkontext durchgeführt wurde, scheint nach Ise et al. (2012) keinen Einfluss auf die Wirksamkeit der Förderung zu haben. Kinder mit Lese-Rechtschreibschwierigkeiten können innerhalb Deutschlands eine fundierte Diagnostik von der Krankenkasse finanziert bekommen, die systematische Lerntherapie ist jedoch nicht verordnungsfähig (Dreisörner, 2010). Die Unterstützung durch ausgebildete möglichst staatlich anerkannte Lerntherapeuten, welche nach positiv evaluierten Förderprogrammen wie z. B. dem Marburger Rechtschreibtraining (Schulte-Körne & Mathwig, 2001), der lautgetreuen Lese-Rechtschreibförderung nach Reuter-Liehr (1993) oder dem Kieler-Leseaufbau nach Dummer-Smoch und Hackethal (1996) arbeiten (Evaluationsstudien s. o.), kann somit für finanziell schwächer gestellte Familien nicht erreichbar sein. Lernförderung im Rahmen inklusiver Schule Im Rahmen der Entwicklung hin zur inklusiven Schule und zur schrittweisen Abschaffung der «Förderschule Lernen», werden nun die Schulen selbst verantwortlich gemacht, die Förderung der betroffenen Kinder zu organisieren. Die deutsche Kultusministerkonferenz verabschiedete am 20.10.2011 die pädagogischen Empfehlungen «Inklusive Bildung von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen in Schulen» in enger Anlehnung an die UN-Behindertenrechtskonvention für alle Bundesländer, welche an dieser Stelle nicht im Detail erläutert werden können. In den damit verabschiedeten Grundsatzerlassen zur Arbeit in der Grundschule wird vorgeschrieben, dass der Unterricht sich nach dem individuellen Entwicklungsstand des Kindes und dessen Lernerfolgen und -problemen zu richten habe, wobei auch das Selbstvertrauen in die eigene
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Leistungsfähigkeit und die Leistungsfreude gestärkt werden sollen (Kultusministerkonferenz, 2011). Damit wird es nun zur Verpflichtung der Schulen Fördermöglichkeiten zu entwickeln, die im Rahmen der Schule Schüler mit Schwächen in vielen Bereichen unterstützen. RTI-Modell Ein gestufter Förderansatz im schulischen Rahmen, genannt response to intervention-Modell (nachfolgend RTI), gewinnt in letzter Zeit in Deutschland zunehmend an Bedeutung (Ricken, 2014; Blumenthal, Kuhlmann & Hartke, 2014). Dieses RTI-Modell ist ein präventiver mehrstufiger Förderansatz, der die eingesetzte Förderung eng an den Lernfortschritt des beeinträchtigten Kindes anpasst. Das RTI-Modell gliedert sich in drei Förderebenen: den regulären Unterricht, die Kleingruppenförderung und die Einzelförderung. Durch regelmäßige diagnostische Screenings fallen Kinder, die im regulären Unterricht nicht mehr mitkommen, schnell auf und können durch Kleingruppenförderung klassenintegriert durch die Lehrkraft unterstützt werden. Im besten Fall ist das Kind responsiv, reagiert also positiv auf die Förderung und kann zum Klassenniveau aufschließen. Fällt bei den diagnostischen Kontrollen auf, dass ein Kind über längere Zeit trotz Kleingruppenförderung weiterhin Schwierigkeiten hat, kann die Unterstützung durch Einzelförderung von spezialisierten Fachleuten (z. B. Sonderpädagogen) intensiviert werden (Hartmann & Müller, 2009). Zu den Kernelementen des RTI-Ansatzes gehören auch die datengeleitete Förderentscheidung sowie die Verwendung evidenzbasierter Fördermethoden, die die Qualität des Vorgehens gewährleisten (Blumenthal et al., 2014). Wirksamkeitsstudien des RTI-Ansatzes zeigen, dass ca. 15 – 20 % der Schulkinder durch fokussierte Intervention wieder Anschluss an das Klassenniveau finden, während bei ca. 5 % der Schülerschaft nur eine Einzeltherapie angemessene Unterstützung bieten kann (Fletcher & Vaughn, 2009). LeFiS-Projekt Ein Projekt, das sich eine ebensolche Förderung der Leseund Rechtschreibfähigkeiten innerhalb der Schule zur Aufgabe gemacht hat, ist das LeFiS-Projekt (LeFiS- Lernförderung in Schulen). LeFiS wurde vom Jugendamt Hildesheim (Stadt & Landkreis) in Zusammenarbeit mit dem psychologischen Institut der Universität Hildesheim entwickelt. Ziel ist es, Schülern mit Schwächen im Lesen und/ oder Rechtschreiben innerhalb der Unterrichtszeit qualifizierte Unterstützung präventiv anzubieten, bevor die Kinder eine gravierende Lernstörung und sekundäre Schwie-
Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird nur die männliche Form verwendet, gemeint sind jedoch stets die weibliche und die männliche Form.
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Lernen und Lernstörungen 2016; 5(1): 17 – 31
LeFiS-Lernförderung in Schulen
Lernen und Lernstörungen 2016; 5(1): 17 – 31
gibt, sondern dass dieses eher einen konzeptuellen Rahmen für ein Fördervorgehen bilden kann, an welchem das LeFiS-Projekt sich seinen Gegebenheiten entsprechend orientierte. Ricken (2014) betont die Notwendigkeit neuer Studien, die realisierbare Umsetzungsmodelle für eine Zusammenarbeit zwischen Lerntherapeuten und Schulen entwickeln und deren Ergebnisse evaluieren, da bislang keine Forschung dazu existiere. Fragestellungen Die vorliegende Feldstudie setzt genau an diesem Punkt an. Das LeFiS-Projekt liefert Erkenntnisse über die Wirksamkeit einer Förderprogramms im schulischen Rahmen unter Zusammenarbeit von Jugendamt, Lehrern und Lerntherapeuten. Es geht dabei um die Überprüfung der praktischen Umsetzung von Lerntherapie im schulischen Setting, nicht um die Evaluation eines bestimmten Therapiekonzepts. Ziel der vorliegenden Feldstudie ist es zu analysieren, 1. ob eine lerntherapeutische Förderung im schulischen Setting wirksam sein kann. Konkret interessiert, ob sich über den Zeitraum von zwei Schuljahren von Anfang der dritten bis Ende der vierten Klasse sowohl die Leseleistungen als auch die Rechtschreibleistungen der betroffenen Kinder durch innerschulische lerntherapeutische Kleingruppenförderung deutlich verbessern lassen. 2. ob Kinder mit isolierten oder kombinierten Schriftsprachschwächen gleichermaßen von der LeFiS-Förderung profitieren können. 3. ob es Unterschiede in der Wirksamkeit der Förderung gibt, je nachdem ob ein Kind lediglich eine Lernschwäche oder eine diagnostizierte Lernstörung im engeren Sinne nach ICD-10 hat.
Methodik Insgesamt nahmen neun Schulen am LeFiS-Projekt teil. Die inhaltliche Förderung wurde von Lerntherapeuten durchgeführt, die durch das Jugendamt von Stadt- und Landkreis Hildesheim aus dem Pool der anerkannten ortsansässigen Lerntherapeuten rekrutiert und vertraglich eingebunden wurden. Die Organisation des schulischen Ablaufs lag in der Verantwortung jeder einzelnen Schule. Die Universität Hildesheim begleitete das LeFiS-Projekt wissenschaftlich und unterstützte bei der Rekrutierung der Teilnehmer, der Durchführung der Lernstandsmessung und der Gruppeneinteilung der Fördergruppen, sowie bei der Evaluation. Ab dem Sommer 2011 wurden an drei Messzeitpunkten jeweils am Schuljahresende standardisierte Schulleistungstests mit allen Schülern im Lesen und Schreiben sowie zum ersten Messzeitpunkt ein 19
Fokus Forschung
rigkeiten entwickeln. Nach einer ersten Lernstandserhebung wurden die Kinder der dritten Jahrgangsstufe klassenübergreifend in leistungshomogene Gruppen eingeteilt. Die Kinder mit Schwächen erhielten an zwei Stunden pro Woche von professionellen Lerntherapeuten gezielte Förderung in Kleingruppen hinsichtlich ihrer individuellen Defizite. Diese Auslagerung der Förderung soll die Lehrer entlasten und die Qualität der Förderung sichern, da der übliche Förderunterricht in Schulen oft nicht ausreichend alternative Übungsmethoden zum normalen Schulunterricht anbietet (Klicpera & Gasteiger-Klicpera, 1995). Ricken (2014) diskutiert den Einsatz von Lerntherapeuten in Schulen und stellt zahlreiche Vorteile dar. Die Förderung kann viel früher ansetzen, es findet weniger Stigmatisierung der leistungsschwächeren Kinder statt, das Gelernte ist leichter auf den schulischen Kontext übertragbar und es gibt keine Benachteiligung finanziell schwacher Familien. Hinzu kommt nach Ricken (2014), dass die Zusammenarbeit von Lehrern und Lerntherapeuten für die schulische Arbeit eine Bereicherung sein kann: Der Lerntherapeut kann flexibler und unmittelbarer fördern, kann Förderkonzepte individuell anpassen, kann erklärend und vermittelnd gegenüber den Eltern auftreten und wenn gewünscht in der Unterrichtsbeobachtung neue Perspektiven u. a. für niederschwellige Förderkonzepte einbringen. Das LeFiS-Förderkonzept orientiert sich in einigen Punkten am oben beschriebenen RTI-Ansatz. Die Förderung fand mehrstufig statt: Lehrkräfte unterrichteten leistungsstarke und durchschnittliche Schüler getrennt in zwei Gruppen, Lerntherapeuten übernahmen die intensive Förderung in Kleingruppen für schwache Schüler, und in Einzelfällen mit gravierenden Schwierigkeiten wurde eine lerntherapeutische Einzelförderung durchgeführt. Die Gruppeneinteilung und damit die Förderentscheidung wurden datenbasiert aufgrund der Ergebnisse in standardisierten Schulleistungstest getroffen. Bei den verwendeten Fördermethoden der vom Jugendamt Hildesheim anerkannten Lerntherapeuten handelte es sich größtenteils um oben beschriebene evidenzbasierte Verfahren. Unterschiede zum RTI-Ansatz finden sich sowohl bzgl. der fördernden Person, die bei LeFiS schon in der Kleingruppenförderung ein externer Lerntherapeut war, als auch bzgl. der Frequenz der Leistungsmessung. Diese fand bei LeFiS aus organisatorischen Gründen nur einmal im Jahr für alle Kinder statt (das genaue (verlaufs-)diagnostische Vorgehen der Lerntherapeuten ist nicht erfasst), während im RTI-Modell eine zumindest monatliche, auf den intensiveren Förderebenen auch wöchentliche Leistungserfassung vorgesehen ist (Blumenthal et al., 2014). Folglich ist die Durchlässigkeit zwischen den Förderebenen im LeFiSProjekt eingeschränkter. Bei diesem Vergleich von LeFiS und RTI-Ansatz ist jedoch zu berücksichtigen, dass es nach Blumenthal et al. (2014) nicht ein spezifisches RTI-Modell
LeFiS-Lernförderung in Schulen
Tabelle 1. Angaben zur Stichprobe Gruppe
n (Geschlecht w/m)
Störung/ Schwäche
IQ (SD)
Mittleres Alter in Jahren (SD)
LeFiS
15 (8/7)
8/7
97.3 (14.13)
8;9 (.42)
KG
15 (9/6)
10/5
102.7(13.26)
8;7 (.47)
LeFiS
46 (17/29)
26/20
103.3 (12.84)
8;8 (.52)
KG
22 (9/13)
12/9
98.4 (7.58)
8;8 (.42)
LeFiS
31 (19/12)
21/10
98.8 (10.63)
8;8 (.46)
KG
35 (12/23)
19/16
93.4 (12.09)
8;8 (.55)
leseschwach
schreibschwach
kombiniert schwach
Anmerkungen. n = Zahl der Probanden; w = weiblich; m = männlich; IQ = Intelligenzquotient; SD = Standardabweichung; LeFiS = LeFiS-Fördergruppe; KG = Kontrollgruppe; Kriterium für Schwäche: T < 40; Kriterium für Störung: T < 40 & 12T-Wert Punkte Diskrepanz zwischen IQ und Schulleistung
Fokus Forschung
nonverbaler Intelligenztest durchgeführt. Der erste Messzeitpunkt Ende der zweiten Klasse diente der Diagnostik und Gruppeneinteilung. Die beiden folgenden Messzeitpunkte dienten der Evaluation der Fördermaßnahme. LeFiS – Umsetzung der Förderung Die Förderung begann im Herbst 2011 und dauerte bis Ostern 2013. Sie fand an den neun Schulen in insgesamt 18 Kleingruppen von vier bis neun Schülern (durchschnittlich sechs Schüler) statt. Die Schüler hatten in zwei Schulstunden (Doppelstunde oder zwei Einzelstunden) pro Woche Förderunterricht (insg. 60 Stunden in zwei Jahren). In diesen Stunden wurden die lese- und rechtschreibschwachen Kinder von professionellen Lerntherapeuten gefördert, wobei die konkreten Förderprogramme nicht vorgegeben waren und dementsprechend variierten. Die verwendeten Förderverfahren konnten im Rahmen dieser Studie leider nicht systematisch kontrolliert werden. Es wurden jedoch häufig das Programm von Reuter-Liehr (1993) und das Marburger Rechtschreibtraining (Schulte-Körne & Mathwig, 2001) eingesetzt. Stichprobe Von insgesamt 476 eingangs getesteten Schülern wurden 105 in die Fördergruppen aufgenommen. Als Kriterium zur Gruppeneinteilung dienten die Ergebnisse in den unten beschriebenen Schulleistungstests: es wurden alle Kinder mit unterdurchschnittlichen Leistungen im Lesen und/oder Rechtschreiben (T < 40; entspricht mindestens einer Standardabweichung unter Mittelwert der Normalverteilung) in die Lernfördergruppen aufgenommen, un-
2
abhängig vom zugrunde liegenden Intelligenzniveau. Genauere Angaben zur Stichprobe finden sich in Tabelle 1. In die Auswertungen gingen nur Kinder ein, von denen zu allen drei Messzeitpunkten Daten vorliegen, wodurch sich die LeFiS-Stichprobe auf 97 (50 Jungen, 47 Mädchen; 8;9 Jahre (SD = .475); IQ = 101 (SD = 12.351)) Kinder reduziert. Die Kontrollgruppe (n = 72, 42 Jungen, 30 Mädchen; 8;8 Jahre (SD = .496); IQ = 97 (SD = 11.694)) bestand aus Kindern aus der Stichprobe des kooperierenden multizentrischen Projektes RABE2, die nicht an der Förderung teilgenommen hatten, da sie aus einem anderen Standort des Projektes in Hessen kamen. Diese Kinder hatten ebenfalls Lese-Rechtschreibschwierigkeiten (T < 40) und wurden zu den gleichen Zeitpunkten mit den gleichen Messinstrumenten getestet, wie die LeFiS-Stichprobe. Anhand der Informationen einer Elternbefragung konnte ausgeschlossen werden, dass Kinder in die Kontrollgruppe aufgenommen wurden, die bis zum zweiten Messzeitpunkt eine außerschulische Lese-Rechtschreib-Förderung irgendeiner Art erhalten hatten. Allerdings liegen keine Angaben über innerschulische Fördermaßnahmen und zur Förderung im Laufe des darauf folgenden Schuljahres bis zum vierten Messzeitpunkt vor. Die Stichprobe der LeFiS-Gruppe und der Kontrollgruppe bestand jeweils aus Kindern mit isolierten Leseschwierigkeiten (leseschwach), Kindern mit isolierten Rechtschreibschwierigkeiten (schreibschwach) und Kindern mit kombinierten Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten (kombiniert schwach). Alle Kinder hatten zum ersten Messzeitpunkt unterdurchschnittliche Lese-und/oder Rechtschreibleistungen (T < 40), manche erfüllten auch das
Multizentrische Längsschnittstudie RABE «Differenzialdiagnostische Relevanz des Arbeitsgedächtnisses bei Kindern mit Lernstörungen» unter der Projektleitung von Hasselhorn, M., Büttner, G., Mähler, C., Grube, D., gefördert vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) im Rahmen des Forschungsverbundes «Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten».
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Lernen und Lernstörungen 2016; 5(1): 17 – 31
LeFiS-Lernförderung in Schulen
Testverfahren Die Datenerhebung erfolgte zu den drei Messzeitpunkten jeweils mittels folgender standardisierter Schulleistungstests als Gruppentestverfahren, welche von geschulten wissenschaftlichen Hilfskräften klassenweise durchgeführt wurden: Die Leseleistung wurde mit dem Leseverständnistest für Erst- bis Sechstklässler (ELFE 1 – 6; Lenhard & Schneider, 2006) erfasst und die Rechtschreibleistung mit den Formen 2+, 3+, 4+ des Weingartener Grundwort-
schatz Rechtschreib-Tests (Birkel, 2007a; Birkel 2007 b; Birkel 2007c). Die Intelligenz wurde nur zum ersten Messzeitpunkt mit dem Culture Fair Intelligence-Test (CFT 1; Cattell, Weiß & Osterland, 1997) erhoben. Angaben über bisherige Fördermaßnahmen wurden vor dem zweiten Messzeitpunkt schriftlich mittels eines Elternfragebogens erfasst.
Ergebnisse Ist die LeFiS-Förderung im innerschulischen Setting wirksam und hilft den Kindern ihre Lernschwierigkeiten zu überwinden? Im Folgenden wurde zunächst untersucht, ob die LeFiSFörderung wirksam war. Es wurde deshalb geprüft, ob innerhalb der LeFiS-Gruppe signifikant mehr Kinder a) ihre Leseschwäche und b) ihre Schreibschwäche überwinden konnten als in der Kontrollgruppe. Das Kriterium für die Überwindung der Lernschwäche war eine Leistungssteigerung um mindestens fünf T-Wert-Punkte, also eine halbe Standardabweichung, und eine Leistung, die zu Messzeitpunkt 3 im Durchschnittsbereich lag. Blieb ein Kind zu allen Messzeitpunkten mit seinen Leistungen im unterdurchschnittlichen Bereich, wird im Folgenden von persistierender Lernschwäche gesprochen. Die kombiniert schwachen Kinder wurden für diese Analysen in die Gruppen der isoliert schwachen Leser und Schreiber mit eingeschlossen. Die Berechnung erfolgte mit einem Chi2-VierfelderTest. Tabelle 2 zeigt die absoluten und prozentualen Häufigkeiten der Kinder mit überwundener und persistierender Lernschwäche im Lesen und im Schreiben. In der LeFiS-
Tabelle 2. Anzahl der Überwinder der Lernschwäche im Lesen und Schreiben zu Messzeitpunkt 3 im Vergleich zwischen LeFiS-Gruppe und Kontrollgruppe (KG) Lesen LeFiS n = 46
KG n = 50
Absolute Häufigkeit
Häufigkeit in %
Absolute Häufigkeit
Häufigkeit in %
Überwundene Lernschwäche
20
43.5 %
17
34.0 %
Persistierende Lernschwäche
26
56.5 %
33
66.0 %
Schreiben LeFiS n = 77
KG n = 57
Absolute Häufigkeit
Häufigkeit in %
Absolute Häufigkeit
Häufigkeit in %
Überwundene Lernschwäche
22
28.6 %
8
14.0 %
Persistierende Lernschwäche
55
71.4 %
49
86.0 %
Anmerkungen. n = Zahl der Probanden
Lernen und Lernstörungen 2016; 5(1): 17 – 31
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Fokus Forschung
doppelte Diskrepanzkriterium einer Lese-Rechtschreibstörung nach ICD-10 (zusätzlich 12 T-Wert-Punkte Diskrepanz zwischen Schulleistung und IQ). Die IQ-Unterschiede zwischen der LeFiS-Gruppe und der Kontrollgruppe sind nur im Fall der kombiniert schwachen Kinder signifikant (leseschwach: t(28) = –1.079, p = .145; schreibschwach: t(65) = 1.634, p = .053; kombiniert schwach: t(64) = 1.929, p = .029). Das Alter unterscheidet sich weder für die verschiedenen Interventionsgruppen (F(1,158) = 1.861, p = .174), noch für die Lernschwächegruppen (F(2,158) < 1). Auch die Interaktionseffekte zwischen Gruppen und Alter sind nicht signifikant (F (2,158) < 1), sodass für die untersuchten Untergruppen von keinem bedeutsamen Alterseffekt auszugehen ist. Ein Unterschied in der Verteilung der Geschlechter fand sich nur zwischen den Gruppen der kombiniert schwachen Kinder (leseschwach: Ȥ2 = .136, p = 1.000, schreibschwach: Ȥ2 = .098, p = .794, kombiniert schwach: Ȥ2 = .4.813, p = .047). Während in der LeFiS-Gruppe mehr Mädchen gefördert wurden, waren in der Kontrollgruppe mehr Jungen (s. Tabelle 1).
LeFiS-Lernförderung in Schulen
Fokus Forschung
Gruppe überwanden 9.5 % mehr der Kinder ihre Leseschwäche als in der Kontrollgruppe. Der Chi2-Test (Pearson) wurde nicht signifikant (Ȥ2 (1) = .909, p = .340). Der Unterschied zwischen den Gruppen ist also nicht statistisch relevant. Für die Kinder mit Schreibschwäche wurde der Chi2-Test (Pearson) dagegen signifikant (Ȥ2 (1) = 3.983, p = .046). Hier zeigte sich, dass in der LeFiS-Gruppe mehr als doppelt so viele Kinder die Schreibschwäche überwunden haben, als in der Kontrollgruppe. Der Einfluss der LeFiS-Förderung auf die Leistung zeigte sich folglich im Schreiben statistisch sehr viel deutlicher als im Lesen, wenn man die Überwindung der Schwäche als Kriterium ansetzt, obwohl die Leseschwäche in beiden Gruppen deutlich häufiger überwunden wurde. Profitieren Kinder mit isolierten und kombinierten Schwächen gleichermaßen von der LeFiS-Förderung? Nachdem die vorangegangenen Analysen zeigen, dass es einen Fördereffekt in der Gesamtgruppe der LeFiS-Kinder gibt, wurde untersucht, ob Kinder mit unterschiedlichen Voraussetzungen auch unterschiedlich stark von der Förderung profitierten. Dafür wurden in einem ersten Schritt die Leistungsmittelwerte (mittlere T-Werte (M) und Standardabweichungen (SD)) zu den drei Messzeitpunkten aus den Lese-bzw. Rechtschreibtests der LeFiSGruppe und der Kontrollgruppe einander gegenübergestellt. Im zweiten Schritt wurden dann zur Signifikanzprüfung der Unterschiede mehrfaktorielle Varianzanalysen mit Messwiederholung gerechnet. Bei Gruppenunterschieden in der Intelligenz wurde der IQ als Kovariate aufgenommen. Die Leistungen der isoliert und kombiniert schwachen Leser im Leseverständnistest ELFE 1 – 6 finden sich in Tabelle 3. Die Leistungsmittelwerte aller Kinder zeigten vergleichbare Leistungen für LeFiS- und Kontrollgruppe. Die Kinder mit isolierten Leseschwierigkeiten waren insgesamt etwas besser als die Kinder mit kombinierten Leseund Rechtschreibschwierigkeiten. Die Mittelwerte der kombiniert schwachen Kinder fielen in der LeFiS-Gruppe etwas höher aus als in der Kontrollgruppe. Die isoliert schwachen Leser beider Gruppen erreichten zum dritten Messzeitpunkt im Mittel mit ihren Leistungen den durchschnittlichen Bereich, die kombiniert schwachen Kinder blieben im Mittel unterdurchschnittlich. Mittels einer Kovarianzanalyse mit Messwiederholung im 3 × 2 × 2 Design (Messzeitpunkt (1/2/3), Intervention (LeFiS/Kontrollgruppe), Lernschwächegruppe (isolierte Leseschwäche/kombinierte Schwäche)) wurde überprüft, ob sich Kontrollgruppe und LeFiS-Gruppe hinsichtlich ihrer Leseleistung an den drei Messzeitpunkten unterscheiden und ob es dabei Unterschiede zwischen den Kindern mit isolierter und kombinierter Leseschwäche der beiden Gruppen gibt. Der IQ wurde als Kovariate aufgenommen 22
(siehe oben). Im Bereich des Lesens fand sich lediglich ein signifikanter Haupteffekt Lernschwäche (Lernschwächegruppe: F(1,91) = 5.099, p = .026, ѫp2 =.053; Messzeitpunkt: F(2,182) < 1; Intervention: (F(1,91) < 1). Die isoliert beeinträchtigten Kinder waren signifikant besser über alle Messzeitpunkte als die kombiniert schwachen Kinder unabhänTabelle 3. Mittelwerte im Lesen (ELFE) und Schreiben (WRT) zu den drei Messzeitpunkten im Vergleich zwischen LeFiS- und Kontrollgruppe (KG) isoliert leseschwache Kinder LeFiS (n = 15)
KG (n = 15)
M
SD
M
SD
Lesen 2. Klasse
36.63
3.63
36.60
2.82
Lesen 3. Klasse
38.39
6.47
38.65
5.80
Lesen 4. Klasse
42.45
5.97
42.57
5.29
kombiniert schwache Kinder LeFiS (n = 15)
KG (n = 15)
M
SD
M
SD
Lesen 2. Klasse
35.46
3.45
33.51
3.17
Lesen 3. Klasse
37.33
6.01
35.39
7.53
Lesen 4. Klasse
40.64
6.70
38.60
6.43
isoliert schreibschwache Kinder LeFiS (n = 15)
KG (n = 15)
M
SD
M
SD
Schreiben 2. Klasse
35.97
3.00
35.64
2.61
Schreiben 3. Klasse
39.72
5.35
41.23
7.54
Schreiben 4. Klasse
39.91
7.39
38.36
5.61
kombiniert schwache Kinder LeFiS (n = 15)
KG (n = 15)
M
SD
M
SD
Schreiben 2. Klasse
35.64
3.23
34.89
3.47
Schreiben 3. Klasse
36.97
7.53
34.11
7.62
Schreiben 4. Klasse
37.19
6.22
31.91
5.36
Anmerkungen. n = Zahl der Probanden; M = Mittelwert; SD = Standardabweichung
Lernen und Lernstörungen 2016; 5(1): 17 – 31
gig von der Intervention. Die verschiedenen Interaktionen wurden nicht signifikant (Messzeitpunkt × Intervention: F(2,184) < 1; Messzeitpunkt × Schwächegruppe: F(2,182) < 1; Intervention × Schwächegruppe: F(1,91) < 1; Messzeitpunkt × IQ: (F(2,182) < 1; Messzeitpunkt × Intervention × Schwächegruppe: F(2,184) < 1). Die Intervention zeigte zu keinem Messzeitpunkt einen Effekt auf die Leseleistung, sowohl bei den isoliert leseschwachen, als auch bei den kombiniert schwachen Kindern. Die Leistungen der isoliert und kombiniert schwachen Schreiber im Rechtschreibtest WRT (Formen 2+, 3+, 4+) finden sich in Tabelle 3. Wie beim Lesen zeigten wiederum die isoliert schwachen Schreiber beider Gruppen die durchgängig besseren Mittelwerte im Vergleich zu den kombiniert schwachen Kindern. Unterschiede zwischen LeFiS- und Kontrollgruppe zeigten sich im Leistungsanstieg vom ersten zum zweiten Messzeitpunkt. Während die LeFiS-Gruppe nach anfänglicher Leistungssteigerung ihr Niveau hielt, verschlechterte sich die Kontrollgruppe relativ zur Klassennorm nach einem ersten Leistungsanstieg wieder und war beim dritten Messzeitpunkt 1.55 TWert-Punkte schwächer als die LeFiS-Gruppe. Diese Tendenz zeigte sich bei den kombiniert schwachen Kinder noch deutlicher. Die LeFiS-Gruppe zeigte hier einen Leistungsanstieg vom ersten zum dritten Messzeitpunkt, wogegen die Werte der Kontrollgruppe in dieser Zeitspanne relativ zur Klassennorm kontinuierlich schwächer wurden und zum dritten Messzeitpunkt 5 T-Wert-Punkte unter denen der LeFiS-Gruppe lagen. Keine Gruppe erreichte zum dritten Messzeitpunkt Werte im Durchschnittsbereich (also T > 40). In der Kovarianzanalyse mit Messwiederholung im 3 × 2 × 2 Design wurden wie beim Lesen die Faktoren Messzeitpunkt (1/2/3), Intervention (LeFiS/Kontrollgruppe) und Lernschwächegruppe (isolierte Leseschwäche/kombinierte Schwäche) auf signifikante Unterschiede und Interaktionen untersucht. Die Intelligenz wurde wiederum als Kovariate aufgenommen. Die Ergebnisse zeigten über alle Gruppen und Messzeitpunkte hinweg einen marginal signifikanten Effekt der Intervention (Intervention: F(1,128) = 3.681, p = .057, ѫp2 = .028; Messzeitpunkt: F(2,256) = 1.023, p = .361, ѫp2 =.008). Außerdem bestand über alle Messzeitpunkte ein Unterschied in der Leistungsentwicklung zwischen den isoliert schreibschwachen und den kombiniert schwachen Kindern unabhängig von der Intervention (Schwächegruppe: F(1,128) = 20.422, p = .000, ѫp2 = .138). Weiterhin unterschied sich die Leistung der Interventionsgruppen differentiell zu den unterschiedlichen Messzeitpunkten, die Intervention zeigte also bedeutsame Wirkung (Messzeitpunkt × Intervention: F(2,256) = 3.079, p = .048, ѫp2 = .023). Es wurde deutlich, dass sich die isoliert und die kombiniert schwachen Kinder zu den unterschiedlichen Messzeitpunkten Lernen und Lernstörungen 2016; 5(1): 17 – 31
unterschiedlich entwickelten unabhängig von der Intervention (Messzeitpunkt x Schwächegruppe: F(2,256) = 8.316, p =.000, ѫp2 =.061), dass aber zusätzlich die Intervention auf die isoliert und kombiniert schwachen Kinder einen unterschiedlichen Einfluss hatte (Intervention × Schwächegruppe: F(1,128) = 3.995, p = .048, ѫp2 = .030). Die Interaktion zwischen Messzeitpunkt × Intervention × Schwächegruppe wurde nicht signifikant (F(2,256) = 2.160, p = .117, ѫp2 = .017). Zur Spezifikation der Interaktionseffekte zwischen Messzeitpunkt und Lernschwächegruppe wurden mithilfe von Post hoc t-Tests die Veränderungswerte des frühen und späten Förderabschnitts der isoliert schwachen mit denen der kombiniert schwachen Kinder beider Interventionsgruppen verglichen. So konnte geklärt werden, zu welchem Zeitpunkt die isoliert und kombiniert schwachen Kinder sich genau unterschieden. Der «frühe Veränderungswert» (nach einem Jahr) wurde als Differenz zwischen dem Leistungswert zu Messzeitpunkt 2 und dem Leistungswert zu MZP 1 definiert, der «späte Veränderungswert» (nach zwei Jahren) als Differenz zwischen der Leistung zum dritten und der Leistung zum zweiten Messzeitpunkt (früher Veränderungswert: LeFiS (isoliert vs. kombiniert): t (75) = 1.665, p = .05, KG (isoliert vs. kombiniert): t (55) = 3.220, p <.001; später Veränderungswert: LeFiS (isoliert vs. kombiniert): t (75) = –0.19, p = .49, KG (isoliert vs. kombiniert): t (55) = –.377, p = .35). Die wesentlichen Unterschiede zwischen den isoliert und kombiniert schwachen Kindern fanden sich im frühen Förderabschnitt, sowohl für die Kontroll- als auch für die LeFiS-Gruppe. In der LeFiS-Gruppe verbesserten sich isoliert und kombiniert schwache Kinder, die isoliert schwachen jedoch stärker. In der Kontrollgruppe verbesserten sich die isoliert schwachen Kinder ebenfalls, die kombiniert schwachen jedoch verschlechterten sich deutlich. Da es sich um normierte Werte handelt, ist dieses Absinken der Leistungswerte wiederum nur relativ zu den Leistungen der Klassenstufe zu beurteilen. Diese Tendenzen blieben im späten Förderabschnitt bestehen. Durch die Intervention scheint in der LeFiS-Gruppe die in der Kontrollgruppe beobachtete relative Verschlechterung bei den geförderten kombiniert schwachen Kindern aufgehalten worden zu sein, wobei die oben genannten beobachteten Effektgrößen nach Cohen (1988) nicht als groß zu beurteilen sind. Sprechen Kinder mit und ohne Diskrepanz zwischen Schulleistung und IQ unterschiedlich auf die LeFiSFörderung an? Aufgrund der Diskussionen um das Diskrepanzkriterium interessierte im Folgenden, ob Kinder mit Lernstörung und Lernschwäche gleichermaßen von der LeFiS-Förderung profitierten. In Tabelle 4 finden sich die deskriptiven 23
Fokus Forschung
LeFiS-Lernförderung in Schulen
LeFiS-Lernförderung in Schulen
Ergebnisse beider Gruppen (Lernstörung: Lese-/SchreibLeistung T < 40 & 12 T-Wert-Punkte Diskrepanz zum IQ; Lernschwäche: Lese-/Schreib-Leistung T < 40) im Ver-
Tabelle 4. Mittelwerte im Lesen und Schreiben (ELFE & WRT) der schwachen Leser und Schreiber aus LeFiS- & Kontrollgruppe (KG); Vergleich zw. Lernschwäche & -Störung Leseschwäche LeFiS (n = 21)
KG (n = 22)
M
SD
M
SD
Lesen 2. Klasse
36.93
2.11
34.91
2.91
Lesen 3. Klasse
39.92
4.13
37.16
7.11
Lesen 4. Klasse
41.57
4.97
40.24
7.00
Lesestörung
Fokus Forschung
LeFiS (n = 25)
KG (n = 28)
M
SD
M
SD
Lesen 2. Klasse
34.93
4.18
34.07
3.68
Lesen 3. Klasse
35.79
6.90
35.74
7.27
Lesen 4. Klasse
40.94
7.59
39.44
5.86
Schreibschwäche LeFiS (n = 15)
KG (n = 15)
M
SD
M
SD
Schreiben 2. Klasse
37.32
2.34
36.96
2.47
Schreiben 3. Klasse
39.00
6.81
38.11
7.72
Schreiben 4. Klasse
40.59
7.17
35.11
5.65
Schreibstörung LeFiS (n = 15)
KG (n = 15)
M
SD
M
SD
Schreiben 2. Klasse
34.67
3.10
33.41
2.78
Schreiben 3. Klasse
38.30
6.16
35.69
8.90
Schreiben 4. Klasse
37.41
6.66
34.10
6.67
Anmerkungen. n = Zahl der Probanden; M = Mittelwert; SD = Standardabweichung; Kriterium für Schwäche: T < 40; Kriterium für Störung: T < 40 & 12T-Wert Punkte Diskrepanz zwischen IQ und Schulleistung
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gleich zwischen der LeFiS-Gruppe und der Kontrollgruppe. Für diese Analysen wurden die isoliert und kombiniert schwachen Kinder nicht separat betrachtet, sondern alle schwachen Leser bzw. schwachen Schreiber hinsichtlich des Kriteriums Störung oder Schwäche verglichen. Kinder, die sowohl im Lesen als auch im Schreiben unterdurchschnittliche Leistungen zeigten, wurden der Kategorie Störung zugeteilt, wenn in mindestens einem der beiden Leistungsbereiche 12 T-Wertpunkte Diskrepanz zum IQ vorlagen. Wie in Tabelle 4 zu sehen ist, zeigten die Kinder mit Leseschwäche unabhängig von der Intervention vom ersten zum zweiten Messzeitpunkt einen Leistungsanstieg im Lesen, die der Kinder mit Lesestörung dagegen erst vom zweiten zum dritten Messzeitpunkt. Alle Gruppen außer den Kindern mit Lesestörung der Kontrollgruppe erreichten zum dritten Messzeitpunkt knapp den durchschnittlichen Bereich. In die Varianzanalyse mit Messwiederholung im 3 × 2 × 2 Design gingen die Faktoren Messzeitpunkt (1/2/3), Intervention (LeFiS/Kontrollgruppe) und Störung/Schwäche ein. Es zeigte sich, dass die Leseleistung aller Gruppen über die Messzeitpunkte hinweg zunahm. (Messzeitpunkt: F(2,184) = 47.567, p = .000, ѫp2 = .341). Ein Einfluss oder Unterschied durch Förderung oder Diskrepanz zum IQ wurde nicht deutlich und es zeigten sich keine signifikanten Interaktionen (Intervention: F(1,92) = 2.133, p = .148, ѫp2 = .023; Störung/Schwäche: F(1,92) = 2.842, p = .095, ѫp2 = .030; Messzeitpunkt × Intervention (F(2,184) < 1; Messzeitpunkt × Störung/Schwäche: F(1,184) = 1.781, p=.171, ѫp2 = .019; Intervention × Störung/Schwäche (F(1,92) < 1; Messzeitpunkt × Intervention × Störung/Schwäche: F(2,184) < 1). Das Analysevorgehen im Bereich des Schreibens war analog zu dem beim Lesen. Tabelle 4 zeigt die deskriptiven Statistiken der schwachen Schreiber von Kontrollgruppe und LeFiS-Gruppe. Der Vergleich zwischen Kindern mit Störung und Schwäche zeigte einige Unterschiede. Die LeFiS-Kinder mit Schreibschwäche hatten höhere Ausgangswerte als die anderen Gruppen und zeigten einen kontinuierlicheren Leistungsanstieg. Die LeFiS-Kinder mit Schreibstörung hatten zunächst ebenfalls einen deutlichen Leistungszuwachs, wurden dann allerdings wieder etwas schwächer. In der Kontrollgruppe zeigten Kinder mit Schreibstörung und -Schwäche jeweils zunächst einen Leistungszuwachs, konnten diesen allerdings nicht halten und hatten kaum bessere bzw. Kinder mit Schreibschwäche sogar niedrigere Werte als zu Beginn, wobei dieser Leistungsabfall aufgrund der Normierung wie oben beschrieben relativ zur Klassenorm zu sehen ist. Zwischen LeFiS- und Kontrollgruppenkindern mit Schreibschwäche liegen zum Ende der Förderung mehr als 5 T-Wert Punkte, zwischen den Kindern mit Störung mehr als 3 T-Wert Punkte. Lernen und Lernstörungen 2016; 5(1): 17 – 31
In der folgend berechneten Varianzanalyse wurde ein Kind aufgrund fehlender Angaben zur Intelligenz ausgeschlossen. Es fanden sich signifikante Haupteffekte für alle Faktoren: Die Leistung veränderte sich über die Messzeitpunkte unabhängig von Gruppenzugehörigkeit und Intervention (Messzeitpunkt: F(2,258) = 7.038, p = .001, ݅p2 =.052). Es zeigten sich signifikante Unterschiede zwischen den Leistungen der beiden Interventionsgruppen (Intervention: F(1,129) = 8.543, p = .004, ݅p2 =.062) und ebenfalls in der Leistungsentwicklung je nach Schwäche oder Störung (Störung/Schwäche: F(1,129) = 8.035, p = .005, ݅p2 =.059). Weiterhin unterschied sich die Leistung der Interventionsgruppen differentiell zu den unterschiedlichen Messzeitpunkten, die Intervention zeigte also bedeutsame Wirkung (Messzeitpunkt × Intervention: F(2,258) = 5.088, p =.007, ݅p2 = .038; Messzeitpunkt × Störung/Schwäche (F(2,258) < 1; Intervention × Störung/Schwäche: F(1,129) < 1; Messzeitpunkt × Intervention × Störung/Schwäche: F(2,258) = 1.543, p =.216, ݅p2 = .012). Im Vergleich der Veränderungswerte der Kinder mit Schreibschwäche der Kontrollgruppe und der LeFiS-Gruppe zur Spezifikation des Interaktionseffekts zwischen Messzeitpunkt und Intervention, zeigte sich ein signifikanter Unterschied nur im späten Förderabschnitt (post hoc tTest: Schreibschwäche früher Veränderungswert, KG vs. LeFiS: t (59) = .300, p = .383; Schreibschwäche später Veränderungswert, KG vs. LeFiS: t (59) = 2.880, p = .003). Die geförderten schreibschwachen Kinder zeigten in diesem Zeitraum einen weiteren Leistungsanstieg, während die Kinder der Kontrollgruppe sich (relativ zur Klassenstufe) deutlich verschlechterten. Die Leistungsentwicklung der Kinder mit Schreibstörung unterschied sich zu keinem Förderzeitpunkt signifikant zwischen Kontrollgruppe und LeFiS-Gruppe. In beiden Gruppen verschlechterte sich die Leistung der Kinder vom zweiten zum dritten Messzeitpunkt (Schreibstörung, früher Veränderungswert, KG vs. LeFiS: t (70) = .782 p = .219; später Veränderungswert, KG vs. LeFiS: t (70) = .426, p = .336), wobei der Abstand zwischen den Gruppen sich deskriptiv deutlich vergrößerte.
Diskussion Aus den Ergebnissen lassen sich folgende zentrale Erkenntnisse ableiten: Die LeFiS-Förderung hat im Vergleich zur Kontrollgruppe Wirkung gezeigt, allerdings nur in Bezug auf die Schreibleistung (Effekte nach Cohen (1988) im kleinen bis mittleren Bereich). In der LeFiS-Fördergruppe lag der prozentuale Anteil der Kinder, die ihre Schreibschwäche überwinden konnten, doppelt so hoch wie in der Kontrollgruppe. Auch die Leseschwäche überwanden prozentual mehr geförderte Kinder, doch dieser Unterschied ist nicht statistisch relevant, da auch die Kontrollgruppe sich im Lesen verbesserte. Trotz der positiven Wirkung der Lernen und Lernstörungen 2016; 5(1): 17 – 31
Förderung im Schreiben muss man jedoch festhalten, dass im Lesen über die Hälfte und im Schreiben über zwei Drittel aller untersuchten Kinder auch nach zwei Jahren Förderung noch Leistungsmittelwerte im unterdurchschnittlichen Bereich hatten. Kinder mit isolierten und kombinierten Schwächen profitierten in unterschiedlichem Maß von der LeFiS-Förderung. Es wurde deutlich, dass sowohl im Lesen als auch im Schreiben kombiniert beeinträchtigte Kinder größere Schwierigkeiten hatten als isoliert schwache Kinder. Sie zeigten von vornherein schwächere Leistungen und konnten sich unabhängig von der Intervention in der Grundschulzeit weniger stark verbessern, so dass sie am Ende der vierten Klasse im Lesen nur sehr knapp und im Schreiben nicht den durchschnittlichen Bereich erreichten. Hinsichtlich der Frage, welche Kinder spezifisch von der LeFiS-Förderung profitieren konnten, fanden sich hauptsächlich Unterschiede im Schreiben. Während sich ungeförderte Kinder mit kombinierter Schwäche im Schreiben kontinuierlich ab dem zweiten Schuljahr verschlechterten und den Anschluss an ihre Kohorte verloren, konnten die geförderten Kinder ihren anfänglichen Leistungszuwachs und damit ihr wenn auch unterdurchschnittliches, Niveau im Schreiben in der vierten Klasse halten. Die LeFiS-Förderung scheint also den drohenden Leistungsabfall aufzuhalten, wobei auch dieser Effekt nicht sehr stark ausgeprägt war. Die isoliert schwachen Schreiber schienen sich tendenziell ebenfalls durch die Förderung zu verbessern, dies wird jedoch wegen des geringeren Unterschieds zur Leistung der Kontrollgruppe nicht statistisch relevant. An diesen Ergebnissen wird auch die Bedeutung der Dauer der Förderung deutlich. Besonders im zweiten Jahr der Förderung konnten die Kinder mit Schreibschwäche von der Förderung profitieren. Es ist also nicht mit kurzfristigen Erfolgen zu rechnen und insofern sollten Maßnahmen mit ausreichender Dauer geplant werden. Kinder mit Lernstörung und solche mit Lernschwäche sprachen unterschiedlich auf die LeFiS-Förderung an. Generell wurde deutlich, dass Kinder mit Lernstörung im Lesen und im Schreiben unabhängig von der Intervention zu jedem Messzeitpunkt schwächere Leistungen zeigten, als Kinder mit Lernschwäche. Für die Leseleistung fand sich kein Unterschied zwischen den Gruppen durch die Förderung. Ein Einfluss der LeFiS-Förderung zeigte sich am deutlichsten bei den LeFiS-Kindern mit Schreibschwäche. Im Gegensatz zu den ungeförderten Kindern und den geförderten mit Schreibstörung zeigten sie einen Leistungszuwachs über den gesamten Förderzeitraum, während bei allen anderen ein relativer Leistungsabfall in der zweiten Hälfte des Förderzeitraums zu beobachten war. Hier zeigte sich vermutlich, dass die Schwere der Beeinträchtigung ausschlaggebend für den Fördererfolg ist, wobei bei den Kindern mit Störung die Schwierigkeiten besonders ausgeprägt auftraten. Wie auch bei den kombiniert beeinträchtigten Kin25
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LeFiS-Lernförderung in Schulen
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dern wurde hier deutlich: Je ausgeprägter die Schreibschwierigkeiten eines Kindes waren, desto schwerer waren sie zu überwinden. Diese Kinder müssten nach dem RTIAnsatz die dritte Stufe der Förderung in Anspruch nehmen, bei der in intensiver Einzelförderung individuell und langfristig auf ihre Schwierigkeiten eingegangen würde. Aufgrund der Ergebnisse könnte man meinen, dass die LeFiS-Förderung entgegen bisheriger Befunde beim Schreiben besser gewirkt habe als beim Lesen, obwohl Schreibschwierigkeiten sonst stärker persistent sind (Landerl & Wimmer, 2008). Die Förderung führte jedoch bei vielen schwachen Schreibern nicht zur Überwindung der Lernstörung, sondern verhinderte nur ein weiteres Absinken der Leistung. Die schwachen Leser dagegen konnten auch ohne intensive lerntherapeutische Unterstützung in den durchschnittlichen Bereich gelangen. Es ist möglich, dass das Lesen sich leichter trainieren lässt, weshalb evtl. stattgefundene schulinterne Unterstützung (z. B. Förderunterricht) in der Kontrollgruppe den gleichen Effekt gehabt haben könnte wie die LeFiS-Förderung. Im Schreiben dagegen ist intensivere Therapie nötig, um Defizite zu überwinden, weshalb hier die Effekte statistisch stärker auffielen. Des Weiteren war die Stichprobe der Kinder mit isolierten Leseschwierigkeiten deutlich kleiner, als die im Schreiben und in der kombinierten Beeinträchtigung. Es war somit schwerer, statistisch relevante Effekte der LeFiS-Förderung im Lesen aufzudecken. Zwar zeigt die vorliegende Interventionsstudie nur geringe bis mittlere Effekte (nach Cohen, 1988), allerdings wurden im Gegensatz zu vielen anderen Interventionsstudien tatsächlich nur Kinder gefördert, deren Leistung Ende der zweiten Klasse im unterdurchschnittlichen Bereich lagen. Nach Ise et al. (2012) wählen die meisten Studien, die sich mit Lernschwächen und deren Förderung auseinandersetzen, das schwächste Viertel oder die schwächsten 50 % der Kinder, um eine ausreichende Stichprobengröße zu erlangen. Somit bildet die vorliegende LeFiS-Studie die Realität der Zielgruppe für Förderkonzepte besser ab und zeigt, wie schwer es bei so gravierender Beeinträchtigung ist Fördererfolge zu haben, die bei den Kindern zu altersgemäßen Leistungen führen. Nach Aussagen der Lehrer und Lerntherapeuten, die die Kinder der LeFiS-Förderung zwei Jahre lang begleitet haben, sind jedoch auch viele Kinder in ihrem schulischen Selbstbewusstsein gestärkt aus der Förderung hervor gegangen, was ebenfalls ein nicht zu unterschätzender präventiver Einfluss eines Förderkonzepts sein kann. Diesen Faktor in weiteren Studien mit zu erfassen, wäre wichtig. Einschränkungen der vorliegenden Studie liegen zum einen in der schwierigen Kontrollierbarkeit der Umsetzung der Therapie in den einzelnen Schulen durch die unterschiedlichen Therapeuten. Auf Grund der sehr kleinen Gruppengröße pro Therapeut und Therapiekonzept war es 26
leider nicht möglich, detaillierter auf die unterschiedliche Wirkung dieser Faktoren einzugehen, auch wenn dies für die Interpretation der Ergebnisse sehr hilfreich gewesen wäre. Interessant wäre in weiteren Untersuchungen die Effektivität von unterschiedlichen lerntherapeutischen Ansätzen im schulischen Kleingruppenkontext zu prüfen. Außerdem ergeben sich Einschränkungen bei der Interpretation der vorliegenden Ergebnisse aus den Bedingungen der Kontrollgruppe, welche u. a. durch andere Bildungspläne (Hessen), andere Materialien und unterschiedliche Lehr-Lernformen einen genauen Vergleich und kausale Interpretationen erschweren. Es ist möglich, dass die gefundene Wirkung der LeFiS-Förderung im Vergleich mit einer spezifischer abgestimmten Kontrollgruppe noch deutlicher ausfallen könnte. Eine Follow-Up-Messung war im Rahmen dieses Projekts nicht zu realisieren, wäre aber dennoch wünschenswert, um Aussagen über die langfristige Wirkung der Intervention treffen zu können. Aufgrund der problematischen Kontrollgruppe und der niedrigen Effektstärken geben die Ergebnisse dieser Studie im Sinne einer Pilotstudie Hinweise auf eine Wirksamkeit der Förderung, die in zukünftigen Studien noch vertieft untersucht werden sollte. Ausblick Professionelle Lerntherapie innerhalb der Schule in Kleingruppen ist für einen Teil der Schüler effektiv und kann Lehrer entlasten (s. Ricken, 2014), aber gerade bei besonders schwerwiegenden Problemen ersetzt sie keine Einzeltherapie. Ganz im Sinne des RTI-Ansatzes ist es folglich von großer Wichtigkeit, zusätzlich zur schulischen Kleingruppenförderung weiterhin Einzellerntherapie anzubieten.
Zusammenfassung Die vorliegende Feldstudie untersucht die Wirksamkeit einer innerschulischen lerntherapeutischen Fördermaßnahme (genannt «LeFiS – Lernförderung in Schulen») bei Lese-Rechtschreibschwierigkeiten. Es handelt sich um ein Modellprojekt des Jugendamtes Hildesheim, welches durch das psychologische Institut der Universität Hildesheim wissenschaftlich begleitet wurde. Den Anlass für dieses Projekt bilden aktuelle Gesetzesänderungen zur inklusiven Schule, die das Ziel haben, dass der Unterricht sich nach dem individuellen Entwicklungsstand des Kindes und dessen Lernerfolgen und -problemen richtet. Dies impliziert sowohl diagnostische Maßnahmen, als auch die Möglichkeit einer schulinternen Förderung für leistungsschwächere Kinder. Das LeFiS-Projekt nimmt diese Forderungen auf und orientiert sich in seiner Förderumsetzung am response-to-intervention-Modells (RTI). 97 Kinder mit isolierten Lese- und/oder Rechtschreibschwierigkeiten wurden von professionellen Lerntherapeuten gefördert. Lernen und Lernstörungen 2016; 5(1): 17 – 31
Während des dritten und vierten Schuljahres bekamen sie an zwei Schulstunden pro Woche in Kleingruppen Lerntherapie. Die Kontrollgruppe umfasste 72 Kinder, die nicht an der LeFiS-Förderung teilnahmen. Es zeigte sich, dass die geförderten Kinder besonders im Schreiben Vorteile gegenüber der Kontrollgruppe hatten. Insgesamt konnten mehr als doppelt so viele Kinder der LeFiS-Fördergruppe ihre Rechtschreibschwäche überwinden als in der Kontrollgruppe. Am deutlichsten fiel dieses Ergebnis für die Kinder mit kombinierten Schwierigkeiten im Lesen und Schreiben aus. Ein Unterschied zwischen Kindern mit Lernstörung (gemäß ICD-10) und Lernschwäche wurde ebenfalls deutlich. Nur Kinder mit Lernschwäche ohne Diskrepanz zum IQ profitierten von der LeFiS-Intervention. Im Lesen konnten keine deutlichen Einflüsse der Förderung festgestellt werden. Die Ergebnisse werden vor dem Hintergrund des RTI-Ansatzes diskutiert und die Studie in ihren Einschränkungen und ihrer Bedeutung für zukünftige Fördermaßnahmen im inklusiven Schulunterricht dargestellt.
Implikationen für die Praxis Lese-Rechtschreibschwierigkeiten betreffen 4 – 6 % der deutschen Schüler. Sie sind eine Belastung für die betroffenen Kinder und deren Familien und eine Herausforderung für die Lehrkräfte. Die Anforderungen, die der Beschluss der Kultusministerkonferenz zum inklusiven Unterricht an die Schulen stellt, beinhalten das Ziel, dass der Unterricht sich nach dem individuellen Entwicklungsstand des Kindes und dessen Lernerfolgen und -problemen richten soll. Dies impliziert sowohl diagnostische Maßnahmen, als auch die Möglichkeit einer schulinternen Förderung für leistungsschwächere Kinder. Das LeFiS-Projekt (Lernförderung in Schulen) gibt im Sinne einer Pilotstudie ein Beispiel, wie eine solche schulinterne Förderung angelehnt an das Response-to-Intervention-Modell mit Hilfe von Lerntherapeuten aussehen könnte, es zeigt aber auch die Grenzen eines solchen Konzepts auf. Aus den Erfahrungen und Ergebnissen des LeFiS-Projekts ergeben sich folgende für die Praxis relevanten Punkte: Diagnostik: Im Rahmen des LeFiS-Projekts wurde die Diagnostik durch die wissenschaftliche Begleitung geleistet. Um eine solche Förderung jedoch langfristig zu installieren, muss der diagnostische Auftrag anders vergeben werden. Es müssten beispielsweise in der Schule Testverfahren vorhanden sein, die Lehrern oder Lerntherapeuten eine verlässliche Gruppendiagnostik, sowie die regelmäßige Effektkontrolle der Lerntherapie ermöglichen. Zudem müssten Lehrpersonen in der
Lernen und Lernstörungen 2016; 5(1): 17 – 31
Durchführung, Auswertung und Interpretation diagnostischer Testverfahren geschult werden. Rahmenbedingungen der Förderung: Die lese-rechtschreibschwachen Kinder wurden in Kleingruppen von vier bis neun Schülern gefördert, wobei eine Gruppengröße von drei bis fünf Kindern von den Lerntherapeuten als wünschenswert empfunden wurde. Die Ergebnisse der vorliegenden Studie lassen dabei nicht den Schluss zu, dass Kinder mit Lernschwäche die Förderung weniger bräuchten, als solche mit Lernstörung. Es zeigt sich eher im Gegenteil, dass eine schulinterne Kleingruppenförderung gerade für Kinder mit weniger gravierender Lernschwäche hilfreich sein kann, wogegen die Kinder mit Lernstörung zu wenig profitieren und eher eine Einzelförderung bräuchten. Zeitpunkt und Dauer der Förderung: Der Zeitpunkt des Förderbeginns sollte so früh wie möglich gewählt werden, da sich zu Beginn des dritten Schuljahres die Schwierigkeiten bereits gefestigt haben und der Rückstand schwerer aufzuholen ist. Dies gilt nach den Ergebnissen der vorliegenden Studie insbesondere für Schwierigkeiten im Schreiben. Außerdem zeigte sich in den Ergebnissen die Bedeutung der Dauer der Förderung. Besonders im zweiten Jahr der Förderung konnten die Kinder mit Schreibschwäche von der Förderung profitieren, wogegen sie ohne Förderung in dieser Zeit den Anschluss an das Niveau ihrer Klassenstufe verloren. Es ist daher nicht mit kurzfristigen Erfolgen zu rechnen, insofern sollten Maßnahmen mit ausreichender Dauer geplant werden. Einzelförderung als Option: Ein wesentliches Ergebnis des LeFiS-Projektes war jedoch auch, dass schulinterne Kleingruppenförderung bei gravierenden LeseRechtschreibschwierigkeiten nicht ausreichend Unterstützung bieten kann. Eine Einzelförderung nach einer Zeit der Gruppenförderung im Sinne des RTI-Ansatzes muss als Option verfügbar sein. Dabei sollte die Schwelle für eine solche Unterstützung gesenkt werden (z. B. in finanzieller Hinsicht). Hilfe sollte gewährt werden, bevor sekundäre psychische Begleitstörungen das Kind beeinträchtigen. Insgesamt können die Ergebnisse der vorliegenden Studie im Sinne einer Pilotstudie zeigen, dass eine innerschulische Lernförderung durch externe Lerntherapeuten ein vielversprechendes weiter zu erforschendes Modell gegenüber der üblichen schulinternen Förderung sein kann, wobei die Rahmenbedingungen noch zu überarbeiten sind. Ziel sollte weiterhin sein, jedem Kind in der Schule von Anfang an die Unterstützung zu geben, die es braucht, um seine Schriftsprachfertigkeiten angemessen zu entwickeln.
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LeFiS-Lernförderung in Schulen
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Forschungsmethoden Kontrollgruppe: Die Ergebnisse einer geförderten Gruppe von Kindern sind immer nur interpretierbar im Kontext mit einer Kontrollgruppe, also einer Gruppe von Kindern, die nicht gefördert wurden, aber in allen anderen relevanten Merkmalen den Kindern der Fördergruppe gleichen. Im Vergleich dieser beiden Gruppen wird ersichtlich, welche der eingetretenen Verbesserungen auf die Förderung zurück zu führen sind und welche durch bei allen Kindern stattfindende Entwicklungsprozesse oder Beschulung auftreten. Nur wenn die geförderten Kinder sich gegenüber den ungeförderten signifikant (also statistisch bedeutsam) verbessern, kann von Interventionseffekten ausgegangen werden. Im Fall der LeFiS-Studie wurde eine Kontrollgruppe von Kindern mit Lese-Rechtschreibschwierigkeiten benötigt, die hinsichtlich Geschlecht, Intelligenz und Alter der Fördergruppe ähnelte und keine Lerntherapie erhielt. Dies war insofern schwierig, als die meisten Kinder mit Schwierigkeiten natürlich innerschulische oder außerschulische Unterstützung erhalten (Förderunterricht, Nachhilfe, Lerntherapie). Es wurden deshalb nur Kinder in die Kontrollgruppe aufgenommen, die laut Aussage der Eltern bis zum Ende des dritten Schuljahres keine professionelle Lerntherapie erhalten hatten. Dabei lagen keine Angaben darüber vor, inwieweit innerhalb der Schulzeit Förderung durchgeführt wurde. Aus projektorganisatorischen Gründen kamen die Kinder der Kontrollgruppe allerdings aus hessischen Schulen, woraus sich Einschränkungen bei der Interpretation der Ergebnisse ergeben. Andere Bildungspläne und Materialien erschweren einen genauen Vergleich. Es ist möglich, dass die gefundene Wirkung der LeFiS-Förderung im Vergleich mit einer spezifischer abgestimmten Kontrollgruppe noch deutlicher ausfallen könnte. Leistungserfassung: Die Leistungen der geförderten und ungeförderten Kinder wurden mittels standardisierter Schulleistungstests erfasst, deren Ergebnis in normierten Werten vorliegt. Dies bedeutet, dass sich keine absolute intraindividuelle Leistungssteigerung einer Gruppe an den dargestellten Leistungsmittelwerten ablesen lässt, sondern immer nur die Leistung der Kinder in Relation zur mittleren Leistung der Klassenstufe. Wenn also die Mittelwerte von einem Messzeitpunkt zum nächsten eine Verschlechterung zeigen, bedeutet dies, dass der Abstand zwischen den leserechtschreibschwachen Kindern und den mittleren Leistungen anderer Kinder ihrer Klassenstufe größer
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wird. Dies nennt sich Schereneffekt. Ziel der Intervention ist es, dass die geförderte Gruppe sich soweit verbessert, dass sie zu den mittleren Leistungen der Klassenstufe aufschließt und damit ihre Lernschwäche überwindet. Eine Überwindung der Lernstörung wird in der vorliegenden Studie mit einem relativ strengen Kriterium definiert. Ein Kind muss dafür nicht nur mit seiner Leistung in den durchschnittlichen Bereich kommen, also einen T-Wert größer 40 erreichen, sondern auch eine intraindividuelle Leistungssteigerung von fünf TWert Punkten, also einer halben Standardabweichung, zwischen dem ersten und dem dritten Messzeitpunkt zeigen. Für die Evaluation der LeFiS-Förderung wurden sowohl ein Prä- und ein Post-Test, als auch eine Verlaufsmessung durchgeführt. Auf diese Weise lassen sich nicht nur Gesamtfördereffekte an den Ergebnissen ablesen, sondern auch der Zeitpunkt der Fördererfolge näher eingrenzen und Aussagen über die Wirksamkeit der Förderung in bestimmten Phasen treffen. Eine FollowUp-Messung war im Rahmen dieses Projekts nicht zu realisieren, wäre aber dennoch wünschenswert, um Aussagen über die langfristige Wirkung der Intervention treffen zu können.
Extended abstract In-school intervention for children with difficulties in reading and writing through external learning therapists Background: A serious amount of all primary school children in Germany seems to have difficulties in basic reading and writing skills. German practitioners usually differentiate between children who are, on the one hand, poor learners, whose results in basic scholastic achievement tests in reading and spelling are very low (prevalence 4 – 6 %, Fischbach et al., 2013), and on the other hand, children with learning disorders according to ICD10 (WHO, 2005) (prevalence 2 – 4%, Fischbach et al., 2013). The ICD-10 classification implies that children with learning disorders do not only perform below average but also show a large discrepancy between their low achievement and their much higher intellectual ability. This IQ-discrepancy criterion is controversial because poor learners do not differ from children with learning disorders in symptomatic, cognitive deficits, social-emotional consequences and therapeutic responsiveness (e. g. Mähler & Schuchardt, 2011). Reading and writing difficulties and subsequent experiences of failure often result in mental illnesses such as Lernen und Lernstörungen 2016; 5(1): 17 – 31
anxiety and depression (Roth & Warnke, 2001). If there is no support for these children their school career and job history may be seriously impaired (Schulte-Körne & Remschmidt, 2003). Without an appropriate intervention, reading and writing difficulties persist in many cases until adulthood (Landerl & Wimmer, 2008). There are, however, many restrictions to appropriate support: There is no funding by the responsible authority, unless reading and writing difficulties are already severe and show the fullblown clinical picture of a learning disorder. Moreover intervention has to be in the child's leisure time and may lead to stigmatization. Because of new regulations in the context of inclusive learning, schools now have to reorganize classes to support each child in its own special and individual needs for learning. One model of intervention is the response-to-intervention-model (RTI), a treatment-oriented diagnostic process to provide early and systematic assistance for children with learning difficulties. The RTImodel starts with an early diagnostic screening for all children of one class. Those who show difficulties, although they attend to regular classroom instruction, receive intervention in small groups by teachers for special education or teaching therapists. If they do not respond to this intervention, the next step is individual therapy. Thus RTI prevents academic failure through early intervention, and children do not have to wait until they meet diagnostic criteria of learning disorders to be supported. Aims: In line with these RTI- ideas the LeFiS-project offers special support for children with difficulties in reading and writing (LeFiS stands for in-school intervention for children with reading and writing difficulties) and was developed by a team of the youth welfare office of Hildesheim and the Psychological Institute of the University of Hildesheim. The current study was designed to find out whether children benefit sufficiently from such an in-school intervention to overcome their reading and/or writing difficulties. Of further interest is whether children with isolated difficulties (either reading or writing problems) benefit in the same way from the intervention as children with combined difficulties (reading and writing) and whether there are differential effects for children with learning difficulties with or without IQ-achievement-discrepancy criterion (ICD10). Methods: The reading and spelling performances of all children were first tested with standardized German achievement tests, intellectual abilities were assessed by a nonverbal IQ-test. During the assessment period children of nine schools were at the end of 2nd grade. In the intervention group 97 children with isolated and combined reading and writing difficulties took part in the study, and the control group consisted of 72 children, who had the same difficulties but did not receive any intervention. Children in the control group were similar to the intervention group in age, gender and IQ, and they were tested at the Lernen und Lernstörungen 2016; 5(1): 17 – 31
same time with the same tests but in a cooperating project. The children of the intervention group were divided into small groups that received intensive support by a learning therapist two hours a week during the third and fourth year at school (a total amount of 60 hours of learning therapy). The intervention concepts and strategies of the therapists varied across the different schools. Results: The results of this study show advantages of the intervention group compared to the control group especially in writing. In total more than twice as many trained children compared to the control group could overcome their learning difficulties and achieve results in the average range. With regard to reading there were no significant results of the intervention because both groups could increase their reading performance. Independently from the intervention, findings show that children with combined difficulties achieve lower scores than children with isolated difficulties, and children with learning disorders show a lower performance than those without IQ-discrepancy. This study reveals a distinct influence of the intervention on children with combined difficulties in the second half of intervention time. While children of the control group with combined difficulties showed a declining performance over time compared to other children of the same grade, trained children could stabilize their primarily increased performance. Nevertheless, their performance did not achieve the average range. Children with isolated difficulties could also benefit from the intervention but their advantage was not statistically relevant. Furthermore a difference was found for children with and without IQ-discrepancy: only children with learning difficulties without discrepancy could benefit from the intervention. In line with the findings for the children with combined difficulties, this result shows: the worse the performance, the harder to overcome the difficulties, even with the help of intervention. Discussion: Concerning the intervention on reading performance no effects were found in this study. One reason for this might be the chosen reading test ELFE 1 – 6, which measures only reading comprehension and speed, but not the ability of reading aloud and precisely. It cannot be ruled out, that there are effects of intervention in these aspects, which did not show up. Looking at means of the intervention group in contrast to the control group, it is obvious, that both groups increase their performance in reading and writing. This shows one problem of the chosen control group. For organizational reasons children of the control group came from Hessen, another state in Germany. The children of the control group did not receive any external learning therapy (this was recorded), but it is possible that these children were supported in school by their teachers. Therefore, the effects of LeFiS-intervention would be more obvious in contrast to control group, which surely had no extra support at all. In summary, it can be concluded that an in29
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school intervention like LeFiS is an effective way to support some children with reading and writing difficulties and it relieves parents and teachers. But especially children with severe difficulties and learning disorders cannot get along without individual therapy over a long time. It is of great importance to provide both, in-school group intervention as well as individual learning therapy in line with the RTI-model. Inclusive education is a challenge for all people involved, but if all participants show their readiness for new structures it can be a true enrichment. Taking the serious amount of children with reading and writing difficulties into account, it might also be necessary in the near future to plan interventions in line with RTI within the educational system from the very beginning. This seems to be the best possibility to prevent later academic failure. Keywords: dyslexia, learning disorders, learning therapy, RTI-model, inclusive education
Fokus Forschung
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Lernen und Lernstörungen 2016; 5(1): 17 – 31
LeFiS-Lernförderung in Schulen
Fokus Forschung
Christina Balke-Melcher Frau Dr. Dipl.-Psych. Christina BalkeMelcher studierte Psychologie an der Universität Göttingen. Seit 2010 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Abteilung für pädagogische Psychologie und Diagnostik der Universität Hildesheim und dort in der Hochschulambulanz für Kinder mit Lern- und Aufmerksamkeitsschwierigkeiten tätig. Sie promovierte zum Thema «Lernschwierigkeiten: Verlauf, Prävalenz und Intervention im Vor- und Grundschulalter» und ist in Ausbildung zur systemischen Therapeutin (DGSF) in Freiburg/Breisgau. christinabalke@web.de
Lernen und Lernstörungen 2016; 5(1): 17 – 31
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Kindliche Entwicklung und Entwicklung der Malerei
Bettina Egger
Urformen des Malens Spuren der Wandlung und kunsttherapeutische Anwendung 2015. 176 S., 175 Abb., 2 Tab., Kt € 24.95 / CHF 32.50 ISBN 978-3-456-85537-0
Bettina Egger
Urformen des Malens Spuren der Wandlung und kunsttherapeutische Anwendung
«Wie soll ich Kinderbilder verstehen?» ist eine Frage, die überall gestellt wird, wo Kinder leben oder in die Schule gehen. Hier wird vorschnellen psychologischen Interpretationen eine überzeugende Alternative gegenübergestellt. Die Entwicklung von der ersten Kritzelei bis zur Kastenform wird durch Urformen der Kindermalerei aufgezeigt und jede Urform genau erläutert. Die Abwicklung aller Urformen wird auf die entsprechenden Entwicklungsstadien des Kindes bezogen und mit Fotos eines Kindes in diesen Stadien illustriert. Dass Urformen allgemeingültig sind, wird über ihr Erscheinen in der bilden-
www.hogrefe.com
den Kunst und in prähistorischen Darstellungen gezeigt. Zum Schluss wird eine Maltherapie der Urformen vorgeschlagen, die zur Selbstbehandlung geeignet ist. Das Buch eignet sich sowohl zur Anregung und als Geschenk für Eltern als auch als überzeugende Information für professionelle Kinder- und Maltherapeuten.
Der Einsatz von Lernsoftware bei Lernstörungen
Der Einsatz von Lernsoftware bei Lernstörungen Gewinn und Verlust aus psychologischer Sicht
Digitale Medien nehmen im Alltag von Kindern und Jugendlichen einen großen Raum ein. Dies zeigen nicht zuletzt die Kim-Studie 2012 sowie die Jim-Studie 2013 vom medienpädagogischen Forschungsverbund Südwest. Eine überkritische Beurteilung solchen Verhaltens ist dabei nicht angebracht, denn Computerspiele und Lernsoftware zeigen aus entwicklungspsychologischer Sicht viele Gemeinsamkeiten mit herkömmlichen Spielen wie z. B. dass das Spiel völlig zweckfrei erfolgen kann, dass Bedingungen hergestellt werden, zu denen man normalerweise nicht in der Lage ist, sowie Wiederholungen und Rituale zur Vervollkommnung unterschiedlicher Fähigkeiten und Fertigkeiten. Zu überlegen ist daher, wie Lernsoftware auch in der therapeutischen Praxis integriert werden kann, um die Vorteile zu nutzen und Kinder und Jugendliche zu medienkompetenten Verhalten anzuleiten. Dazu werden zunächst zwei Bereiche, die Förderung metakognitiver Strategien und die Förderung des Lesens und Rechtschreibens in den Blick genommen. Nachdem eine kurze Einführung in die Klassifikation von Lernsoftware gegeben wurde, wird anhand dieser Problemfelder aufgezeigt, wie Lernprogramme hier eingesetzt werden können. Abschließend werden die Ergebnisse einer Online-Befragung zum Einsatz von Lernsoftware und PC in der therapeutischen Praxis geschildert. Neben einer eher positiven Einstellung zu digitalen Medien insgesamt zeigt sich, dass etwas mehr als die Hälfte der 41 Personen, die den Fragebogen vollständig ausgefüllt haben, bereits Lernsoftware einsetzt bzw. am PC arbeitet. In den meisten Fällen erfolgt ein solcher Einsatz jedoch eher kurz und zur Belohnung oder Motivation bzw. Auflockerung. Die Einschätzung der bisher genutzten Programme zur Förderung von Kompetenzen ist unterschiedlich; ein wichtiger Punkt scheint jedoch zu sein, dass Lernsoftware die Therapeutin bzw. den Therapeuten nicht ersetzen kann, da vor allem Kommunikation und der Kontakt bzw. der Aufbau einer Beziehung wesentlich sind. Zu beachten ist, dass diese Ergebnisse nicht verallgemeinert werden können.
Einleitung: Medien im Alltag von Kindern und Jugendlichen
D
igitale Medien nehmen im Alltag von Kindern und Jugendlichen einen großen Raum ein. Dies zeigen nicht zuletzt die KIM-Studie 2012 (mpfs, 2013a) sowie die JIM-Studie 2013 (mpfs, 2013b) vom medienpädagogischen Forschungsverbund Südwest. Diese Studien geben neben anderen Aspekten vor allem auch einen Überblick über den subjektiven Stellenwert einzelner Medien. So werden in den JIM Studien (mpfs, 2012; mpfs, 2013b) Jugendlichen im Alter von 12 bis 19 Jahren z. B. Fragen zum individuellen Musikhören, Bücherlesen oder zur Nutzung des Handys gestellt, ebenso wie zur Nutzung des Internets, des Mobiltelefons oder von Computerspielen. Eine überkritische Beurteilung solchen Verhaltens ist dabei nicht angezeigt, denn zum einen zeigen Computerspiele und Lernsoftware aus entwicklungspsychologischer Sicht viele Gemeinsamkeiten mit herkömmlichen Spielen (z. B. die Zweckfreiheit, die Herstellung von Bedingungen, zu denen man normalerweise nicht in der Lage ist, sowie Wiederholungen und Rituale zur Vervollkommnung unterschiedlicher Fähigkeiten und Fertigkeiten; Fröhlich & Lehmkuhl, 2012, vgl. auch Oerter, 1999) und zum anderen hat sich nach der Überprüfung des medienpädagogischen Forschungsverbund Südwest keine radikale Änderung des
Lernen und Lernstörungen 2016; 5(1): 33 – 43 DOI 10.1024/2235-0977/a000111
Spieleverhaltens ergeben (mpfs, 2013c). Zwar ist seit 1998 das Internet fester Bestandteil des Freizeitverhaltens von Jugendlichen und insgesamt 46 % der Jugendlichen antworten 2013, dass Computerspielen wichtig oder sehr wichtig sei, jedoch beantworten auch etwa 90 % der Befragten die Frage zum Musikhören und über 50 % zum Bücherlesen gleichermaßen (mpfs, 2013a). Bei den Studien zum Verhalten von Kindern (6 bis 13 Jahre) fallen die Zahlen ähnlich aus: 22 % spielen zumindest einmal am Tag mit dem Computer (mpfs, 2013a). Allerdings gehören zu den täglich am häufigsten ausgeübten Freizeitbeschäftigungen Fernsehen (79 %), Hausaufgaben/ Lernen (73 %), draußen spielen (50 %), Freunde treffen (45 %), Musik hören (44 %) und Computer spielen (22 %). Dieser hier aufgezeigte Stellenwert der digitalen Medien im Alltag von Kindern und Jugendlichen führt zu folgenden Überlegungen: Kinder und Jugendliche sollten in die Lage versetzt werden, medienkompetent zu handeln (Zum Begriff der Medienkompetenz vgl. z. B. Groeben, 2004). Auch Kulik (2007) führt in seinem Beitrag «PC-gestützte Schulleistungstrainings» aus, dass neue Medien in viele Bereiche Einzug halten und davon «auch gerade solche Bereiche, in der Arbeitswelt [betroffen sind], in denen Menschen mit Lernbeeinträchtigungen einen Ausbildungsplatz finden könnten …» (S. 231). Es ist seiner Ansicht nach daher unbedingt notwendig, einer weiteren Ausgrenzung entgegen zu 33
Fokus Anwendung
Karin Schweizer
Fokus Anwendung
Der Einsatz von Lernsoftware bei Lernstörungen
wirken und medienkompetentes Verhalten zu fördern. Eine sehr gute Möglichkeit stellt dabei die individualisierte Förderung durch PC-gestützte Trainings dar. Im Folgenden sollen daher nach einem kurzen Überblick über Lern- und Leistungsstörungen und spezifischen für diesen Beitrag relevanten Störungsbildern zunächst allgemeine Kriterien zur Klassifizierung von Lernsoftware gegeben werden, bevor auf zwei spezifische Lernsoftwareangebote und deren Einsatz eingegangen wird. Abschließend wird über den tatsächlichen Einsatz von Lernsoftware bzw. den Umgang mit PCs in der therapeutischen Praxis berichtet.
Verbreitung und Bedeutung von Lernstörungen Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes sind in Deutschland etwa 54 % aller Sonderschüler dem Bereich der Lernstörungen und Lernbehinderungen zuzuordnen (Statistisches Bundesamt, 2003). Dabei ist zu beachten, dass bis heute keine allgemein akzeptierte Begriffsbestimmung oder Theorie für den Begriff Lernbehinderung existiert (Damm & Käser, 2009). Gold (2011) unterscheidet, wie viele andere, zwischen Lernbehinderungen (sonderpädagogischer Förderbedarf im Förderschwerpunkt Lernen), Lernstörungen (umschriebene Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten) und Lernschwierigkeiten (Schwierigkeiten in der Auseinandersetzung mit schulischen Anforderungen; vgl. auch Orthmann, 2006; Zielinski, 1995). Dabei sind die beiden ersten Begriffe gebräuchliche Klassifikationen, die aber auch das Intelligenzniveau der Kinder und Jugendlichen berücksichtigen. Das Problem bei der Definition von Lernstörungen, Lernschwierigkeiten und Lernbehinderungen entsteht auch dadurch, dass mit diesen Begriffen nicht auf eine Eigenschaft im Sinne einer Ursache fokussiert wird, sondern dass mit den Bezeichnungen ein sehr heterogenes multifaktoriell begründetes Verhaltens- und Leistungsbild bezeichnet wird (Damm & Käser, 2009; vgl. auch Klauer & Lauth, 1997). So wirken aus psychologischer Sicht Intelligenz, bereichsspezifisches Vorwissen und Misserfolgsorientierung (Motivation) sowie der fehlende Aufbau und die Anwendung metakognitiver Strategien mit weiteren Faktoren wie fehlende Unterstützung durch das Elternhaus (sozial-ökologische Perspektive), Entwicklungsbeeinträchtigungen (klinische Perspektive) und sonstige Bedingungen in komplexer Weise. Wenn also die Frage, inwieweit der Einsatz digitaler Medien dabei helfen kann, Lernstörungen zu kompensieren, beantwortet werden soll, muss zunächst auf einige der Formen eingeschränkt werden. So kann es z. B. bei Lernund Leistungsstörungen um das Training von Gedächtnisstrategien gehen. Damm und Käser (2009) weisen darauf 34
hin, dass Kinder, deren Entwicklung unbeeinträchtigt verläuft, normalerweise eine Reihe von metakognitiven Fähigkeiten entwickeln. Dazu gehören nach Sodian und Schneider (1999) oder Schneider (2006) auch Gedächtnistechniken, wie Wiederholungs-, Organisations- oder Elaborationsstrategien. Studien zeigen neben einem relativ hohen korrelativen Zusammenhang zwischen Strategiegebrauch und Gedächtnisleistung auch, dass individuelle Unterschiede in der Strategieanwendung auch Leistungsunterschiede vorhersagten (vgl. Kail, 1992; Krajewski, Kron & Schneider, 2004; Schneider & Pressley, 1997). Das kategoriale Organisieren scheint hier zu den effektivsten Strategien beim Lernen und Behalten von Informationen zu zählen, was für Schule und Alltag gleichermaßen von Bedeutung ist (Hasselhorn, 1996). Kinder mit Lernbehinderung weisen jedoch Defizite im Strategiegebrauch auf (Büttner, 1998). Es liegt daher nahe, Kinder mit Lern- und Leistungsstörungen genau in diesem Bereich zu trainieren. Ein weiterer spezifischer Bereich, bei dem der Einsatz von digitalen Medien oder Lernsoftware hilfreich ist, ist der große Bereich der Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten. Dabei ist schon der Begriff selbst Auslöser für viele Auseinandersetzungen, denn es ist nicht klar, wann von Lese-/Rechtschreibschwächen oder -schwierigkeiten, Lese-/Rechtschreibstörungen (LRS) oder Dyslexie gesprochen wird oder ob diese Begriffe synonym gebraucht werden. Während Gold (2011) von LRS als gravierenden Leistungsrückständen im Lesen und/oder beim Rechtschreiben (bei unauffälligem Intelligenzwert) spricht, beschreiben z. B. Landerl und Wimmer (2006, S. 441) ungewöhnliche Schwierigkeiten von Kindern «… mit dem Lesen- und/oder Schreibenlernen, … welche sich nicht auf eine geistige Behinderung (Sonderschulbedürftigkeit), mangelhaften Unterricht …, Milieufaktoren oder ähnlich offenkundige Ursachen zurückführen lassen …» als Lese-/ Rechtschreibschwäche. Landerl und Wimmer (2006) stellen dazu fest, dass spätestens seit den Arbeiten von Liberman (Liberman, Shankweiler, Orlando, Harris & BellBerti, 1971) deutlich geworden ist, dass Lesefehler eher auf phonetische Verwechslungen zwischen ähnlichen Lauten als auf visuelle Verwechslungen zurückgehen. Auch Steinbrink und Lachmann (2014) sehen solche Störungen in erster Linie als Störungen der sprachlichen Verarbeitung. Unabhängig davon geht es bei der Förderung um Maßnahmen, die direkt am Textverstehen ansetzen oder an früheren Teilkomponenten wie dem Dekodieren, der Worterkennung, der phonologischen Bewusstheit oder dem unzureichenden Wortschatz.
Klassifikation von Lernsoftware Die Nutzung digitaler Medien ist sowohl mit Vor- als auch mit Nachteilen verbunden, die sich in Bereichen wie der Lernen und Lernstörungen 2016; 5(1): 33 – 43
Der Einsatz von Lernsoftware bei Lernstörungen
Art der Lernsoftware
Zielsetzungen
Vorteile
Voraussetzungen
Drill-and-Practice-Programme
Einüben von bereits bekanntem Lernstoff
Erreichung von Zielen in relativ kurzer Zeit bewertendes Feedback
Kenntnis über den Lernstoff, einfache Materie
a) Tutorielle Lernprogramme b) Intelligente tutorielle Systeme (ITs)
a) Vermittlung kleiner Wissensportionen b) durch Analyse des Verhaltens und Wissensabfrage wird eine Wissensdiagnose durchgeführt
Neuer Lernstoff kann vermittelt werden, langsames Vorgehen in kleinen Portionen bewertendes Feedback
a) und b) Kenntnis grundlegender Zusammenhänge schon vorhanden
Hypermedia
Recherchieren von Informationen
Lernende als eigene Gestalter des Lernpro-zesses, fördert intrinsische Motivation
Selbstständiges Lernverhalten, gute Organisation, Vorwissen
Simulationen/Mikrowelten
Veranschauli-chung von komplexen Sachverhalten, bei Mikrowelten Veränderung von Eigenschaften der Umgebung, um komplexe Probleme zu lösen
Komplexe Sachverhalte mit mehreren Komponenten; Lernfreude/Moti-vation durch Learning by doing; das System gibt das Feedback, Reflektion und Problemlösen wird angestoßen
Selbstständiges Lernverhalten, Vorwissen
Lernspiele und interaktive Lernumgebungen
Edutainment bzw. Edugaming Probleme müssen gelöst werden
Strukturierung des Lernstoffs durch die Handlung; Feedback durch Erfolge und Erlebnisse; Problemlösefähigkeiten werden geschult
Selbstständiges Lernverhalten, Entscheidungsfreude, Vorwissen
Gesundheit oder im sozialen Bereich, aber auch in vielfältiger Weise im Leistungsbereich zeigen. So sprechen Fröhlich und Lehmkuhl (2012) sowohl von möglichen Aufmerksamkeitssteigerungen als auch von signifikanten Schulproblemen bei exzessivem Gebrauch (z. B. wenn ein suchtähnliches Verhalten vorliegt). Zu unterschiedlichen Lernprogrammen, -spielen und -software gibt es eine Vielzahl von Information sowohl über das Internet und entsprechende Verlagsseiten als auch über den Buchhandel. Lernen mit digitalen Medien oder Lernsoftware, sog. E-Learning (vgl. Kerres, 2001) stellt die Lernenden oder die Betreuenden vor viele Entscheidungen: In welchem Fachgebiet möchte ich neues Wissen erwerben? Welche Lernziele setze ich mir? Wie viel Zeit investiere ich in das Lernen? Wo und wann lerne ich? Die Lernenden erhalten mehr Freiheiten, als sie es sonst von formalisierten Kursen gewohnt sind. Eine der größten Herausforderungen besteht jedoch darin, diese Freiheiten auch zu nutzen und geeignete Programme auszuwählen, denn die Nutzung von E-Learning-Angeboten ist oft mit hohen Abbrecherquoten und Enttäuschungen verbunden (Niegemann, 2001). Dafür sind vielfältige Gründe anzuführen, nicht zuletzt der hohe Zeitaufwand bei wirklich anspruchsvollen Lernformen, Neuigkeitseffekte und zu hohe Erwartungen (Niegemann, 2001). Lernen und Lernstörungen 2016; 5(1): 33 – 43
Um jedoch das passende Programm auswählen zu können, benötigt man Kriterien zur Einteilung und Bewertung von Lernprogrammen. Dabei erfreuen sich insbesondere Kriterienkataloge besonderer Beliebtheit, wobei jedoch kritisch zu bemerken ist, dass i. d. R . weder die Vollständigkeit noch das Bewertungsverfahren bzw. die Gewichtung der Kriterien nachvollziehbar sind und sie häufig theoretische orientierungslos erscheinen (Baumgartner, 2002). Eine Unterscheidung nach Typen, Zielsetzungen und Voraussetzungen nehmen z. B. Baumgartner und Payr (1994), Holzinger (2001), Schaumburg (2002) oder Weidenmann und Paechter (1997) in ähnlicher Weise vor. Dabei entstehen folgende Typen von Software (vgl. Tab. 1): Drill-and-Practice-Programme, tutorielle Lernprogramme, intelligente tutorielle Systeme (ITS), Hypermedia, Simulationen/Mikrowelten und Lernspiele oder interaktive Lernumgebungen, wobei bei letzteren noch zwischen den Arten «Play» und «Game» unterschieden wird. Erstere betonen, dass es keine Gewinnerin oder keinen Gewinner gibt, wie das bei Rollenspielen üblich ist, während in Games eine vordefinierte Gewinnsituation existiert. Mit den hier dargestellten unterschiedlichen Arten von Lernsoftware sind nun nicht nur die dargestellten Voraussetzungen oder Anforderungen in Bezug auf Vorwissen verbunden, sondern sie stellen auch Ansprüche an die Fä35
Fokus Anwendung
Exploratorische Lernumgebung
Expositorische Lernumgebung
Tabelle 1. Arten von Lernsoftware, Zielsetzungen, Vorteile und Voraussetzungen der Lernenden
Fokus Anwendung
Der Einsatz von Lernsoftware bei Lernstörungen
higkeit der Lernerinnen und Lerner zum selbstbestimmten Lernen. Weinert (1982, S. 102) definiert selbstbestimmtes Lernen als eine Lernform, bei der «der Handelnde die wesentlichen Entscheidungen, ob, was, wann, wie und woraufhin er lernt, gravierend und folgenreich beeinflussen kann». Dabei ist selbstgesteuertes oder selbstbestimmtes Lernen eine komplexe Tätigkeit. Die Lernenden benötigen dazu metakognitive Strategien. Sie müssen sich beispielsweise Lernziele setzen, Lernstrategien auswählen oder vorbereiten, den Lernstoff mit ihrem Vorwissen verknüpfen, ihr Lernen regulieren, ihre eigene Lernleistung bewerten und ihre Motivation und Konzentration aufrechterhalten. Je weniger Führung durch das Programm vorgegeben ist (expositorische Lernumgebung; Ausubel, 1974; vgl. auch Tab. 1) desto höher sind die Anforderungen an die Lernenden. Werden bei expositorischen Lernumgebungen noch kleine Lerneinheiten vorgegeben, die aufeinander aufbauen und immer wieder mit Feedback versehen sind, so werden bei exploratorischen Lernumgebungen hohe Erwartungen an die Selbststeuerung und metakognitive Fähigkeiten der Lernenden gestellt. In diesem Zusammenhang prägte Conklin (1987) den Begriff «lost in hyperspace», um darauf hinzuweisen, dass der Umgang mit Hypermedien auch dazu führen kann, dass Nutzerinnen und Nutzer den Überblick über den aktuellen «Standort» der eigenen Bearbeitung verlieren. Dies kann bei expositorischen Lernumgebungen nicht passieren, hier werden Lernerin oder Lerner quasi an die Hand genommen, und durch das Programm geleitet mit dem Nachteil, dass sich kaum intrinsische Motivation (Lernen um der Sache willen) entwickeln kann (vgl. Deci & Ryan, 1983).
Chancen und Grenzen von Lernsoftware im Förderbereich Der Einsatz von Lernsoftware im Alltag kann nur dann erfolgreich sein, wenn letztlich die Personen, die täglich damit umgehen, davon überzeugt sind. Dazu ist es nötig, zum einen erfolgreiche Möglichkeiten vorzustellen und zum anderen die Hintergründe zu beleuchten, die eventuell zu positiven oder negativen Einstellungen führen. Der Einsatz im Bereich der Lernförderung setzt nach Kulik (2007) voraus, dass die Lernsoftware es zulassen muss, genügend kleinschrittig vorzugehen, und dass sie viele Möglichkeiten der Übung (Drill-and-Practice) enthalten muss. Dennoch sollte die Motivation der Kinder auch über Spiele gefördert werden. Wesentliche Punkte bei der Überprüfung von Programmen sind außerdem, ob zusätzliche Hilfsmittel möglich und nötig sind, inwiefern eine Individualisierung des Programmablaufs möglich ist und wie die Rückmeldefunktionen und die Motivationsförderung gestaltet sind (Kulik, 2007). 36
Praxisbeispiel 1: die Förderung von Gedächtnisstrategien bei Kindern mit Lernstörungen Eine Möglichkeit, neue oder digitale Medien bei der Förderung von Gedächtnisstrategien bei Kindern mit Lernstörungen einzusetzen, zeigen z. B. Damm und Käser (2009). Sie setzten das Trainingsprogramm TAPA (Trainings with animated pedagogical Agents) ein und formulieren: «Kindgerechte Trainingssysteme, die auf innovativen Technologien beruhen und ohne überwachenden Lehrer, Pädagogen oder Psychologen wiederholt eingesetzt werden können, stellen eine zentrale Anforderung an die moderne psychologische Forschung dar. TAPA ist eine computergestützte Interventionsmaßnahme, die das Ziel verfolgt, Kindern mit Lernschwierigkeiten selbstständig die Strategie des kategorialen Organisierens zu vermitteln, um Ihre Gedächtnis- und Metagedächtnisleistung zu verbessern.» (Damm & Käser, 2009, S. 124). Bei TAPA handelt es sich um ein Lernprogramm, das am Fraunhofer Institut, St. Augustin, entwickelt wurde (Damm & Käser, 2009; Mohamad, Hammer, Haverkamp, Nöker & Therbart, 2002). Die Zielsetzung besteht in der Vermittlung der Strategie des kategorialen Organisierens und in einer Steigerung der Metagedächtnisleistung. Das Programm beansprucht etwa 45 Minuten. Zu Beginn geben die Kinder ihren Namen ein und werden dann von einem Affen und einem Zauberer (Bonzi und Merlin, zwei pädagogische Agenten) begrüßt. Sie fordern das Kind auf, ihnen bei der Befreiung eines entführten Freundes, des Papageien Pidi, behilflich zu sein. Die pädagogischen Agenten erfüllen unterschiedliche Funktionen: Zum einen haben sie die Funktion von Tutoren (z. B. Merlin) und geben Feedback, zum anderen dienen sie als Identifikationsmöglichkeit (Bonzi). In der Lernumgebung werden die Kinder in fünf verschiedenen Szenarien aufgefordert, sich Objekte bzw. Wörter (Geheimwörter zum Öffnen von Türen etc.) einzuprägen, die jeweils im Anschluss abgefragt werden (vgl. Damm & Käser, 2009). Die Aufgaben werden dabei adaptiv an die Fähigkeiten der Kinder angepasst. Außerdem wird die psychophysiologische Anspannung durch an zwei Fingern angebrachte Sensoren zur Messung der Hautleitfähigkeit erfasst, und die Kinder werden nach jeder Aufgabe von Merlin gefragt, wie viel Spaß ihnen die Aufgabe gemacht hat. Hierzu konnten die Kinder einen sogenannten Spaßometer einstellen. Die Hautleitfähigkeit und die Motivation werden ebenso wie die oben erwähnte Merkfähigkeit der Kinder genutzt, um ungünstige Lernsituation zu vermeiden (vgl. auch Mohamad et al., 2002). Damm und Käser (2009) führten eine Evaluationsstudie mit mehreren Messzeitpunkten und einer Interventionsund einer Kontrollgruppe durch (die Kinder der Kontrollgruppe nahmen nicht am Lernprogramm teil). Insgesamt wurden so 62 Kindern untersucht (32 in der ExperimentalLernen und Lernstörungen 2016; 5(1): 33 – 43
gruppe und 30 in der Kontrollgruppe). Nach Angaben der Autoren handelte es sich um «lernbehinderte Schülerinnen und Schüler im Alter zwischen neun und 14 Jahren ohne ausgeprägte Verhaltensstörungen, bei denen keine geistige Retardierung vorlag und die sich auch nicht im Grenzbereich hierzu befanden.» (Damm & Käser, 2009, S. 136). Die Studie zeigt, dass neben anderen Verbesserungen die zuvor erfasste Leistung beim kategorialen Organisieren für die Kinder, die mit dem Programm arbeiteten, signifikant ansteigt und auch vier Wochen danach bei zumindest zwei Aufgaben noch festzustellen ist. Das Gleiche gilt für die Veränderung der Gedächtnisleistung der Interventionsgruppe, allerdings mit der Einschränkung, dass sich die Verbesserung der Gedächtnisleistung durch das Spielen des Programms nur mittelfristig nachweisen lässt. Interessant ist auch das Resultat bzgl. der Herausbildung von Strategen: Unmittelbar nach dem Training konnten in der Interventionsgruppe nämlich nur fünf Kinder, aber zum dritten Messzeitpunkt insgesamt acht Kinder als Strategen identifiziert werden (Damm & Käser, 2009). Praxisbeispiel 2: das Online-Lernprogramm «LegaKids» Auf der Internetplattform LegaKids.net des Unternehmens LegaKids findet sich neben einer Vielzahl von Informationen rund um das Thema LRS (und ADHS) auch der Zugang zu einem computergestützten Lernprogramm für Kinder mit Förderbedarf beim Lesen, Schreiben und Rechnen. Das Ziel dieses Programms ist es, nach Aussagen der Betreiber (der LegaKids Stiftung), eine frühzeitige Förderung bei Lernschwierigkeiten im Lesen, Schreiben und Rechnen zu ermöglichen. Besonders wichtig, ist es den Autoren dabei, den Kindern die Lust und Freude am Lernen und Selbstvertrauen zurückgeben. Die Lernplattform LegaKids hat laut eigenen Angaben bereits zwölf wichtige Auszeichnungen erhalten und war für vier weitere bedeutende Preise nominiert (http://www.legakids.net/eltern-lehrer/ueber-legakids/ Stand 20.01.15). Darunter waren das Pädi-Gütesiegel in der Kategorie Kinder im Jahr 2007 und die «GIGA-Maus» für die LURS-Akademie, als «das beste Lernprogramm und Gesamtsieger in der Kategorie Familie» sowie der Kinder-Online-Preis des
mdr-Rundfunkrates im Jahr 2014 (vgl. http://www.legakids. net/eltern-lehrer/ueber-legakids/ Stand 20.01.15). Die Förderung des Lesens, Schreibens und Rechnens geschieht durch zahlreiche differenzierte Lernspiele, Rätsel, Comics und Filme. Die Internetseite für Kinder ist in acht Registerkarten unterteilt (vgl. Abb. 1). So können die Kinder in der LURS-Akademie, die unter der vierten Registerkarte zu finden ist, als heimliche Beobachter am Unterricht in den Grundlagen des Schriftspracherwerbs teilnehmen, in denen LURS kleine LURS-Kinder durch 25 Kurzfilme unterrichtet. Die Figur «LURS» ist ein Lese-Rechtschreibmonster, das für die Schwierigkeiten im Lesen, Schreiben und Rechnen verantwortlich ist, denn «es hat Angst, die Kinder könnten intelligenter werden als es selbst» (vgl. http://www.legakids.net/ elternlehrer/-lernmaterialien/lurs-akademie/#c3519, Stand: 20.01.15). Die Kurzfilme der LURS-Akademie sind als Tutorials (s. oben) aufgebaut, die mit Übungsblättern vertieft werden können. Eine weitere Vertiefung der Inhalte kann über das Lernspiel LURS-Abenteuer erreicht werden. Hier meldet man sich zuerst an und kann dann «Steni» und «Lega» helfen, ihren Vater zu suchen, der von LURS entführt wurde. Kleine Minispiele (z. B. Silbenkapitäne finden) helfen dabei, die nötigen Energiepunkte für das Abenteuer zu sammeln. Erreicht wird durch das Lernspiels, neben der Förderung bei Lernschwierigkeiten im Lesen, Schreiben und Rechnen, die Förderung der Konzentration und Aufmerksamkeit und weiterer metakognitiver Fähigkeiten, wie der Planung, des überlegten Absuchens der Umgebung auf Hinweise etc. Nebenbei entwickeln die Kinder mit Hilfe des Spiels auch Fertigkeiten und Kompetenzen im Bereich Mediennutzung (Groeben, 2004). Das Lernspiel LURS-Abenteuer stellt unterschiedliche Anforderungen an die Kinder: (i) Zunächst muss der Umgang mit der Maus beherrscht werden, da teilweise präzise Klicks auf Gegenstände notwendig sind, um die Aufgaben zu lösen oder Hilfsmittel zu sammeln. (ii) Die Kinder müssen sich in der Umgebung zurechtfinden, da Gegenstände und Hinweise gesucht werden sollen. (iii) Es wird Vorwissen in Bezug auf das Lesen und Schreiben vorausgesetzt (was in der LURS-Akademie vermittelt wird).
Abbildung 1. Untergliederung der einzelnen Bereiche des Internetauftrittes LegaKids für Kinder (http://www.legakids.net/kids/, Stand 20.01.15).
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Fokus Anwendung
Der Einsatz von Lernsoftware bei Lernstörungen
Fokus Anwendung
Der Einsatz von Lernsoftware bei Lernstörungen
Im Lernspiel selbst werden Elemente aus dem Bereich Drill-and-Practice ebenso wie exploratorische Elemente realisiert. Es finden sich sowohl hypermediale Programmbestandteile als auch Anforderungen aus interaktiven Lernumgebungen, in denen Probleme gelöst werden müssen. Motiviert werden die Kinder dadurch, dass ein Ziel zu erreichen ist (der Vater muss gefunden werden oder die Umgebung kann verlassen werden und man kommt in eine andere Region, die auf einer Landkarte angezeigt wird). Ebenso wird in den einzelnen Minispielen Feedback eingesetzt (die Zwischenmeldungen: «12 von 20 gefunden» sowie wohlklingende Melodien oder Misstöne, wenn eine Aufgabe (richtig) erledigt ist oder Puzzleteile passen bzw. nicht passen; vgl. http://www.legakids.net/kids/lursabenteuer/). Unter den verschiedenen Online-Spielen der vierten Registrierkarte (Spiele/Games) können fünf Spiele als Recht-
schreibspiele klassifiziert werden, die explizit zur Förderung der Rechtschreibfähigkeit der Kinder konzipiert wurden. Darunter zählen die «Worträuber», «LursMania Schreiben», «Wörter versenken», «Horch mal!» und die «Fehlersuchspiele» (Nusser, 2015). In einer ersten empirischen Überprüfung wurden diese Rechtschreibspiele bei einer Stichprobe von neun Kindern der dritten und vierten Klasse einer Gemeinschaftsschule, die an einem LRS-Förderkurs teilnehmen erprobt (Nusser, 2015). In dieser Studie wurde keine Kontrollgruppe untersucht, sondern lediglich der Leistungsstand vor und nach dem Einsatz des Lernprogramms erhoben. Dazu wurde zunächst der SLRTII (Salzburger Lese- und Rechtschreibtest; Moll & Landerl, 2014) in der Version A durchgeführt, da dieser die Möglichkeit bietet, den Leistungsstand im Lesen und Rechtschreiben auch klassenübergreifend zu bestimmen (vgl. Klicpera, Schabmann, Gasteiger-Klicpera 2003).
Abbildung 2. Bewertungen zum Umgang mit Lernsoftware durch die Befragten (n = 52). Dargestellt ist der Median als Maß der zentralen Tendenz zu den einzelnen Fragen.
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Insgesamt führten die untersuchten Kinder die eben genannten Rechtschreibspiele an vier Tagen innerhalb von zwei Wochen durch. Die Gesamtübungsdauer betrug etwa 4,5 Stunden. Am letzten Tag wurde die Version B des SLRT-II durchgeführt sowie eine Befragung zur Computernutzung allgemein, zur Bewertung des Lernprogramms «LegaKids» und zur Motivierung durch die emotionale Beteiligung am Programm durchgeführt. Die Überprüfung der einzelnen Werte ergibt, dass die neun Kinder zu Beginn der Untersuchung zwischen 14 und 39 Fehler machten und damit zwischen Prozentrang (PR) 50 und 1 lagen. Sieben der Kinder haben sich nach dem Üben mit den Online-Spielen verbessert, auf den PR 3 bis 50 (manche der Kinder sogar um zwei Prozentränge; Nusser, 2015). Betrachtet man die Art der Fehler, dann geht die Verbesserung eher auf die lauttreuen Schreibweisen als auf die Groß-Kleinschreibung zurück. Die Kinder fanden die Lernspiele und das Programm insgesamt motivierend (durchschnittlich mit 3,2 von 4 Punkten). Die einzelnen Lernspiele schnitten dabei unterschiedlich ab. Den meisten Kindern gefiel das Spiel Worträuber (sechs von neun Kindern) am besten. Am schlechtesten wurde das Spiel Wörter versenken bewertet (Nusser, 2015). Expertenbefragung zum Einsatz von Lernsoftware In einer Onlineumfrage, die vom 9. Januar bis 12. Februar 2015 mit Hilfe der Opensource-Software LimeSurvey zu-
gänglich war, wurden Lerntherapeutinnen und -therapeuten sowie Logopädinnen und Pädagoginnen zum Einsatz von Lernsoftware in der therapeutischen Praxis befragt. An dieser Befragung nahmen insgesamt 100 Personen teil, wobei etwa 35 die Umfrage sofort wieder abbrachen, 24 Personen unvollständige Datensätze geliefert haben, aber 41 Personen (39 weiblich) im Alter zwischen 24 und 75 Jahren (Median: 46 Jahre) auf fast alle Fragen geantwortet haben. Die Befragten hatten zwischen unter 1 Jahr und 25 Jahren Berufserfahrung (die meisten zwischen 4 und 5 Jahren) und sind mehrheitlich aus dem lerntherapeutischen Kontext (meist mit einem Hintergrund in Pädagogik, Psychologie oder Sonderpädagogik). Eine Person gibt lediglich Pädagogik an, drei weitere sind im logopädischen Bereich tätig. Neben anderen Fragen wurden auch Ansichten und Einstellungen zu digitalen Medien bzw. zum Umgang mit Lernsoftware erfragt. Abbildung 2 gibt einen Überblick über die Bewertungen. Insgesamt zeigt sich, dass die Befragten (n = 52) den Einsatz von Lernprogrammen in der therapeutischen Praxis eher positiv einschätzen (eher wichtig, eher nützlich, eher förderlich, eher interessant, eher zielführend etc.; vgl. dazu Abb. 2). In einem weiteren Abschnitt wurden auch Fragen nach konkret eingesetzter Lernsoftware gestellt. Dazu waren drei Nennungen möglich. Bei der ersten Nennung wurden folgende Programme genannt (Anzahl der Nennungen in Klammer): Audiolog, Blitzwörter aus PotzBlitz (2), Buden-
Abbildung 3. Bewertung der angegeben Lernsoftware durch die Befragten (n = 38). Dargestellt ist der Median als Maß der zentralen Tendenz.
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Der Einsatz von Lernsoftware bei Lernstörungen
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Der Einsatz von Lernsoftware bei Lernstörungen
berg, Celeco (5), CESAR lesen und schreiben (2), Duden, Dybuster (2), Elfe Lesetraining (4), Eugen Träger, Gut 1 (und Gut 2), GropsBox (2), Klex, Phase 6, Laut-Buchstaben-Sortiermaschine, Lesikus, LURS-Akademie/LegaKids (2), Morpheus, Oriolus, PC Karolus (2), SOT Lesen und Schreiben und Syllabo/Lesehaus. Bei weiteren Nennungen wurden zusätzlich die Programme Adlerauge/Supereule, Alfons, Blitzrechnen, Calcularis, Fürst Marigor und die Tobis I und II, Phils Abenteuer, Lernwerkstatt, Mathe2000, Münchener Rechtschreibprogramm, Ratten raten, Software zur Mildenberger Silbenfibel, Training Einmaleins und Zweistein angegeben. Die ersten Nennungen sollten nachfolgend auch bewertet werden, sowohl in Bezug auf Kompetenzen, welche die Lernenden nach Ansicht der Befragten damit erwerben bzw. trainieren können, als auch in Bezug auf Interesse und Motivation der Lernenden nach Einschätzung der Befragten (vgl. Abb. 3). Dabei wird nach Ansicht der Befragten eigenständiges Lernen und Problemlösen eher durch Celeco, Dybuster, Gut 1, Karolus, die LURS-Akademie/ Legakids, SOT Lesen und Schreiben und Syllabo/Lesehaus gefördert. Bei der Beurteilung der Motivation der Lernenden wurde danach gefragt, ob diese gerne mit der Software arbeiten, ob ihnen die Arbeit leicht fällt, ob sie mit der Software motivierter sind und ob sie oder deren
Eltern nach Programmen fragen, um zu Hause damit zu arbeiten. Die meisten Befragten antworteten auf die Fragen mit «stimme zu (6)» oder «stimme voll und ganz zu (7)» (Median: 6,0; vgl. auch Abb. 3). Ein weiterer Abschnitt des Fragebogens beschäftigte sich dann damit, wie der Verlauf einer therapeutischen Einheit in Bezug auf den Einsatz von PC/Lernsoftware aussieht. Darauf antworteten 23 Personen wie folgt (eine Antwort konnte nicht zugewiesen werden: «Einsatz nur daheim.»; vgl. Tab. 2). Zum Abschluss wurde nach Gewinnen (förderlichen Faktoren) und Verlusten (Grenzen) gefragt. Im Bereich der förderlichen Faktoren wurden vor allem die Möglichkeit der Förderung von Teilfertigkeiten, wie des Aufbaus eines Wortbildes oder von strukturiertem Arbeiten sowie Strategiewissen (16), die Förderung von Motivation (vor allem bei Jungs oder medial veranlagten Kindern (10), die Einübung von Fertigkeiten und Automatisierung (8) sowie, dass Software es ermöglicht, spezifische Einstellungen vorzunehmen und individuell zu fördern (Adaptivität; (7) genannt (Anzahl der Nennungen in Klammer; zu weiteren Antworten vgl. auch Tab. 3.). Im Bereich der hinderlichen Faktoren oder Grenzen steht vor allem der Punkt im Vordergrund, dass Lernsoftware die Therapeutin bzw. den Therapeuten nicht erset-
Tabelle 2. Ausgewählte Antworten auf die Frage: „Wie sieht z. B. eine therapeutische Einheit aus?“ (n = 25; Mehrfachnennungen möglich) Kategorisierung
Antworten
Arbeit am PC/mit Lernsoftware nimmt eher größere Zeitanteile in Anspruch; Einsatz eher regelmäßig
Ca. 35 Minuten meist zwei Übungen zu weiteren Bereichen und eine Einheit meist Stundenbeginn oder Stundenabschluss a 10 Minuten am Laptop 60 Minuten + 10 Minuten: Begrüßung und Smaltalk über die Woche ggf. auch mit Eltern, je nach Lerner!: Hausaufgaben wertschätzen, Übung zum Hören oder zur Konzentration möglichst mit Bewegung, Übung zum Lesen, Übungen zu den Stundenthemen (Methodenwechsel), Spiel zu Stundenthema, ggf. selbstständige Arbeit mit der Lernsoftware, dabei dann ggf. Elterngespräch, Verabschiedungsritual Einstieg, Schwerpunkte, Abschluss.
3
Nur kurz oder selten und eher zur Abwechslung oder zur Belohnung; zum Teil aber sehr regel-mäßig
nur kleine Anteile am PC Die Lernsoftware wird ca. 10 Minuten eingesetzt als Abwechslung Einsatz der Lernsoftware stellt nur einen (zeitlich) eher geringen Anteil in einer Therapieeinheit dar und wird auch nicht in jeder Therapiestunde genutzt. Den Hauptanteil bilden persönliche, individuelle Übungsmaßnahmen je nach aktuellem Bedarf des Patienten. Lernsoftware wird meist nach «anstrengenden» Arbeiten am Blatt eingesetzt Begrüßung, Gespräch, Strategietraining kann auch mit Hilfe von Lernsoftware sein, aber eher selten, Endspiel Smalltalk – Übung oder Spiel zur Verbesserung von Aufmerksamkeit und Konzentration – Arbeiten am Problem (LRS, Rechenschwäche, ADHS, Lerncoaching, …) – i. d. R. Ein Spiel zum Abschluss (5 Min.) Vorübung, PC-Übung, Übung auf Arbeitsblatt oder mündlich Gespräch, Aktivierung von Vorwissen, Erweiterung und Vertiefung, Festigung des zu lernenden Stoffes auf Basis der «Null-Fehler-Grenze», parallel Arbeit am psycho-sozialen Kernthema (Aufmerksamkeit, Ängste, soziale Akzeptanz etc.), Computereinheit, Spiel zum Abschluss. (Nicht immer bleibt Zeit für die Computerarbeit.)
16
Individuelle Anpassung hängt vom Klienten/ Patienten ab
sehr unterschiedlich, Gespräch und Entspannungsübung häufig am Anfang, unterschiedliche Übungsmethoden wie Lernspiele, Arbeitsblätter, Diktat, vorlesen (z. T. abwechselnd), am Ende freie Spielzeit sehr unterschiedlich, individuell auf den einzelnen Klienten ausgerichtet Die Programme sind meist selbsterklärend. Werden je nach Konzentration und Ausdauer bearbeitet.
4
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Anzahl der Nennungen
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zen kann, da vor allem die Kommunikation, der Kontakt bzw. der Aufbau einer Beziehung wesentlich sind (15). Weitere wichtige Nachteile sind die fehlende Adaptivität (5) und Neuigkeitseffekte (4), in dem Sinne, dass sich der Spaß an der Lernsoftware mit der Zeit abnutzt, wenn nicht abgewechselt wird usf. Auch wurde mehrfach darauf hingewiesen, dass der Umgang mit solchen Programmen das Üben nicht ersetzen kann.
Auffallend ist, dass der Punkt Adaptivität (die Flexibilität des Programms bzw. die Möglichkeit zur Anpassung) sowohl als Vorteil bzw. wenn sie gefehlt hat auch als Nachteil angegeben wird. Als Vorteil wird Adaptivität vor allem bei den Programmen wie Celeco, Carolus, Elfe und Klex gesehen. Die Programme Lesikus und Potzblitz sind eher mit Äußerungen zur eingeschränkten Adaptivität verbunden.
Tabelle 3. Antworten zu Gewinnen und Verlusten: «Was wird neu ermöglicht durch den Einsatz von Lernsoftware (was nicht)?» und «Welmöglich)
Positive Faktoren (wird durch Lernsoftware ermöglicht)
Kategorisierung
Antworten
Anzahl der Nennungen
Förderung von Teilfertigkeiten: Lesen/dichotisches Hören/strukturiertes Arbeiten/Wortbild/leises Lautieren/Strategien/Fehler zugeben und dadurch Fähigkeiten einschätzen/basismathematische Kompetenzen/Selbständiges Lernen (kann zu Hause auch ohne Eltern geübt werden)
16
Motivation wird spielerisch gefördert/Spaßfaktor/für Kinder mit medialen Hintergrund, insbes. Jungs/Abwechslung
10
Übungen werden besser angenommen/Automatisierung/Festigung
8
Adaptivität: Spezielle Einstellungen für Förderbereiche und Übungen/Tastatur führt zu Verlangsamung bei zu schnellen Kindern/auch Schriftbild und Schriftgröße/hier auch explizit Unterstützungsprogramme zur Ermöglichung von Teilhabe bei LRS/methodisch abwechselnde Förderung
7
Speicherung und Abruf der Daten/ermöglicht Kontrolle über Entwicklungsverläufe/objektivere Kontrolle/erleichtert Eltern die Arbeit mit Vokabeln
4
Erfolgskontrolle (optisch und akustisch)/
3
Medienkompetenz/Benutzung der Tastatur/
2
Verwaltung der Vokabeln durch Computer
1
Möglichkeit der Beobachtung
1
Entlastung von Schulen
1
Grenzen/hinderliche Faktoren
Software nur Unterstützung, Betreuer/Therapeut steht im Vordergrund/Kommunikation/Kontaktaufnahme nicht möglich/keine motorischen Übungen/einseitig/wenig Förderung im emotionalen/Selbstkonzept, soziale Kompetenzen, Aufmerksamkeit
15
Fehlende Adaptivität: Kinder können Leistungsniveaus nicht selbst steuern/zu schwer/nur kurze Texte/ nur für typische Lernprobleme/Vielfalt wichtig
5
Neuigkeitseffekte
4
Kann das Lernen von Vokabeln/Üben nicht ersetzen/Endlichkeit der Übungsauswahl
3
Kein Aufbau von intrinsischer Motivation/Unterstützung muss gegeben werden/ Keine Fortsetzung der Übungen zu Hause
3
Nicht zum Erlenen von neuem Lernstoff geeignet
2
selber schreiben ist nicht möglich/wenig Einflussnahme
2
Anforderungen an Selbststeuerungskompetenz von Jugendlichen
1
Kosten
1
Software wird ausgetrickst
1
Lernfortschritte begrenzt
1
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Fokus Anwendung
che Chancen, aber auch welche Grenzen sehen Sie für den Bereich Lernförderung/therapeutische Praxis?» (n = 22; Mehrfachnennungen
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Fokus Anwendung
Fazit Zunächst erfolgte ein kurzer Überblick über das Medienverhalten von Kindern und Jugendlichen, in dem u. a. aufgezeigt wurde, dass Computer und Internet (und darunter auch Computerspiele) in deren Alltag eine große Rolle spielen. Dies führte zu der Forderung, digitale Medien bzw. den Umgang mit Lernsoftware in die therapeutische Praxis zu integrieren, um die Vorteile, die mit einem solchen Einsatz verbunden sind, zu nutzen, Kindern und Jugendlichen Medienkompetenz zu vermitteln und damit weiterer Ausgrenzung entgegenzuwirken. Die Beurteilung solcher Gewinne durch Lernsoftware kann jedoch nur erfolgen, wenn klar ist, wie Lernsoftware klassifiziert werden kann und wie ich sie einsetzten kann. Daher wurden nach einem kurzen Überblick über Lern- und Leistungsstörungen und spezifischen für diesen Beitrag relevanten Störungsbildern zunächst allgemeine Kriterien zur Klassifizierung von Lernsoftware gegeben, bevor auf zwei spezifische Lernsoftwareangebote und deren Einsatz eingegangen wurde. Die beiden vorgestellten Lernumgebungen TAPA und LegaKids wurden anhand der zuvor beschriebenen Kriterien als expositorische Lernumgebungen mit tutoriellen Elementen klassifiziert. Beide erzielten in den vorgestellten Evaluationen (zum Teil beträchtliche) Verbesserungen in den angestrebten Bereichen, dem Trainings von metakognitiven Strategien und dem Lesen und Rechtsschreiben (vgl. Damm & Käser, 2009; Nusser, 2015). Eine abschließend durchgeführte Online-Befragung zu Einstellungen und zur Nutzung von Lernsoftware in der therapeutischen Praxis zeigt, dass die Befragten einer solchen Nutzung gegenüber deutlich positive Einstellungen haben. Mehr als die Hälfte der Personen, die die Umfrage beendet haben (es gab mehr als 59 % unvollständige Datensätze) haben schon Lernprogramme in der Praxis genutzt, meist um zu motivieren, bzw. zur Belohnung und eher in kürzeren Sequenzen. Dieses Verhalten steht in Einklang mit den von den Befragten wahrgenommenen Grenzen des Einsatzes von Lernsoftware, nämlich dass einer der wichtigsten Punkte in der Therapie, der Aufbau von Beziehungen und die Kommunikation, durch einen solchen Einsatz nicht zu kurz kommen darf. Den Beispielen von Lernsoftware, die in der Befragung genannt werden, werden unterschiedliche Vorteile zugeschrieben. Die Programme Celeco, Dybuster, Gut 1, Karolus, die LURSAkademie/Legakids, SOT Lesen und Schreiben und Syllabo/Lesehaus werden als geeignet angesehen, selbstständiges Lernen und Problemlösefähigkeit zu fördern, andere dagegen eher nicht. Damit einher geht auch die Klassifikation eines Teiles dieser Programme in Bezug auf Flexibilität und Anpassungsfähigkeit (Adaptivität), die anderen eher abgesprochen wird. Weitere Vorteile werden 42
darin gesehen, dass Lernprogramme gut zum Einüben geeignet sind oder um Lerninhalte zu verfestigen und zu automatisieren. Vor allem auch Jungs und «medial veranlagte» Kinder scheinen «Spaß» im Umgang mit Lernprogrammen zu haben, was wiederum durch die Befunde der JIM-Studie (mpfs, 2013c) belegt wird. Die Unterschiedlichkeit der Vor- und Nachteile der angegeben Lernsoftware unterstreicht jedoch auch, dass Lernprogramme unterschiedlichen Zwecken dienen können und sollen und danach auch konzipiert sind. Zum Einüben von Fertigkeiten können auch expositorische Programme verwendet werden, die günstigenfalls das Schwierigkeitsniveau adaptiv anpassen. Selbständiges Lernen, Problemlösefähigkeit usf. wird dann jedoch nicht im Vordergrund stehen. Formen, die Letzteres unterstützen (Software die Elemente des Edugaming und Edutainment sowie Hypermediaelemente enthält) sind dagegen anspruchsvolle Lernformen, die mit hohem Zeitaufwand verbunden sind. Bleibt die Frage der Generalisierbarkeit der Umfrageergebnisse: Online-Befragungen sind mit einer Reihe von Nachteilen verbunden. So haben hier etwa 100 Personen teilgenommen, von denen 59 % die Umfrage entweder sofort wieder abbrachen oder nicht vollständig ausfüllten, was bei Online-Umfragen nicht selten ist. Es kann bei dieser freien Umfrage auch nicht wirklich kontrolliert werden, ob Personen den Fragebogen mehrmals ausgefüllt haben. Zudem kommt, dass bei Fragen zur Einstellung zu Medien, diejenigen die per Internet an einer Umfrage teilnehmen i. d. R . medienaffiner sind, als die, die nicht erreicht werden konnten. All diese Gründe sprechen gegen eine Verallgemeinerbarkeit der Ergebnisse. Dennoch geben die Ergebnisse einen ersten Einblick in die Möglichkeiten der Softwarenutzung in der therapeutischen Praxis.
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Karin Schweizer Professorin für Pädagogische Psychologie an der Pädagogischen Hochschule Weingarten. Ihre besonderen Forschungsinteressen liegen in den Bereichen Lehren und Lernen mit digitalen Medien, Medienkompetenz und Selbstkonzept, Evaluation von Medienangeboten und Professionalisierung von Lehrkräften.
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Fokus Anwendung
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Gruppenprogramm für Eltern von Kindern mit LRS
Empirische Arbeit
LRS-Elterngruppenprogramm: Teilnehmerzufriedenheit und subjektive Effektivität Anke Buschmann1,2 und Bettina Multhauf1,2 1 Frühinterventionszentrum
Fokus Forschung
2 Universitätsklinikum
Heidelberg, Heidelberg; Heidelberg, Heidelberg
Zusammenfassung: Das Ziel vorliegender Studie bestand in einer Überprüfung der Akzeptanz und Teilnehmerzufriedenheit eines Gruppentrainings für Eltern von Kindern mit Lese- und/oder Rechtschreibschwierigkeiten. Zudem sollten erste Indikatoren bezüglich der Wirksamkeit des Programmes untersucht werden. Dazu wurden Daten von 25 Müttern zu 2 Messzeitpunkten (Post-Test, 3-Monats-Follow-up) analysiert. Die Probandinnen nahmen über einen Zeitraum von 3 Monaten an 5 Sitzungen des Programms «Mein Kind mit Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten verstehen, stärken und unterstützen: Heidelberger Elterntraining zum Umgang mit LRS» teil. Ein Paper-Pencil-Fragebogen diente zum Post-Test der Erhebung von Teilnahmeparametern, der Zufriedenheit mit dem Training, der Relevanz einzelner Themen und der wahrgenommenen Veränderungen in wichtigen Zielbereichen. Zusätzlich kam eine für das Gruppensetting adaptierte Form des Goal Attainment Scaling zum Einsatz, um das Erreichen persönlich relevanter Ziele unmittelbar nach dem Training sowie 3 Monate später zu erfassen. Die Analyse des Fragebogens zeigte eine hohe Partizipationsbereitschaft der Mütter. Die Rahmenbedingungen des Trainings (Gruppengröße, Dauer des Trainings und der Sitzungen) sowie die didaktischen Methoden wurden als ideal und die Themen als relevant eingeschätzt. Die Mütter sahen sich in der Lage, die Inhalte im Alltag anzuwenden und nahmen positive Veränderungen hinsichtlich Einfühlungsvermögen, Unterstützung des Kindes, Hausaufgabensituation und Beziehung zum Kind wahr. Das Ausmaß des Erreichens individueller Ziele zum Post-Test variierte je nach Zielbereich: Einfühlen und Verstehen (75 %), Optimierung der Hausaufgabensituation (76 %), Unterstützung psychosozialer Entwicklung (86 %), Lese-Rechtschreibförderung (60 %) und war auch 3 Monate später noch vergleichbar hoch. Die Überprüfung der Wirksamkeit hinsichtlich einer Belastungsreduktion und Kompetenzstärkung seitens der Eltern erfolgt aktuell im Vergleich zu einer unbehandelten Kontrollgruppe. Schlüsselwörter: Elterntraining, Lese-Rechtschreibstörung, umschriebene Entwicklungsstörung, Goal Attainment Scaling, Hausaufgaben, Elternbelastung
Einleitung
K
inder, die im Bereich Schriftsprache leistungsschwach sind, weisen bereits in der Grundschule ein höheres Ausmaß an Prüfungsangst, sowie eine reduzierte Lesemotivation im Vergleich zu Kindern ohne schriftsprachliche Schwierigkeiten auf (Morgan, Fuchs, Compton, Cordray & Fuchs, 2008; Pixner & Kaufmann, 2013). Zudem zeigen Kinder mit einer Lese- und Rechtschreibschwäche oder -störung (LRS)1 häufiger Verhaltensauffälligkeiten und leiden unter Anpassungsstörungen, hyperkinetischen Störungen, Angststörungen oder einem verringerten Selbstwertgefühl (Bäcker & Neuhäuser, 2003; Schulz, Dertmann & Jagla, 2003). 1
Die Erziehung und Unterstützung der schulischen und psychosozialen Entwicklung von Kindern mit LRS stellt vergleichsweise hohe Anforderungen an die Eltern. Dies spiegelt sich in einer höheren elterlichen Belastung und vermehrten depressiven Symptomen wider (Antshel & Joseph, 2006; Snowling, Muter & Carrol, 2007). Das Ausmaß der psychischen Symptomatik des Kindes steht dabei in einem positiven Zusammenhang mit der elterlichen Stressbelastung (Stadelmann, Perren, Kölch, Groeben & Schmid, 2010). Befragungen betroffener Eltern deuten außerdem auf einen erheblichen Einfluss der LeseRechtschreibproblematik auf das Familienleben und die Interaktion mit dem Kind hin (Heiman, Zinck & Heath, 2008; Snowling et al., 2007). Weiterhin zeigen Eltern, die
Aufgrund der unterschiedlichen Verwendung der Begriffe Lese-Rechtschreibstörung und Lese-Rechtschreibschwäche im pädagogischen und psychologischen Kontext soll sich die Abkürzung LRS im Folgenden, soweit nicht anders vermerkt, auf beide Begriffe beziehen.
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Lernen und Lernstörungen 2016; 5(1): 44 – 57 DOI 10.1024/2235-0977/a000089
Lese-Rechtschreibprobleme bei ihren Kindern vermuten in Hausaufgabensituation tendenziell mehr kontrollierendes Verhalten und üben länger mit den Kindern als Eltern, die keine Schwierigkeiten wahrnehmen. Es zeigt sich, dass diese Kinder eine geringere Lern- und Lesemotivation entwickeln und Leistungsrückstände vergleichsweise schlechter aufholen (Gasteiger Klicpera, Klicpera & Schabmann, 2001). Vor diesem Hintergrund erscheint es sinnvoll, die Eltern im täglichen Umgang mit den Schwierigkeiten ihres Kindes beim Erlernen des Lesens und Schreibens anzuleiten. Es ist zu anzunehmen, dass die Eltern u. a. Störungswissen als Basis für das Verstehen der Probleme ihres Kindes benötigen und ihnen Kompetenzen im Umgang mit den Lernschwierigkeiten ihres Kindes sowie Strategien für die Gestaltung der Hausaufgabensituation fehlen. Gruppenprogramme bieten ein besonders hohes Erfolgspotenzial, da sich Eltern von Kindern mit LRS neben Informationen über das Störungsbild vor allem emotionale Unterstützung durch andere Eltern erhoffen (Bull, 2003). Zudem ist zu vermuten, dass eine gezielte Elternanleitung mit einer Reduktion deren psychischer Belastung einhergeht. Elternanleitungen, die auf eine Optimierung von Hausaufgaben- und Lernsituationen bei Kindern ohne LRS fokussieren, haben sich bereits als effektiv erwiesen (Bailey, 2006; Bruder, Perels & Schmitz, 2004; Reynolds & Nicolson, 2007; Lund, Rheinberg & Gladasch, 2001; Villiger, Niggli, Wandeler & Kutzelmann, 2012). Eine Interventionsstudie von Wittler (2008) zeigte zudem positive Effekte eines Gruppentrainings für Eltern von Kindern mit Schwierigkeiten im Fach Mathematik auf das elterliche Instruktionsverhalten in Lernkontexten. Elterntrainings zur Erhöhung der Erziehungskompetenz haben sich sowohl als präventive Maßnahme als auch als Angebot für bestimmte Risikogruppen als wirksam herausgestellt (Petermann, Petermann & Franz, 2010). Diese können jedoch nicht allen Bedürfnissen der Eltern von Kindern mit LRS gerecht werden (Todd et al., 2010). Eine australische RCT-Studie von Brock und Shute (2001) deutete auf positive Effekte eines kognitiv-behavioralen Gruppenprogramms für Eltern von Kindern mit Lernstörungen hin. Die drei Schwerpunkte des Trainings bestanden in: Psychoedukation in Bezug auf Lernstörungen, Vermittlung kognitiver Coping-Strategien und verhaltensbezogener Erziehungsstrategien. Die Mütter der Trainingsgruppe fühlten sich bei Nachuntersuchungen deutlich weniger belastet, wiesen weniger Schuldgefühle und eine engere Bindung zum Kind auf. Außerdem schätzten sie das Ausmaß von Verhaltensauffälligkeiten und emotionalen Problemen der Kinder geringer ein als die Mütter der Wartegruppe. Einer deutschlandweiten Befragung von LRS-Therapeuten zufolge kommen bisher nur wenige Formen der Lernen und Lernstörungen 2016; 5(1): 44 – 57
Elternarbeit im Rahmen einer Therapie lese-rechtschreibschwacher Kinder zum Einsatz (Multhauf & Buschmann, 2014). Die Therapeuten beziehen Eltern vor allem in das Anamnesegespräch ein und erklären diesen Übungen für zu Hause. Es zeigt sich eine Diskrepanz zwischen der positiven Einstellung der Therapeuten gegenüber Elternpartizipation und dem relativ geringen Ausmaß an praktizierter Elternarbeit. Aufgrund des Mangels an spezifischen Konzepten zur Zusammenarbeit mit Eltern von Kindern mit LRS im Hinblick auf eine Reduktion elterlicher Belastung, Optimierung von Hausaufgaben- und Übungssituationen sowie Erhöhung der Kompetenzen im Umgang mit Lernschwierigkeiten wurde das Programm «Mein Kind mit Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten verstehen, stärken und unterstützen: Heidelberger Elterntraining zum Umgang mit LRS (HET-LRS)» entwickelt. Das Programm ist als eine Ergänzung der kindzentrierten Lese-Rechtschreibtherapie konzipiert. Es besteht aus fünf inhaltlich aufeinander aufbauenden zweistündigen Sitzungen und ist für die Durchführung mit einer Kleingruppe entwickelt. In Anlehnung an eine Meta-Analyse von Singer, Ethridge und Aldana (2007) wurde ein kognitiv-behavioraler Ansatz mit hohem Praxisbezug gewählt, da sich kombinierte Interventionen bei Eltern von Kindern mit Entwicklungsstörungen hinsichtlich der Belastungsreduktion als deutlich effektiver erwiesen als reine kognitive oder behaviorale Trainings. Eine randomisierte kontrollierte Studie an der Universitätsklinik Heidelberg dient der Evaluation des Elterntrainings. Die vorliegende Studie stellt eine erste Analyse der in der Trainingsgruppe gewonnenen Daten dar. Zentrale Fragestellungen bestanden in einer Überprüfung der Teilnehmerzufriedenheit und subjektiven Wirksamkeit des neu entwickelten Elterntrainings. In Bezug auf die Zufriedenheit wurde untersucht, ob die Teilnehmer die inkludierten Themen als relevant erachteten, mit dem Training insgesamt, den Rahmenbedingungen und den verwendeten Methoden zufrieden waren. Zur Untersuchung der subjektiven Wirksamkeit des Trainings wurden die wahrgenommen Veränderungen in wichtigen Zielaspekten und das Ausmaß des Erreichens persönlicher Ziele im Laufe des Trainings erfasst.
Methodik Studiendesign Die Datenerhebung erfolgte in zwei Durchgängen. In den Schuljahren 2012/2013 sowie 2013/2014 konnten insgesamt 25 Familien des Rhein-Neckar-Kreises durch Bekanntmachung des Projekts in Schulen, kinderärztlichen Praxen, LRS-/und Eltern-Verbänden im Umkreis von Heidelberg und durch eine Anzeige in einer regionalen Zei45
Fokus Forschung
Gruppenprogramm für Eltern von Kindern mit LRS
Gruppenprogramm für Eltern von Kindern mit LRS
Fokus Forschung
tung für eine Studienteilnahme gewonnen werden. Die standardisierten Eingangsuntersuchungen der Kinder fanden jeweils in den ersten beiden Monaten des Schuljahres statt. Aufgenommen wurden einsprachig deutsch sprechende Kinder aus der dritten Klasse mit normalen allgemeinen kognitiven Fähigkeiten (IQ > 70) sowie einem unterdurchschnittlichen Ergebnis in einem Lese- und/ oder Rechtschreibtest (T-Wert < 40). Ausgeschlossen wurden Kinder mit signifikanter Beeinträchtigung der Höroder Sehfähigkeit, mit Verdacht auf eine tiefgreifende Entwicklungsstörung und mit neurologischen oder chromosomalen Störungen. Die Mütter nahmen über einen Zeitraum von drei Monaten am Elterntraining teil. Die testdiagnostischen Untersuchungen der Kinder sowie die Teilnahme am Elterntraining waren für alle Familien kostenfrei. Elterntraining Das Elterntraining zum Umgang mit Lese-Rechtschreibschwierigkeiten ist kognitiv-behavioral orientiert und versteht sich als eine Ergänzung zur kindzentrierten Therapie lese-rechtschreibschwacher Kinder. Es verfolgt folgende Ziele: Vermittlung von Wissen über das Störungsbild LRS, Erhöhung des elterlichen Verständnisses für die Probleme des Kindes, Vermittlung von Kompetenzen im Umgang mit der LRS im familiären Rahmen, Erarbeitung von Strategien zur besseren Organisation der Hausaufgabensituation und optimalen Unterstützung des Kindes, Sensibilisierung für Alltagssituationen zum Lesen- und Schreibenüben mit Spaß und eine Stressreduktion der Eltern. Organisation Das Training umfasst fünf zweistündige Sitzungen im Abstand von etwa zwei Wochen. Es findet in Abwesenheit der Kinder statt. Eine Trainingsgruppe besteht aus maximal 10 Teilnehmern bzw. fünf Elternpaaren. Aus Gründen der besseren Vergleichbarkeit nahmen im Rahmen der Studie ausschließlich Mütter teil. Prinzipiell richtet sich das Training jedoch an Mütter und Väter sowie andere Bezugspersonen.
fen werden. Es wird eine Perspektivenübernahme angeregt, um das Verständnis der Eltern für die Schwierigkeiten der Kinder in grundlegenden Bereichen wie der visuellen und auditiven Informationsverarbeitung zu erhöhen. Ursachen und Symptomatik der LRS Eltern von Kindern mit LRS geben sich häufig selbst die Schuld für die Lernstörung (Dyson, 2010) und zeigen überhöhte Erwartungen bezüglich der Lernfortschritte ihrer Kinder (Gasteiger Klicpera et al., 2001). Aus diesem Grund wird mit der Aufklärung über die multidimensionalen Ursachen der LRS eine Entlastung der Eltern von der Schuldfrage angestrebt. Gestaltung von Hausaufgaben- und Übungssituationen Leistungsschwache Kinder erleben in Lern- und Übungssituationen meist ein höheres Maß an kontrollierendem Verhalten der Eltern sowie Konflikte mit diesen (Dumont, Trautwein, Nagy & Nagengast, 2014). Kinder mit LeseRechtschreibschwierigkeiten benötigen oft eine engere Betreuung während der Hausaufgaben. Vor allem, wenn bereits gehäuft negative Erfahrungen mit Lernsituationen vorliegen, tendieren die Kinder dazu, den Beginn der Hausaufgaben hinaus zu zögern. Zudem haben sie Schwierigkeiten, konstant zu arbeiten. Deshalb werden mit den Eltern Möglichkeiten zur Strukturierung der Hausaufgabensituation sowie zur Steigerung der kindlichen Selbstbestimmung und Motivation erarbeitet. In Anlehnung an die Selbstbestimmungs-Theorie von Deci und Ryan (1993) wird den Eltern die besondere Bedeutung von autonomieunterstützenden Hilfen, positiven Rückmeldungen und selbstwertdienlichen Attributionen für die Motivation verdeutlicht.
Inhalte Das Training enthält folgende Schwerpunkte, welche in inhaltlich logischer Abfolge aufeinander aufbauen und die Komponenten Wissenserweiterung, Erwerb von Handlungskompetenz in Hausaufgaben- und Übungssituationen, Sensibilisierung für Lesen- und Schreibenlernen in Alltagssituationen sowie Supervision enthalten.
Lese-Rechtschreibförderung im Alltag Da sich freudvolles Lernen hinsichtlich der Wissensspeicherung als besonders vorteilhaft erwiesen hat (Purves et al., 2008), lernen die Eltern Möglichkeiten der spielerischen Lese-Rechtschreibförderung kennen. Aufgrund der besonderen Bedeutung familiärer Lesesozialisation für den Schriftspracherwerb und den Bildungserfolg von Schülern werden sie zudem angeregt, vermehrt echte Lese- und Schreibanlässe im Alltag zu schaffen. Somit wird zum einen ihre Vorbildfunktion genutzt und den Kindern andererseits die Relevanz des Lesens und Schreibens außerhalb des schulischen Kontexts aufgezeigt (McElvany, Becker & Lüdtke, 2009).
Voraussetzungen und Phasen des Schriftspracherwerbs Die Eltern erfahren, welche Grundvoraussetzungen seitens des Kindes für den Schriftspracherwerb erforderlich sind und welche regulären Entwicklungsschritte durchlau-
Umgang mit Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten Aufgrund zahlreicher Misserfolgserfahrungen in der Schule und bei den Hausaufgaben weist ein Teil der Kinder mit LRS sekundäre Begleiterscheinungen wie emotionale Stö-
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Lernen und Lernstörungen 2016; 5(1): 44 – 57
Gruppenprogramm für Eltern von Kindern mit LRS
Elterntrainings Sitzung
Inhalte
1
-
Kennenlernen der Teilnehmer Persönliche Trainingsziele setzen Ablauf des regulären Schriftspracherwerbs Wichtige Voraussetzungen des Schriftspracherwerbs Ursachen einer LRS
2
- Bedeutung von Fehlern beim Schriftspracherwerb - Fakten und Zahlen rund um die LRS - Optimale Rahmenbedingungen der Hausaufgabensituation
3
- Auswertung von Veränderungen der Rahmenbedingungen in Hausaufgabensituationen - Elterliches Verhalten in der Hausaufgabensituation – Rückmeldung geben, Loben und Motivieren - Möglichkeiten des gemeinsames Lesens
4
- Rückmeldungen zum veränderten elterlichen Verhalten in der Hausaufgabensituation (v. a. Loben) - Förderliches und hinderliches Verhalten von Eltern im Umgang mit der LRS des Kindes - Möglichkeiten der Lese-Rechtschreibförderung im Alltag
5
- Rückmeldungen zum gemeinsamen Lesen - Einen Ausgleich zum Lernen und Üben schaffen – Möglichkeiten zur Unterstützung der allgemeinen psycho-sozialen Entwicklung des Kindes - Bücher, Spiele und Software zur Lese-Rechtschreibförderung - Wissenswertes zum Thema Lese-Rechtschreibtherapie - Rückblick und Beantwortung des Evaluationsbogens
rungen, Angststörungen, somatische Symptome oder Verhaltensschwierigkeiten auf (Klicpera, Schabmann, Gasteiger-Klicpera, 2006). Demzufolge laufen die Kinder nicht nur Gefahr schulische Misserfolge zu erleiden, sondern es besteht ein erhebliches Risiko für deren sozial-emotionale Entwicklung. Aus diesem Grund werden Möglichkeiten erarbeitet, Begabungen der Kinder zu erkennen, Stärken zu fördern und den Selbstwert zu stabilisieren. Eine Übersicht der Themen der einzelnen Sitzungen ist Tabelle 1 zu entnehmen. Didaktische Methoden Im HET-LRS werden verschiedene Methoden aus der Erwachsenenbildung genutzt. Wesentliche Inhalte werden unter aktivem Einbezug der Kompetenzen und Erfahrungen der Teilnehmer erarbeitet. Neben Präsentationen und der Darstellung von Fallbeispielen kommen durch den Trainer geleitete Gruppendiskussionen zum Einsatz. Die praktische Umsetzung der Inhalte wird über das Üben in Kleingruppen und durch Arbeitsaufträge im häuslichen Kontext zwischen den Sitzungen realisiert. Der Transfer der Inhalte erfolgt über Selbstreflexion der Teilnehmer Lernen und Lernstörungen 2016; 5(1): 44 – 57
und Supervision durch den Trainingsleiter zu Beginn jeder Sitzung begleitet. Zum Nachlesen und Vertiefen von Inhalten erhalten die Eltern in jeder Sitzung ausführliches schriftliches Material. Stichprobe In die Analysen gingen Daten von 25 Müttern ein. Die Ausfallrate zum Post-Test und Follow-up betrug je 0 %. Die Familien stammten aus den Bundesländern Baden-Württemberg (n = 15) und Hessen (n = 10). Die Teilnehmerinnen wurden in jedem Studiendurchlauf randomisiert auf zwei Trainingskurse aufgeteilt. Das durchschnittliche Alter der Mütter betrug zum Post-Test 42.2 Jahre (SD = 5.24), das der Kinder 9.1 Jahre (SD = 0.51). Im Vergleich zu Daten des Deutschen Statistischen Bundesamtes (2013) (Frauen der Altersgruppe 40 bis 45 Jahre) weist die vorliegende Stichprobe einen jeweils geringeren Anteil an Hauptschulabschlüssen (12 % im Vergleich zu 21 %) und Realschulabschlüssen (32 % im Vergleich zu 43 %) sowie einen höheren Anteil an Fach-/Hochschulreife (56 % im Vergleich zu 31 %) auf. In einer festen Partnerschaft befanden sich 22 Mütter, 3 lebten vom Partner getrennt. Die durchschnittliche Arbeitszeit der berufstätigen Mütter (n = 22) betrug 20.6 Stunden pro Woche (SD = 5.83). Instrumente Die Diagnostik der Kinder im Vorfeld umfasste eine Untersuchung von intellektuellen Fähigkeiten in allen Teilleistungsbereichen und der allgemeinen Begabung anhand standardisierter und normierter testpsychologischer Verfahren. Die Rechtschreibfähigkeiten wurden mittels des Weingartener Grundwortschatz Rechtschreibtests für zweite und dritte Klassen (WRT 2+, Birkel, 2007) erfasst. Zur Erhebung der Lesefähigkeiten kamen der Ein-Minuten-Leseflüssigkeitstest der Weiterentwicklung des Salzburger Lese-Rechtschreibtests (SLRT-II, Moll & Landerl, 2010) sowie der Leseverständnistest für Erst- bis Sechstklässler (ELFE 1 – 6, Lenhard & Schneider, 2006) zum Einsatz. Der Hamburg-Wechsler Intelligenztest für Kinder (HAWIK-IV, Petermann & Petermann, 2007) diente der Erfassung kognitiver Fähigkeiten. Alle Untersuchungen fanden im Einzelsetting statt. Zur Erfassung der Teilnehmerzufriedenheit und Akzeptanz des Trainings wurde ein Fragebogen entwickelt. Dieser enthielt Fragen zur Zufriedenheit der Teilnehmerinnen mit den Rahmenbedingungen und den verwendeten Methoden des Trainings, zur Relevanz einzelner Themen, zu Parametern der Teilnahme (z. B. Erledigen der häuslichen Übungen, Lesen der Begleitmaterialien) sowie zu wahrgenommenen Veränderung durch das Training (z. B. Bewältigung von Hausaufgabensituationen). Der Fragebogen bestand aus 44 geschlossenen und 7 offenen Fragen. Es kamen vier- und fünfstufige Antwortskalen zum Einsatz 47
Fokus Forschung
Tabelle 1. Überblick über die Inhalte der Sitzungen des
Gruppenprogramm für Eltern von Kindern mit LRS
Fokus Forschung
(z. B. Erfassung der Zufriedenheit: 1 = völlig unzufrieden bis 4 = völlig zufrieden; Erfassung der Themenrelevanz: 1 = unwichtig bis 5 = wichtig). Die offenen Fragen boten Gelegenheit, die eigene Verhaltensänderung zu erläutern, Kritik und Lob mitzuteilen sowie Verbesserungsvorschläge und zusätzliche Themenhinweise zu geben. Die schriftliche Befragung fand direkt im Anschluss an die letzte Sitzung des Elterntrainings vor Ort statt. Mütter, die dabei nicht anwesend sein konnten (n = 3), wurden postalisch befragt. Zur Überprüfung des Erreichens individueller Ziele im Rahmen des Trainings wurde eine von den Autoren auf das Gruppensetting und das Training zugeschnittene Form des Goal Attainment Scaling (GAS) angewandt. In der ersten Sitzung wählten die Mütter 3 Ziele aus einem Katalog 20 verhaltensnah formulierter Ziele (Beispielziel: «Ich möchte in der Hausaufgabensituation ruhig und verständnisvoll bleiben.»). Nach Bedarf konnten sie ein weiteres Ziel frei formulieren. Eine 10-stufige Skala diente der Ermittlung der persönlichen Relevanz der gewählten Ziele (1 = unwichtig bis 10 = wichtig). In der letzten Sitzung sowie zum Drei-Monats-Follow-up wurde das Ausmaß der Zielerreichung anhand einer 11-stufigen Skala erfasst (1 = 0 % bis 11 = 100 %). Statistische Analysen Die Datenauswertung erfolgte mittels der statistischen Datenanalysesoftware PASW18. Im Rahmen deskriptiver Analysen wurden Kennwerte berechnet. Um die Relevanz gewählter und frei formulierter Ziele sowie das Ausmaß
der Erreichung verschiedener Zielbereiche zu vergleichen, wurden Einstichproben-t-Tests eingesetzt. Für den Vergleich der vier Zielbereiche wurde die Bonferroni-Korrektur angewandt und das Signifikanzniveau auf .0083 festgelegt. Die Unterschiede in den Zielerreichungen zwischen Post-Test und Follow-up wurden mittels abhängiger tTests geprüft (zweiseitige Testung). Angaben zu offenen Fragen wurden nach inhaltlichen Kriterien zusammengefasst. Ebenso erfolgte eine inhaltliche Kategorisierung der im GAS gewählten Ziele.
Ergebnisse Teilnahme am Elterntraining Die mittlere Teilnahmerate betrug 87.2 %. Vierundvierzig Prozent der Mütter nahmen an allen, 48 % an vier und 8 % an drei Sitzungen des Trainings teil. Die Teilnahmerate korrelierte nicht signifikant mit der Entfernung zwischen Wohn- und Veranstaltungsort (r = −.036, p = .760). Nach Angaben der Teilnehmerinnen wurden die Begleitmaterialien zum Training von 36 % immer, von 28 % oft und von 36 % gelegentlich gelesen. Sechzig Prozent der Mütter gaben an, die Hausaufgaben immer erledigt zu haben, 36 % oft und 4 % gelegentlich. Den Angaben zufolge versuchten 32 % der Mütter immer, 64 % oft und 4 % gelegentlich, die Inhalte im häuslichen Kontext umzusetzen. Zum Post-Test gaben 16 Mütter (64 %) an, sich neben der Teilnahme am Elterntraining anderweitig zum Thema LRS informiert zu haben. Neun Mütter nutzten dazu das Internet, acht ließen sich von einer Fachperson beraten und sechs lasen Bücher
Tabelle 2. Themen des Elterntrainings geordnet nach wahrgenommener Relevanz M
SD
Min.
Max.
Umgang mit der Lese-Rechtschreibstörung
4.84
0.37
4
5
Elterliches Verhalten in der Hausaufgabensituation
4.84
0.37
4
5
Förderung des Lesens und Schreibens im Alltag
4.80
0.50
3
5
Rahmenbedingungen der Hausaufgabensituation
4.75
0.53
3
5
Loben und Rückmeldung geben
4.72
0.54
3
5
Fakten der Lese-Rechtschreibstörung
4.60
0.76
3
5
Ursachen von Lese- und Rechtschreibproblemen
4.60
0.82
2
5
Fehler beim Lernen des Lesens und Schreibens
4.64
0.49
4
5
Einen Ausgleich schaffen
4.44
0.58
3
5
Voraussetzungen für das Lernen des Lesens und Schreibens
4.32
0.95
2
5
Paarweises Lesen
4.28
0.84
2
5
Bücher, Spiele und Software
4.20
0.82
3
5
Ablauf des Schriftspracherwerbs
4.12
1.05
2
5
Anmerkungen. Die Items wurden anhand einer fünfstufigen Skala (1 = unwichtig, 5 = wichtig) beurteilt.
48
Lernen und Lernstörungen 2016; 5(1): 44 – 57
Gruppenprogramm für Eltern von Kindern mit LRS
Tabelle 3. Subjektive Veränderungen im Rahmen des Elterntrainings Item
M
SD
Min.
Max.
1
Können Sie die Informationen und Anregungen im Alltag anwenden?
4.60
0.58
3
5
2
Haben Sie Ihr Verhalten Ihrem Kind gegenüber verändert?
4.28
0.61
3
5
3
Glauben Sie, Ihr Kind jetzt besser beim Lesen- und Schreibenlernen unterstützen zu können?
4.40
0.71
2
5
4
Glauben Sie, Hausaufgaben- und Übungssituationen nun besser bewältigen zu können?
4.26
0.52
3
5
5
Können Sie sich jetzt besser in die Lage Ihres Kindes hineinversetzen?
4.16
0.55
3
5
6
Hat sich das Training positiv auf die Beziehung zwischen Ihnen und Ihrem Kind ausgewirkt?
4.28
0.74
3
5
(Mehrfachnennungen möglich). Zudem gaben 21 Mütter (84 %) an, dass zusätzlich eine kindzentrierte Förderung stattfand, die in schulischem Förderunterricht (n = 15), einer LRS-Therapie (n = 6) oder Nachhilfeunterricht (n = 1) bestand. Bewertung der Rahmenbedingungen und Methodik des Elterntrainings Auf einer Skala von 1 = zu kurz bis 5 = zu lang wurde die Gesamtlänge des Trainings tendenziell als ideal beurteilt (M = 2.71, SD = 0.75). Die Dauer der Sitzungen (M = 3.29, SD = 0.62) sowie der zeitliche Abstand zwischen den Sitzungen (M = 2.96, SD = 0.46) wurden im Durchschnitt ebenfalls als ideal eingeschätzt. Die Teilnehmerinnen schätzten die Gruppengröße als passend ein (M = 3.04, SD = 0.20). Auf einer vierstufigen Skala (1 = völlig unzufrieden bis 4 = völlig zufrieden) gaben die Mütter an, mit den Methoden zur Vermittlung der Inhalte zufrieden zu sein (M = 3.67, SD = 0.44). Hinsichtlich der Merk- und Arbeitsblätter im Training (M = 3.72, SD = 0.46) sowie den Begleitmaterialien für zu Hause (M = 3.72, SD = 0.46) ergab sich ebenfalls eine hohe Zufriedenheit der Teilnehmerinnen. Bewertung der Themen des Elterntrainings Alle Themen des Elterntrainings wurden im Mittel als wichtig eingeschätzt, keine Thematik wurde als gänzlich irrelevant empfunden. Eine Übersicht der Bewertung der Themenrelevanz ist Tabelle 2 zu entnehmen. Als wichtigste Aspekte wurden von den Müttern sowohl der Umgang mit den Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten als auch das elterliche Verhalten in der Hausaufgabensituation angegeben. Die größten interindividuellen Unterschiede zeigten sich hinsichtlich der Bewertung der Themen Ablauf des Schriftspracherwerbs und Voraussetzungen für das Lernen des Lesens und Schreibens. Neun Mütter nannten in der offenen Frage Themen, die ihrer Meinung nach einer ausführlicheren Behandlung bedürfen: Kommunikation mit Lehrern und Schule bezüglich Lernen und Lernstörungen 2016; 5(1): 44 – 57
der Anerkennung der LRS (n = 4), Übungen und Strategien zur Verbesserung der Rechtschreibfähigkeiten (n = 2), Einrichtungen vor Ort für eine LRS-Therapie (n = 1), ein strukturierter Tagesplan zur Bewältigung des Alltags (n = 1) und schließlich die Ursachen der LRS (n = 1). Fünf Mütter wünschten sich insgesamt mehr Zeit zum Austausch untereinander. Zudem äußerten acht Mütter weitere Themenwünsche: Fremdsprachenerwerb bei LRS (n = 3), häusliche Übungsmaterialien als Ersatz für eine LRS-Therapie (n = 2), Institute zur LRS-Förderung außerhalb der Schule (n = 1), elterlicher Umgang mit mehreren Kindern mit besonderen Anforderungen (n = 1), Umgang mit Lehrern (n = 1). Zufriedenheit der Teilnehmerinnen Insgesamt gaben die Mütter eine hohe globale Zufriedenheit mit dem Elterntraining an (M = 3.60, SD = 0.50, Min. = 3; Max. = 4, vierstufige Skala). Der zeitliche und organisatorische Aufwand wurde als angemessen beurteilt (M = 3.28, SD = 0.74, vierstufige Skala). Der Frage, ob sie das Training anderen Eltern empfehlen würden, stimmten die Teilnehmerinnen im Mittel zu (M = 4.60, SD = 0.58, fünfstufige Skala). Die Möglichkeit zum Austausch mit anderen Eltern wurde als positiv empfunden (M = 4.28, SD = 0.84, fünfstufige Skala). Wahrgenommene Veränderungen durch das Training Die Kennwerte zur wahrgenommenen Veränderung im Rahmen des Elterntrainings sind in Tabelle 3 einzusehen. Demzufolge konnten die Mütter die Informationen aus dem Training gut in ihrem Alltag anwenden (Item 1) und nahmen eine Veränderung des Verhaltens gegenüber dem Kind wahr (Item 2). Die Analyse der offenen Frage nach der Art der Verhaltensänderung (n = 24) ergab insgesamt zehn verschiedene Kategorien subjektiver Veränderungen (Mehrfachnennungen möglich). Es wurden ein erhöhtes Ausmaß an Geduld (n = 12), verstärktes Loben (n = 11), sowie mehr Verständnis für die Problematik des Kindes (n = 7) und ein gelassenerer Umgang mit der LRS (n = 7) ge49
Fokus Forschung
Anmerkungen. Die Items wurden anhand einer fünfstufigen Skala (1 = gar nicht, 5 = sehr) beurteilt.
Gruppenprogramm für Eltern von Kindern mit LRS
Tabelle 4. Relevanz und Ausmaß des Erreichens persönlicher Ziele im Rahmen des Elterntrainings Zielbereiche und Items
N
Relevanz M (SD)
Erreichung Posttest M (SD)
Erreichung Follow-Up M (SD)
Einfühlen und Verstehen: Ich möchte …
23
9.8 (0.6)
74.8 (16.2)
77.0 (17.4)
mich in mein Kind einfühlen können.
2
9.0 (1.4)
75.0 (21.2)
75.0 (21.21)
nachvollziehen können, wie es meinem Kind beim Lesen oder Schreiben geht.
14
9.9 (0.5)
73.6 (17.4)
74.3 (20.27)
Verständnis für mein Kind haben.
1
10 (0.0)
60.0 (0)
80.0 (0)
Geduld in Hausaufgaben- und Übungssituationen haben.
6
9.8 (0.4)
80.0 (14.1)
83.3 (10.33)
18
9.6 (0.8)
76.1 (18.5)
76.1 (18.8)
mein Kind bei den Hausaufgaben unterstützen können.
5
9.6 (0.9)
84.0 (20.7)
74.0 (28.81)
mit meinem Kind Rechtschreibfehler in Ruhe besprechen können.
1
9.0 (0.0)
90.0 (0)
70.0 (0)
den Ablauf der Hausaufgabenerledigung strukturieren.
3
9.3 (1.2)
60.0 (26.5)
76.7 (25.17)
in der Hausaufgabensituation ruhig und verständnisvoll bleiben.
9
9.7 (0.7)
75.6 (13.3)
77.8 (13.02)
Unterstützung psychosozialer Entwicklung: Ich möchte …
5
9.8 (0.4)
86.0 (5.5)
70.0 (20.0)
die Stärken meines Kindes erkennen und fördern.
5
9.8 (0.4)
86.0 (5.5)
70.0 (20.0)
29
9.3 (1.1)
60.2 (27.8)
63.4 (30.1)
mein Kind motivieren, in der Freizeit zu lesen oder zu schreiben.
14
9.4 (1.2)
56.1 (29.1)
57.1 (27.30)
mein Kind zum Üben motivieren können.
8
8.6 (1.4)
61.3 (18.1)
63.8 (29.25)
mit meinem Kind täglich gemeinsam lesen.
1
10 (0.0)
0 (0)
0 (0)
mit meinem Kind täglich schreiben üben.
1
9.0 (0.0)
40.0 (0)
40.0 (0)
das Lesen und Schreiben in den Familienalltag einbauen.
2
10 (0.0)
85.0 (21.2)
95.0 (7.07)
mit meinem Kind regelmäßig Spiele spielen, bei denen gelesen oder geschrieben werden muss.
1
10 (0.0)
100.0 (0)
100.0 (0)
für mein Kind eine Lese-Rechtschreibtherapie organisieren.
2
10 (0.0)
80.0 (0)
100.0 (0)
Hausaufgaben- und Übungssituationen bewältigen: Ich möchte…
Fokus Forschung
Lese-Rechtschreibförderung: Ich möchte …
Anmerkungen. N = Anzahl der Nennungen von Zielen; die Relevanz der Ziele wurde auf einer Skala von 1 = unwichtig bis 10 = wichtig beurteilt; das Ausmaß der Zielerreichung ist als Prozentangabe dargestellt.
nannt. Darüber hinaus wurde eine Änderung des Verhaltens in der Hausaufgabensituation (n = 6), eine Veränderung des gemeinsamen Lesens (n = 3), die Reduktion des Leistungsdruckes (n = 3), eine erhöhte Zeitaufwendung für das Kind (n = 2), ein insgesamt positiverer Blick (n = 2) und das Schaffen eines Ausgleiches zum Lernen (n = 1) beschrieben. Hinsichtlich der subjektiven Kompetenz im Umgang mit der LRS gaben die Mütter an, ihr Kind nun besser beim Lesen- und Schreibenlernen unterstützen (Item 3) sowie Hausaufgaben- und Übungssituationen besser bewältigen zu können (Item 4). Außerdem waren die Teilnehmerinnen der Meinung, sich tendenziell besser in die Lage des Kindes hineinversetzen zu können (Item 5). Das Training wirkte sich nach dem subjektiven Empfinden der Mütter letztlich positiv auf ihre Beziehung zum Kind aus (Item 6). 50
Erreichen individueller Ziele im Rahmen des Trainings Die durchschnittliche Relevanz gewählter Ziele aus dem Katalog war im Mittel hoch (M = 9.53, zehnstufige Skala) und mit den Werten der von den Müttern frei formulierten Ziele vergleichbar (M = 9.40, n = 10) (t (24) = 1.044, p = .307). Die aus dem Katalog gewählten Ziele bildeten vier inhaltliche Schwerpunkte, die in unterschiedlichem Ausmaß von den Teilnehmerinnen genannt und erreicht wurden (siehe Tabelle 4). Bei keinem der Zielbereiche bestanden signifikante Unterschiede in der Erreichung zwischen Post- und Follow-up-Test: 1. sich in das Kind einfühlen und es verstehen (t (18) = −0.721, p = .480), 2. Hausaufgabenund Übungssituationen bewältigen (t (17) = 0, p = 1.0), 3. Unterstützung der psychosozialen Entwicklung (t (4) = 1.725, p = .160), 4. Förderung des Lesens und Schreibens (t (28) = −0.967, p = .342). Die größten interindividuellen Lernen und Lernstörungen 2016; 5(1): 44 – 57
Unterschiede in der Zielerreichung wurden für den Bereich Lese-Rechtschreibförderung ermittelt (SDPost-Test = 27.79, SDFollow-up = 30.97). Dieser Bereich wurde zum PostTest in signifikant geringerem Ausmaß erreicht als Bereiche, die Hausaufgaben- und Übungssituationen (t (28) = –3.086, p = .005), das Verstehen und Einfühlen (t (28) = –2.3835, p = .008) oder die psychosoziale Entwicklung (t (28) = –5.005, p = .001) betrafen. Zudem lag das Ausmaß der Erreichung des Bereiches Verstehen und Einfühlen deutlich unter dem der psychosozialen Entwicklung (t (22) = −3.321, p = .003). Zusätzliche eigene Ziele wurden von 10 Müttern formuliert. Diese ließen sich drei inhaltlichen Schwerpunkten zuordnen: 1. den Umgang mit der LRS verbessern (n = 5), 2. Informationen zum Thema LRS erhalten (n = 3), 3. das Kind zum freiwilligen Üben motivieren (n = 3). Das Ausmaß der Zielerreichung unterschied sich nicht signifikant zwischen den Messzeitpunkten (MPost-Test = 78.0; MFollow-up = 76.0; t (9) = 0.51, p = .619).
Diskussion Das Ziel der Datenanalyse von 25 Müttern lese-rechtschreibschwacher Kinder bestand in der Erfassung der Akzeptanz und der subjektiven Effektivität des Elternprogramms «Mein Kind mit Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten verstehen, stärken und unterstützen: Heidelberger Elterntraining zum Umgang mit LRS (HET-LRS)». Mit der Entwicklung und Evaluation dieses Trainings sollte dem bestehenden Mangel an deutschsprachigen Gruppenprogrammen zur Entlastung und Kompetenzstärkung von Eltern von Kindern mit Lese- und/oder Rechtschreibschwierigkeiten entgegengewirkt werden. Der Analyse der Teilnahmeparameter zufolge nahm fast die Hälfte der Mütter an allen Sitzungen des Trainings teil. Diese mittlere Teilnahmerate ist vergleichbar mit Daten anderer Interventionsstudien (George & Kidd, 2011; Hartung, Lups & Hahlweg, 2010; Todd et al., 2010). Die häuslichen Transferübungen erledigten der Befragung zufolge 96 % immer oder oft. Dies spricht für eine hohe Motivation und Partizipationsbereitschaft der Teilnehmerinnen. Aufgrund der Rückmeldungen der Mütter können die Rahmenbedingungen des HET-LRS, wie Gruppengröße, zeitlicher Umfang des Trainings und didaktische Methoden als ideal beurteilt werden. Die Inhalte wurden ausnahmslos als sehr relevant eingeschätzt. Insbesondere die Themen Umgang mit der LeseRechtschreibstörung, Elterliches Verhalten in der Hausaufgabensituation und Förderung des Lesens und Schreibens im Alltag greifen offensichtlich die aktuellen Bedürfnisse der Mütter von Kindern mit LRS auf. Auch Inhalte wie Rahmenbedingungen der Hausaufgabensituation und Hinweise zum Loben und Rückmeldung geben erachteten die Teilnehmerinnen als Lernen und Lernstörungen 2016; 5(1): 44 – 57
äußerst wichtig. Somit kann festgehalten werden, dass die inhaltlichen Schwerpunkte des Trainings, wie das Gestalten von Hausaufgaben- und Übungssituationen, der Umgang mit den Lese-Rechtschreibdefiziten des Kindes und die Lese-Rechtschreibförderung im Alltag, für die Zielgruppe Eltern von Kindern mit LRS passend gewählt wurden. Eine vertiefte Behandlung der Kommunikation mit Lehrern bezüglich der Handhabung der LRS in der Schule sowie eine Erweiterung des Programmes um das Thema Fremdspracherwerb mit LRS scheinen für einen Teil der Mütter wünschenswert. Eine Ergänzung des Trainings um eine zusätzliche Sitzung ist denkbar, um das Bedürfnis der Teilnehmerinnen nach Informationen und Beratung diesbezüglich zu berücksichtigen. Andere gewünschte zusätzliche Themen, wie beispielsweise das Empfehlen von Übungsmaterial als Ersatz für eine LRS-Therapie, stehen allerdings im Widerspruch zur Konzeption des Trainings als eine die Therapie ergänzende Maßnahme. Der Frage nach der globalen Zufriedenheit mit dem HET-LRS stimmten die Teilnehmerinnen in hohem Ausmaß zu. Die Mütter empfanden das Gruppensetting als positiv und würden das Training anderen Eltern weiterempfehlen. Die Akzeptanz des Trainings durch die Teilnehmer als eine Voraussetzung für die Wirksamkeit des Programms in Hinblick auf eine Belastungsreduktion kann als erfüllt angesehen werden. Die von den Teilnehmerinnen subjektiv wahrgenommenen Veränderungen im Rahmen des Trainings liefern erste Hinweise bezüglich dessen Wirksamkeit. Die Mütter berichteten positive Veränderungen hinsichtlich wichtiger Zielaspekte wie dem Verständnis für die Problematik des Kindes, dem Loben, der Bewältigung von Hausaufgaben- und Übungssituationen und der Qualität der Beziehung zum Kind. Außerdem hatten die Mütter nach dem Training das Gefühl, ihre Kinder besser beim Lesen- und Schreibenlernen unterstützen und Hausaufgabensituationen besser bewältigen zu können. Dies bedeutet einen Zuwachs an elterlicher Selbstwirksamkeit in für den Umgang mit LRS relevanten Situationen. In einer Studie von Hartung et al. (2010) wurde die Rolle elterlicher Selbstwirksamkeit im Rahmen des Elterntrainings Workplace Triple P untersucht. Hierbei wirkte sich eine Teilnahme am Elterntraining allein nicht positiv auf die elterliche Selbstwirksamkeit aus. Schafften es die Eltern jedoch ihr dysfunktionales Erziehungsverhalten zu reduzieren, so stieg deren Selbstwirksamkeit im Rahmen des Trainings (vollständige Mediation). Folglich ist denkbar, dass die Mütter im Laufe des HET-LRS ungünstige Verhaltensweisen in Hausaufgabensituationen reduzieren und Fertigkeiten zur Lese-Rechtschreibförderung erweitern konnten und aufgrund dessen einen Zuwachs an elterlicher Selbstwirksamkeit wahrnahmen. Das mittels GAS erfasste Erreichen persönlicher Ziele während des Elterntrainings deutet ebenfalls auf eine sub51
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Gruppenprogramm für Eltern von Kindern mit LRS
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jektive Effektivität der Intervention hin. Die von den Teilnehmerinnen gewählten Ziele besaßen für diese eine hohe und mit den frei formulierten Zielen vergleichbare Relevanz und scheinen daher für eine individuelle Erfolgsmessung geeignet. Die Ziele der vier inhaltlichen Schwerpunkte, 1. Einfühlen und Verstehen, 2. Hausaufgaben- und Übungssituationen bewältigen, 3. Unterstützung psychosozialer Entwicklung und 4. Lese-Rechtschreibförderung wurden zu 55 bis 86 % erreicht. Das Ausmaß der Zielerreichung war drei Monate später vergleichbar hoch. Dies deutet auf langfristige Effekte des Trainings hin. Die Zielerreichung für die Lese-Rechtschreib-Förderung fiel deutlich geringer aus als bei den anderen Bereichen. Es ist denkbar, dass Ziele dieser Kategorie eher langfristig umsetzbar sind, wohingegen Intentionen, die den Perspektivenwechsel und das Einfühlen in die Problematik des Kindes betreffen auch kurzfristig erreichbar scheinen. Zudem ist der Zielbereich der Empathie weniger von der Interaktion mit dem Kind abhängig als die anderen Bereiche und kann somit relativ unabhängig von den Merkmalen des Kindes erreicht werden. Limitationen der Studie Hinsichtlich der Stichprobengenerierung ist erstens kritisch zu bemerken, dass alle rekrutierten Probandinnen prinzipiell an einer Teilnahme am Elterntraining interessiert waren. Es handelt sich somit um eine Auswahl von Müttern, die einem Gruppentraining gegenüber positiv eingestellt waren und eine entsprechend hohe Erwartung und Motivation aufwiesen. Im Rahmen psychotherapeutischer Interventionen sind Zusammenhänge zwischen hohen Erwartungen an eine Intervention und deren Wirksamkeit bekannt, welche von einem hohen Ausmaß an Partizipation mediiert werden (Meyer et al., 2002). Es ist somit zu erwarten, dass Eltern mit niedrigeren Erwartungen an das Training auch in geringerem Ausmaß partizipieren und dementsprechend weniger von der Intervention profitieren. Es ist zudem wahrscheinlich, dass der Einsatz des GAS einen positiven Einfluss auf die Therapiemotivation ausübte. Inwiefern Teilnehmer ihre Ziele auch ohne Anwendung dieses Verfahrens erreichen, gilt es zu prüfen. Zweitens ist kritisch zu betrachten, dass ausschließlich Mütter partizipierten und somit keine Rückschlüsse auf
die Akzeptanz und subjektive Wirksamkeit des Trainings bei Vätern gezogen werden können. Dass sich die Urteile von Müttern und Vätern über die Effektivität einer Intervention signifikant unterscheiden können, zeigte eine Evaluation des Elterntrainings Group Teen Triple P (Kliem, Aurin & Kröger, 2014). Die Auswertung von Teilnehmerzufriedenheit, Themenrelevanz und subjektiv wahrgenommenen Veränderungen durch das Training deutet auf Deckeneffekte hin. Diese einstimmig positiven Bewertungen des Trainings könnten Einflüssen von Erwartungseffekten oder sozialer Erwünschtheit unterliegen (Huber, 2005). Eine positive Bewertung des Trainings wäre zudem für die Teilnehmerinnen funktional, um den eigenen Zeitund Energieaufwand im Rahmen der Intervention sich selbst gegenüber zu rechtfertigen. Inwiefern das HET-LRS effektiv ist, kann aufgrund der bisher vorliegenden Daten noch nicht zufriedenstellend eingeschätzt werden. Bisher mangelt es an Konventionen zur Bewertung des Ausmaßes der Zielerreichung im Rahmen des GAS. Daher ist nicht beurteilbar, ob die hier erreichten Prozentwerte als Indikator für den Erfolg des Trainings gelten können. Die Anzahl von Nennungen der einzelnen Ziele ist außerdem sehr unterschiedlich, somit ist deren Erreichungsausmaß wenig vergleichbar. Die Generalisierbarkeit der Ergebnisse ist aufgrund des relativ hohen Bildungsniveaus der teilnehmenden Familien und des fehlenden Vergleichs mit einer Kontrollgruppe eingeschränkt. Die erhobenen Indikatoren bezüglich der Wirksamkeit des Trainings bilden zudem lediglich subjektive Wahrnehmungen der Teilnehmerinnen ab. Ob die wahrgenommenen Veränderungen im Rahmen des Elterntrainings objektiv messbar sind, gilt es im nächsten Schritt über den Vergleich mit einer unbehandelten Kontrollgruppe zu analysieren. Darüber hinaus ist zu untersuchen, ob die Effekte auch über einen längeren Zeitraum Bestand haben. Diese Fragen sollen im Rahmen der bereits laufenden Evaluation des HET-LRS beantwortet werden. Danksagung Wir danken der Günter Reimann-Dubbers Stiftung für die finanzielle Förderung des Projektes. Zudem bedanken wir uns bei allen Eltern und Kindern für die Studienteilnahme.
Implikationen für die Praxis Einleitende Informationen zur Studie Das Ziel vorliegender Interventionsstudie bestand in der Analyse der Teilnehmerzufriedenheit und subjektiven Wirksamkeit eines Elterntrainings zum Umgang mit leserechtschreibschwachen Kindern im familiären Kontext. Angesichts des Mangels an systematischen Programmen
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für Eltern von Kindern mit Leserechtschreibschwäche oder -störung wurde ein Gruppenprogramm konzipiert, das auf eine Kompetenzsteigerung im familiären Umgang mit einer LRS, eine Belastungsreduktion seitens der Eltern sowie auf eine Verbesserung der Eltern-KindInteraktion in Lern- und Übungssituationen abzielt.
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Inhaltliche Schwerpunkte des Trainings bestehen u. a. im Hintergrundwissen zum Thema Lese-Rechtschreibschwierigkeiten, dem Umgang mit Hausaufgaben- und Übungssituationen und der Förderung des Lesens und Schreibens im Alltag. Im Rahmen vorliegender Studie nahmen 25 Mütter lese-rechtschreibschwacher Kinder an dem entwickelten Elternprogramm teil und wurden direkt nach dem Training sowie drei Monate später hinsichtlich verschiedener Zielvariablen befragt. Ein Paper-Pencil-Fragebogen diente zur Erhebung der Zufriedenheit der Teilnehmerinnen sowie einer Erfassung wahrgenommener Veränderungen. Das Ausmaß des Erreichens persönlich relevanter Ziele wurde mittels einer an das Gruppenprogramm angepassten Form des Goal Attainment Scaling erfasst. Implikationen für die Praxis Die Ergebnisse der Studie besitzen praktische Relevanz, da sie erstens nahelegen, dass das konzipierte Gruppenprogramm von Eltern lese-rechtschreibschwacher Kinder gut angenommen und wertgeschätzt wird und somit in der Praxis durchführbar scheint. Die Teilnehmerinnen waren insgesamt zufrieden mit dem Training und empfanden alle behandelten Themen als äußerst relevant. Somit scheinen die Schwerpunkte des Trainings den
Bedürfnissen der Betroffenen sehr gut zu entsprechen. Zweitens deuten die berichteten subjektiven Erfolge darauf hin, dass Eltern mit Hilfe des Gruppenprogrammes Kompetenzen erwerben und Ziele erreichen können, die für sie persönlich im Umgang mit der LRS des Kindes relevant sind. Zum Dritten hat das Konzept das Potenzial eine Lücke in der Versorgung und Beratung von Eltern lese-rechtschreibschwacher Kinder zu schließen. Aufgrund erhöhter elterlicher Belastung und besonderer Bedürfnisse der Kinder ist eine gezielte Beratung notwendig. LRS-Therapeuten scheinen diesem Bedarf jedoch nicht gerecht zu werden (Multhauf & Buschmann, 2014). Zudem mangelt es bisher an spezifischen und evaluierten Programmen für betroffene Familien. Einschränkend ist zu bemerken, dass die berichteten Effekte des Trainings auf den subjektiven Eindrücken der Mütter beruhen. Diese ersten Hinweise auf die Effektivität des Gruppenprogramms gilt es mit objektiven Daten und dem Vergleich mit einer unbehandelten Kontrollgruppe zu prüfen. Nach erfolgreichem Abschluss der Evaluationsstudie ist eine Implementation des Programmes in die Praxis vorgesehen. Zur Qualitätssicherung sind sowohl das Publizieren eines Manuals sowie das Konzipieren eines Curriculums zur Trainerausbildung geplant.
Forschungsmethoden Die Erfassung der Teilnehmerzufriedenheit und subjektiven Wirksamkeit eines Gruppenprogrammes für Eltern von Kindern mit Lese-Rechtschreibschwierigkeiten wurde am Universitätsklinikum Heidelberg über die Auswertung der Daten von 25 Müttern lese-rechtschreibschwacher Kinder realisiert. Zur Überprüfung der Effektivität seitens kindlicher und elterlicher Parameter findet in einem zweiten Schritt der Vergleich einer Experimentalgruppe mit einer unbehandelten Kontrollgruppe statt. Um die subjektive Effektivität des Gruppenprogramms abzuschätzen, wurde das Verfahren Goal Attainment Scaling (GAS) genutzt. Dabei handelt es sich um ein erstmals von Kiresuk und Sherman (1968) beschriebenes Vorgehen zur Evaluation von Therapien im Bereich klinische Psychologie. Im Rahmen des GAS legen Therapeut und Patient gemeinsam objektiv messbare Ziele für die Behandlung sowie Kriterien für verschiedene Ausmaße der Zielerreichung fest. Im Verlauf oder am Ende der Therapie wird anhand einer fünfstufigen Skala dokumentiert, inwiefern ein Ergebnis hinter den Erwartungen zurückblieb (−1, −2), ein erwartetes Ergebnis eintrat (0)
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oder das Ergebnis die Erwartungen übertraf (+1, +2). Das Verfahren gilt als vielseitig anwendbar und wurde neben dem Einsatz im Einzelsetting bereits für Gruppenbehandlungen adaptiert (Lauth, Breuer & Minsel, 2010). Die in der vorliegenden Studie eingesetzte Form des GAS unterscheidet sich von anderen Anwendungen im Gruppensetting dahingehend, dass kein gemeinsames Formulieren von Zielen und Kriterien zwischen Trainer und Teilnehmer stattfand. Stattdessen wurde vorab ein Katalog mit 20 Zielen ausgearbeitet, die sich an den SMART-Kriterien orientierten und somit spezifisch, messbar, anspruchsvoll, realistisch und terminiert formuliert wurden (Schaefer & Kolip, 2010). In der ersten Sitzung des Gruppenprogramms wählten die Teilnehmerinnen drei dieser Ziele und formulierten bei Bedarf eine weitere eigene Intention. Zudem wurde erfasst, inwiefern sie die Ziele als persönlich relevant einschätzten (10-stufige Likert-Skala, 1 = unwichtig bis 10 = wichtig). Das Ausmaß der Zielerreichung wurde in der letzten Sitzung anhand einer 11-stufigen Skala erfasst (1 = 0 % bis 11 = 100 %).
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Ein Vorteil dieser adaptierten Form des GAS besteht sowohl in der Zeitersparnis, als auch in der Praktikabilität im Gruppensetting. Bei guter Identifikation mit den gewählten Zielen ist davon auszugehen, dass der Einsatz des GAS die Partizipationsbereitschaft der Teilnehmer erhöht und die Zusammenarbeit zwischen Trainer und Teilnehmer intensiviert. Zusätzlich sorgen vorformulierte Ziele dafür, dass die Mütter keine unrealistischen Intentionen verfolgen und ihre Motivation dementsprechend gestärkt ist (Schaefer & Kolip, 2010). Im Allgemeinen bietet sich der Einsatz von Zielerreichungsskalen an, um ein unnötiges Erfassen vieler potenzieller Variablen zu vermeiden und sich auf die persönlich relevanten Zielbereiche der Betroffenen als Kriterium für den Erfolg zu konzentrieren (Lauth et al., 2010). Eine Schwierigkeit bezüglich der Auswertung der Daten besteht darin, einzuschätzen, welches Ausmaß der Zielerreichung als zufriedenstellend zu beurteilen ist. Hierzu sind keine gültigen Konventionen bekannt. Die Einschätzung dieses Ausmaßes wurde in der vorliegenden Studie ausschließlich durch die Teilnehmerinnen selbst beurteilt. Es handelte sich somit um ein subjektives Maß, das im Rahmen des Gruppensettings nicht mit objektiven Indikatoren gestützt werden konnte. Verzerrende Einflüsse wie Erwartungseffekte sind nicht auszuschließen. Eine
Extended abstract Group-Based Training for Parents of Children with Dyslexia: Parent Satisfaction and Subjective Effectiveness Background: Children with dyslexia show a variety of comorbid disorders like behavior and adaptive disorders, hyperkinetic and anxiety disorders (Bäcker & Neuhäuser, 2003; Schulz et al., 2003). Raising and educating a child with dyslexia is a challenging task. Studies show that parents of children with dyslexia suffer under depressive symptoms and higher parenting stress (Antshel & Joseph, 2006; Snowling et al., 2007). To support the child's academic development many parents of children with dyslexia practice reading and writing more often and show controlling and maladaptive behavior. As a result learning motivation of the child and later homework situations are influenced in a negative way (Gasteiger Klicpera et al., 2001). Consequently, it is necessary to provide parent training on appropriate behavior with academic exercises, in order to raise parent's competences, reduce parenting stress and promote learning motivation of the child. Brock and Shute (2001) found positive effects of a cognitive-behavioral group-based parent training for parents of learn54
Erweiterung des GAS um fünfstufige objektive Kriterien für jedes Ziel würde eine differenziertere Aussage bezüglich der Zielerreichung ermöglichen. Die hier angewandte Form des GAS barg die Gefahr einer mangelnden Identifikation der Teilnehmerinnen mit dem vorab erstellten Zielkatalog. Die Relevanz der katalogisierten Ziele auf der einen Seite und der frei formulierten Ziele auf der anderen war jedoch vergleichbar, sodass die Auswahl für den Einsatz im Rahmen des Gruppenprogramms geeignet scheint. Ein universeller Katalog hat den Nachteil, dass der Schwierigkeitsgrad der Ziele nicht auf die Kompetenzen der Teilnehmer abzustimmen ist. Für Teilnehmer, die sich eher leicht bzw. kurzfristig erreichbare Ziele setzten, wurde demensprechend ein höheres Ausmaß der Erreichung ermittelt. Die interindividuelle Vergleichbarkeit der persönlichen Zielerreichung ist folglich eingeschränkt. Der Einsatz des GAS stellte sich letztlich im Rahmen des Gruppenprogrammes als praktikabel heraus. Mit Hilfe des Zielkataloges konnten ökonomisch Hinweise bezüglich einer subjektiven Effektivität des Trainings gewonnen werden. Das Verfahren ist nicht nur als eine sinnvolle Ergänzung anderer Erfolgsmaße im Rahmen von Evaluationen anzusehen, sondern dient auch zur Erhöhung von Motivation und Partizipationsbereitschaft der Teilnehmer.
ing disabled children on dealing with parenting stress, self-blame and emotional attachment to the child. In the German-speaking area there is a lack of elaborated and evaluated programs for parents of dyslexic children. Therefore, a group program that especially addresses the needs of these parents was devised. It is designed to complement child-centered dyslexia therapy. The intervention program consists of 5 sessions held biweekly. A cognitive behavioral approach was chosen. A randomized controlled study of the University of Heidelberg (Children's Hospital) aims at evaluating the effects of the training on both children and parents. For the present study only data of the intervention group were used. Aims: The first aim of the present study was to examine the satisfaction of the mothers who participated in the intervention. The second aim was to research one aspect of effectiveness of the program by analyzing whether changes in relevant situations happened and personal goals could be reached. Methods: The group-based parent training was attended by 25 mothers of children with dyslexia. Data of children and their mothers were collected prior to intervention, directly after intervention and 3 months after intervention. Lernen und Lernstörungen 2016; 5(1): 44 – 57
At pretest the reading, writing and cognitive abilities were measured with standardized instruments. Only children who performed in the normal range on the test measuring cognitive abilities (IQ > 70) and who scored below average in at least one test measuring reading or writing (T-Score < 40) were included. Children with significant deficits in hearing or vision, pervasive developmental disorder or genetic disorders were excluded. For the post-test a paper/pencil questionnaire assessed parents' satisfaction with the training, level of attendance and the relevance of topics included. Furthermore, questions measuring perceived changes in competences in supporting academic development, mastering homework situations and attachment to the child were included. A form of Goal Attainment Scaling (GAS) that was adapted for group setting was used to assess the extent of goal achievement. Therefore, at the first session mothers chose 3 out of a list of 20 specific observable aims like “I would like to do daily writing exercises with my child.” and rated their relevance on a 10-point Likert scale (1 = unimportant, 10 = important). In the last session and 3 month after intervention mothers rated to which extent the goals set could be reached (scale: 0 to 100 %). The training follows a cognitive-behavioral approach and aims at knowledge transfer about dyslexia, raising parent's empathy for the child's difficulties in reading and writing, promoting parent's competencies and self-efficacy in handling dyslexia within the family context and during homework situations, sensitization for opportunities of integrating reading and writing into daily life and reduction of parental stress. A parent group consists of maximum 10 participants. The main topics covered are requirements and phases of acquisition of written language, the causes of dyslexia, helpful strategies for managing homework and exercises, facilitation of literacy in everyday life and dealing with dyslexia. Methods used are brief lectures, example cases, group discussions and practice, as well as homework tasks. Written handouts summarizing important topics are given at every session. Statistical analyses were performed using PASW 18. Differences in goal attainment were analyzed by using t-tests. For interpreting open-ended questions coding categories were developed. Results: Mean attendance rate was 87.2 %. According to the mothers written handouts were read always or often by 64 % and in each session homework tasks were completed by at least 60 %. The mothers rated the duration of the group-based program and its sessions as ‘just right’. Participants were satisfied with the group size. With regard to program structure (M = 3.67) and written handouts (M = 3.72) a high satisfaction was found (4-point Likert-scale). Mothers rated all elements of the training as very relevant (M = 4.12 to M = 4.84 on a 5-point Likert-scale). Strategies Lernen und Lernstörungen 2016; 5(1): 44 – 57
for handling of homework situations and dyslexia in general were reported to be the most important topics. Analysis of open-ended questions indicated that for example the following topics could be added to the program: communication with teachers about dyslexia (n = 4) and foreign language acquisition (n = 3). Overall satisfaction with the training was high (M = 3.60, 4-point Likert-scale) and most of the mothers reported that they would recommend the program to other parents (M = 4.60, 5-point Likert-scale). Furthermore, program ratings indicated that mothers were able to transfer the strategies into everyday life (M = 4.60) and to change their behavior towards their children (M = 4.28) (5-point Likert-scale). Analyzing the open-ended question different forms of behavioral change were observed e. g. more patience (n = 12), giving more praise (n = 11), having better insight into the difficulties of the child (n = 7) and changing parent behavior in homework situations (n = 6). Mothers reported feeling more confident in supporting child’s literacy acquisition (M = 4.40) and in handling homework and exercise situations (M = 4.26) (5-point Likert-scale). Ratings suggest that after the training mothers are more able to empathize with the child (M = 4.16) and that emotional attachment to the child improved (M = 4.28) (5-point Likert-scale). The mean relevance of selected GAS goals was high (M = 9.53, 10-point Likert-scale). Goals of different thematic categories varied in the extent of achievement at the post-test: 1. empathizing with the child (74.78 %), 2. dealing with homework situations (76.11 %), 3. support of social and emotional development (86.0 %) and 4. promoting child's acquisition of reading and writing (60.17 %). At the follow-up goal achievement was still at the same level as directly after intervention. Discussion: In this study we examined parent satisfaction and first effectiveness of the developed group-based program for parents of children with dyslexia. In Germany there seem to be no structured and evaluated parent programs aiming at counselling and reducing stress in parents of dyslexic children. The data show that mothers were highly motivated and participated actively. Mean attendance rate was comparable to data of other studies (George & Kidd, 2011; Hartung et al., 2010; Todd et al., 2010). Participants were satisfied with the general conditions of the program (group size, duration, structure). All topics included were rated as relevant indicating that the content of the program meets the needs of mothers of a dyslexic child. The thematic focus of the intervention (managing homework situations, dealing with dyslexia and facilitating acquisition of reading and writing) seems to match the target group. Analysis of open ended questions revealed further information demand concerning the topics of cooperation with teachers and foreign language acquisition. The addition of one further 55
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session might be necessary in order to meet mothers' needs for further information. Overall satisfaction with the training was high, indicating that acceptance of the program as one requirement for effectivity on parental stress reduction is fulfilled. In measures of effectiveness, mothers reported positive changes regarding empathy, dealing with homework situations, giving praise and attachment to the child. After the program, participants felt more confident in facilitating children's acquisition of written language and supporting homework. Achievement of the personal goals set by the mothers varied between 60 to 86 % at the post-test and was still comparable after a period of 3 month. Mothers rated chosen goals as very important indicating that the prepared list of aims was appropriate for GAS in a group-based training. Goals regarding empathy, homework situations and discovering strengths of the child were reached to a higher extent than goals concerning fostering reading and writing. The latter seem to also depend on the behavior of the child and therefore, can be achieved to a lesser extent. Summarizing the developed group-program seems to be well accepted. Mothers reported positive changes in relevant aspects and could reached personal goals to a certain extent. Nevertheless the study has a number of limitations. All mothers participating were interested in the program and showed high motivation and expectations. Demand effects cannot be excluded. Conventions for judging the extent of goal attainment haven’t been developed yet. Therefore, the evaluation of the percentages reached is unclear. For more information on the effectiveness of the program research of the long-term effects, the use of objective data and a comparison with a non-intervention group are necessary. Keywords: Parent training, dyslexia, specific learning disorder, Goal Attainment Scaling, parenting stress, homework
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Lernen und Lernstörungen 2016; 5(1): 44 – 57
Gruppenprogramm für Eltern von Kindern mit LRS
Dr. Anke Buschmann Diplom-Psychologin. 2009 Promotion an der Universität Frankfurt. 2010 bis 2012 Vertretung einer Professur für Entwicklungspsychologie mit Schwerpunkt Sprache an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg. Lehr- und Dozententätigkeit.
Bettina Multhauf M. Sc. Psych. Seit 2012 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Kinder- und Jugendmedizin, Universitätsklinikum Heidelberg: Mitarbeit im Drittmittelprojekt «Evaluation des Heidelberger Elterntrainings zur Lese- und Rechtschreibförderung», Promotionsprojekt im Fach Psychologie an der Universität Hildesheim zum Thema Lese-RechtschreibStörung. Seit 2012 Tätigkeit als Psychologin im FRIZ | Frühinterventionszentrum in den Bereichen Diagnostik, Beratung, Elterntraining und Fortbildung. fruehinterventionszentrum@googlemail.com
Dr. Anke Buschmann und Bettina Multhauf Frühinterventionszentrum Heidelberg Felix-Wankel-Str. 6 69126 Heidelberg Deutschland buschmann@fruehinterventionszentrum.de
Manuskript eingereicht: 07.04.2014 Manuskript nach Revision angenommen: 11.09.2014 Veröffentlicht online: 6.2.2015
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Fokus Forschung
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Lesen macht stark – erste Ergebnisse der Pilotierung
Fokus Anwendung
Lesen macht stark. Ein Diagnose- und Förderinstrument für die Grundschule Erste Ergebnisse der Pilotierung für den Bereich der Lesefähigkeit Kathrin Hippmann, Simone Jambor-Fahlen und Michael Becker-Mrotzek In der Studie wird ein Diagnose- und Fördermaterial untersucht, welches die zentralen Bereiche des Schriftspracherwerbs erfasst und für die Klassen 1 und 2 entwickelt wurde. Das Material testet in einem längsschnittlichen Design während der ersten beiden Schuljahre die phonologische Bewusstheit, das frühe Schriftwissen, die Lese- und Schreibfähigkeiten sowie die Textkompetenz. Das Ziel des Instruments ist die ökonomische, praktikable und valide Identifikation von Kindern die besonderer Förderung im Schriftspracherwerb bedürfen. Die vorliegende Untersuchung zielt darauf ab zu überprüfen, inwieweit das Instrument diese Anforderung konsistent über vier Messzeitpunkte innerhalb des ersten Schuljahres in den Bereichen Vorläuferfähigkeiten und Leseleistung erfüllen kann. Zunächst wurde eine erste Einschätzung der Vorhersagegüte anhand eines Vergleichs mit der in der Literatur berichteten Prävalenzrate vorgenommen. In einem nächsten Schritt wurden anhand der Kennwerte der klassifikatorischen Vorhersage und des Ratz-Index analysiert, inwiefern die anhand ihrer Leistung in den Vorläuferfähigkeiten zu Beginn des Schriftspracherwerbs als Risikokinder eingestuften Kinder korrekt identifiziert wurden. Die Ergebnisse weisen die vorschulische Diagnostik als problematisch aus. Daraufhin erfolgte eine genauere Betrachtung der Leseentwicklung der Kinder und darauf basierend die Erstellung unterschiedlicher Lesergruppen. Hier zeigt sich, dass die Leseentwicklung als dynamischer Prozess anzusehen ist, in dessen Verlauf die Kinder nicht unbedingt ein Leseniveau beibehalten. Die Schnittmenge der zum jeweiligen Messzeitpunkt festgestellten Risikokinder ist relativ gering, da auch die schwachen Leser keine stabile Gruppe darstellen. Die Dynamik der Leseentwicklung besonders zu Beginn des Schriftspracherwerbs kann zur Erklärung der schlechten Vorhersagewerte beitragen.
Einleitung
D
ie Ergebnisse der aktuellen IGLU Studie (Bos, Tarelli, Bremerich-Vos & Schwippert, 2012) zeigen, dass 15,4 % der Schülerinnen und Schüler der vierten Klassen nicht über ausreichende Lesekompetenzen verfügen. «Für diese Gruppe ist zu erwarten, dass sie in der Sekundarstufe I mit erheblichen Schwierigkeiten beim Lernen in allen Fächern konfrontiert sein werden, wenn es nicht gelingt, sie dort maßgeblich zu fördern.» (Bos et al., 2012, S. 13) Der wichtigste Faktor für eine Kompensierung der schlechten Leseleistungen ist eine frühe Förderung – auch um den Abstand zwischen den guten und den schwachen Schülern nicht zu groß werden zu lassen. Die zu Beginn der Schullaufbahn auftretenden Schwierigkeiten führen in der Folge zu negativen Bewertungen durch die Lehrkräfte oder auch durch die Schülerinnen und Schüler selbst. Diese negativen Rückmeldungen können zu einer Vermeidung des Lesens führen und somit erneut zu geringeren Kompetenzzuwächsen. Dieser sich selbst verstärkende Verlauf wird in der Literatur als Matthäus-Effekt bezeichnet (Stanovich, 58
1986): Gute Leser lesen meist gerne und häufig und bauen dadurch ihre Fähigkeiten immer weiter aus. Schwächere Leser hingegen lesen weniger häufig, wodurch sich ihr Rückstand gegenüber dem Klassenverband vergrößert. Dieser Rückstand lässt sich ohne adäquate Förderung kaum aufholen. Der frühen Förderung muss eine entsprechende Diagnose vorausgehen. Diese muss durch die Lehrkraft erfolgen. In der Unterrichtspraxis stellt die individuelle Diagnose der Kompetenzen einzelner Schülerinnen und Schüler jedoch eine große Herausforderung dar. Die vorhandenen Testinstrumente sind oftmals sehr aufwendig in der Durchführung: Sie testen sehr differenziert häufig ausschließlich einzelne Teilbereiche der Schriftsprache, bspw. nur die Lese- oder nur die Schreibfähigkeit. Dazu fehlt in der Praxis oft die Zeit. Zudem verlangen die Tests meistens eine Durchführung in Einzelsituationen, was in einem Schulalltag nicht praktikabel ist. Aus den genannten Gründen lehnen Lehrkräfte diagnostische Testverfahren häufig ab. Aus dieser Situation heraus ist in den Schulen der Bedarf nach einem Instrument entstanden, das effizient und ökonomisch eingesetzt werden kann. Es sollte die Schriftsprache in der Produktion und in der Rezeption erfassen und Lernen und Lernstörungen 2016; 5(1): 58 – 68 DOI 10.1024/2235-0977/a000124
Lesen macht stark – erste Ergebnisse der Pilotierung
1
(19./20. SW) und 4 (32./33. SW) als Kriterien herangezogen. Die sich daran anschließende zweite Fragestellung ist, wie sich die Lesekompetenzen der Kinder insgesamt entwickeln. Unter der Annahme des Matthäus-Effekts (ebd.) wird davon ausgegangen, dass schwache Leser ohne adäquate Förderung schwach bleiben, während gute Leser sich stetig verbessern und entsprechend der Abstand zwischen den Gruppen immer größer wird.
Methodik Das Diagnose- und Fördermaterial – Allgemeine Konzeption «Lesen macht stark – Grundschule»2 ist die konsequente Weiterführung des Gesamtprojektes «Niemanden zurücklassen», das sich zunächst auf die Förderung der Lesekompetenzen der Schülerinnen und Schüler an weiterführenden Schulen konzentrierte.3 Für die Primarstufe wurde der Fokus auf den gesamten schriftsprachlichen Bereich erweitert, d. h. Schrift lesen und produzieren, Texte verstehen und produzieren. In einer Pilotierungsstudie4 (2013 – 2015) wurde das Diagnose- und Fördermaterial überprüft. Diese Daten liegen der vorliegenden Untersuchung zugrunde. Das Material besteht aus zwei Heften: dem Schülerheft, welches die Aufgaben der jeweiligen Meilensteine umfasst und dem Lehrerheft, in dem neben den Aufgabenlösungen zusätzliche Informationen wie didaktische Hinweise, präzise Angaben zur Aufgabendurchführung, Auswertungshinweise und Fördermöglichkeiten enthalten sind (Institut für Qualitätsentwicklungan Schulen, 2014a, b). Um individuelle Angebote zur Unterstützung und Förderung zusammenstellen zu können, schließen sich an jeden Meilenstein Förderseiten an. Diese befinden sich ebenfalls im
Das Material wurde innerhalb des Projekts «Niemanden zurücklassen – Lesen macht stark – Grundschule» vom Team des MercatorInstituts für Sprachförderung und Deutsch als Zweitsprache der Universität zu Köln (MI; Projektleitung Prof. Dr. Michael BeckerMrotzek) sowie der Mitarbeiterinnen des Instituts für Qualtitätsentwicklung an Schulen Schleswig Holstein (IQSH; Projektleitung Prof. Dr. Thomas Riecke-Baulecke) entwickelt.
2
«Niemanden zurücklassen – Lesen macht stark Grundschule» ist ein Projekt des Instituts für Qualitätsentwicklung an Schulen Schleswig Holstein (IQSH) in Kooperation mit dem Mercator-Institut für Sprachförderung und Deutsch als Zweitsprache der Universität zu Köln (MI) und dem Leibniz-Institut für die Pädagogik der Naturwissenschaften und der Mathematik (IPN).
3
Das Land Schleswig-Holstein fördert in dem flächendeckenden Projekt «Niemanden zurücklassen – Lesen macht stark» seit 2006 Schülerinnen und Schüler der Sekundarstufe I bei der Entwicklung ihrer Lesekompetenz. Das zentrale Ziel ist die Entwicklung der Kompetenzen leseschwacher Jugendlicher. Die Fachdidaktikerinnen des Instituts für Qualitätsentwicklung an Schulen Schleswig Holstein (IQSH) entwickelten in Zusammenarbeit mit dem Cornelsen Verlag Materialien, die die Leseaktivitäten und -kompetenzen nachweislich verbessern konnten, wie die Evaluation durch das Institut für die Pädagogik der Naturwissenschaften und Mathematik (IPN) in Kiel zeigte (vgl. Köller et al. 2011).
4
Das Material wurde in der Pilotierungsphase durch das Institut für die Pädagogik der Naturwissenschaften und der Mathematik (IPN) unter der Leitung von Jun. Prof. Dr. Jan Retelsdorf ausgewertet.
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Fokus Anwendung
auch die Textkompetenz berücksichtigen. Neben der Erfassung der schriftsprachlichen Leistungen sollten entsprechende Fördermöglichkeiten angeboten werden. Das zentrale Ziel des Materials bleibt jedoch die frühe Identifizierung der Risikokinder, also der Kinder, bei denen ein Risiko zur Ausbildung von Lese-Rechtschreibschwierigkeiten besteht. Der Begriff Risikokinder umfasst dabei nicht nur Kinder, denen aufgrund ihrer Leistung in schriftsprachlichen Vorläuferfähigkeiten ein Risiko im Schriftspracherwerb vorhergesagt wird, sondern weiterführend auch die Kinder, bei denen aufgrund ihrer schwachen schriftsprachlichen Leistungen eine sich anbahnende Lese-Rechtschreibschwäche auszumachen ist. Aus dieser Bedarfslage heraus wurden Diagnose- und Förderaufgaben zu zentralen Bereichen des Schriftspracherwerbs entwickelt, die in Klasse 1 und 2 eingesetzt werden sollen.1 Das Instrument zielt ausschließlich auf die Identifizierung der schwächsten Kinder; eine Differenzierung in der mittleren oder oberen Leistungsschicht wurde nicht angestrebt. Insofern wurde bei der Aufgabenentwicklung bewusst auf ein geringes Schwierigkeitsniveau geachtet. Im Verlauf der ersten beiden Schuljahre gibt es sieben Messzeitpunkte; vier im ersten und drei im zweiten Schuljahr. Diese Messzeitpunkte werden im Material als «Meilensteine» bezeichnet, um einen Bezug zu den Entwicklungsschritten zum jeweiligen Zeitpunkt herzustellen. Wir werden im Folgenden die Begriffe «Meilenstein» und «Messzeitpunkt» synonym verwenden. Die erste Fragestellung der vorliegenden Untersuchung befasst sich mit der Vorhersage von Risikokindern anhand ihrer Leistung in Aufgaben zu schriftsprachlichen Vorläuferfähigkeiten. Dabei werden die Daten des ersten Meilensteins (2./3. Schulwoche) als Prädiktoren sowie die Ergebnisse der Leseaufgaben der Meilensteine 2 (13./14. SW), 3
Fokus Anwendung
Lesen macht stark – erste Ergebnisse der Pilotierung
Lehrerheft und enthalten jeweils zu zentralen Merkmalen des Lese- und Schriftspracherwerbs praktische Hinweise, Übungen und Spiele sowie Erkenntnisse aus Sicht der Wissenschaft. Diese Förderseiten befinden sich im Lehrerheft, das darüber hinaus didaktische Hinweise und präzise Angaben zur Durchführung, Zeitangaben und Hinweise zur Auswertung der Aufgaben enthält. Der erste Meilenstein nimmt eine Sonderstellung innerhalb der Meilensteine ein. Er wird bereits in der dritten Schulwoche durchgeführt und testet zwei zentrale Vorläuferfähigkeiten des Schriftspracherwerbs, die phonologische Bewusstheit und das frühe Schriftwissen. Die Meilensteine 2 bis 4 (die Meilensteine 5 – 7 liegen im zweiten Schuljahr und sind nicht Teil dieser Untersuchung) erfassen kontinuierlich die Kompetenzen der Kinder in den Bereichen Schriftkompetenz (Schrift lesen und schreiben) und Textkompetenz (Texte verstehen und produzieren). Hier finden sich auch Aufgabenformate, die wiederholt eingesetzt werden. Diese «Ankeraufgaben» ermöglichen es den Lehrkräften, den kontinuierlichen Lernfortschritt der Kinder zu beobachten. Zu jedem Aufgabentyp gibt es generell sowohl Klassenals auch Einzelaufgaben. Die Klassenaufgaben werden mit der gesamten Lerngruppe bearbeitet. Sie dienen als Screening, um schnell und arbeitsökonomisch den Entwicklungsstand aller Kinder zu erfassen und zu filtern: Die Kinder, die bei den Klassenaufgaben auffällig schwache Leistungen in den einzelnen Aufgaben zeigen, bearbeiten zur Absicherung der Ergebnisse die Einzelaufgaben im Lerngespräch in einer Einzel- oder Kleingruppensituation. Die Einzelaufgaben sind strukturell analog zu den Klassenaufgaben entwickelt worden. Die vorliegende Untersuchung konzentriert sich jedoch zunächst auf die Ergebnisse der Klassenaufgaben. Konzeption des ersten Meilensteins mit Aufgaben zur phonologischen Bewusstheit und zum frühen Schriftwissen Man versteht unter phonologischer Bewusstheit die Fähigkeit, phonologische Strukturen von Wörtern zu erfassen bzw. die Aufmerksamkeit auf die Laute der Sprache zu richten und sie unabhängig von ihrer Bedeutung bewusst zu manipulieren. Die Förderung der phonologischen Bewusstheit führt nachweislich zu einer Verbesserung der schriftsprachlichen Kompetenzen. So belegt eine Metaanalyse von Ehri et al. (2001) von 96 Studien zur Wirksamkeit von PB-Förderprogrammen, dass die Förderung der PB eine generelle positive Wirkung auf die Entwicklung der phonologischen Bewusstheit, der Lesegeschwindigkeit und der Rechtschreibung hat. Weiter konstatieren Ehri et al. (ebd.) allerdings die Reduzierung des positiven Einflusses mit zuneh60
mendem Alter der Kinder, bzw. mit zunehmender Schrifterfahrung. Die phonologische Bewusstheit wird dementsprechend als Schlüsselkomponente in der Entwicklung der Leseund Schreibfähigkeiten angesehen. Ein weiterer bewährter Prädiktor für den Schriftspracherwerb ist das frühe Schriftwissen (Lonigan & Whitehurst, 1998; Hippmann, 2008). Das Schriftwissen umfasst das Wissen über und das Kennen von graphischen und lautlichen Gestalten der Grapheme. Die Kenntnis von Buchstaben in ihrer grundsätzlichen Funktion ist eine notwendige Bedingung für den Umgang mit Schrift. Die Erfassung des frühen Schriftwissens erfolgt über die Feststellung der Kenntnisse von Buchstabennamen oder Lautwerten. Konzeption der Leseaufgaben in den Meilensteinen 2 – 4 Das vorliegende Material von «Lesen macht stark – Grundschule» bezieht sich nur auf die ersten beiden Schuljahre und damit auf das Lesen auf Wort- und Satzebene. Ist insbesondere die Worterkennung ausreichend automatisiert und effizient, stehen vorher benötigte Aufmerksamkeitsressourcen für höhere Verstehensprozesse zur Verfügung. Die Meilensteine 2 – 4 umfassen daher insgesamt drei Aufgabentypen zum Lesen. Zwei Aufgaben erfassen die Wortlesefähigkeit, eine Aufgabe misst die Lesefähigkeit auf Satzebene (s. Abbildung 1). Für das Lesen auf Wortebene können Kinder verschiedene Strategien anwenden: Phonem-Graphem-Zuordnungen, Erkennen von prominenten Wortteilen, Erkennen von Ganzwörtern und Wortbildern. Um Ratestrategien transparent zu machen, wurden die Items auch im Hinblick darauf ausgewählt, dass sie die gleichen Wortanfänge haben (z. B. Hase – Heft). Zudem wurden zusätzliche Bilder als falsche Antwortalternativen (Distraktoren) eingefügt, damit die Ratewahrscheinlichkeit sinkt. Die Wörter wurden darüber hinaus so gewählt, dass ihr Schwierigkeitsgrad hinsichtlich der Wortstruktur und bezogen auf die verwendeten Buchstaben (bereits im Unterricht behandelte bzw. noch nicht behandelte Buchstaben) ansteigt. Das Wortmaterial ist bewusst so konzipiert worden, dass die meisten Kinder noch nicht alle Wörter vollständig erlesen können. Das verstehende Lesen einzelner Wörter ist eine notwendige jedoch nicht ausreichende Bedingung für das Satzverständnis. Hier spielen neben der semantischen Ebene noch die syntaktischen Relationen der einzelnen Elemente eine Rolle. Diese weiterführenden Kompetenzen werden durch Aufgaben zum Satzlesen erfasst. Eine Übersicht der Aufgaben in den jeweiligen Meilensteinen findet sich in Abbildung 1. Lernen und Lernstörungen 2016; 5(1): 58 – 68
Fokus Anwendung
Lesen macht stark – erste Ergebnisse der Pilotierung
Abbildung 1. Übersicht der einzelnen Aufgaben in den jeweiligen Meilensteinen.
Stichprobe Aus den Meilensteinen 1 – 4 stehen die Daten der Pilotierung zur Verfügung. Die Pilotierung umfasst die Schuljahre 2013/14 und 2014/15. Berichtet werden die Ergebnisse der Klassenaufgaben. Die an der Untersuchung beteiligten Kinder stammen aus 20 Klassen von zehn Schulen aus dem Großraum Kiel und Lübeck. Die Durchführung des Materials erfolgte vor Ort an den Schulen durch geschulte Lehrkräfte. Die vorliegende Untersuchung bezieht sich auf Daten von Kindern, die an allen vier Messzeitpunkten (MZP1: 2./3. SW; MZP2: 12./13. SW; MZP3: 20. SW; MZP4: 33. SW) teilgenommen haben. Daraus ergibt sich eine Gesamtstichprobe von 269 Kindern (45 % Mädchen). Die Schülerinnen und Schüler sind zum ersten Messzeitpunkt im Mittel 6 Jahre und 9 Monate alt (Min = 5;8 Jahre, Max = 8;4 Jahre, SD = 0;5 Jahre). Lernen und Lernstörungen 2016; 5(1): 58 – 68
Ergebnisse Zunächst werden die Variablen, die in die weitere Analyse einfließen, erläutert. Da die Aufgaben sich zum Teil aus einer unterschiedlichen Anzahl von Items zusammensetzen, wurden die Ergebnisse pro Aufgabe jeweils in Prozent umgerechnet. Dadurch wird im Falle einer Aufsummierung der Leistung aus verschiedenen Aufgaben einer ungewollten Gewichtung vorgebeugt. Im Meilenstein 1 wurden als Vorläuferfähigkeiten die phonologische Bewusstheit und das frühe Schriftwissen erfasst. Da die hierzu eingesetzten Aufgaben ein zugrundeliegendes Konstrukt erfassen, werden deren Ergebnisse summiert und unter den Variablen phonologische Bewusstheit (PB) und frühes Schriftwissen (FS) zusammengefasst. Die darauffolgenden Meilensteine erfassen die frühe Lesekompetenz. Aufgrund des starken Zusammenhangs 61
Fokus Anwendung
Lesen macht stark – erste Ergebnisse der Pilotierung
der einzelnen Leseaufgaben innerhalb der Meilensteine (MS 3: zwischen r = .60 und r = .66, p < .01); MS 4: zwischen r = .42 und r = .54, p < .01) werden die Leistungen ebenfalls zu Gesamtlesescores summiert. Folgende Variablen fließen somit in die weitere Analyse ein: PB: phonologische Bewusstheit (Reimwörter finden, Silbengliederung, Anlaute erkennen) FS: frühes Schriftwisssen (bekannte Buchstaben finden, Buchstaben erkennen, Laut-Buchstaben-Zuordnung) LMS 2: Lesefähigkeit im zweiten Meilenstein (WortBild-Zuordnung) LMS 3: Lesefähigkeit im dritten Meilenstein (Wort-BildZuordnung, Richtige Wörter Finden, Satzlesen) LMS 4: Lesefähigkeit im vierten Meilenstein (WortBild-Zuordnung, Richtige Wörter Finden, Satzlesen) Tabelle 1 zeigt die Mittelwerte und Standardabweichungen sowie das Minimum und Maximum der Variablen. Die Verteilung der Mittelwerte zeigt, dass die Aufgaben insgesamt eher leicht lösbar waren; Deckeneffekte lassen sich jedoch nicht feststellen.
Der Zusammenhang zwischen den Lesemaßen der drei Meilensteine war zu erwarten, da es sich um ähnliche Aufgabenkonstruktionen und Teilbereiche des Konstrukts Lesen handelt. Der Zusammenhang bei direkt aufeinanderfolgenden Meilensteinen ist stärker. Die Leseleistung zum Messzeitpunkt 2 korreliert höher mit der des direkt darauffolgenden Messzeitpunkt 3 als mit der des Messzeitpunkt 4 (LMS 2 – LMS 3: r = .57, p < .01; LMS 2 – LMS 4: r = .45, p < .01) Noch stärker ist der Zusammenhang zwischen den Lesemaßen gegen Ende des ersten Schuljahres (LMS 3 – LMS 4: r = .66, p < .01). Diese Unterschiede zwischen den Korrelationen der Leseaufgaben zu den 3 Messzeitpunkten überraschen, da die Leistungserfassung sehr eng ist und zwischen den Erhebungen jeweils nur wenige Wochen liegen (zwischen Meilenstein 2 und Meilenstein 3 liegen etwa 8 Wochen, zwischen Meilenstein 3 und Meilenstein 4 liegen etwa 13 Wochen). Aufgrund der zeitlichen Nähe und der Ähnlichkeit der Aufgaben zur Erfassung der Leseleistung wurden insgesamt höhere Korrelationen erwartet.
Interkorrelationen Bei der Betrachtung der Interkorrelationen zwischen den einzelnen Variablen (s. Tabelle 2) wird deutlich, dass sowohl zwischen den Vorläuferfähigkeiten (PB und FS) (r = .38, p < .01) als auch zwischen den Leseleistungen Zusammenhänge bestehen. Darüber hinaus korrelieren die Vorläuferfähigkeiten mit der Leseleistung zu allen drei Messzeitpunkten. Der Einfluss des frühen Schriftwissens auf die Leseleistungen innerhalb des ersten Schuljahrs scheint mit der Zeit abzunehmen, die Korrelation sinkt von r = .41 im zweiten Meilenstein auf r = .30 im vierten Meilenstein. Demgegenüber bleibt der Zusammenhang zwischen den vorschulischen phonologischen Kompetenzen und der Leseleistung über die Meilensteine hinweg relativ konstant (zwischen r = .43, p < .01 und r = .46, p < .01).
Häufig werden korrelationsstatistische Ansätze zur Vorhersage schriftsprachlicher Leistungen genutzt. Diese überprüfen die Zusammenhänge zwischen Prädiktoren und Kriterien über das gesamte Leistungssprektrum einer Gruppe hinweg. Allein auf der Grundlage korrelationsstatistischer Verfahren lässt sich jedoch nicht überprüfen, inwieweit das Instrument tatsächlich die Kinder identifiziert, die Schwächen im Schriftspracherwerb entwickeln und einer zusätzlichen Förderung bedürfen. Um die prognostische Qualität des Instruments zu bestimmen, wird deshalb eine klassifikatorische Vorhersage durchgeführt, mit der die individuelle Vorhersagegenauigkeit überprüft wird. Das heißt, es wird die Frage beantwortet, ob ein Prädiktor eine Schwäche auf individueller Ebene, also auf Schülerebene, vorhersagen kann. Dafür ist es notwendig, die Kinder anhand ihrer Leistung in Leistungsgruppen einzuteilen. Hierzu wurden die Variablen klassiert, indem
Tabelle 1. Mittelwerte (M), Standardabweichungen (SD), Minimum
Vorhersage von Risikokindern
(Min) und Maximum (Max) der Variablen. Tabelle 2. Interkorrelation der Variablen. Variable
M
SD
Min
Max
FS
74,03
19,37
0
100
PB
76,81
18,16
0
100
LMS 2
62,70
34,88
0
100
LMS 3
69,84
24,31
13,26
100
LMS 4
82,22
17,54
4,17
100
Anmerkungen. FS = frühes Schriftwissen, PB = phonologische
Variable
FS
FS
PB
LMS 2
LMS 3
LMS 4
.38**
.41**
.44**
.30**
.43**
.46**
.45**
.57**
.45**
PB
.38**
LMS 2
.41**
.43**
LMS 3
.44**
.46**
.57**
LMS 4
.30**
.45**
.45**
.66** .66**
Bewusstheit, LMS 2 = Lesefähigkeit im Meilenstein 2, LMS 3 =
Anmerkungen. N = 269, * p < .05, ** p < .01, Lesefähigkeit im
Lesefähigkeit im Meilenstein 3, LMS 4 = Lesefähigkeit im Meilen-
Meilenstein 2, LMS 3 = Lesefähigkeit im Meilenstein 3, LMS 4 =
stein 4
Lesefähigkeit im Meilenstein 4
62
Lernen und Lernstörungen 2016; 5(1): 58 – 68
Lesen macht stark – erste Ergebnisse der Pilotierung
Tabelle 3. Kennwerte zur Vorhersagegüte der phonologischen Bewusstheitsfähigkeiten
PB
LMS 3
LMS 4
auffällig
unauffällig
auffällig
unauffällig
auffällig
unauffällig
Risiko
10
26
12
24
10
26
kein Risiko
48
185
39
194
33
200
GR
22 %
19 %
16 %
SE
17 %
24 %
23 %
SP
88 %
89 %
89 %
PTQ
28 %
33 %
28 %
RATZ
1%
18 %
14 %
Anmerkungen. PB = phonologische Bewusstheit, LMS 2 = Lesefähigkeit im Meilenstein 2, LMS 3 = Lesefähigkeit im Meilenstein 3, LMS 4 = Lesefähigkeit im Meilenstein 4, GR = Grundrate, SE = Sensitivität, SP = Spezifität, PTQ = Prädiktortrefferquote, RATZ = relativer Anstieg der Trefferquote gegenüber der Zufallstrefferquote
auf der Standardabweichung beruhende Intervalle erstellt wurden. Die Trennwerte der Gruppen liegen jeweils beim Mittelwert und einer Standardabweichung auf der Grundlage der durchsuchten Fälle. Daraus resultieren für jede Variable vier Gruppen: Gruppe 1 bzw. Risikogruppe = Kinder, deren Leistung mehr als eine Standardabweichung unter dem Mittelwert der Gesamtstichprobe im jeweiligen Kompetenzbereich liegt, fallen in diese Gruppe. Gruppe 2, schwache Leistung = Kinder, deren Leistung im Bereich zwischen dem Mittelwert und dem Mittelwert minus einer Standardabweichung liegt. Gruppe 3, gute Leistung = Kinder, deren Leistung im Bereich zwischen dem Mittelwert und plus einer Standardabweichung über dem Mittelwert liegt. Gruppe 4, sehr gute Leistung = Kinder, deren Leistung über dem Mittelwert plus einer Standardabweichung liegt. Da derzeit noch keine Daten von Außenkriterien vorliegen, die die Zuordnung zu einer Risikogruppe absichern können, wird in Anlehnung an die IGLU-Studie (Bos et al., 2012) von einem 15 %-Anteil von Kindern ausgegangen, der nicht ausreichende Lesekompetenzen aufweist bzw. eine Leseschwäche entwickelt. Insgesamt scheint durch das Instrument der Anteil der Risikokinder eher überschätzt zu werden. Der Anteil der Kinder in den Risikogruppen ist besonders zu den Messzeitpunkten 2 und 3 mit 22 % und 19 % sehr hoch. Wichtig für die Praxis ist, dass alle Kinder, die eine intensive Förderung benötigen, ermittelt und gefördert werden können. Eine Überschätzung der Risikokinder führt also zunächst dazu, dass möglicherweise mehr Kinder gefördert werden, als notwendig wäre. Inwiefern die durch das Screening identifizierten Kinder tatsächlich korrekt als Risikokinder erfasst wurden Lernen und Lernstörungen 2016; 5(1): 58 – 68
und ob mit Hilfe des Materials die Kinder, die Defizite im Leseerwerb aufweisen, korrekt identifiziert wurden, soll im Folgenden analysiert werden. Dem Ansatz der Identifizierung von Risikokindern, die im weiteren Verlauf ohne adäquate Förderung Schwächen im Leseerwerb ausbilden bzw. ausbauen, liegt die Annahme zugrunde, dass die vorschulisch erfassten Fähigkeiten der phonologischen Bewusstheit und des frühen Schriftwissens sich direkt auf den Erwerb der Schriftsprache auswirken und entsprechende Defizite in schriftsprachlichen Schwächen resultieren. Das Kriterium für die Qualität und Validität eines Screenings bzw. eines Risikomonitorings ist in erster Linie die Wahrscheinlichkeit, mit der die individuelle Vorhersage gelingt. Klassifikatorische Vorhersage der Lesefähigkeiten anhand der vorschulischen phonologischen Bewusstheit Für die klassifikatorische Vorhersage werden die vier Gruppen in Risiko- und Nicht-Risikogruppe eingeteilt. Gruppe 1 bleibt bestehen, während die vormaligen Gruppen 2, 3 und 4 in einer neu definierten Gruppe 2, also kein Risiko bzw. keine problematische Leseleistung, zusammengefasst werden. Anhand der in Tabelle 3 dargestellten Kennwerte wird nun die Vorhersagegüte des Prädiktors phonologische Bewusstheit zu dem Kriterium Lesefähigkeit über die drei Messzeitpunkte hinweg überprüft. (Details zur Berechnung der Kennwerte finden sich bspw. bei Marx & Weber, 2006). 36 Kinder (13 % der Gesamtstichprobe) fielen aufgrund ihrer schwachen Leistungen in den Aufgaben zur phonologischen Bewusstheit in die Risikogruppe. Zum Messzeitpunkt 2 zeigen 58 Kinder (22 % der Gesamtstichprobe) auffällig schwache Leistungen im frühen Lesen. Von die63
Fokus Anwendung
LMS 2
Lesen macht stark – erste Ergebnisse der Pilotierung
Tabelle 4. Kennwerte zur Vorhersagegüte des frühen Schriftwissens. LMS 2
Fokus Anwendung
FS
LMS 3
LMS 4
auffällig
unauffällig
auffällig
unauffällig
auffällig
unauffällig
Risiko
11
32
14
29
13
30
kein Risiko
47
179
37
189
30
196
GR
22 %
19 %
16 %
SE
19 %
28 %
30 %
SP
85 %
87 %
87 %
PTQ
26 %
33 %
30 %
RATZ
1%
17 %
17 %
Anmerkungen. FS = frühes Schriftwissen, LMS 2 = Lesefähigkeit im Meilenstein 2, LMS 3 = Lesefähigkeit im Meilenstein 3, LMS 4 = Lesefähigkeit im Meilenstein 4, GR = Grundrate, SE = Sensitivität, SP = Spezifität, PTQ = Prädiktortrefferquote, RATZ = relativer Anstieg der Trefferquote gegenüber der Zufallstrefferquote
sen tatsächlich schwachen Kindern wurden nur 10 (17 %) korrekt vorhergesagt, während 48 Kindern (83 %) kein Risiko im Erwerb der schriftsprachlichen Fähigkeiten vorhergesagt wurde. Das heißt, der Großteil der Kinder, die Schwächen entwickeln, konnte nicht durch den Prädiktor identifiziert werden. Die geringe prognostische Qualität lässt sich anhand der Kennwerte der klassifikatorischen Vorhersage bestimmen. Die Sensitivität, die den Anteil der Kinder mit einem tatsächlichen Lesedefizit bestimmt, der durch den Prädiktor korrekt vorhergesagt wurde, ist mit 17 % sehr niedrig. Die Spezifität liegt bei 88 %. Das heißt 88 % der Kinder, die kein Defizit im Lesen zum Zeitpunkt LMS 2 entwickelt haben, wurden durch den Prädiktor korrekt als Nicht-Risikokinder identifiziert. Die Prädiktortrefferquote umfasst den Anteil der Kinder, denen ein Risiko vorhergesagt wurde und bei denen tatsächlich auch eine Schwäche vorliegt. In diesem Fall handelt es sich um 10 von 36 Kindern, also 28 %. 26 Kindern (72 %) wurde ein Risiko vorhergesagt, welches sich nicht bestätigt. Der letzte Kennwert der Tabelle 3, der RATZ-Index, beschreibt den relativen Anstieg der Trefferquote gegenüber der Zufallstrefferquote (vgl. Marx, 1992). Dieser Wert gibt Auskunft darüber, ob und wenn ja mit welcher Güte die Vorhersage die Zufallsvorhersage übertrifft. RATZ-Indizes über 66 % gelten als sehr gute Klassifikationen, während gute Klassifikationen zwischen 34 % und 66 % liegen. Werte unter 34 % gelten als nicht ausreichend (Jansen, Mannhaupt, Marx & Skowronek, 1999) und die Vorhersagegüte des Instruments ist somit nicht akzeptabel. Letzteres trifft auf die Vorhersage der Leseleistung zu allen drei Messzeitpunkten anhand der phonologischen Bewusstheitsfähigkeiten zu. Der RATZ-Index bewegt sich zwischen 1 % zum LMS 2 und maximal 18 % zum LMS 3. 64
Auch wenn die Anzahl der korrekt identifizierten Kinder zu den drei Messzeitpunkten gleich bzw. ähnlich ist (LMS 2: N = 10; LMS 3: N = 12; LMS 4: N = 10), sind es doch nicht immer die gleichen Kinder, die konstant Schwierigkeiten im Leseerwerb haben. Nur zwei Kinder, die durch den Prädiktor als Risikokinder klassifiziert wurden, fallen in allen drei LMS auch in die Risikogruppe. Insgesamt weisen sowohl der RATZ-Index als auch die weiteren Vorhersagekennwerte die phonologischen Bewusstheitsfähigkeiten als nicht ausreichenden Prädiktor der Leseleistung aus. Klassifikatorische Vorhersage der Lesefähigkeiten anhand des vorschulischen Schriftwissens Im Folgenden wird nun die Vorhersagegüte des zweiten Prädiktors, des frühen Schriftwissens überprüft. Die Kennwerte der klassifikatorischen Vorhersage sind in Tabelle 4 dargestellt. 43 Kinder, also 16 % der Gesamtstichprobe, werden durch die Aufgaben zum frühen Schriftwissen als Risikokinder identifiziert. 11 dieser Kinder haben zum zweiten Messzeitpunkt Schwierigkeiten mit dem Lesen. Das heißt 11 der 43 vorhergesagten Risikokinder weisen tatsächlich Defizite auf. Die Prädiktortrefferquote liegt bei 26 %. Allerdings ist die Gruppe der Kinder, die zum Messzeitpunkt 2 erste Leseschwächen aufweisen mit 58 Kindern recht groß. Da von diesen Kindern nur elf korrekt als Risikokinder identifiziert wurden, liegt die Sensitivität mit 19 % in einem sehr niedrigen Bereich. Das heißt, auch hier wurde ein Großteil der Kinder nicht korrekt durch den Prädiktor vorhergesagt. 85 % der Kinder, denen kein Risiko vorhergesagt wurde, zeigen zum zweiten Messzeitpunkt unauffällige Leistungen, wurden also korrekt als Nicht-Risikokinder klassifiziert (Spezifität). Lernen und Lernstörungen 2016; 5(1): 58 – 68
Analyse der Leseentwicklung Unabhängig von der vorschulischen Leistung wird im Folgenden die tatsächliche Leseentwicklung der Kinder betrachtet. Da die Ergebnisse der Leseaufgaben untereinander und auch über die Messzeitpunkte hoch korrelieren, wird angenommen, dass sie genutzt werden können, um die individuelle Leseentwicklung zu verfolgen. Auf Basis der beobachteten individuellen Leseleistung lassen sich die folgenden Kategorien bilden, bzw. folgende Gruppen differenzieren Schwache Leser (N = 66, 25 %): Kinder in dieser Gruppe zeigen über die drei Messzeitpunkte hinweg gleichbleibend schwache Leistungen (vormals Gruppe 1 und 2, siehe oben), bzw. kommen zum dritten Messzeitpunkt einmal in die nächst höhere Gruppe (z. B. 2 – 3 – 2). Durchschnittliche Leser (N = 113, 42 %): Kinder in dieser Gruppe zeigen über die drei Messzeitpunkte hinweg gleichbleibend gute bis sehr gute Leistungen (vormals Gruppe 3 und 4), bzw. kommen zum dritten Messzeitpunkt einmal in die nächst niedrigere Gruppe (z. B. 3 – 2 – 3). Kompensierende Leser (N = 44, 16 %): Kinder in dieser Gruppe steigern ihre Leseleistung über die Messzeitpunkte hinweg. Das heißt, entweder starten sie zum LMS 2 in Gruppe 1 oder 2 und steigern sich dann ab LMS 3 in Gruppe 3 oder 4 oder sie zeigen sowohl zum LMS 2 als auch zum LMS 3 schwache Leistungen, können dann aber im LMS 4 in eine stärkere Lesegruppe wechseln . Zurückfallende Leser (N = 35, 13 %): Die Lesekompetenz der Kinder in dieser Gruppe verringert sich über die Messzeitpunkte hinweg. Die Kinder zeigen zu Beginn des Leseerwerbs gute bis sehr gute Leistungen, die dann aber nachlassen, so dass die Kinder ab LMS 3 oder 4 dann in die Gruppe der Problemkinder bzw. der schwachen Leser fallen (vormals Gruppe 1 oder 2). Unbeständige Leser (N = 11, 4 %): Diese Gruppe umfasst Kinder, deren Leistung noch sehr inkonsistent ist, so springen sie z. B. von Gruppe 1 in Gruppe 3 und schließlich wieder zurück, d. h. sie überspringen jeweils eine Gruppe, wobei die Leistung danach auch wieder deutlich abfällt oder auf das alte Niveau zurückkehrt. Die Analyse der individuellen Leseleistung der Kinder innerhalb des ersten Schuljahrs zeigt, dass es neben einer linearen Leseentwicklung auch einen dynamischen Verlauf des Leseerwerbs gibt. Etwa zwei Drittel der Leseanfänger halten ihr Leseniveau kontinuierlich über die Messzeitpunkte hinweg, während etwa ein Drittel der Erstklässler deutliche Leistungsschwankungen zeigen. Lernen und Lernstörungen 2016; 5(1): 58 – 68
Die Betrachtung der Leistung der Kinder, deren Leseerwerb sich als linearer Prozess darstellt, zeigt, dass die durchschnittlichen Leser über die drei Messzeitpunkte hinweg ein gleichbleibend hohes Leseniveau erreichen. Der prozentuale Anteil korrekt gelöster Aufgaben liegt zwischen 88 und 94 %. Die Entwicklung der schwachen Leser stagniert jedoch nicht, sondern mit jedem Messzeitpunkt steigt der Anteil korrekt gelöster Aufgaben um jeweils etwa 20 Prozentpunkte (s. Abbildung. 2). Die schwachen Leser bleiben zwar zu jedem Messzeitpunkt deutlich hinter der Leistung der durchschnittlichen Leser zurück, aber der Abstand zwischen den Gruppen vergrößert sich nicht, wie es unter der Annahme eines Matthäus-Effekts zu erwarten wäre, sondern er verringert sich. Besonders ist die Entwicklung des dynamischen Leseerwerbs. Die kompensierenden Leser beginnen auf einem mit der Gruppe der schwachen Leser vergleichbaren Niveau. Innerhalb der kurzen Zeit zwischen dem LMS 2 und dem LMS 3 (6 – 7 Wochen) machen sie einen enormen Entwicklungssprung und steigern ihre Leistung weiter. Am Ende des ersten Schuljahres lösen sie im Mittel 93 % der Leseaufgaben korrekt. Ganz anders stellt sich der Verlauf für die Gruppe der zurückfallenden Leser dar. Während sie zu Beginn des Schriftspracherwerbs unauffällige Leistungen zeigen, bricht die Leistung zum Messzeitpunkt 3 deutlich ein. Zum letzten Messzeitpunkt am Ende des Schuljahres können die Kinder in dieser Gruppe ihre Fähigkeiten zwar verbessern, sie bleiben jedoch auf einem niedrigen Niveau. Um die Entwicklung der Gruppen bzw. ihre Leseleistung zu den verschiedenen Messzeitpunkten besser miteinander vergleichen zu können, wurden auf der Basis der Gruppenmittelwerte, der Standardabweichung und der Gruppengröße Effektstärken berechnet (vgl. Philipp, 2011). Die Leistung der durchschnittlichen Leser dient als Basiswert, mit dem die Leistung der anderen Gruppen
korrekte gelöste Leseaufgaben (%)
Die Kennwerte der Vorhersage zu den folgenden beiden Messzeitpunkten sind ähnlich. Insgesamt weist wie auch bei der Vorhersage mittels der phonologischen Bewusstheit der RATZ-Index (zwischen 1 % und 17 %) die Vorhersagegüte als unbefriedigend aus.
100 90 80 schwache Leser
70 60
durchschnittliche Leser
50 40
kompensierende Leser
30 20
verlierende Leser
10 0 LMS 2
LMS 3
LMS 4
Messzeitpunkt
Abbildung 2. Die Leseentwicklung über die drei Messzeitpunkte innerhalb des ersten Schuljahres (Mittelwerte des Gesamtlesescores; schwache Leser: N = 66; durchschnittliche Leser: N = 113; kompensierende Leser: N = 44; zurückfallende Leser: N = 35).
65
Fokus Anwendung
Lesen macht stark – erste Ergebnisse der Pilotierung
Lesen macht stark – erste Ergebnisse der Pilotierung
6
Effektstärke
5 4
Durchschnittliche – Schwache
3 2
Durchschnittliche – Kompensierende
1
Durchschnittliche – Verlierende
0 LMS 2
LMS 3
LMS 4
Fokus Anwendung
Messzeitpunkt
Abbildung 3. Vergleich der Leseentwicklung (dargestellt in Effektstärken).
verglichen wird (s. Abbildung 3). Die Größe der Leistungsdifferenzen zwischen den Gruppen lässt sich anhand der Effektstärke ermitteln. Die Effektstärken lassen sich nach Cohen (1988) als kleine (d = .2), mittlere (d = .5) und große Effekte (d = .8) klassifizieren. Der Unterschied in der Leseentwicklung zwischen schwachen und durchschnittlichen Lesern ist bereits zu Beginn des Schriftspracherwerbs beträchtlich (LMS 2: d = 4.84). Die Differenz in der Leseleistung zwischen beiden Gruppen nimmt zwar über den weiteren Erwerbsprozess hinweg ab, die Leistungsunterschiede bleiben jedoch enorm (LMS 4: d = 2.98). In Abbildung 2 weisen bereits die Gruppenmittelwerte darauf hin, dass die kompensierenden Leser ihren deutlichen Rückstand gegenüber den durchschnittlichen Lesern über die Messzeitpunkte hinweg aufholen können. Bei der Betrachtung der Effektstärken wird deutlich, dass sich die anfangs ausgesprochen deutlichen Leistungsunterschiede zwischen den kompensierenden und den durchschnittlichen Lesern (LMS 2: d = 4.55) verringern und zum letzten Messzeitpunkt verschwinden (LMS 4, d = 0.12). Das heißt, am Ende des ersten Schuljahres lassen sich zwischen diesen beiden Gruppen keine Unterschiede in der Lesefähigkeit mehr ausmachen. Ganz anders stellt sich die Entwicklung der Gruppe der zurückfallenden Leser dar. Der Rückstand dieser Gruppe zu den durchschnittlichen Lesern ist anfangs moderat (LMS 2: d = 0.56). Die Leistung der zurückfallenden Leser sackt jedoch schon zum LMS 3 stark ab (d = 1.96) und das Leistungsniveau dieser Gruppe verringert sich weiter. Zum Ende des ersten Schuljahrs zeigt sich zwischen den beiden Gruppen eine deutliche Leistungsdifferenz (d = 3.11).
Diskussion In der vorliegenden Untersuchung wurde zunächst die Güte der Vorhersage schriftsprachlicher Fähigkeiten anhand der Prädiktoren «phonologische Bewusstheit» und 66
«frühes Schriftwissen» bestimmt. Die Kennwerte der klassifikatorischen Vorhersage weisen die Prognose als nicht zufriedenstellend aus. Weder anhand der Leistung in den Aufgaben zur phonologischen Bewusstheit noch zum frühen Schriftwissen lässt sich zuverlässig vorhersagen, ob ein Kind Schwierigkeiten im Leseerwerb entwickeln wird und dementsprechend eine frühe Förderung notwendig ist. Ein Großteil der Kinder, denen aufgrund ihrer vorschulischen Fähigkeiten ein Risiko zur Entwicklung von Leseschwierigkeiten vorhergesagt wurde, zeigt unauffällige Leseleistungen. Die frühe und intensive Förderung dieser Kinder schadet zwar nicht, bindet jedoch die ohnehin knappen Ressourcen der Lehrkräfte. Allerdings konnte die Mehrzahl der Kinder, die tatsächlich im Verlauf des Leseerwerbs Schwächen entwickelt haben und deren Leistung klar unter der ihrer Altersgenossen liegt, nicht durch die Aufgaben zur phonologischen Bewusstheit und dem frühen Schriftwissen identifiziert werden. Allein auf der Grundlage vorschulischer Leistungen kann also eine faktisch notwendige Unterstützung im Leseerwerbsprozess nicht erkannt werden. Dieses Ergebnis verweist auf die Problematik einer frühen Diagnostik auf der Basis einer einmaligen Erfassung von schriftsprachlichen Vorläuferfähigkeiten. Auch bereits etablierte vorschulische Screeningverfahren lassen hier keine sicheren Prognosen zu (vgl. Marx & Weber, 2006; Marx & Lenhard, 2010). Grundsätzlich wird prognostische Qualität der Aufgaben zu den vorschulischen Leistungen durch verschiedene Aspekte beeinflusst, die sich nicht systematisch kontrollieren lassen. So wirken sich etwa die Qualität des schriftsprachlichen Unterrichts oder auch gezielt durchgeführte Fördermaßnahmen durch die Lehrkräfte, die hier die Aufgaben nicht nur durchgeführt, sondern auch ausgewertet haben, auf die Leistungsentwicklung der Schülerinnen und Schüler aus. Es ist also nicht auszuschließen, dass die Lehrkräfte die Kinder aufgrund ihrer schwachen Leistungen in den vorschulischen Bereichen gefördert haben und damit das «Risiko» minimiert haben. Darüberhinaus steht aber der Erwerbsprozess selbst einer validen Vorhersage entgegen. In einem nächsten Schritt wurde dieser genauer analysiert. Bei der Untersuchung des Leseerwerbverlaufs der einzelnen Kinder zeigt sich ein weiterer Faktor, der sich deutlich auf die Vorhersage schriftsprachlicher Leistungen auswirkt. Die Lesefähigkeit entwickelt sich nicht unbedingt linear, sondern stellt sich vielfach als dynamischer Prozess dar. Innerhalb kurzer Zeit machen die Kinder Entwicklungssprünge, die sich in ihrer Leseleistung niederschlagen, und zwar sowohl positiv als auch negativ. Besonders interessant ist in diesem Zusammenhang die Gruppe der kompensierenden Leser, die trotz eines schlechten Starts ihren Rückstand aufholen und zu der Gruppe der durchschnittlichen Leser aufschließen kann. Warum diese Lernen und Lernstörungen 2016; 5(1): 58 – 68
Lesen macht stark – erste Ergebnisse der Pilotierung
Lernen und Lernstörungen 2016; 5(1): 58 – 68
Messzeitpunkte ermöglicht es eine engmaschige, objektive Beobachtung der individuellen schriftsprachlichen Entwicklung. Dieses Vorgehen erlaubt es, mögliche Schwächen und sich vergrößernde Defizite frühzeitig zu erkennen und mit einer adäquaten Förderung gegenzusteuern.
Extended abstract Background: The acquisition of basic reading and writing skills is one of the most important goals in elementary school. However, many children have difficulties in learning to read and write. These children are often not able to catch up to their higher-achieving classmates. Therefore teachers need to identify children at risk of developing reading and writing disabilities as soon as possible to provide early intervention. The present study analyses a tool for diagnostics and remediation of reading and writing in elementary schools “Lesen macht stark – Grundschule”. Aims: The instrument aims at the reliable, valid, and efficient identification of children at risk of developing reading and writing disabilities. It also serves to identify children in need of remediation. The purpose of the study was to determine to what extent the central goal – the identification of children at risk – can be achieved in the areas of preschool skills and basic reading skills within the first year of literacy acquisition. Methods: The material was used in a two-year longitudinal study to assess phonological awareness, and early literacy, in particular the acquisition of reading and writing skills as well as textual competence. The prevalence rates of children at risk of developing reading and writing difficulties reported in the literature were used as a first indication of the predictive quality of our material. In a next step we used a classification approach to evaluate whether the identification of children at risk is reliable. Subsequently, we took a closer look at the reading development and generated different groups of readers based on their developmental reading process. These reader groups were subsequently compared by means of effect sizes. Results: The results indicate that the one-time usage of preschool skills is not suited for the prediction of reading ability. The predictor variables did not identify most of the children with actual reading problems. The analysis of individual reading acquisition processes shows that children who show weaknesses in reading related preschool skills do not necessarily develop reading disabilities. Children with good preschool skills on the other hand may show difficulties in learning to read. The developmental process of literacy acquisition is not linear. Initial differences in reading ability can be overcome or can develop at a later state. 67
Fokus Anwendung
Kinder den Sprung auf ein durchschnittliches Lesefähigkeitsniveau schaffen, während andere deutlich langsamere Fortschritte machen, ist noch nicht klar. Ebenfalls offen ist die Frage, weshalb es bei den Kindern in der Gruppe der zurückfallenden Leser nach einem scheinbar gelungenen Einstieg in den Schriftspracherwerb zu einem deutlichen Leistungseinbruch kommt. Darüberhinaus zeigen die Ergebnisse, dass sich die Lesefähigkeiten der schwachen Leser entgegen der Annahme eines Matthäus-Effekts durchaus weiterentwickeln und sich ihr Leistungsrückstand zu der Gruppe der durchschnittlichen Leser verringert. Ähnliche Ergebnisse finden sich z. B. auch bei Philipp (2011). Festzuhalten bleibt, dass die Einordnung in Fähigkeitsgruppen bzw. Risikogruppen zu diesem frühen Zeitpunkt nicht sinnvoll ist. Die Entwicklung der schriftsprachlichen Fähigkeiten hat gerade erst begonnen und eine schwache Leistung zu einem Messzeitpunkt muss nicht der Beginn einer andauernden Leseschwäche sein, sondern ist im Regelfall Ausdruck und Phase einer normalen, eben dynamischen Leseentwicklung. Somit kann ein vermeintliches Risikokind auch ohne systematische Förderung zum erfolgreichen Leser werden. Der umgekehrte Fall gilt jedoch auch: ein scheinbar unauffälliger, durchschnittlicher Leseanfänger kann durchaus im weiteren Leseerwerbsprozess Schwächen und Defizite entwickeln, für deren Überwindung er besondere Unterstützung benötigt. Die Ergebnisse der vorliegenden Studie sprechen demnach gegen die Entwicklung und den Einsatz eines Instruments, dessen Ziel sein soll, anhand einer einmaligen Messung vorschulischer Fähigkeiten Risiken im Bereich des Schriftspracherwerbs vorherzusagen. Dies mag auf den ersten Blick aus Sicht der Praxis problematisch sein, da mit der gezielten frühen Förderung von Kindern, die tatsächlich eine Leseschwäche entwickeln werden, der Ausbildung dieses Defizits entgegengewirkt werden könnte. Es ist jedoch insofern als positives Ergebnis zu werten, als sich auch Kinder mit «schlechten» Startbedingungen zu guten Lesern entwickeln, selbst wenn sie keine gezielte Förderung erhalten. Das heißt, es gibt in diesem Sinne keinen vorgezeichneten, linearen Entwicklungsverlauf. Das bedeutet jedoch auch, dass die große Aufgabe der Lehrkräfte darin besteht, kontinuierlich den Fähigkeitsstatus ihrer Schülerinnen und Schüler zu beobachten und zu erfassen, da auch Kinder mit guten Startbedingungen und zunächst unauffälligen schriftsprachlichen Fähigkeiten massive Leistungseinbrüche zeigen können. Die Konsequenz für die Praxis besteht darin, statt eines einmaligen Screenings ein Monitoring-Instrument einzusetzen, welches im Sinne einer Prozessdiagnostik regelmäßig und in kurzen zeitlichen Abständen die Fähigkeiten der Kinder erfasst. Das entwickelte und hier genutzte Material basiert auf diesem Ansatz. Durch die regelmäßigen
Fokus Anwendung
Lesen macht stark – erste Ergebnisse der Pilotierung
Discussion: Our results indicate that early reading development has to be seen as a dynamic process in which children do not necessarily remain on a certain reading level. Therefore the early classification in reading performance groups is not expedient. The group of children found at risk throughout the different times of measurement is relatively small. Thus, weak readers do not constitute a constant group. The dynamics of reading development, particularly in the beginning of literacy acquisition, may contribute to the explanation of the poor predictive accuracy. It is concluded, that ongoing assessment is necessary for valid identification of reading problems. Keywords: literacy acquisition; prevention; phonological awareness; children at risk; elementary instruction
Literatur Bos, W., Tarelli, I., Bremerich-Vos, A., & Schwippert, K. (2012). IGLU 2011. Lesekompetenzen von Grundschulkindern in Deutschland im internationalen Vergleich. Münster: Waxmann. Cohen, J. (1988). Statistical power analysis for the behavioral sciences. Hillsdale, New Jersey: Lawrence Erlbaum Associates. Ehri, L. C., Nunes, S. R., Willows, D. M., Valeska Schuster, B., Yaghoub-Zadeh, Z. & Shanahan, T. (2001). Phonemic awareness instruction helps children learn to read: Evidence from the National Reading Panel's meta analysis. Reading Research Quarterly, 36 (3), 250 – 287. Hippmann, K. (2008). Prädiktoren des Schriftspracherwerbs im Deutschen. Dissertation, RWTH Aachen. Online im Internet unter: urn:nbn:de:hbz:82-opus-24120 Jansen, H., Mannhaupt, G., Marx, H. & Skowronek, H. (1999). Bielefelder Screening zur Früherkennung von Lese-Rechtschreibschwierigkeiten (BISC). Göttingen: Hogrefe. Institut für Qualitätsentwicklung an Schulen (Hrsg.). (2014a). Lesen macht stark. Grundschule. Lehrerheft. Berlin: Cornelsen. Institut für Qualitätsentwicklung an Schulen (Hrsg.). (2014b). Lesen macht stark. Grundschule. Schülerheft. Berlin: Cornelsen. Köller, O., Heinze, A., Möller, J., Ramm, G., Riecke-Baulecke, T. & Rogalski, K. (2011). Niemanden zurücklassen – Lesen macht stark und Mathe macht stark. Ergebnisse der wissenschaftlichen Begleitung 2011. Kiel: Institut für Qualitätsentwicklung an Schulen in Schleswig Holstein. Lonigan, C. & Whitehurst, G.J. (1998). Child Development and Emergent Literacy. Child Development, 69, 848 – 872. Marx, H. (1992). Frühe Identifikation und Prädiktion von LeseRechtschreibschwierigkeiten: Bestandsaufnahme bisheriger Bewertungsgesichtspunkte von Längsschnittstudien. Zeitschrift für Pädagogische Psychologie, 6 (1), 35 – 48. Marx, P. & Weber, J. (2006). Vorschulische Vorhersage von Leseund Rechtschreibschwierigkeiten. Neue Befunde zur prognostischen Validität des Bielefelder Screenings (BISC). Zeitschrift für pädagogische Psychologie, 20 (4), 251 – 259.
68
Marx, P. & Lenhard, W. (2010). Diagnostische Merkmale von Screeningverfahren. In: M. Hasselhorn & W. Schneider (Hrsg.): Frühprognose schulischer Kompetenzen. Göttingen: Hogrefe. Philipp, Maik (2011): Wer hat, dem wird gegeben? Individuelle sowie soziodemografische Merkmale und ihre Bedeutung für den Matthäus-Effekt im Leseverstehen. Zugriff am 15.09.2015 unter http://www.leseforum.ch Stanovich, K. E. (1986). Matthew effects in reading: Some consequences of individual differences in the acquisition of literacy. Reading Research Quarterly, 21(4), 360 – 407.
Kathrin Hippmann hat Germanistik, Psychologie und Soziologie an der RWTH Aachen studiert und dort anschließend zum Thema Schriftspracherwerb promoviert. Danach arbeitete sie an der Florida State University, dem Florida Center for Reading Research sowie als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der RWTH Aachen und der Bergischen Universität Wuppertal an Projekten mit dem Schwerpunkt Leseforschung. Im Mercator-Institut arbeitet sie an mehreren Projekten im Bereich Forschung.
Simone Jambor-Fahlen hat Germanistik, Allgemeine Sprachwissenschaft und Pädagogik an der Bergischen Universität Wuppertal studiert und zusätzlich Deutsch als Zweitsprache an der Heinrich-HeineUniversität Düsseldorf. Seit 2008 ist sie Mitarbeiterin am Lehrstuhl von Prof. Dr. Michael Becker-Mrotzek. Dort hat sie zunächst in dem vom BMBF geförderten Projekt «PAGES – Projekt für Alphabetisierung und Grundbildung für Erwachsene im Sozialraum» Konzepte für die Alphabetisierungsarbeit und Testmaterialien entwickelt. Simone Jambor-Fahlen promoviert zur Entwicklung der Wortschreibung in den ersten beiden Schuljahren. Am Mercator-Institut ist sie für die Koordination des Projektes «Niemanden zurücklassen – Lesen macht stark Grundschule» zuständig.
Lernen und Lernstörungen 2016; 5(1): 58 – 68
Wissen – kurz notiert
Wissen – kurz notiert
«Lesen durch Schreiben» auf dem Prüfstand Cordula Löffler
Die Unterrichtsmethode «Lesen durch Schreiben» steht in der Kritik. In den Medien wird die Methode für schlechte Rechtschreibleistungen von Grundschülern verantwortlich gemacht. Die Ergebnisse vorliegender Studien zur Wirksamkeit der Methode «Lesen durch Schreiben» legten den Schluss nahe, dass Grundschüler, die nach dieser Methode unterrichtet werden, schlechtere Rechtschreibleistungen zeigen als Kinder, die mit einer Fibel oder einer Silbenmethode lernen. In einer Metaanalyse vergleicht Reinold Funke nun die Ergebnisse dieser Studien. Zum einen offenbart Funkes Metaanalyse ein methodisches Problem dieser Studien: Die meisten sind Beobachtungen in real existierenden Schulklassen. Sie sind also beeinflusst von der Lehrerauswahl und keine echten Experimentalstudien, bei denen z.B. sichergestellt sein müsste, dass die Lehrkräfte hinsichtlich ihrer sprachdidaktischen Kompe-
Lernen und Lernstörungen 2016; 5(1): 69 DOI 10.1024/2235-0977/a000125
tenzen vergleichbar sind. Zum anderen überrascht das Ergebnis der Metaanalyse: Die Studien können insgesamt nicht belegen, dass «Lesen durch Schreiben»-Klassen gegenüber Fibelklassen in Klassenstufe 2-4 bei gleichen Eingangsvoraussetzungen schlechtere Rechtschreibleistung zeigen. Die Befunde legen aber nahe, dass die Methode «Lesen durch Schreiben» Schüler/innen mit ungünstigen Lernvoraussetzungen benachteiligt – sie erzielen in Rechtschreibtests schlechtere Ergebnisse. Eindeutig sind auch diese Befunde nicht, hier ist weitere Forschung nötig. Funke, R. (2014): Erstunterricht nach der Methode Lesen durch Schreiben und Ergebnisse schriftsprachlichen Lernens – eine metaanalytische Bestandsaufnahme. Didaktik Deutsch, 19, 36, 21 – 41.
69
Rezensionen
Anne Schwarz, Diplom Sozialpädagogin, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin und Franziska Bender, Dipl.-Päd., Integrative Lerntherapeutin FiL über
LEISTUNGSÄNGSTE
Lydia Su
hr-Dach
s · Manfr ed Döpfn
er
Leistung sängste Therapie programm
Therapieprogramm für Kinder und Jugendliche mit Angst- und Zwangsstörungen (THAZ) – Band 1
für Kinde r und Jug endliche mit Angst - und Zwangss törungen (THAZ) – Band 1
2., aktual isierte Au flage
mit CD-RO
M
Lydia Suhr-Dachs und Manfred Döpfner 2., aktualisierte Auflage, (2015) Göttingen, Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG ISBN 978-3-8017-2695-9, 129 S., 44,95€ Lydia Suhr-Dachs und Manfred Döpfner haben mit diesem Therapieprogramm ein Manual entwickelt, welches die Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit Leistungsängsten in einem psychotherapeutischen Rahmen möglich macht. Das Manual wird durch Arbeitsblätter ergänzt. Einige Elemente können auch im lerntherapeutischen/pädagogischen Setting für die Bearbeitung von Prüfungsängsten angewendet werden.
Aufbau Im Kapitel 1 werden die theoretischen Grundlagen von Prüfungsängsten beschrieben und die Symptomatik wird ebenso erläutert wie die Epidemiologie. Ein Überblick über komorbide Störungen (Leistungsbeeinträchtigungen, erhöhte Prävalenz für andere Angststörungen und Phobien) und differentialdiagnostische Aspekte der Leistungsangst (wird) werden gegeben sowie bisher angewandte Therapieinterventionen mittels empirischer Befunde vorgestellt. Im Folgenden wird die Rolle der Kognitionen bei der Entstehung von Prüfungsängsten näher betrachtet, da «im Lern- und Leistungsbereich (…) vor allem kognitive Theorien zur Erklärung der Emotionsentstehung herangezogen» (S. 21) werden. Die Autoren erläutern, dass auf Leistung bezogene Kognitionen eine zentrale Rolle bei der Leistungsangst einnehmen. Im Anschluss wird ein ganzheitliches Modell zur Entstehung von allgemeinen und spezifischen Ängsten erklärt, «die Schema-Theorie von Beck und Emery» (S. 22). Die Wirkung von im Verlauf der Entwicklung gemachter Erfahrungen sowie das Verhalten und die Interventionen der Eltern werden beschrieben, welche Prüfungsängste verstärken oder abschwächen können. 70
Die Evaluation des Programms zeigte, dass sich sowohl die Leistungsangst der Betroffenen reduzierte sowie darüber hinaus sich auch die schulischen Leistungen in den Problemfächern verbesserten. Das Programm kann flexibel eingesetzt werden, da Bausteine nach den individuellen Problemstellungen ausgewählt werden können. Kapitel 2 gibt einen Überblick über die Diagnostik der Leistungsängste bei Kindern und Jugendlichen. Hilfreiche Tipps zur näheren Exploration der Patienten und ihrer Familie werden gegeben und gängige Fragebogenverfahren erläutert. Es folgt eine Übersicht über die Diagnostik komorbider Störungen. Auf Grundlage der Diagnostik wird anschließend die Therapieplanung beschrieben. Eine detaillierte Übersicht von Indikationen und einzelnen Behandlungsbausteine ist zudem angefügt. Kapitel 3 bildet das Kernstück des Therapieprogramms, es beinhaltet das kognitiv behaviorale Manual zur Behandlung von Leistungsängsten bei Kindern und Jugendlichen. Es handelt sich um ein multimodales Behandlungskonzept, welches sich aus folgenden Bausteinen zusammensetzt: Kindzentrierte Interventionen · Kognitive Intervention (Psychoedukation, Vermittlung des kognitiv- behavioralen Therapiekonzepts, Identifikation und Modifikation angstauslösender (dysfunktionaler) Gedanken in Leistungssituationen) · Emotional/Physiologische Intervention (Bearbeitung der Angstsymptome durch «Habituation und Angstbewältigung» (auch durch Exposition in sensu und in vivo) sowie «Regulation unangenehmer emotionaler und physiologischer Symptome der Leistungsangst», S. 55, durch Vermittlung und Anwendung von Entspannungstechniken) · Behaviorale Intervention (Modifikation des Lernverhaltens und Verbesserung der Kompetenzen in mündlichen Leistungssituationen) Elternzentrierte Interventionen · Kognitive Intervention (Erarbeitung eines individuellen Störungsmodells, Veränderung inadäquater Kognitionen) Lernen und Lernstörungen 2016; 5(1): 70 – 72 DOI 10.1024/2235-0977/a000126
Rezensionen
·
Behaviorale Intervention (Schaffen einer lernförderlichen Atmosphäre, Abbau von angstfördernden/-aufrechterhaltenden Erziehungspraktiken und Unterstützung bei Lernschwierigkeiten des Kindes)
(angelehnt an Übersicht 3.1 Das multimodale Behandlungskonzept, S. 55) Die Interventionen sowohl für das Kind wie für die Eltern werden schrittweise und detailliert erläutert. Arbeitsbögen unterstützen die Bearbeitung der unterschiedlichen Themen und machen bestimmte Sachverhalte verständlicher. Einzelne Bausteine/Arbeitsbögen können bei entsprechenden Kenntnissen der kognitiven Verhaltenstherapie auch in einem lerntherapeutischen und/oder pädagogischen Rahmen angewendet werden, dies setzt aber die intensive Auseinandersetzung mit dem gesamten Therapieprogramm voraus. Ebenso muss abgeschätzt werden, ob die beim Klienten der Lerntherapie auftretenden leistungsängstlichen Symptome psychopathologisch sind und so eine psychotherapeutische Behandlung notwendig ist, welche nicht im lerntherapeutischen Rahmen abgedeckt werden kann. Im Kapitel 4 wird das kind- und elternzentrierte Vorgehen durch die Zusammenarbeit mit den Lehrern erweitert. Die Kommunikation mit den Lehrkräften sollte nach Möglichkeit schon während der Diagnostikphase beginnen und der stetige Austausch während des gesamten Therapieprozesses fortgeführt werden, auch um konkrete Interventionen (bspw. Expositionen mündlicher Leistungssituationen, positive Verstärkung eines effektiven Lernverhaltens) in der Schule umzusetzen. Für die Zusammenarbeit mit den Lehrern haben die Autoren ein Informationsblatt entwickelt, welches «präventive und therapeutische Ansätze im pädagogischen Umfeld» (S. 108) übersichtlich darstellt und diese verständlich erläutert.
Lernen und Lernstörungen 2016; 5(1): 70 – 72
Kapitel 5 enthält vier Fallbeispiele, in denen jeweils ausgehend von den anamnestischen Daten, über Exploration, Diagnostik und funktionale Analyse der Therapieprozess kurz vorgestellt wird.
Fazit Das Therapieprogramm richtet sich in erster Linie an kognitiv arbeitende Verhaltenstherapeuten, es kann aber auch von Psychotherapeuten anderer Richtungen bei entsprechender Modifikation angewendet werden. Die Durchführung ist durch ergänzende Arbeitsbögen einfach und wenig aufwendig. Sie sind für Kinder und Jugendliche sehr ansprechend und verständlich aufbereitet worden. Die Bögen bieten sich für therapeutische Hausaufgaben an, beispielsweise zur Erhebung dysfunktionaler Kognitionen in konkreten Leistungssituationen in der Schule oder das Einüben und Anwenden von Entspannungstechniken zu Hause und in der Schule. Durch diese Materialien und auch die Expositionen in vivo sowie die Zusammenarbeit mit den Eltern und Lehrern ist ein Transfer in den Alltag des Kindes/Jugendlichen gegeben. Wie bereits erwähnt, können einzelne Bausteine auch im lerntherapeutischen oder pädagogischen Setting angewendet werden. Hier bietet sich der Einsatz der gut aufbereiteten und verständlichen Arbeitsbögen an. Entsprechende Kenntnisse der kognitiv behavioralen Theorie werden ebenso wie die diagnostischen Einschätzung einer nicht psychopathologischen Symptomatik vorausgesetzt. Sollte im Verlauf der lerntherapeutischen und/oder pädagogischen Intervention festgestellt werden, dass eine behandlungsbedürftige psychische Störung vorliegt, so ist hier eine deutliche Abgrenzung vorzunehmen und die Empfehlung einer Psychotherapie unabdingbar.
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Rezensionen
Marlies Lipka, M. A. Bildungsmanagement, Diplomlehrerin, Integrative Lerntherapeutin FiL über
Prüfungsangst – Beraten aus sieben Perspektiven Spickzettel für Lehrer Hans-Christian Kossak (2015) Heidelberg, Carl Auer Verlag ISBN 978-3-8497-0058-4, 128 S., 9,95 € Der Autor gibt mit seinem Buch Lehrern, Lehrerinnen und anderen Prüfenden einen Spickzettel für Prüfungssituationen. Sachlich beschreibt er ein Wirkungsgefüge von Prüfungssituationen, wie sie jeder kennt. Schon durch die Sachlichkeit wird der Prüfung die Emotion etwas genommen. Der Leser erfährt, welche Komponenten Prüfungssituationen für jeden enthalten, was auch Schuldzuweisungen reduziert. Prüfende können sich diese Komponenten bewusst machen und angststärkende Elemente vermeiden oder zumindest abschwächen. Die sehr konkreten Hinweise des Autors können leicht umgesetzt werden. Nach allgemeinen Aspekten zur Prüfungsangst wie der Diagnose und Klassifikation, den Kausalfaktoren und Fol-
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gen im Teil I werden im Teil II sieben Komponenten der Prüfungsangst beleuchtet: die Physiologie, die Emotionen, Motorik und Ausdrucksverhalten, die Kognition, die Motivation, die Attribution und die Imagination. In jedem Kapitel werden die Erscheinungsformen bzw. Symptomatiken der einzelnen Komponenten dargestellt, mit dem entsprechenden neurologischen, physiologischen oder psychologischen Hintergrund. Der Autor beschreibt jeweils Beratungsaspekte und gibt konkrete und nachvollziehbare Ratschläge und Hinweise zu Interventionen, wie Prüfungsängsten entgegengewirkt werden kann. Auch wenn das Büchlein sich an Lehrer/innen (und Prüfende) richtet, können ebenso (Lern-)Therapeut/innen konkrete Anregungen für die Behandlung von Prüfungsängsten entnehmen und nicht zuletzt erhalten auch «Prüflinge» selbst Hinweise zur Prüfungsvorbereitung sowie dazu, wie sie selbst auf ihre Prüfungsangst einwirken können.
Lernen und Lernstörungen 2016; 5(1): 70 – 72 DOI 10.1024/2235-0977/a000127
Eine revolutionäre Theorie der Kommunikation Maja Storch / Wolfgang Tschacher
Embodied Communication Kommunikation beginnt im Körper, nicht im Kopf 2., erw. Aufl. 2016. 192 S., 57 Abb., Gb € 19.95 / CHF 26.90 ISBN 978-3-456-85614-8 AUCH ALS E-BOOK
Die Idee, man könne einander verstehen, beruht auf der Vorstellung, die besagt, dass die «richtige» Bedeutung einer Botschaft irgendwo vorhanden ist und nur gefunden werden muss. Diese Ansicht ist falsch. Die Theorie der Embodied Communication postuliert: Es gibt keine fixe Bedeutung einer Botschaft, die verstanden werden kann. Es gibt lediglich das gemeinsam erzeugte Gefühl der Einigung auf eine Sprachgestalt, die aber aus der Interaktion spontan und neu entsteht und die nicht von Anfang an vorhanden ist.
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Die Psychologen Maja Storch und Wolfgang Tschacher liefern endlich eine neue Kommunikationstheorie, die dem Stand der modernen Forschung entspricht – und konkret umsetzbar ist. Die Autoren haben ein Buch geschrieben, das gut verstanden und das sofort im ganz normalen Alltag verwendet werden kann. Neben einem Teil zur Theorie der Embodied Communication bietet das neue Buch von Maja Storch und Wolfgang Tschacher einen ausführlichen Praxis- und Workshopteil. Lesende finden im Praxisteil eine Auswahl an Alltagssituationen, in denen kommunikative Fertigkeiten wünschenswert, ja gefordert sind. Die Methoden, die die Autoren vorschlagen, sind allesamt so angelegt, dass sie sich für das authentische und spontane Handeln in einer Live-Situation eignen.
Das DSM® aus Sicht der ICD
Horst Dilling / Klaus Reinhardt
Überleitungstabellen ICD-10/DSM-5® Ein Praxishandbuch 2016. 120 S., Kt € 19.95 / CHF 26.90 ISBN 978-3-456-85559-2 AUCH ALS E-BOOK
Das Diagnostische und Statistische Ma-
verwendet DSM-5® als Diagnoseziffern
nual Psychischer Störungen (DSM®) der
diejenigen der amerikanischen Modifi-
American Psychiatric Association ist ein
kation ICD-10-CM, die vielfach von der
weltweit etabliertes Klassifikationssys-
in den deutschsprachigen Ländern zur
tem für psychische Störungen. Die neue,
Diagnosenverschlüsselung und Abrech-
2014 auf Deutsch erschienene Ausgabe
nung gebrauchten ICD-10-GM (German
DSM-5 bietet auch deutschsprachigen
Modification) abweicht.
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Benutzer tiefergehende Anregungen zu einer differenzierten und prozeduralen
Die Tabellen in diesem Buch erschließen
Diagnostik psychischer Störungen.
die neue DSM-5®-Klassifikation aus der Sicht der vertrauten ICD-10 und erhöhen
Jedoch wird die Benutzung des DSM-5®
damit wesentlich die Benutzbarkeit des
für den mit der ICD-10 Vertrauten da-
DSM-5® für deutschsprachige Leser.
durch erschwert, dass zwar viele einzelne Diagnosen, nicht jedoch Struktur und Reihenfolge der beiden Klassifikationssysteme übereinstimmen. Zudem
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