Jahrgang 47 / Heft 1 / 2016
Herausgeber Jürgen Georg Barbara Müller Gerhard Schröder
NOVAcura Das Fachmagazin für Pflege und Betreuung
Werte und werteorientierte Pflege Grenzen begegnen Werte im Alter oder das Glück des Alterns Gastfreundschaft
Der aktuelle Schweizer Gesundheitsbericht
Weiterbildung
Alter
Einzigartige Angebote Diploma of Advanced Studies (DAS): – Bewegungsbasierte Alltagsgestaltung Befähigen statt helfen bis ins hohe Alter März 2016 bis Mai 2018 – Angehörigen- und Freiwilligen-Support Pflegende und betreuende Angehörige und Freiwillige unterstützen Oktober 2016 bis September 2018 – Demenz und Lebensgestaltung Interprofessionell, innovativ und ethisch denken und handeln November 2016 bis Oktober 2018 Bei allen drei Angeboten ist auch ein Abschluss mit einem CAS möglich.
Schweizerisches Gesundheitsobservatorium (Hrsg.)
Gesundheit in der Schweiz – Fokus chronische Erkrankungen
Certificate of Advanced Studies (CAS): – Altern im gesellschaftlichen Kontext Juni 2016 bis Januar 2017 – Altern – systemisch betrachtet Oktober 2016 bis Mai 2017 – Gerontologie als praxisorientierte Wissenschaft Januar 2017 bis September 2017
Nationaler Gesundheitsbericht 2015 Unter Mitarbeit von Monika Diebold. 2015. 270 S., 113 Abb., 10 Tab., Kt € 39.95 / CHF 48.50 ISBN 978-3-456-85566-0 AUCH ALS E-BOOK
Master of Advanced Studies (MAS): – Gerontologie – Altern: Lebensgestaltung 50+ 3 CAS-Module und Mastermodul; Beginn mit jedem CAS möglich
Der Nationale Gesundheitsbericht 2015 gibt im ersten Teil einen Überblick über das aktuelle Gesundheitsgeschehen in der Schweiz. Knapp und verständlich werden die demografische und sozio-ökonomische Situation der Bevölkerung sowie die Gesundheit über die Lebensspanne anhand von rund 80 Indikatoren dargestellt. Der zweite Teil befasst sich mit dem Thema «Chronische Krankheiten», wobei ein besonderes Augenmerk auf Wahrnehmungen, Bedürfnissen und Strategien chronisch kranker Personen liegt.
Nächste Infoveranstaltungen: 12. April 2016, 18.15 Uhr in Bern 28. Juni 2016, 18.15 Uhr in Bern Individuelle Beratung und weitere Informationen unter T 031 848 36 70 oder E-Mail weiterbildung.alter@bfh.ch www.alter.bfh.ch
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NOVAcura
Das Fachmagazin fĂźr Pflege und Betreuung
Jahrgang 47/Heft 1/2016 Werte und werteorientierte Pflege Grenzen begegnen Werte im Alter oder das GlĂźck des Alterns Gastfreundschaft
Redaktion
Barbara Müller, Hogrefe AG, Bern barbara.mueller@hogrefe.ch Gerhard Schröder, Göttingen gerhard.schroeder@hogrefe.com Jürgen Georg, Hogrefe AG, Bern juergen.georg@hogrefe.ch
Redaktionelle Mitarbeiter/innen
Sonja Baumann, Brigitte Benkert, Heidi Diefenbacher, Tomas Kobi, Carsten Niebergall, Diana Staudacher, Elke Steudter, Christine Rex, , Brigitte Zaugg
Verlag
Hogrefe AG, Länggass-Strasse 76, 3000 Bern 9, Tel. +41 (0) 31 300 45 00, zeitschriften@hogrefe.com, www.hogrefe.ch
Herstellung
Daniela Decurtins Tel. +41 (0) 31 300 45 74, daniela.decurtins@hogrefe.ch
Anzeigen
Josef Nietlispach, Tel. +41 (0) 31 300 45 69, inserate@hogrefe.com
Abonnemente
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Jahresabonnement Private: Schweiz: CHF 120.-; Europa: EUR 91.- Jahresabonnement Institute: Schweiz: CHF 286.-; Europa: EUR 222.- Probeabonnement (2 Ausgaben): Schweiz: CHF 20.-; Europa: EUR 15.- Einzelheft: Schweiz: CHF 15.-; Europa: EUR 120.- inkl. Porto und Versandgebühren
Gelistet in
NOVAcura ist gelistet in GeroLit.
Titelbild
© Martin Glauser
Erscheinungsweise
10 Hefte jährlich © 2016 Hogrefe AG ISSN-L 1662-9027 ISSN 1662-9027 (Print) ISSN 2235-4271 (online)
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Inhalt 5
Inhalt Editorial
Schwerpunkt
Fokus
Palliative Care
Pflege zu Hause
Bildung
Demenz
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Der unzulänglichen Last Barbara Müller
7
2016 – mit der NOVAcura durch das Jahr
8
Grenzen begegnen Silvia Agbih
9
Werte im Alter oder das Glück des Alterns Beat Vonarburg
12
Mangelnde Labor-Referenzwerte bei Senioren – eine Herausforderung im klinischen Alltag Susanne Roas
15
Atmung als Ausdruck des Lebens Martina Kaspar
18
Alle Menschen sind Gäste auf der Welt Diana Staudacher
21
«Es wachsen nicht immer alle gleich» Gerhard Schröder
25
Medientipps zum Thema (Pro Senectute) Barbara Stammler
28
Es muss nicht immer das grosse Zittern sein! Sonja Baumann
29
Epilepsie kann jeden treffen Julia Franke
33
Mehr Energieeffizienz in der Rehaklinik Affoltern am Albis KommunikationsWerkstatt GmbH, Ruth Koch
34
Werte in der Palliative Care Heidi Diefenbacher
36
Würdevolles Sterben auf der Intensivstation – ein Widerspruch?! Sonja Baumann
39
Gelbe Blumen, viele gelbe Blumen Lea Frei
43
«Alterssuizide stossen in unserer Gesellschaft zunehmend auf Akzeptanz» Stefan Müller
46
Student mit 46 Lea Frei
48
In Teilzeit zur Pflegefachkraft Jens Gieseler
51
Techniknutzung im Alter Alexander Seifert
53
Lebenschancen im Alter Hermann Brandenburg und Helen Güther
56
Demenz ist menschlich! Diana Staudacher
58
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6
Inhalt
kulturzeit: Weinen – Kämpfen – Akzeptieren Swantje Kubillus
60
kulturzeit: «Wer bis zuletzt lacht, lacht am besten» Heinz Hinse
61
Expertenrat/Vorschau
62
Chalfont/Rätsel
63
Palliative Care – Lebensqualität bis zum Ende Schwerkranke und sterbende Menschen benötigen eine besondere Art der Pflege und Betreuung: Nämlich sie respekt- und würdevoll in deren letzten Lebensphase zu begleiten. In unseren Palliative-Care-Kursen eignen Sie sich genau diese Kompetenzen an. Besuchen Sie auch das Symposium «Palliative Care bewegt» am 19. Mai 2016 im Pflegezentrum Mattenhof in Zürich. Wir freuen uns auf Ihre Anmeldung. www.wissen-pflege-bildung.ch PaC_Nova_20.11.2015.indd 2
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Editorial
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Der unzulänglichen Last
Liebe Leserinnen und Leser, «Über die Tugenden zu schreiben bedeutet […], ständig mit seinem Narzissmus in Konflikt zu geraten, weil es einen fortwährend […] auf die eigene Unzulänglichkeit hinweist.», schreibt der französische Philosoph André Comte-Sponville in seinem Brevier der Tugenden und Werte (2014, S. 20). Es mag ja noch angehen, wenn ein Autor sich in dieser Form outet, schliesslich muss er ansonsten befürchten, dass niemand sein Buch liest. Und schlussendlich ist er als Philosoph dem geistvollen Smalltalk über Werte, Normen und Tugenden verpflichtet. Aber wie steht es um diejenigen unter uns, die sich tagtäglich abrackern und ohne philosophisches Knowhow die vielen Klippen des Wertediskurses in Worten und Wirken umschiffen müssen? Zunächst sind es die Besonderheiten der deutschen Sprache, die den Werte-Worten ihr Ansehen verleihen, weil sie zumeist mit dem Suffix -keit oder -heit verbunden sind und dadurch sperrig und gewichtig tönen. Dazu kommen noch die vielen Buchstaben, die dem Suffix zuvorkommen und bedeutungsschwanger auf unserem Gewissen lasten. Denn – eines ist sicher: Selbstverständlich leben und verhalten wir uns werteorientiert höflich, treu, klug, dankbar und massvoll, allein schon deshalb, weil wir tief im Inneren danach streben, und das ist per se gut und richtig. «Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen», tröstet uns Goethes Alter Ego Faust. Es gibt nur eine Zeit im Leben, in der uns gestattet wird, unhöflich, untreu, unklug und unmässig zu sein – es ist die Pubertät. Hier dürfen wir ausprobieren, wie es ist, sich gegen die Werte unserer Kultur zu verhalten und wir erfahren dabei, mit welcher Wucht das Imperium zurückschlägt. Lesson learned! Leider ist diese Phase sehr kurz und von so vielen Unbillen begleitet, dass man sie sich auch nicht zurück wünscht. Ab dann jedoch beginnen die Verhandlungen und Aushandlungen im Wertediskurs: mit sich selbst, mit Anderen, mit der Gesellschaft und mit den jeweiligen Grenzen. Das ist nämlich das Verflixte an Werten – sie sind stets wachsweich, dehnbar und anpassungsfähig. Und so manche sind auf dem langen Wege ihrer Biografie ins Straucheln oder in Verruf geraten: So hat es sich bspw. herumgesprochen, dass Barmherzigkeit zwar vergibt aber nicht vergisst; Mitleid in erster Linie das eigene Ego befruchtet und die weibliche Sanftmut mit der Emanzipierung der Frauen einen anderen Wirt suchen muss. Wer mit
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dem Zeitgeist schwingt, stellt schnell fest, dass mach einer der hohen Werte auf dem Prüfstand steht: Wo bleibt die Einfachheit angesichts überbordenden Luxus? Wo bleibt die Toleranz angesichts der Massen an Flüchtlingen aus anderen Kulturen? Wo bleibt die Demut in einer Zeit der erfolgreichen Wichtigtuer? Wo bleibt die Höflichkeit angesichts der verbalen Attacken in Netzwerken wie facebook und twitter? Als Dienstleistungsberuf ist Pflege abhängig von den gesellschaftlichen Wendungen im Wertediskurs, als «weiße Berufskultur» (Gröning) ist sie die Hüterin des Guten und Wahren und verkörpert wie keine andere Berufsgruppe eine Nähe zu Werten qua Amt und Auftrag. So ist NOVAcura genau die richtige Fachzeitschrift, sich dem widersprüchlichen, sperrigen und hochaktuellen Thema zu stellen, damit das neue Jahr zu beginnen und die Suche nach dem Wahren und Wertvollen mit der notwendigen Prise der Tugend «Humor» zu würzen. Mit herzlichen Grüssen, Barbara Müller Barbara Müller, Dipl.-Pflegewirtin, Dozentin für Pflege, Redaktorin und Lektorin im Verlag Hogrefe, Bern. barbara.mueller@hogrefe.ch
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8
Durch das Jahr mit der NOVACURa Durch das Jahr mit der NOVACURa Durch das Jahr mit der NOVACURa
2
partnerschaftlich anpassungsfähig rücksichtsvoll kooperativ
0
Leere Stille Ewigkeit Einssein
1
unabhängig individuell initiativ wegweisend
01: Werte
Besitz, Geld, Ideale, Vermögen, Grenzwerte, Vermögenswerte, Grundwerte, Rückbesinnung, Toleranz, Respekt
02: Bewegung
Änderung, Ergriffenheit, Fluss, Fahrt, Gang, Tanz, Schwankung, Schwingung, Strömung
03: Haut
Fell, Hülle, Schale, nackte Haut, ehrliche Haut, faule Haut, Auflage, Blatt, Oberfläche
04: Lebensqualität
Steigerung, Patienten, Umwelt, Erhaltung, Wohlbefinden, Infrastruktur, optimierte, individuelle, höchstmögliche
05: Kommunikation
Anschluss, Berührung, Brückenschlag, Kontakt, Tuchfühlung, Verständigung, Bekenntnis, Gedächtnis, Partnerschaft
06: Prävention
Patenschaft, Pflegschaft, Protektion, Aufklärung, Gesundheit, Analyse, Gesprächskreis, Intervention, Sachgebiet
07: Neurokognition
???
08: Grenzen
Grenzen kennen, setzen, überschreiten, Belastbarkeit, fliessend, Jubel, verschwimmen, überwinden, ausloten
09: Heimweh
Drang, Sehnsucht, Verlangen, Glaube, Kampfgeist, Mythos, geplagt, überkommt, fürchterlich
10: Gefühle
gemischt, verwirrt, im Widerstreit, Wechselbad, Liebe, Überschwang, wahre, unangenehme, ehrliche
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verantwortungsbewusst ausgeglichen mitfühlend
Mit den besten wünschen für das neue Jahr 2016 Barbara Müller Durch das Jahr mit der NOVACURa Durch das Jahr mit der NOVACURa Durch das Jahr mit der NOVACURa © 2016 Hogrefe
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Schwerpunkt 9
Grenzen begegnen Silvia Agbih
In der Gestalt von Menschen begegnen dem Prinzen Siddharta auf seiner Reise die Grundformen des Leidens: Alter, Krankheit und Tod. Sie scheinen als etwas, das wir als Menschen alle unausweichlich erleiden, früher oder später. Es sind die Grenzen menschlichen Lebens, denen Siddharta begegnet. Diese Legende des Buddha ist über 2000 Jahre alt – die Grenzen menschlichen Lebens im Leiden sind aktuell wie einst.
P
rinz Siddharta lebte in einem wunderschönen, riesengrossen Palast und hatte alles, was das Herz begehrt: Reichtum, Macht und Einfluss, eine schöne, junge Frau, ergebene Bedienstete, prunkvolle Säle, herrliche Gärten, köstliche Speisen, berauschende Bäder – eine Welt für sich. Ein goldener Käfig? Wie auch immer, es trieb ihn die Grenzen seiner Welt zu überschreiten. Gegen den Rat und Willen seines Vaters, der ihn vom Anblick des Leidens fernhalten wollte, begab er sich auf vier Ausfahrten. Es wurde geordnet, geschmückt und herausgeputzt – dennoch begegnete dem jungen Prinzen Siddharta das Leiden, dessen vier verschiedene Formen ihn den Weg zum Buddha weisen sollten. Wem oder was begegnete er? Zuerst einem alten Menschen, dann einem Kranken, beim nächsten Mal sah er einen Toten und schliesslich einen Asketen, der durch seine Meditation das Leid zu überwinden suchte. Auf die Frage des Prinzen, ob alle Menschen alt und krank würden und sterben werden, antwortete ihm sein Kutscher, ja, dies sei das Schicksal aller Menschen, auch des jungen Siddharta.
Grenzsituationen Es sind die Grenzen menschlichen Lebens, denen Siddharta begegnet. Der deutsche Philosoph Karl Jaspers nennt sie in seinen Überlegungen zur menschlichen Existenz entsprechend «Grenzsituationen»: «Vergewissern wir uns unserer menschlichen Lage. Wir sind immer in Situationen. Die Situationen wandeln sich, Gelegenheiten treten auf. […] Aber es gibt Situationen, die in ihrem Wesen NOVAcura 1/16
Die Gütekriterien für Langzeit- und Altenpflege: individuelle, personenzentrierte, aktivierende und integrierte Bezugspflege. Gesundheit und der Erhalt von Eigenständigkeit im Altwerden korrelieren mit der Art und Weise, wie pflegerische Betreuung geleistet wird. Foto: Martin Glauser
bleiben, auch wenn ihre augenblickliche Erscheinung anders wird und ihre überwältigende Macht sich in Schleier hüllt: ich muss sterben, ich muss leiden, ich muss kämpfen, ich bin dem Zufall unterworfen, ich verstricke mich unausweichlich in Schuld. Diese Grundsituationen unseres Daseins nennen wir Grenzsituationen. Das heisst, es sind Situationen, über die wir nicht hinaus können, die wir nicht ändern können.» (Jaspers, 1996, S. 18) Das Alter, die erste Begegnung Siddhartas mit der leidvollen Welt, benennt Jaspers nicht ausdrücklich. Vielleicht sah er es nicht als leidvoll an? Unausweichlich ist das Altern aber, zumindest so lange wir leben. Noch. Die vielfältigen Bestrebungen und Versprechungen des «AntiAgeing», von Kosmetik bis zu medizinisch-biologischer Forschung, scheinen es mit dieser Grenze aufnehmen zu wollen. Den Jungbrunnen wünschen und suchen die Menschen schon lange. Aber sollen wir überhaupt an dieser Grenze rütteln? Die Frage nach dem «Sollen» ist die ethische Frage. Das Schwierige, schwer zu Tragende, Leidvol© 2016 Hogrefe
10 Schwerpunkt
le suchen wir zu überwinden oder wenigstens zu vermeiden, hinauszuzögern, erträglicher zu machen. Dieses Bestreben ist lebenswichtig. Aber ist es in jeder Situation zielführend? Hilfreich, um unser Leben zu führen, um ein gutes Leben zu führen?
Werte – Wert des Alters? Die Legende vom Leben des Buddha, wie viele andere kulturelle und religiöse Zeugnisse, zeigt uns Alter als leidvoll, abschreckend, kaum erstrebenswert, kein Wert, den wir erlangen, sondern etwas, das wir überwinden wollen. Das, was uns wertvoll ist, wollen wir behalten und bewahren, auf jeden Fall unsere Jugend und Gesundheit – genau das, was uns das Altern zu nehmen scheint. Deswegen Anti-Ageing und am besten gleich Anti-Sterblichkeit. Alter wird assoziiert mit Krankheit, Sterben, Tod, Demenz, Gebrechlichkeit und einer weiteren Grundsituation menschlichen Lebens, die es besonders unattraktiv macht: unsere Bedürftigkeit. Diese währt zwar ein Leben lang, sucht uns im Alter aber auf besonders beschämende Weise heim: Gebrechlichkeit, Hilfsbedürftigkeit und Abhängigkeit in alltäglichen Dingen des Lebens, beim Essen, Anziehen und auf der Toilette, kurz gesagt: Pflegebedürftigkeit. Angesichts dieser Schrecken des Alters, gibt es da Gründe, unsere biologische Grenze nicht verschieben zu wollen, nicht dem Anti-Ageing zu folgen? Hat das Alter einen Wert in sich? Der 2015 erschienene «World report on ageing and health» der WHO und der World Bank, setzt auf der Basis der allgemeinen Menschenrechte das Recht auf ein würdiges Leben im Alter voraus. Unabhängigkeit, Autonomie, Individualität, Fürsorge und Partizipation erscheinen hier als leitende Werte. Am Beginn des Berichts steht eine Auseinandersetzung mit Altersbildern, Ageism sowie den positiven Aspekten des Alterns. Den engen Zusammenhang zwischen der Art und Weise, wie pflegerische Betreuung geleistet wird, mit Gesundheit und dem Erhalt von Eigenständigkeit im Altwerden, zeigt der Bericht deutlich auf. Unzutreffende Altersbilder und Ageism gehören laut WHO zu den grössten Hindernissen für die Entwicklung brauchbarer, menschlicher und nachhaltiger Versorgungskonzepte (World Report on Ageing and Health, 2015, S. 10).
Ageism «Ageism» beruht, wie andere «-ismen» und «Rassismen», auf unreflektierten und als absolut gesetzten Vorannahmen, Stereotypen und Vorurteilen. Wir verallgemeinern Erlebnisse – beispielsweise, dass viele ältere Menschen nicht mehr gut laufen können, an Demenz erkranken und pflegeabhängig werden – in unzulässiger Weise und bilden daraus ein unzutreffendes Gesamtbild vom Alter. Die schwierigen, leidvollen, negativen Anteile gewinnen leicht die Übermacht und prägen dieses Bild, das wiederum unsere Urteile, Entscheidungen und Handlungen beeinflusst. Der WHO Bericht macht deutlich, wie sehr unrichtige Altersbilder © 2016 Hogrefe
selbst bis in politische Entscheidungen hineinreichen und gesellschaftliches Handeln bezüglich gesundheitlicher und pflegerischer Versorgung beeinflussen. Und gerade auch die Pflegepraxis und konkrete Gesundheitsversorgung ist vor Stereotypen und Ageism nicht gefeit, im Gegenteil! Deutlich entgegengesetzt wird den Vorurteilen, dass es «den» alten Menschen nicht gibt! Altern ist völlig individuell und multifaktoriell geformt: von genetischer Disposition über Umwelteinflüsse bis zu persönlichem Verhalten. Mögliche positive Bewertungen des Alters an sich scheinen immer wieder auf: Alte Menschen haben Lebenserfahrung und Wissen, kreative Beiträge und innovative Lösungsansätze in der Arbeitswelt wie im sozialen und persönlichen Leben einzubringen. Ressourcen, auf die keine Gesellschaft verzichten kann. Ageism hat also einen Preis, den Verlust an Ressourcen und sicher auch an Menschlichkeit. Soll Altern die Würde behalten, geht es aber mit Kant gesagt nicht mehr um den berechenbaren Preis, sondern darum, dass jeder Mensch ein Zweck in sich selbst ist und wir uns darum gegenseitig die Anerkennung und Achtung unserer Menschenwürde zusprechen. Der «Wert» des Alters ist wohl ebenso wenig bestimmbar wie der Wert eines menschlichen Lebens überhaupt. Das Altern soll natürlich auch nicht romantisiert und verklärt werden. Um partizipative, faire, effiziente und lebbare Konzepte der Gesundheitsversorgung zu finden, müssen wir dringend unsere Menschenbilder und unsere Bilder vom Alter reflektieren und überprüfen. Eine Auseinandersetzung mit Ethik, also ein Nachdenken über unsere Moral und unsere Werte, braucht Einsicht in unsere menschliche Grundsituation. Erkenntnis unserer Grenzsituationen ist Voraussetzung und Grundlage für unser Nachdenken über Werte. Die Philosophin Theda Rehbock (2009) nennt das den «Sinnhorizont» unserer ethischen Reflexion. Das ist gerade auch in der Pflegeausbildung unerlässlich.
Werte in der Pflegeausbildung Ethik in der (Alten)Pflegeausbildung heisst Auseinandersetzung mit beruflichen Wertorientierungen, die immer auch persönliche Werthaltungen berühren und niemals unabhängig von gesellschaftlichen Strömungen sind. Jedes Berufsethos ist mit dem persönlichen Selbst- und Menschenbild verknüpft. Ethos und Wertorientierung berühren in den Pflegeberufen in besonderem Masse existentielle Situationen und Entscheidungen, da sich die «Kunden» dieser personenbezogenen Dienstleistung eben nicht in einer typischen Kundensituation befinden, sondern meist in einer existentiell bedrohten Lage. Durch Krankheit, Gebrechlichkeit, Verlust und Schmerz sind sie in einer Grenzsituation und bedürfen auf besondere Weise unserer Unterstützung. Diese Unterstützung professionell zu gewähren und dabei trotz aller Einschränkungen die Ressourcen der Betroffenen im Blick zu behalten und zu fördern, muss gelernt werden. Dazu gehören selbstverständlich umfangreiche Fachkenntnisse, aber auch ausgeprägte Sozialkompetenz und ethische Kompetenz. Es gilt, eine Haltung zu entwickeln und dafür NOVAcura 1/16
Schwerpunkt 11
braucht es Übung und Erfahrung. Bereits Aristoteles, der berühmte antike griechische Philosoph, der auch als Begründer der Ethik als eigenständigem Teilgebiet der Philosophie gilt, schreibt, dass wir die phronesis, die sittliche Einsicht oder Urteilskraft oder in modernen Worten so etwas wie ethische Kompetenz, nur durch Übung erarbeiten können. Die Übung braucht Anleitung und Struktur. Modelle ethischer Prinzipien für die Gesundheitsberufe sind hier hilfreich und förderlich. Allerdings unter der Voraussetzung, dass sie als Reflexionshilfen verstanden werden und nicht als fixierte Standards «angewandt» respektive abgearbeitet werden. Das Reflexionsmodell von Rabe (2009) enthält dieses Verständnis explizit: Die vorgeschlagenen ethischen Prinzipien Autonomie, Fürsorge, Verantwortung, Dialog und Gerechtigkeit, die Ausdifferenzierungen des zentralen Wertes der Würde sind, werden ausdrücklich als Reflexionsbegriffe konzipiert. Das heisst, wir müssen uns immer wieder der Aufgabe stellen, reflexiv und diskursiv zu erarbeiten, was diese allgemeinen Begriffe in der konkreten Situation für die Betroffenen bedeuten. Damit sind sie als ethische Prinzipien an anthropologische Reflexion angebunden, auf den Sinnhorizont der menschlichen Grundsituation verwiesen. Der World Report on Ageing and Health benennt eindeutig die Gütekriterien für Langzeit- und Altenpflege: Individuelle, personenzentrierte, aktivierende und integrierte Bezugspflege. Damit stellt sich hier die gleiche Anforderung: immer wieder erneut reflektieren, überprüfen und möglichst gemeinsam mit dem Betroffenen erkunden, was genau er braucht, wie Standards an seine Situation angemessen werden können und welche auch gelassen werden dürfen oder müssen. Es gibt nicht «den» alten Menschen und keine Person ist jeden Tag gleich, auch chronische Krankheiten äussern sich nicht jeden Tag chronisch gleich und «disability» und «frailty» sind im WHO Konzept keine statisch fixen sondern veränderliche Zustände. Es gilt für die Pflegeberufe also eine «selbstbewusste» Haltung zu entwickeln, eine Haltung, die sich sowohl des Wertes ihrer Tätigkeit als auch deren Grenzen und der menschlichen Grenzsituationen bewusst ist, das eigene Menschenbild und eigene Werthaltungen reflektiert, um sich davon auch distanzieren zu können und sich in Denkund Lebenswelt des zu Betreuenden einzufühlen. Die Behandlungen, pflegerischen und medizinischen Interventionen und Hilfen müssen ja dem Anderen annehmbar und lebbar sein. Die Lebenswelten alter Menschen sind genauso vielfältig und unterschiedlich wie bei jüngeren Patienten. Diese banal scheinende Einsicht ist doch nicht selbstverständlich wie die Forschungen zu Ageism zeigen, und sie ist insbesondere für die Pflegeausbildung, die meist jüngere Menschen für die Betreuung und Pflege älterer Menschen vorbereitet, ausgesprochen wichtig.
Schlussgedanken Nach der Legende der vier Ausfahrten beginnt der Weg des Prinzen Siddharta Gautama zum Buddha, zum Erwachten NOVAcura 1/16
Fürsorge Autonomie
Verantwortung
Würde Dialog
Gerechtigkeit
Abbildung 1. Aspekte des Grundprinzips der Würde (Rabe, 2009)
oder Erleuchteten, mit seiner Begegnung mit einem alten Menschen. Vielleicht liegt im Alter und in der Auseinandersetzung mit dem Altern doch eine Chance zu Erkenntnis und zu so etwas wie Weisheit? Die Einsicht, zu der Buddha nach langem und durchaus mühe- und leidvollem Weg gelangt, ist allerdings nicht, dass menschliches Leid zu überwinden wäre, indem wir Alter, Krankheit und Tod gänzlich abschaffen. Leid ist nach der Lehre des Buddha nur überwindbar, indem wir Schmerz und Schaden soweit es in unserer Macht steht lindern, sie als Grundsituationen des Menschseins aber gerade annehmen – um sie dann loslassen zu können. Wäre nicht die Einsicht in die Unausweichlichkeit von Grenzsituationen ein guter Grund, uns nicht nur mit dem Vermeiden des Alterns zu beschäftigen, sondern damit, wie wir es annehmen können? Es, mit Jaspers gesagt, «existentiell ergreifen», uns darauf einlassen und es leben – vielleicht sind erst darin seine Werte entdeckbar?
Literatur Aristoteles. Nikomachische Ethik. Übersetzung von Franz Dirlmeier (1997). Reclam: Stuttgart Ceming, K.; Sturm, H.-P. (2005). Buddhismus. Suhrkamp: Frankfurt a. M. Gethmann-Siefert, A. (2007). Ethik und Anthropologie. Paradigmen und Ziel der philosophischen Bestimmung des Menschen. Eigenverlag: Hagen Jaspers, K. (1996): Einführung in die Philosophie. 20. Auflage, Piper: München Kant, I. (2007): Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Suhrkamp: Frankfurt a.M. Rabe, M. (2009): Ethik in der Pflegeausbildung. Beiträge zur Theorie und Didaktik. Hans Huber: Bern Rehbock, T. (2005). Personsein in Grenzsituationen. Zur Kritik der Ethik medizinischen Handelns. Mentis: Paderborn WHO und World Bank (2015). World Report on Ageing and Health. Sylvia Agbih, M.A. (phil.), Philosophin, Ethikberaterin, Gesundheits- und Krankenpflegerin, Dozentin, Spielleiterin für Szenisches Spiel, Lehrbeauftragte für Ethik und Anthropologie an der DHBW Heidenheim im Studiengang Interdisziplinäre Gesundheitsversorgung sowie für die Charité Healthcare Services. Teilzeit tätig als Gesundheits- und Krankenpflegerin. SylviAgbih@t-online.de
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12 Schwerpunkt
Werte im Alter oder das Glück des Alterns Perspektiven der Lebens-Philosophie Beat Vonarburg
Ob man im Alter glücklich sein kann trotz Alter, eingeschränkter Autonomie und Muskelschwund, das ist die Frage. Oder zumindest nicht ins Unglück schlittert und im besten Fall wunschlos unglücklich wird. Die einen sagen, man solle sich nichts vorgaukeln, denn Alter verheisse Vergänglichkeit. Nichts habe Bestand, gar nichts. Doch es gibt auch die Stimme der Zuversicht: Wahrscheinlich könne man sich auf die Werte verlassen, die man im Leben aufgebaut habe. Man finde vor allem das Glück, wenn man es nicht mehr suche.
F
rédéric Lenoir (2015, S. 11) ist mit amerikanischen Glücksforschern der Ansicht, dass sich das Glück unserem Zugriff entzieht, aber nicht ganz: «Wir sind zum Glücklich- oder Unglücklichsein vielleicht konditioniert, aber nicht determiniert.» Die genetische Disposition spiele eine Rolle, aber auch die Umwelt und wir selbst. Es ist wahrscheinlich ein Paradoxon: wenn wir das Glück suchen, finden wir es nicht. Das Glück ist das Ziel des menschlichen Strebens, aber nicht der Weg, denn der Weg ist die Norm, die Tugend. Wir müssen uns nach einer gewissen Norm verhalten, nach unserer eigenen Norm, nach den Werten, die wir für wert erachten, nach der Wahrheit, das heisst, nach unserer Echtheit. Wir müssen unser Wesen entwickeln, wir müssen werden, was wir sind, dann werden wir glücklich. Das Glück ist ein Geschenk auf dem Weg zur Selbstverwirklichung. Und glücklich werden wir am besten, wenn andere mit uns glücklich sind, denn Glück ist ansteckend, es strahlt über unser Gesicht und es strahlt uns manchmal entgegen. In der amerikanischen Verfassung wird die Idee des Glücks sogar als unveräusserliches Recht bezeichnet. Diese Idee wurde im 18. Jh. mit der Idee des Fortschritts zu einem besseren Leben verbunden, zu einem demokratisch verfassten eigenständigen Leben auch im materiellen Bereich. Dabei geht es nicht nur um bürgerliche Behaglichkeit und Ruhe, um Reichtum, Macht und Ehre in den Augen der Andern. Um diese Werte geht es auch, denn eine gewisse äussere Bequemlichkeit kann das Glück fördern, obwohl die äusseren Umstände eher instabil sind. Im Wesentlichen geht es aber um den zufriedenen Blick auf sich selbst. Der französische Philosoph André Glucksmann schrieb: «Ich liebe das Leben zu sehr um nur glücklich zu sein.» Dabei verwechselt er meiner Meinung nach den Weg und das Ziel. Glücklich sein heisst, mit seinem Leben und mit sich selbst einverstanden sein, das Leben trotz aller möglichen widrigen Umstände lieben. Man könnte auch sagen, das Glück ist die Freude am Leben.
Keine Defizitanalyse, sondern der Blick in sich selbst
Das Leben ist überall. Foto: Martin Glauser © 2016 Hogrefe
Die Frage nach dem Glück stellt sich zuerst den Fragen meines Daseins: Was mache ich aus dem, was das Leben aus mir gemacht hat, was ich aus mir gemacht habe, was NOVAcura 1/16
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mir gelungen ist, was ich unterlassen habe und wo ich gefehlt habe? Und gerade jetzt, was mache ich aus all dem Geschiebe, das sich angesammelt hat, was baue ich auf dem Geröll, das unweigerlich in die Tiefe rollt? Was kann ich noch umgestalten? Welche Beziehungen geben mir die Möglichkeit Sinn zu stiften für mich und für andere? Wie sieht es in mir aus? Oder profaner: Kann ich mich im Spiegel anschauen, ohne zu erschrecken?
Die Selbstbefreiung Gerade im Alter hat man Zeit – und es ist auch Zeit, die Frage nach dem Glück zu stellen. Nach dem Müssen das Recht haben zu vertrotteln, meint etwas schelmisch Ludwig Hasler. Wenn er den Trottel als Clown oder Hofnarr meint, der mit über 65 sagen darf, was er denkt und worauf er Lust hat, bin ich einverstanden. Vertrotteln im Sinn von verludern möchte ich nicht, auch nicht in Löcher-Jeans und speckigem Kragen. Das ist den Jungen vorbehalten. Mir Mühe geben um jung zu erscheinen, möchte ich auch nicht. Aber Harald Martensteins Sicht (Zeit Magazin) scheint mir erstrebenswert: Er schreibt vom Sandburgen bauen, vom Spielen um des Spiels willen, vom zwecklosen Glück – wobei das Glück immer zwecklos ist, denn es ist das Ziel an sich. Ich bin nicht glücklich, um den Menschen zu gefallen, und ich bin nicht der alte dauerglückliche Trottel, um zu zeigen, dass man auch im Alter glücklich sein kann. Aber ich kann mich bescheiden mit einem halbvollen Glas, denn das ist die perfekte Quantität im Weinglas, damit die Aromen voll zur Geltung kommen. Dieses halbleere Glas gibt mir auch die Möglichkeit zuzuhören, ohne Sorge um das Nachschenken. Dürrenmatt sagte, es brauche Humor, um das Tragische auszuhalten, die Komödie befreie vom Ballast des Daseins: wir steigen mit dem Ballon und gewinnen an Höhe und Distanz. Auf einer gewissen Höhe kann man nicht mehr abstürzen, in der Höhe wird man zum Engel, deren Flügel niemand mehr stutzen kann. Das Nicht-mehr-Müssen gibt mir auch die Freiheit, das Unvermeidliche zu denken und die Wege bis dahin auszuhalten. Das Denken kann sein eigenes Auslöschen nicht denken, aber die Lust am Erkennen hilft mir über die Abgründe hinweg. Erkennen heisst auch schauen, erfahren, spüren wie es für mich stimmt. Und wenn es dann und wann stimmig wird, das Einssein mit sich selbst und der Welt, kommt das Glück. Vor allem habe ich im Alter gelernt: man muss seine Lebenslügen entlarven, das ist der beste Schutz vor dem Unerträglichen. Man nennt es Selbstbefreiung.
Der Befund der Gerontologie zum Altern In den letzten 65 Jahren ist die Lebenserwartung von 66 Jahren für Männer auf 81 und für Frauen auf von 71 auf 85 Jahre gestiegen. Man könnte einwenden, das sei das Verdienst der Medizin. Nicht nur, sagen die Gerontologen, auch der Alterungsprozess im Hirn verlangsamt sich. ZuNOVAcura 1/16
dem sagen die Arbeitspsychologen, wer von einem an Defiziten orientierten Altersbild geprägt sei, altere schneller und bringe nicht mehr die Leistung, die er erbringen könnte. «Wer es hingegen schafft, Beeinträchtigungen als normal für sein Alter und nicht als Krankheit zu interpretieren, dem verspricht die Statistik ein um sieben Jahre längeres Leben. [...]. 75-Jährige sind heute so leistungsfähig wie gestern 65-Jährige» (Rüfer, 2015) Deutliche Gewinne seien in der Gesamtbilanz für das Alter festzustellen, so zum Beispiel eine bessere Sprachkompetenz und vor allem eine grössere emotionale Intelligenz, das heisst, eine bessere Beherrschung der Emotionen. Und vor allem eine höhere Dosis an Glücksempfinden. «70-Jährige erreichen die gleichen Werte für das Wohlempfinden wie 20-Jährige. Angsterkrankungen und Stress nehmen drastisch ab. Die Zahl derer, die erstmals im Leben an einer Depression erkranken, geht gegen null.» (Rüfer, 2015)
Was sagen die modernen Neurologen zum Glück? Im Gehirn spielen Physik und Chemie die erste Geige. Die physiologischen Prozesse bestimmen das Wohl und das Übel. Wer sich unglücklich fühlt, geht in die Apotheke, um Serotonin zu holen. Wer zu wenig Lust hat auf Leistung, kann gedopt werden. Der Mensch ist nichts anderes als ein triebgesteuertes höheres Tier. Streben nach Freiheit und Befreiung vom Begehren sind schöngeistige Begriffe. Rüdiger Safransky spricht von der naturwissenschaftlichen Entzauberung des Lebens, die den Menschen verdinglicht und die mit der Formel operiert ‹der Mensch ist nichts anderes als …›. Alles vollziehe sich im Bereich der Notwendigkeit. Wer unglücklich ist, hat Pech, wer sich glücklich gibt, hat Glück gehabt. (Safransky , 1997, S.41) Das Welt- und Menschenbild vieler Neurologen beschränkt sich auf die Aussensicht, auf Beobachtung und wiederholbares Experiment. Menschen, die meinen, durch Einsicht und Selbstbeherrschung zur Harmonie mit sich und der Welt zu gelangen, überschätzen ihren Willen und ihre Selbstbestimmung. Der Mensch sei nicht Herr im eigenen Haus, sagte bereits der Psychiater Freud. Man müsse bescheidener sein und die Fremdsteuerung annehmen. Heute nennt man das die Entpersonalisierung durch die neurologische Wissenschaft oder die Biologisierung des Menschlichen.
Das Angebot der Philosophie Die Weisheitslehren, die im Hinduismus bis 3000 vor unserer Zeitrechnung zurückgehen, zeichnen ein anderes Bild vom Menschen. Der Mensch wird verstanden als ein vernunftbegabtes Wesen, das mit der Weltvernunft verbunden ist. Im Innersten des Menschen sei der Zugang zur Vereinigung mit dem Wesen der Welt zu finden. Das Sich-zurückBesinnen auf das geistige Prinzip vollziehe sich in der Selbstbeschränkung. Im Hinduismus geht es nicht um die © 2016 Hogrefe
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Selbstaufgabe, sondern um die Selbstverwirklichung der eigenen Seele, um die Fusion mit der Weltseele. Der Buddhismus hingegen, 500 Jahre später, postuliert am Ende des Prozesses nicht die volle Selbstentfaltung sondern die Selbstauflösung. In beiden Lehren hat der Dualismus, die Aufspaltung in Materie und Geist, noch nicht stattgefunden. Alles ist eins, wie später im 17. Jh. auch Spinoza postulierte und heute einige Quantenphysiker wieder aufleuchten lassen. Auch die chinesischen Weisen Laotse und Konfuzius fordern den Primat des Geistigen, wie die griechischen Denker 100 Jahre nach ihnen. Für Aristoteles gab es nichts Höheres als die Erkenntnis, die Theorie, das heisst das Schauen der Gesetzmässigkeiten im Menschen und im Kosmos, führe zum höchsten Genuss und zum Glück. In seinen ersten Schriften sagte Nietzsche gegen Ende des 19. Jh., der Mensch sei der Wille zur Macht und nichts ausserdem. Zu dieser Formulierung hat er einen Teil von Schopenhauer übernommen aus dem Werk: Die Welt als Vorstellung und Wille. Der Wille ist bei Schopenhauer die Urkraft, die Urenergie, die in der Welt Gestalt wird, auch im Menschen, ihn zu immer neuem Begehren treibt, zu Hoffnungen verführt und immer wieder abstürzen lässt Schopenhauer stellt sich die Frage, wie der Mensch aus diesem Getriebensein aussteigen kann. Kann sich der Mensch aus dem Treiben der Leidenschaften, die sein Leid schaffen, retten oder ist er dem Urtrieb der Weltenergie – heute würde man sagen den chemischen Prozessen – hilflos ausgeliefert? Schopenhauer ist am Ende seines Lebens vorsichtig pessimistisch. Er sagt, man könne das Treiben in einem ersten Schritt durch Einsicht ins Getriebe fixieren, dann durch das Mitleid mit andern entschärfen und schliesslich durch die Verneinung das Begehren überwinden, das heisst, die zerstörerische Wucht der Lebensenergie verneinen und damit aus dem Leiden aussteigen. Ich frage mich, ob dieser Pessimismus buddhistischer Prägung tragfähig ist. Ich plädiere eher für einen kritischen Optimismus, für ein Ja zum Leben, für das Staunen, dass da etwas ist und nicht nichts. Es gibt nichts Schöneres, als im Alter das Leben zu feiern, sich zu freuen an den nachfolgenden Generationen, sich freuen an den Jungen, die global denken und lokal handeln, die keine Angst haben vor dem Fremden und Neuen, die das Tempo mithalten und gleichwohl Zeit haben, die sich nicht verbiegen vor den Popanzen, nicht mehr unter den Tabus leiden, die man uns Älteren einbrannte, die trotz grossen Freiheiten verantwortungsvoll mit den Menschen und der Natur umgehen und den Traum einer besseren Welt träumen. Meine älteste Tochter sagte mir, sie sei am Abschiedsfest einer 50-jährigen Freundin gewesen. Die Freundin leide an Pankreaskrebs und werde bald sterben. Es sei ein frohes Fest gewesen, eine Feier des Lebens und der Freundschaft.
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Und dann kommen wieder die Zweifel «Der Auftrag, einen Artikel zu ‹Werte im Alter› zu schreiben, treibt mich manchmal um», schrieb ich in mein Tagebuch. «Soll ich schon wieder einen erbaulichen Text liefern für die Alten und diejenigen, die sie pflegen? Es kommt vor, dass ich beim Nachdenken ausrufe: Muss das sein, wieder so braves Zeug formulieren, abgeklärt, altersweise und grosszügig schummeln über das Faktum hinweg, dass Altern auch Verserbeln verheisst? Ich frage mich: Was haben wir Alten zu bieten? Müssen wir immer noch etwas anbieten? Oder sind wir nicht endlich entlassen aus dem Zirkel von Angebot und Nachfrage? Übrigens: Wer fragt noch nach uns? Ja, natürlich, die Gerontologen und ihre Statistikerinnen, die berechnen, wann wir am meisten kosten. Wie viel Prozente die AHV-Beiträge aufgestockt werden müssen, um unsere Renten zu sichern. Auch so ein fatales Wort, die Rentnerinnen, die nicht mehr rentieren. Also, lasst uns aussteigen, wir wollen dem Zauber entrinnen, oder noch besser: Wir steigen aus! Fertig mit den Ansprüchen, die man an uns legt. Wir bieten nichts mehr an. Lasst uns in Frieden vertrotteln und holt euch das gute Leben woanders. Schluss, aus, ich mache die Tour nicht mehr mit. Ja, ja, ‹Freude trinken alle Wesen/ An den Brüsten der Natur›! Wir waren einmal auf der Rosenspur. Jetzt geht’s bergab, der Schweiss trocknet im Wind.
Schlussgedanken Und dann lese ich bei Pierre Stutz, dass ich nicht eine Kopie, sondern ein Original bin. Dass es zu meinem Auftrag gehört, die Balance zu finden zwischen meinen Schwächen und Talenten, herauszufinden, wo ich verletzlich und unvollkommen bin. Das Leben gelingt nicht nur, wenn es rund läuft, sondern auch auf verschlungenen Pfaden. Das nennt man das Glück in der Unvollkommenheit, im Vorläufigen. Und ich sage mir, das ist wahrscheinlich der Wert im Alter: Ich weiss um die Zufälligkeiten. Es war nicht alles gut, aber es wird schon gut. Vielleicht eine beruhigende Message für die Jungen.
Literatur Lenoir, F. (2015). Über das Glück. Eine philosophische Reise. dtv: München Rüfer, A. (2015). Von wegen vertrottelte Alte. In: Zentralschweiz am Sonntag [04.10.2015] Safransky, R. (1997). Nietzsche. Diederichs: München Stutz, P. (2015). Interview im Pfarreiblatt von Hitzkirch Dr. phil. Beat Vonarburg, Philosoph bfvonarburg@bluewin.ch
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Mangelnde Labor-Referenzwerte bei Senioren – eine Herausforderung im klinischen Alltag Susanne Roas
Der demographische Wandel der Bevölkerung stellt gerade in den Industrieländern eine zunehmende Herausforderung dar. So wird bei der zunehmenden Zahl an «Senioren» die Multimorbidität und Pharmakotherapie mit der Problematik Polypharmazie immer mehr in den Fokus rücken. Ein weiterer wichtiger Aspekt im Hinblick auf Therapieoptionen ist die Labormedizin mit Referenzwerten, die sich bisher vor allem auf jüngere Erwachsene und Menschen mittleren Alters beziehen.
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n der Medizin wird man sehr häufig mit Referenzwerten konfrontiert. So auch bei Laborwerten. Obwohl der Alterungsprozess individuell verläuft und von vielen Faktoren abhängig ist, erscheint uns ein Laborwert als objektiv in der Bewertung der diagnostischen Informationen. Ein Laborwert stellt eine Zahl und eine physikalische Einheit dar. Genauer genommen muss man jedoch sagen, dass zwar der Wert an sich als objektiv, jedoch die klinische Interpretation und die Referenzwerte als subjektiv zu bewerten sind. Die Referenzwerte basieren auf statistischen Auswertungen grosser Kohortenstudien und kontrollierten Studien (vgl. Solberg HE et al., 1983) junger Personen bis Personen mittleren Alters (vgl. Deutsch et al., 1988). Da sich mit zunehmendem Alter Organfunktionen verändern, können diese definierten Referenzwerte nicht umfassend auf ältere und hochbetagte Menschen bezogen werden. Dies ist eine Wissenslücke in der Medizin, die schnellstmöglich geschlossen werden sollte. Tatsächlich erfasst die grosse DO-HEALTH Studie in Europa erstmals Referenzdaten für einen grossen Anteil gängiger Laborwerte für Menschen im Alter >70. Diese Daten werden bis 2017 zur Verfügung stehen. (vgl. Commission et al., 2012, Bischoff-Ferrari et al., 2012). Die Bewertung von Referenzwerten bei älteren und hochbetagten Patienten ist darüber hinaus noch verschärft durch zeitgleiche chronische Erkrankungen und bereits eingeleitete pharmakologische Therapiemassnahmen. Zum Aspekt Alter und fehlenden Referenzwerten gesellen sich demnach Multimorbidität, Nebenwirkungen von Medikamenten und die Polypharmazie als beeinflussende Faktoren. NOVAcura 1/16
In Frage gestellt und eine tägliche Herausforderung für die Mediziner: Beurteilung des Gesundheitszustandes anhand der Blutwerte angesichts der Faktoren Alter, bestehende Erkrankungen und Therapie. Foto: Martin Glauser © 2016 Hogrefe
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Abbildung 1. Mögliche Einflussfaktoren für Laborparameter (vgl. Lapin et al., 1999). Nähere Erläuterungen siehe Text.
Zwischen den physiologischen altersbedingten Veränderungen der Laborwerte und den pathologischen (z.B. durch eine Erkrankung) zu differenzieren, ist eine tägliche Herausforderung in allen Bereichen der Akutmedizin. Diese wird durch atypische Symptome älterer Patienten in ihrer Komplexität noch weiter verstärkt. Diese veränderte Symptomatik und/ oder Prognose vieler Erkrankungen erschwert also zusätzlich die «Diskriminations-Grenze» für positive und negative Bewertung eines Laborwertes (vgl. Lapin et al., 1999). Im abgebildeten Schaubild ist eine Zusammenfassung möglicher Einflussgrössen für Laborwerte bei älteren und hochbetagten Patienten aufgelistet (vgl. Lapin et al., 1999). Die «biologischen oder physiologischen Einflüsse» können gemäss Lapin in «permanente, lang-, mittel- und kurzfristige» eingeteilt werden und werden in den folgenden Abschnitten als wertvolle Wegleitung für die Klinik und Beurteilung von Laborwerten bei älteren und hochbetagten Patienten näher erläutert.
Permanente Einflüsse Darunter versteht man die geschlechtsspezifischen Unterschiede wie auch die «genetisch determinierten Faktoren» (Lapin et al., 1999). Einige Laborwerte weisen geschlechtsspezifische Unterschiede auf, so zum Beispiel Gamma-GT, Kreatinin, Triglyceride, Erythrozytenzahl, Hormonstatus und Hämoglobin (Einer et al.; 1991 und Adeli et al.; 2015). Die Unterschiede können infolge konstitutionsbedingter Unterschiede, wie unterschiedlicher, Muskel- und Knochenmasse und Wassergehalt, erklärt werden. Nach der Menopause, Andopause, verkleinern © 2016 Hogrefe
sich die geschlechtsspezifischen Unterschiede infolge der verminderten hormonellen Einflüsse.
Langfristige Einflüsse Durch den Alterungsprozess und die damit verbundene Auswirkung auf Organfunktionen verändern sich auch die entsprechenden Laborwerte. Wichtige altersbedingte Veränderungen sind beispielsweise die Abnahme des Extrazellulärvolumens, die Zunahme des Fettgewebes, die Abnahme der Muskelmasse, die verminderte glomeruläre Filtrationsrate und eine reduzierte Leberdurchblutung. Der Verlust von renalen Glomerula im Alter zeichnet sich im Laborwert durch Abnahme der glomerulären Filtrationsrate (GFR) ab. Dass der Serum-Kreatininspiegel jedoch nicht konsekutiv im gleichen Ausmass zunimmt, liegt daran, dass bei fortschreitendem Alter die Muskelmasse abnimmt (vgl. Cavalieri et al.; 1992 und Tietz et al.; 1992). Bei den Nierenwerten wurde somit vor wenigen Jahren beispielsweise die GFR altersentsprechend angepasst (vgl. Schaeffner et al.; 2012). Da allgemeingültige Referenzwerte für ältere und hochbetagte Patienten in der heutigen Labormedizin fehlen, ist damit die Beurteilung ‹altersbedingt-physiologische› versus ‹krankheitsbedingt pathologische› Veränderung erschwert. Empirische Daten zeigen, dass der Albumin-Wert im höheren Alter abnimmt (vgl. Campione et. al.; 1988 und Adeli et al.; 2015). In der Arbeit von Cabrerizo et al. (2015) wurde anhand einer Metaanalyse dargelegt, das Alter grundsätzlich keine Ursache für die Hypoalbuminämie darstellt. Es gibt jedoch eine Evidenz, dass die Hypoalbuminämie mit dem Verlust der MuskelNOVAcura 1/16
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masse einhergeht. Der Albuminspiegel ist zwar ein Indikator für den Ernährungszustand, ist jedoch nicht spezifisch. Ein weiterer Laborwert, der als Referenzwert relativ gut untersucht ist und als langfristiger Einflussfaktor gilt, ist der 25-Hydroxyvitamin-D Wert. Als Mangel wird unabhängig vom Alter ein Wert von unter 20 ng/ml angesehen, der bei hochbetagten Patienten in hoher Prävalenz vorkommt (50 Prozent bei der relativ gesunden älteren Bevölkerung und 80 Prozent bei älteren Hüftbruchpatienten). Ältere Menschen haben ein erhöhtes Risiko für einen Vitamin D Mangel, unabhängig von der Jahreszeit. Dies erklärt sich folgendermassen: Mit dem Alter nimmt die hauteigene Vitamin D Produktion ab, ältere Menschen vermeiden die direkte Sonnenexposition oder schützen sich vor der Sonne. Über die Ernährung lässt sich sowohl bei jüngeren als auch bei älteren Menschen keine ausreichende Zufuhr an Vitamin D sicherstellen, weil nur wenige Nahrungsmittel (z. B. fetter Fisch) eine signifikante Menge an Vitamin D liefern. In Bezug auf Referenzwerte bei älteren Patienten wurde in nationalen und internationalen Empfehlungen ein Zielwert von 30 ng/ml zur Prävention von Frakturen und Stürzen empfohlen. (vgl. Commission et al. (2012), Bischoff-Ferrari et al. (2005, 2008, 2009, 2012, 2014), Holick et al. (1995, 2012), van Schoor et al. (2011).
Mittelfristige Einflüsse Dazu zählen Faktoren, die sich auf die soziale Situation, die Mobilität und den Ernährungszustand beziehen. So sind bei älteren und hochbetagten Patienten die Mobilität, eingeschränkter Zahnstatus sowie die Abnahme des Appetits und Darmmotilität und dem sich daraus ergebenden erhöhten Risiko für einen Verlust an Muskelmasse und Malnutrition (insbesondere Protein-Malnutrition) wichtige mittelfristige Einflussfaktoren. Natürlich haben auch Nikotin, Alkohol und eine Dauermedikation Einfluss auf verschiedene Laborparameter. So muss sicherlich erwähnt werden, dass verschiedene Medikamente unerwünschte Arzneimittelwirkungen auf die Organfunktionen haben, so z. B. Leber und Niere, und somit auch die Laborwerte verändern. (vgl. Lapin et al., 1999)
Kurzfristige Einflüsse Der Hormonhaushalt unterliegt ein Leben lang einem zirkadianen Rhythmus (wie zum Beispiel Cortisol). Zudem beeinflussen auch orthostatisch bedingte Effekte die Laborbefunde. So verstärken Ödeme beispielsweise die orthostatisch bedingten Effekte, was konkret bedeutet, dass Albumin, Cholesterin und Plasmaproteine in der Konzentration erhöht sind. Durch eine Immobilisierung, wie sie während eines Spitalaufenthaltes häufig vorkommt, kann es zu einer Erhöhung des Serum-Calciumspiegels mit konsekutiver Erhöhung von Phosphat und Harnstoff kommen. (vgl. Lapin et al., 1999) NOVAcura 1/16
Präanalytische Fehler/ Präanalytische Phase In dieser Phase werden alle Faktoren zusammengefasst, in der ein Laborbefund noch vor Analyse beeinflusst werden kann. So kann es beispielsweise gerade bei Senioren aufgrund schlechter Venenverhältnisse zu fehlerhaften Bestimmungen kommen (beispielsweise: Hyperkaliämie durch zu lange Venen-Stauung). Auch die fehlende Möglichkeit einer zeitnahen Laboranalyse (z.B. in auswärtigen Institutionen ohne eigenes Labor), kann zu Fehlanalysen führen. (vgl. Lapin et al.; 1999)
Zusammenfassung Durch die demographische Entwicklung mit Zunahme der älteren Bevölkerung, stellen bereits heute und in Zukunft ältere und hochbetagte Menschen einen grossen Teil der im Akutspital behandelten Patienten dar. Die in der heutigen Medizin fehlenden Referenzwerte für einen Grossteil aller Laborwerte bedeutet eine Wissenslücke, die schnell behoben werden muss, insbesondere auch im Hinblick auf die Tatsache, dass die meisten Laboruntersuchungen im ambulanten und stationären Bereich bei älteren und hochbetagten Menschen stattfinden. Einen grossen Stellenwert bei der Interpretation von Laborwerten bei älteren und hochbetagten Patienten nehmen zudem wichtige zusätzliche Einflussfaktoren wie Polypharmazie, Malnutrition und Mobilitätsstatus neben der altersbezogenen Referenz ein.
Literatur Adeli, K.; Higgins, V.; Nieuwesteeg, M.; Raizman, J. E.; Chen, Y.; Wong, S. L.; Blais, D. (2015): Biochemical marker reference values across pediatric, adult, and geriatric ages: establishment of robust pediatric and adult reference intervals on the basis of the Canadian Health Measures Survey. In: Clinical chemistry 61 (8), S. 1049 – 1062. DOI: 10.1373/clinchem.2015.240515. Bischoff Ferrari H. A. DO-HEALTH recruitment sites / Coordination / Trial Software. Online unter: http://do-health.eu/wordpress/ 2012; (letzter Abruf am 26.8.2014) Commission E. Online verfügbar unter: http://ec.europa.eu/research/health/medical-research/human-development-andageing/projects/do-health_en.html. Access: 23.4.2013.2012 Lapin, A.; Böhmer, F. (1999): Laborbefunde bei älteren Menschen: Ein vergessener Aspekt der Labormedizin? In: Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie 32 (1), S. 41 – 46. DOI: 10.1007/ s003910050080. Schaeffner, E. S.; Ebert, N.; Delanaye, P.; Frei, U.; Gaedeke, J.; Jakob, O. et al. (2012): Two Novel Equations to Estimate Kidney Function in Persons Aged 70 Years or Older. In: Ann Intern Med 157 (7), S. 471. DOI: 10.7326/0003-4819-157-7-201210020-00003. Dr. med. Susanne Roas, Oberärztin, Geriatrie, Universitätsspital Zürich. susanne.roas@usz.ch
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Atmung als Ausdruck des Lebens Martina Kaspar
Altersbedingte Veränderungen der Atmungsorgane, der Blutgefässe, des Bewegungsapparates und des Nervensystems schränken die Atmungsfunktionen ein. Ältere und kranke Menschen leiden körperlich und seelisch unter den Defiziten, besonders bei restriktiven und obstruktiven Ventilationsstörungen.
den für Bakterien. Verschleimte Lungenbläschen halten den Gasaustausch nur eingeschränkt aufrecht. Altersbedingte und krankhafte Prozesse, psychischer Stress und Schmerzen behindern die Atmung, dem Organismus fehlt Sauerstoff. Die Differenzierung der restriktiven und obstruktiven Ventilationsstörungen ist ein wichtiges Kriterium, um sinnvolle Behandlungsmassnahmen zu ergreifen.
Die Atmung ist jedoch nicht nur lebensnotwendig, sondern vermittelt auch ein positives Lebensgefühl.
Hilfe bei restriktiven Ventilationsstörungen
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Restriktionen reduzieren das Lungenvolumen und die Lungenoberfläche, die für einen Gasaustausch durchblutet und belüftet werden muss. Störungen der Atemmuskulatur, der sie innervierenden Nerven, Erkrankungen wie Lungenfibrose, Thoraxschädigungen oder Entzündungsprozesse behindern die Lungendehnung. Die Vitalkapazität und die totale Lungenkapazität nehmen ab. Voraussetzung für eine gute Atmung ist die Funktionsfähigkeit von Zwerchfell, der primären Atemhilfsmuskulatur und der unterstützenden Muskulatur von Bauch und Schultergürtel. Eine entspannte Bauchatmung unterstützt die Atemmuskeln. Das angrenzende Gewebe kann verspannt, schmerzhaft und damit atembehindernd sein. Verkürzte Muskeln passen sich den Atembewegungen nicht mehr an. Massagetechniken, Wärme und Bewegungsübungen lösen Verspannungen. Ein erhöhter Gewebswiderstand in Haut, Muskeln und Bindegewebe muss herabgesetzt werden. Beispiel Packegriff: Mit beiden Händen wird eine Hautfalte gefasst und leicht von den Rippen wegezogen. Der Patient soll die Hautfalte «wegatmen». Massnahmen für das Trainieren eines schwachen Zwerchfells sind zum Beispiel schnüffelndes Einatmen, Gähn- und Nasestenoseübungen: Das Enghalten einer Nasenseite während der Einatmung fördert die Ventilation in der gleichen Lungenseite. Dehnlagerungen und Anspannungsübungen der Bauchmuskeln in der Ausatemstellung optimieren die Einatemstellung. Die Rippen müssen sich ungehindert heben und senken können und die Brustwirbelsäule frei beweglich sein. Fehlstellungen, Fehlhaltungen, Narben oder Verwachsungen im Rumpfbereich behindern die Atmung. Deshalb sind die Mobilisation des Rumpfes und speziell des Brustkorbs, eine Haltungsschulung und die Lösung von Verklebungen wichtige Massnahmen. Atemtrainer,
m Alter wird die Schleimhaut der Atemwege abgebaut, die Aktivität der Flimmerhärchen und die Schleimbildung nehmen ab. Die somit unzureichend gereinigte und befeuchtete Atemluft reizt die unteren Atemwege. Bronchialwände werden instabiler. Dies zeigt sich besonders beim Zusammendrücken der Lunge während der Ausatmung. Die Bronchien setzen dem Luftausstrom einen Widerstand entgegen, wodurch die Lungenbelüftung (Ventilation) vermindert wird. Der Hustenreflex schwächt ab und es verbleibt mehr Schleim in den Bronchien, vor allem bei Obstruktionen – ein idealer Nährbo-
Die Atmung reagiert auf emotionale Faktoren. Atemnot und damit verbunden die Angst zu ersticken ist eine existentielle Bedrohung. Die Gabe von Sauerstoff ist unabdingbar. Fotos: Martin Glauser © 2016 Hogrefe
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Inhalationen und schnelle Bewegungen in kleinen und mittleren Gelenken sowie periphere Techniken steigern den Atemantrieb. Die Wirkung peripherer Atemantriebe basiert darauf, dass durch kleine Muskelaktivitäten jede Körperstelle reflektorisch angesprochen werden kann, um die Atmung zu beeinflussen und zu lenken. Beispiel: Das atemrhythmische Andrücken der Finger- und Zehenkuppen verlängert und vertieft einen Atemzug, wobei der Druck anschwellend mit der Einatmung erhöht und umgekehrt bei der Ausatmung verringert wird. Ausdauerübungen im aeroben Bereich beugen einer Muskelermüdung vor und regen die Herz-Kreislauf-Funktionen an.
Massnahmen bei obstruktiven Ventilationsstörungen Bei Obstruktionen besteht ein erhöhter Strömungswiderstand in den Atemwegen durch verengte Bronchien. Beispiele dafür sind chronisch obstruktive Bronchitis bzw. COPD, Bronchiektasen, Lungenemphysem oder Asthma bronchiale. Die Ein- und Ausatemmuskeln sind zur gesteigerten Aktivität gezwungen, bei Atemnot besonders die auxilliare Muskulatur (Atemhilfsmuskulatur). Betroffene müssen viel mehr Atemarbeit leisten. Sie verkrampfen, ermüden und leiden unter Atemnot mit Erstickungsgefühlen. Menschen in grosser Atemnot ist die Angst und der Leidensdruck förmlich in das Gesicht geschrieben. Die verminderte Atmungsfähigkeit schränkt die Ventilation, den Gasaustausch und die Beförderung von Bronchialsekret ein. In der Folge verschleimt die Lunge und es besteht eine erhöhte Infektionsgefahr. Atemerleichternde Körperpositionen unterstützen die Atemarbeit und lindern die Atemnot, zum Beispiel der Sitz mit auf dem Tisch aufgestützten Armen oder der Kutschersitz: Die Arme werden im Sitz auf den Knien aufgestützt. In diesen Positionen wird das Gewicht des Schultergürtels abgenommen und die Hilfsmuskulatur kann besser eingesetzt werden. Die Einatmung muss zugunsten der Frischluftaufnahme und für die Ventilation verbessert werden. Gähnendes Einatmen erweitert den Rachenraum. Der Patient konzentriert sich dabei auf die Bauchatmung. Am Ende der Bauchatmung hält er kurz die Luft an und atmet durch die Nase oder über die Lippenbremse wieder aus. Bei einem schnüffelnden Einatmen durch die Nase bewegt sich die Bauchdecke nach aussen. Dies dient auch als Kontrolle, ob das Zwerchfell aktiv ist. Diese Techniken können mit Dehnlagerungen oder Dehnstellungen kombiniert werden. Bei einer erschwerten Ausatmung verbleibt zu viel Luft in der Lunge, die Atmung bleibt oberflächlich und es wird zu wenig neue Luft aufgenommen. Eine gute Ausatmung unterstützt zudem die Schleimförderung. Die Lippenbremse (exspiratorische Stenose) erleichtert die Ausatmung, weil die Luftwege weit gehalten und Kollapszustände der Bronchien vermieden werden. Der Patient bläst dabei die Luft durch die locker aufeinanderliegenden Lippen aus. Auch beim Gehen oder Treppensteigen sollte die Lippenbremse zur Reduktion der Atemnot automatisch NOVAcura 1/16
Hilfsmittel zur Hustenlösung und Mobilisation von Schleim.
angewendet werden. Besonders bei leichten, mittelschweren oder abklingenden Asthmaanfällen kann die Lippenbremse in Kombination mit gähnender Einatmung den erhöhten Atemwegswiderstand reduzieren.
Hustentechniken zur Schleimbeförderung Die hohen Druckverhältnisse beim Husten belasten den Blutkreislauf und die Bronchiolen können kollabieren. Das Erlernen effektiver Hustentechniken für eine ausreichende Schleimbeförderung ist bei Lungenerkrankungen sehr wichtig. Zudem verhindern sie die Verkrampfung der Atemmuskulatur im Bereich von Bauch, Brust und Schulter durch falsches Abhusten. Vor dem Abhusten muss sich Schleim in den grossen Bronchien ansammeln. Bewegungen, Atemtechniken und Drainagelagerungen unterstützen die Sekretbeförderung von der Peripherie in die grossen Bronchienäste. Bei Lagerungen werden die oberen Lungenlappen am besten in angehobener oder aufrechter Position drainiert. Bei der Drainage der unteren Lungenflügel wird das Fussende des Bettes angehoben, der Patient liegt dabei auf der Seite mit angezogenen Beinen. Dünnflüssiger Schleim lässt sich besser abhusten. Dampfinhalationen (evtl. mit Anis, Thymian, Eukalyptus), Wärme auf den Brustkorb (Auflagen, Kartoffelwickel, Leinensäckchen), Expektorantien und eine ausreichende Trinkmenge verflüssigen festes Sekret. Hilfreich sind auch Atemtechniken wie Summen mit langer Ausatmung auf «s», «sch» und «m», atmen mit offener Stimmritze (Spiegel anhauchen) oder die Anwendung von Packegriffen. «Huffing» ist eine Hustentechnik ohne Verschluss des Kehlkopfes: Der Patient atmet durch die Nase ein und mit etwa vier schnellen Atemstössen wieder aus, wobei das Sekret nicht durch kräftiges Husten, sondern durch Abräuspern abgegeben wird. Schonend wirkt die autogene Drainage: langsames Einatmen durch die Nase, wobei die Einatmung langsam gesteigert wird. Vor der Ausatmung wird die Luft kurz angehalten. Ausgeatmet wird durch den Mund, zunächst ohne und am Ausatmungsende mit Atemmuskeleinsatz. Der Vorgang © 2016 Hogrefe
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wird mehrmals wiederholt. Atem-, Dehn- und Bewegungstechniken können kombiniert werden. Hilfen durch Vibrationen am Brustkorb und körperliche Bewegung erschüttert die Atemwege, der Schleim wird besser nach aussen transportiert. Die Intensität körperlicher Aktivität richtet sich dabei nach der Reizbarkeit der Atemwege und der Kondition des Patienten. Ermüdung und Hustenanfälle sollen dabei vermieden werden. Leichte Bewegungen während Armpendeln vor und zurück oder um den Körper, rhythmisches Drehen des Oberkörpers auf beide Seiten oder das Beugen und Strecken der Wirbelsäule. Patienten mit obstruktiven Atemwegserkrankungen sollten sich prinzipiell regelmässig bewegen, um ihre Widerstandskraft, Kondition und Beweglichkeit zu steigern.
Atmung und Psyche Die Atmung reagiert auf emotionale Faktoren. Insbesondere Menschen mit Obstruktionen leiden in fast allen Lebensbereichen unter Einschränkungen, auch nachts. Schon das morgendliche Aufstehen wird zum Problem, weil Schleim die Atemwege blockiert und die Angst vor Atemnotanfällen bereits den Tagesanfang bestimmt. Angst in und vor belastenden Situationen und psychischer Stress bewirken eine flache und beklemmende Atmung,
Patientenmobilisation • Körperliche Aktivität erhöht den Sauerstoffbedarf, die Sekretabgabe, intensiviert die Atmung und beugt damit einer Pneumonie vor. • Regen Sie den Kranken unabhängig von speziellem Atem- und Bewegungstraining zu einfachen Bewegungen an, z. B. Strecken, Recken, einfache Arm- und Beinbewegungen. • Schmerzen führen zu einer Schonhaltung, auch nachts. Dies reduziert die Perfusion und Ventilation einzelner Lungenabschnitte. Lagewechsel mit Positionsveränderungen (Oberkörperhoch- Seiten, und Bauchlagerung) verbessern die Lungenversorgung, fördern die Zwerchfellaktivität und beschleunigt den Stoffwechsel. • Schlecht belüftete Lungenabschnitte finden sich meist im Rückenbereich. Das Grundprinzip der Lagerungstherapie: «Down with the good lung» zur Wiedereröffnung der Atelektasen (Hochlagerung der atelektatischen Lungenpartien mittels Bauchlage oder 130 Grad Lagerung). • Dehnlagerungen verbessern die Ventilation, senken Gewebswiderstände und den Muskeltonus und durchbluten die gedehnten Bereiche (einfache Dehnlage, Drehdehnlage, Halbmondlage, VATI-Lagerungen). Durch Atemvertiefung und niedriger Atemfrequenz reduziert sich der Strömungswiderstand in den Atemwegen. Die Ventilation wird gefördert und Sekret gelockert.
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Kurzatmigkeit, Atemlosigkeit und Hyperventilation und verschärfen die Symptome bei Lungenerkrankungen. Nehmen begleitende Verspannungen zu, atmet man nicht mehr in den Bauch. Das Erlernen der Bauchatmung mit tiefen und ruhigen Atemzügen sorgt für eine gute Sauerstoffaufnahme und entspannt körperlich und psychisch. Entspannungstechniken wie die «Lösungstherapie nach Schaarschuch-Haase» oder die Progressive Muskelentspannung nach Jacobsen bringen den Körper langfristig in eine ausgeglichene Tonuslage, wovon auch die Psyche profitiert. Der Patient soll mit Konzentration und Tastarbeit Körperfunktionen wie die Atmung wahrnehmen und nachvollziehen. Er lernt, seine Atmung und Angstzustände willentlich zu beeinflussen, was ihm grundsätzlich, aber auch in Atemnotsituationen helfen soll.
Entspanntes Atmen – entspanntes Leben Bei flacher Atmung, restriktiven und obstruktiven Ventilationsstörungen und Bewegungsmangel fehlt der Atemantrieb und damit Sauerstoff für alle Körpersysteme. Behandlungsziele sind: • atemunterstützende Massnahmen für eine verbesserte Perfusion und Ventilation der Lunge zur Optimierung des Gasaustausches • erleichterte Atemarbeit durch Atemtechniken und Körperpositionen • Sekretabgabe fördern • Gewebswiderstände herabsetzen • Atemmuskeltraining und Bewegungsübungen als Atemund Kreislaufantrieb. Entspannungstechniken mildern eine erhöhte Tonuslage, tragen zur psychischen Ausgeglichenheit bei und fördern den Atmungsprozess. Schulungen befähigen den Patienten, die Massnahmen bewusst eigenständig einzusetzen. Entspanntes Atmen ist entspanntes Leben und damit Lebensqualität.
Literatur Dühring, A.; Habermann-Horstmeier, I. (1999): Das Atempflegelehrbuch. Medizinische und psychosomatische Grundlagen für Pflege alter Menschen. Stuttgart: Schattauer Kasper, M.; Kraut, D. (2000): Atmung und Atemtherapie. Bern: Hans Huber Morschitzky, H. (2009): Angststörungen, Diagnostik, Therapie, Selbsthilfe. Heidelberg: Springer Martina Kaspar arbeitete in der Physikalischen Therapie und Bewegungstherapie mit den Schwerpunkten orthopädisch-neurologische und geriatrische Krankheitsbilder. Heute ist sie als Lektorin und Autorin mit den Schwerpunkten Physikalische Therapie, Physiotherapie und Pflege tätig. m.kaspar@t-online.de
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Alle Menschen sind Gäste auf der Welt Gastfreundschaft als Wert und Herausforderung Diana Staudacher
Fremden Menschen in verletzlichen Situationen Obdach zu gewähren – das gilt als Herzstück der Ethik und Kultur. Wer gastfreundlich ist, macht sich jedoch selbst verletzlich und benötigt eine grosse seelische Kraft: Unvertrautes nicht als Bedrohung zu sehen und sich selbst zurücknehmen zu können zugunsten des anderen Menschen.
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ie erschöpften Gesichter von Menschen, die ihre Heimat verlassen haben und kein Obdach mehr haben, scheinen uns auf stille, wortlose Art anzusprechen: «Merkst du nicht, dass ich bin wie Du?» (Greve, 2012). Sehen wir in diesen Gesichtern einen Spiegel unseres eigenen stets verletzlichen, gefährdeten, sterblichen Menschseins? Sind wir somit nicht alle nur «Gäste» auf dieser Welt, wie Jacques Derrida in seiner «Philosophie der Gastfreundschaft» betonte (Derrida, 1997)? Menschsein als «Gastsein» zu verstehen – das wäre ein völlig neues Menschenbild. Es würde bedeuten, dass «Zuhause-sein» für das menschliche Leben nicht mehr selbstverständlich ist. Wir könnten nicht mehr sagen «bei mir» oder «bei uns». Denn es wäre uns bewusst, dass wir selbst keineswegs die «Besitzer» der Erde sind, auf der wir wohnen. Auch in unserer scheinbaren «Heimat» sind wir sind nichts anderes als «Gäste» − unendlich dankbar dafür, dass uns einst Menschen an diesem Ort willkommen geheissen haben. Menschsein als «Gastsein» auf der Welt zu verstehen, würde bedeuten, dass «Gastfreundschaft» höchsten Wert hat und zum innersten Zentrum der Kultur und Ethik wird (Derrida, 1997). Für ein Recht auf «allgemeine Gastfreundschaft» trat der Philosoph Immanuel Kant bereits 1795 ein. «Vermöge des Rechts des gemeinschaftlichen Besitzes der Oberfläche der Erde» soll jeder Fremdling das Recht haben, in einem anderen Land nicht feindselig behandelt zu werden, solange er sich friedlich verhält. Gastfreundschaft soll keine «Philanthropie» bleiben, sondern ein «Recht» im Sinne eines «Weltbürgerrechtes» in einer «Weltrepublik» (Kant, 2004)1.
Anders zu sein als die Anderen zeigt sich in vielen Gesichtern. Im Trennenden das Gemeinsame zu suchen überbrückt Differenz und schafft Nähe. Foto: Martin Glauser
Gastfreundlich zu sein ist nichts Natürliches. Auf Unvertrautes reagiert der Mensch «reflexartig» mit Furcht und Bedrohungsempfinden (Wirth, 2011). «Du bist anders als ich, aber ich anerkenne und respektiere dich. Auch wenn du anders aussiehst, anders sprichst, anders denkst als ich, so bist du doch ein Mensch wie ich» − diese Haltung ist eine kulturelle Errungenschaft. Dazu gehört auch, dass sich der gastgebende Mensch nicht «über» den Gast stellt. Er begegnet ihm mit Respekt vor seiner Andersheit: Der Gast «darf anders sein» (Derrida, 1994). Er ist «ein Mensch wie ich» − und zugleich von unantastbarer Einzigartigkeit. Somit ist Gastfreundschaft das Gegenteil von Intoleranz, die besagt: «Was anders ist als ich, ist wertlos und hat kein Daseinsrecht».
Kant, I. (2004). Vom ewigen Frieden. V. O. Höffe (Hrsg.). Berlin: Akademie Verlag.
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Unser Menschenbild verändert sich, wenn wir Gastfreundschaft ins Zentrum der Ethik stellen. Menschsein beginnt dann nicht mehr mit der «Freiheit des Individuums», sondern mit der «Verantwortung für den anderen Menschen» (Lévinas, 1987). Gastfreunde machen sich verletzlich – sie erfahren eine «Unterbrechung des Selbst», eine «Ent-Eignung», eine «Heimsuchung» durch den Anderen, der das «Bei-sich-sein» beendet (Derrida, 2000, 96). «Aus sich herausgehen, sich zur Verfügung stellen, um dem andern zu begegnen − das bedeutet auch, von sich selbst absehen zu können, sich selbst zurückzunehmen, um den anderen bei sich aufzunehmen» (Keyrell, 2013).
Eine «zerbrechliche Brücke» Als «zerbrechliche und stets gefährdete Brücke zwischen zwei Welten – dem «Ich» und dem «Anderen» − lässt sich Gastfreundschaft bezeichnen (Monge, 2013). Warum ist diese «Brücke» so fragil? Welche sozialen Voraussetzungen braucht es, um gastfreundlich sein zu können? Zu den wichtigsten Faktoren zählen: • Selbstachtung: Nur wer sich selbst achtet, kann andere Menschen achten und sich auf die Begegnung mit Unbekanntem einlassen (Pardy, 2011). Ein Mensch verinnerlicht die Achtung, die seine Mitmenschen ihm entgegenbringen. Dadurch entsteht sein «Selbstbild». Es ist somit dadurch geprägt, wie andere ihn sehen: So tragen wir alle unbewusst «Fremdes» in unserem Selbst (Laplanche, 2000)2. Wer früh erlebt, dass Mitmenschen ihn ablehnen, zurückweisen, demütigen und verletzen, entwickelt das Bild einer feindlichen Welt und ein verletztes, bedrohtes Selbstbild. Es besteht die Gefahr, dass er anderen Menschen das zufügt, was er selbst erlitten hat (Howell, 2014). Hinter Fremdenfeindlichkeit verbirgt sich oft die Ablehnung des eigenen Selbst. • Ein Klima der sozialen Sorge und Empathie: Wer in Situationen der Schwäche, der Hilflosigkeit und des Scheiterns keine Zuwendung, kein Verständnis und keinen Trost von Mitmenschen erhält, wird jede Art von Emotion und Bedürftigkeit als etwas Verachtenswertes empfinden. Früh erlebte «soziale Kälte» und Zurückweisung kann menschenfeindliches Verhalten auslösen (DeWall et al., 2009). Fehlendes Empathieerleben kann in Frustration und Hass gegen andere münden. Hass gilt als letztmögliche, verzweifelte Schutzreaktion, wenn das eigene Selbst in scheinbar ausweglosen, demütigenden Situationen zusammenzubrechen droht: In diesem Sinn ist Hass eine Abwehr der eigenen Verletzlichkeit (Pardy, 2011). • «Urvertrauen»: Wer sicherheitsgebende, verlässliche, emotional zugängliche Bezugspersonen erlebt hat, begegnet fremden Menschen und allem Unbekannten mit interessiertem, annäherndem Verhalten. Ist das Sicher-
heitsbedürfnis nicht befriedigt, aktiviert die Begegnung mit Fremden von früh an das Paniksystem: Die Reaktionen sind reflexartig, nicht kognitiv kontrolliert (Denson, 2011). Selbst neutrales Verhalten von Mitmenschen wird als bedrohlich gedeutet. • Soziale Sicherheit. In einer Gesellschaft mit hohen sozialen Spannungen und Armut ist die Gefahr von Fremdenfeindlichkeit besonders hoch (Cassidy, 2014). Die vielleicht grösste Gefahr für eine gastfreundliche Gesellschaft stellen jedoch menschenverachtende Ideologien dar (Hole, 2004). Diese treten mit dem Anspruch auf, «im Besitz der einen und einzigen Wahrheit zu sein»: Das Eigene ist das Wahre und alles, was nicht das eigene ist, hat kein Existenzrecht. Daraus ergibt sich die «enorme Destruktivität»3 dieser Denk- und Handlungsart Angesicht von Ideologien, die Menschlichkeit verleugnen und zerstören, gehört es zu wichtigsten Aufgaben der Gesellschaft, das Menschliche im Menschen nicht zu verleugnen – dazu gehören auch Schwäche, Hilfsbedürftigkeit, Krankheit, Altern und Sterben.
Die Seele «in der Fremde» Ein gastfreundlicher «Humanismus der Verschiedenheit» ist sicher das wertvollste Ziel in einer globalisierten Welt (Renaut, 2009). Doch hier stellen sich wichtige Fragen: Wie kann ich Fremdes verstehen? Muss ich das Eigene ausblenden, um für das Fremde aufnahmebereit zu sein? Oder ist es gerade das Eigene, das die Verständnisbrücke zum Fremden schlägt? (Bittner, 2000). Diese Fragen beziehen sich sowohl auf die «Gäste» als auch auf die gastgebenden Menschen. Wie die menschliche Seele auf die Begegnung mit fremden Kulturen reagiert, findet oft nicht genügend Aufmerksamkeit: «Welche Folgen ‹multikulturelle Gesellschaften› für die psychische Gesundheit haben, ist weitgehend unbekannt» (Bhugra & Mastrogianni, 2003). Erst wenige, vorläufige Erkenntnisse liegen bisher vor: • Sich mit fremden Kulturen im täglichen Kontakt vertraut zu machen, ist ein anspruchsvoller psychischer Prozess. Er betrifft das Selbstkonzept des Menschen und lässt sich als eine Entwicklungsaufgabe verstehen. In der Begegnung mit einer fremden Kultur kann das Selbst wachsen, aber auch erschüttert und schwer belastet werden (Carswell et al., 2009). • Kulturelle Identität gilt als Schutzschild für eine sichere Selbststruktur. Es besteht jedoch die Gefahr, «dass durch Prozesse der Globalisierung die Kulturen ihre psychologische Schutzwirkung verlieren (Bhurga et al., 2004). • Den Bezug zur vertrauten Kultur aufrecht zu erhalten, erweist sich als persönlichkeitsstärkend und erleichtert
Das früh verinnerlichte Selbstbild ist in der rechten Gehirnhälfte, dem Sitz des «Unbewussten» gespeichert (Schore, 2011). Destruktivität: zerstörerische Eigenschaft.
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das Hineinwachsen in eine sich verändernde kulturelle Umwelt («Akkulturation») und schützt vor «akkulturativem Stress» und einer «Spaltung des Selbst». (Berry & Sabatier, 2011; Walsh & Shulman, 2007) • Als psychisch besonders belastend zeigt sich das Aufgeben der eigenen kulturellen Identität zugunsten der Kultur des Gastlandes (Matera et al., 2012). Dies bedeutet, «seine eigenen Wurzeln zu verleugnen. Dies kann zum Verlust eines sicheren Selbstkonzeptes führen, äusserst verletzlich machen und eine Depression auslösen (Calliess et al., 2012)». Es wirkt sich positiv auf das Zusammenleben unterschiedlicher Kulturen aus, wenn Gäste und Gastgeber sich einander annähern: Gäste haben Respekt vor den Werten der Gastgesellschaft und Gastgeber nehmen Rücksicht auf die Bedürfnisse der Gäste (Berry & Sabatier, 2011). • Sind die Gäste bereit, die kulturellen Werte und Normen der gastgebenden Gesellschaft zu respektieren, besteht kaum ein Bedrohungsgefühl durch die Anwesenheit der Gäste (Matera et al., 2012). Dennoch erweist es sich als wichtig, solche Bedrohungsgefühle der gastgebenden Gesellschaft ernst zu nehmen. Es wäre wünschenswert, diese ersten noch vorläufigen Erkenntnisse auch bei der politischen Gestaltung des Zusammenlebens zu berücksichtigen.
Die gastfreundliche Gesellschaft Ausgegrenzt und an den Rand der Gesellschaft gedrängt sind häufig auch alte, chronisch erkrankte, seelisch leidende, sterbende Menschen und Personen mit einer Behinderung (Cain et al., 2012). Sie fühlen sich oft als «Fremde im eigenen Land». Noch immer gelten Alter, Krankheit, Behinderung, Leiden und Sterben als «nicht-sein-sollend» oder gar «menschenunwürdig». Es scheint kaum etwas Schwierigeres zu geben, als diese Phänomene zum menschlichen Leben zugehörig anzuerkennen – und als ein Teil unseres eigenen Seins zu verstehen. Damit dies möglich ist, braucht es eine Gesellschaft, in der Alter, Krankheit und Behinderung, Leiden und Sterben nicht mehr als etwas gelten, das man verschweigen, verleugnen und an den Rand der Gesellschaft verdrängen muss. Es kann nicht sein, dass Menschen sich für etwas schämen, das zutiefst menschlich ist. Umso wichtiger ist es, dass es Orte in unserer Gesellschaft gibt, an denen «Fremde im eigenen Land» Gastfreundschaft antreffen können. Heime, Spitäler und Hospize können Orte sein, an denen eine gastfreundliche Gesellschaft schon heute gelebte Realität ist. Dies kann in die Öffentlichkeit ausstrahlen und die kreative Vorstellungskraft anregen, die es so dringend braucht, um die Gesellschaft von morgen zu gestalten. Je höher und komplexer die Herausforderungen sind, desto wichtiger ist es, über das Bestehende hinaus zu denken und soziale Phantasie zu entwickeln. Obwohl sie nicht sofort umsetzbar ist, brauchen wir diese Impulse, um das Zusammenleben immer wieder neu zu gestalten: «Wenn es alle wirklich wollten, würde sich die Erde innerhalb von einem AugenNOVAcura 1/16
Demenzerkrankte Menschen empfinden sich als Fremde in der Gesellschaft. Halt, Geborgenheit und Sicherheit für den Gast – auch in der Pflege. Foto: Martin Glauser
blick verwandeln», so der Schriftsteller Fjodor Dostojevskij. Was können wir Tag für Tag dazu beitragen, damit unsere eigene Umgebung gastfreundlich ist?
Literatur Berry, J., Sabatier, C. (2011). Variations in the assessment of acculturation attitudes: Their relationships with psychological wellbeing. In: International Journal of Intercultural Relations, 35 (5), 658 – 669. Derrida, J. (1997). De l’hospitalité. Calmann-Lévy: Paris. Pardy, M. (2011). Hate and otherness. Emotion, Space and Society, 4 (1), 51 – 60. Wirth, W. (2001). Fremdenhaß und Gewalt als familiäre und psychosoziale Krankheit. In: Psyche. 11, 1217 – 1244. Matera, C., Stefanil, C., Brown, R. (2012). Host culture adoption or intercultural contact? Comparing different acculturation conceptualizations and their effects on host members’ attitudes towards immigrants. In: International Journal of Intercultural Relations, 36, 459 – 471. Dr. phil. Diana Staudacher, freie Publizistin, wissenschaftliche Mitarbeiterin, Fachhochschule St. Gallen. Diana.staudacher@fhsg.ch
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Eine revolutionäre Theorie der Kommunikation
Maja Storch / Wolfgang Tschacher
Embodied Communication Kommunikation beginnt im Körper, nicht im Kopf 2., erw. Aufl. 2016. 192 S., 57 Abb., Gb € 19.95 / CHF 26.90 ISBN 978-3-456-85614-8 AUCH ALS E-BOOK
Die Idee, man könne einander verstehen, beruht auf der Vorstellung, die besagt, dass die «richtige» Bedeutung einer Botschaft irgendwo vorhanden ist und nur gefunden werden muss. Diese Ansicht ist falsch. Die Theorie der Embodied Communication postuliert: Es gibt keine fixe Bedeutung einer Botschaft, die verstanden werden kann. Es gibt lediglich das gemeinsam erzeugte Gefühl der Einigung auf eine Sprachgestalt, die aber aus der Interaktion spontan und neu entsteht und die nicht von Anfang an vorhanden ist. Die Psychologen Maja Storch und Wolfgang Tschacher liefern endlich eine neue Kommunikationstheorie, die dem Stand der modernen For-
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schung entspricht – und konkret umsetzbar ist. Die Autoren haben ein Buch geschrieben, das gut verstanden und das sofort im ganz normalen Alltag verwendet werden kann. Neben einem Teil zur Theorie der Embodied Communication bietet das neue Buch von Maja Storch und Wolfgang Tschacher einen ausführlichen Praxis- und Workshopteil. Lesende finden im Praxisteil eine Auswahl an Alltagssituationen, in denen kommunikative Fertigkeiten wünschenswert, ja gefordert sind. Die Methoden, die die Autoren vorschlagen, sind allesamt so angelegt, dass sie sich für das authentische und spontane Handeln in einer Live-Situation eignen.
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«Es wachsen nicht immer alle gleich» Interview mit Michael Eisenberg Gerhard Schröder
Mitarbeitende zu führen ist eine Kunst. Möglichst sollen die Mitarbeitenden einer Einrichtung gefördert und motiviert werden. Doch wie soll man als Leitungskraft einer Einrichtung mit den Schwächen von Mitarbeitern umgehen? Manche lassen sich ausgleichen, andere mitunter nicht. Michael Eisenberg setzt seit mehreren Jahren neben den Zielvereinbarungsgesprächen dazu die SWOT Analyse ein: Stärke-Schwächen-Analyse der Mitarbeitenden. In einem Interview schildert er, wie diese Methode erfolgreich eingesetzt werden kann.
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err Eisenberg, was hat Sie veranlasst, eine Stärke-Schwächen-Analyse in der Langzeitpflege bei den Mitarbeitenden einzusetzen? Die Erkenntnis, dass wir alle Stärken und Schwächen haben. Manche Schwächen kann man durch Fort- und Weiterbildungen kompensieren, manche aber auch nicht. Im Alltag habe ich erlebt, dass oftmals die Schwächen im Fokus standen, was teilweise für alle Beteiligten in einer hohen Frustration und Demotivation endet. Es ist nicht zu vergessen, dass die Stärken nicht mehr wahrgenommen werden. Bei einer systematischen Stärke-Schwächen-Analyse mache ich mir als Leitungskraft und Personaler beide Seiten bewusst. Darauf aufbauend können Mitarbeiterteams nach diesen Stärken und Schwächen zusammengesetzt werden, sodass die Stärke des einen die Schwäche des anderen kompensiert. Wie lange setzen Sie diese Methode bereits ein? Insgesamt arbeite ich mit dieser Methode seit rund drei Jahren. Hier vor Ort in meiner neuen Stelle seit fünf Monaten, also von Anfang an. Ich denke es war mein dritter Arbeitstag vor Ort, als ich diese Methode erstmals vorgestellt habe. Wie gehen Sie dabei konkret vor? Es gibt eine Sensibilisierungsphase, in der mit dem Betriebsrat, den Leitungskräften und den Mitarbeitern über diese Methode gesprochen wird. Start ist dann eine ganztätige Veranstaltung, in der noch einmal durch einen exNOVAcura 1/16
ternen Trainer die Methodik und Hintergründe vermittelt werden. Auch werden die entsprechenden Formulare und der Prozess besprochen. Wir verbinden das Ganze letztlich auch noch mit Zielvereinbarungsgesprächen, sodass es rund wird. Praktisch gibt es in den Gesprächen drei Schritte: (1) Selbstbeurteilung: Alle Mitarbeitenden beurteilen sich selbst unabhängig der Hierachieebenen anhand von 13 Fragen und Freitext zu den Stärken und Schwächen. Weiterhin gibt es Aussagen zu den beruflichen Zielen. (2) Fremdbeurteilung: Die direkten Vorgesetzten beurteilen dann die einzelnen Mitarbeitenden ebenfalls nach dem gleichen Schema. Einmal im Jahr beurteilen dann die Mitarbeitenden ihren direkten Vorgesetzten anhand von 19 Fragen sowie Freitext zu den Themen: Was schätzt der Mitarbeitende an seinem Vorgesetzten und was könnte dieser besser machen? (3) Das Gespräch: In diesem Gespräch werden die einzelnen Fragen auf Übereinstimmung geprüft und gegebenenfalls Abweichungen diskutiert. Am Ende werden die Stärken gewürdigt und es wird geschaut, wie diese besser für das Unternehmen genutzt werden können. Bei den Schwächen wird überlegt, inwieweit diese durch Fortund Weiterbildungen kompensiert werden können. Evtl. kann auch über eine Versetzung in einen Bereich diskutiert werden, wo andere Mitarbeitende gerade da ihre Stärken haben bzw. die Schwächen im Arbeitsalltag nicht besonders schwer wiegen. Am Ende gibt es immer eine Aussage zum Fortbildungsbedarf und eine Zielvereinbarung. Wie oft finden die Gespräche statt? Mindestens einmal im Jahr pro Mitarbeiter. Mit den Leitungskräften dreimal im Jahr. Hier steht im Vordergrund der Grad der Zielerreichung. Dabei werden je nach Verlauf auch Stärken und Schwächen offenkundig. Wie lange dauert ein solches Gespräch? In der Startphase können diese Gespräche etwa eine bis anderthalb Stunden dauern, weil es für alle Beteiligten neu ist. Nach dem zweiten und dritten Turnus reichen dreissig Minuten. Was spannend ist, dass es viele hundertprozentige Übereinstimmungen gibt und dass sich Mitarbeitende eher schlechter als zu besser bewerten. Wenn dann der Vorgesetzte sagt, dass der Mitarbeiter © 2016 Hogrefe
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dem ersten Gespräch als Wertschätzung. Vor dem ersten Mal haben natürlich alle Beteiligten ein gewisses Unbehagen. Welche Vorteile hat die Methode? Als oberste Leitung habe ich einen objektiven Überblick über die Stärken und Schwächen meiner Mitarbeiter, also ideal zur Personalplanung und vor allem zur Personalentwicklung. Ich erfahre durch die Methode sehr viel über meine Mitarbeitenden. Das ist nicht als Kontrolle oder gar Spionage gemeint, im Gegenteil: Ich erfahre immer wieder, dass die Wertschätzung gegenüber den Mitarbeitenden deutlich zunimmt. Denn man sieht nicht immer, was der Mitarbeiter ‹nicht so gut beherrscht›. Vielmehr kennt man vor allem seine Stärken.
Ein Mitarbeitergespräch mit SWOT-Analyse muss von allen Beteiligten vorbereitet werden. Der Zeitaufwand beträgt dann rund dreissig Minuten. Meist sind zwei bis drei Beteiligte anwesend und es wird ein kurzes Ergebnisprotokoll erstellt. Foto: Michael Eisenberg
besser ist, hat das einen erheblichen Motivationsschub zur Folge. Wer ist bei den Gesprächen anwesend? Der Mitarbeitende und der Vorgesetzte. Falls einer der beiden es wünscht, kann auch der Betriebsrat oder die nächst höhere Leitungsebene dabei sein. Wird das ganze Gespräch protokolliert? Wer protokolliert? Wie sieht so ein Protokoll aus? Ja, denn beide Seiten kommen zum Gespräch bereits mit einer Dokumentation. Die Ziele und die Ergebnisse des Gesprächs werden durch den Mitarbeiter in einem Ergebnisprotokoll festgehalten. Das Protokoll ist ein reines Ergebnisprotokoll. Welche Rückmeldungen haben Ihnen die Mitarbeitenden bisher gegeben? Viele Mitarbeitende sagen, dass sich Vorgesetzte noch nie so viel Zeit für sie genommen haben und sehen es nach
Hat die Methode auch Nachteile? Na ja, die Methode kostet natürlich erst einmal Zeit. Wenn man die Methode neu implementieren will, empfehle ich zur Einführung einen externen Berater hinzuzuziehen, der die Methode erklärt und einführt. Das kostet natürlich auch Geld, mitunter sind das nicht ganz unerhebliche Kosten. Ausserdem muss die oberste Leitung bereit sein, eine andere Unternehmenskultur in der Einrichtung zu schaffen. Wie wird das Verfahren bei der Mitarbeitervertretung angenommen? Wenn es gelingt die Mitarbeitervertretung davon zu überzeugen, dass es ein Instrument für und nicht gegen die Mitarbeiter ist, habe ich keine Vorbehalte erlebt. Es wird dann sogar mitgetragen und unterstützt. Ausserdem gibt es ja eine wechselseitige Beurteilung und nicht nur von oben nach unten. Gibt es auch Mitarbeiter, die mit der SWOT-Analyse überhaupt nicht zurechtkommen? Wie gehen Sie dann damit um? Es gibt mitunter Mitarbeitende, die eine geringe Motivation für ihre Tätigkeit haben oder bei denen das Verhältnis von Stärken und Schwächen nicht ausgewogen ist. Solche Mitarbeitende haben dann wenig Lust auf diese Methode. Wir führen dann mit diesen Mitarbeitenden Gespräche über den Sinn und die Chancen dieser Methode für die Mitarbeiter. Wenn das allerdings keinen Erfolg zeigt und
Michael Eisenberg ist 48 Jahre alt, verheiratet und hat zwei erwachsene Kinder. Er ist Krankenpfleger und Fachkrankenpfleger für Intensivpflege, Pflegedienstleitung und Lehrer für Pflegeberufe mit einer Weiterbildung zum ‹Verfahrenspfleger für den Werdenfelser Weg›. Seit 15 Jahren ist er in der stationären Altenpflege als Heimleiter und Geschäftsführer tätig, seit 01. Juli 2015 als Geschäftsführender Heimleiter in der Dr. Willmarschwabeschen gemeinnützigen Heimstättenbetriebsgesellschaft und seit mehreren Jahren Mitglied des Stiftungsvorstandes.
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Wissenswertes zur SWOT-Analyse Die SWOT-Analyse ist ein Konzept der systematischen Situationsanalyse: S – Strengths (Stärken), W – Weaknesses (Schwächen), O – Opportunities (Möglichkeiten), T – Threats (Herausforderungen). Die SWOT-Analyse hat eine lange Geschichte, von Machiavelli und seinen politischen und philosophischen Abhandlungen zu Fragen der Machtverteilung im Staat über nahezu alle asiatischen Kampfsportarten bis hin zur heutigen Literatur zum Management von Organisationen. Die Herkunft mag verschieden sein wie die Perspektiven und Ausprägungen, jedoch teilen sie eine gemeinsame Grundlage: die realistische Einschätzung der Ausgangssituation ist der Ausgangspunkt für strategische Planungen eines Unternehmens. In der Analyse der Differenz zwischen dem, was sein soll und dem was ist, liegt das ganze Potential für Entwicklung und Veränderung. Der allgemeine Grundsatz dazu lautet, die Stärken zu stärken und die Schwächen zu schwächen. Man unterscheidet zwischen den analysierten Stärken und Schwächen des externen Umfelds und des internen Umfelds und setzt diese in einer Matrix zueinander in Verbindung, um daraus die möglichen Strategien zu entwickeln: Externes Umfeld: Veränderungen im politischen, kulturellen, rechtlichen, technologischen Bereich (Sozial- und Gesundheitsreformgesetze, Zunahme an älteren, multimorbid erkrankten Menschen, veränderte Altersbilder und Werte, Einführung einer PC-gestützten Patientendokumentation, neue Kommunikationstechnologien). Diese Veränderungen betreffen zumeist alle Unternehmen in einem Bereich (wie die Institutionen der Gesundheitsversorgung), jedoch die Reaktionen darauf in der Form der Strategien können jeweils andere sein. Internes Umfeld: individuelle Stärken und Schwächen des Unternehmens, den Herausforderungen zu begegnen (Finanzen, Personal, Führungsqualität, Motivation). Diese Faktoren sind zumeist verschieden, sogar in den gleichen Bereichen. Das Controlling als Kommunikationstool dient bspw. in Unternehmen dazu, diese internen Faktoren zu analysieren und gezielte Strategien zu entwickeln (wie bspw. in Form von Fort- und Weiterbildungen des Personals, Analyse der Kosten und Erlöse, in Ablaufplanungen wie Clinical Pathway oder in Pflegeorganisationssystemen wie Primary Nusing). [Anm. der Red.]
die Mitarbeitenden jegliche Mitarbeit ablehnen, wird eine faire Trennung angestrebt. Orientiert sich die Methode an einem theoretischen Modell oder Konzept? Über allem steht die nicht unumstrittene Methode von Jack Welch. Er ist ehemaliger CEO von General Electric und gilt als ‹Managerikone›. Nach seiner Methode gibt es A-, B- und C-Mitarbeiter. Oder auch Top und Low-Performer, ganz wie man will. Ziel der Leitungskraft muss es sein, alle Mitarbeitende zu A-Mitarbeitern zu entwickeln. Aber auch mit B-Mitarbeitenden kann man gut arbeiten und ihre Potentiale fördern. C-Mitarbeitende sind solche, die einfach nicht wollen. Von ihnen sollte man sich trennen. Hört sich hart an, ist aber alternativlos. Die Methode gilt übrigens auch für Führungskräfte! Haben Sie die Methode erlernt? Ich habe an einigen Managementseminaren teilgenommen und besonders die Literatur über diese Methode geradezu verschlungen. Ich mag meine Mitarbeitenden sehr und fühle mich für sie verantwortlich, bin aber auch für den Unternehmenserfolg zuständig. Wenn ich erfolgreich sein will, brauche ich die besten Mitarbeiter. Leider fallen NOVAcura 1/16
diese aber nicht vom Himmel, sodass man die vorhandenen Mitarbeitenden entwickeln und fördern muss. Dazu gehört, dass ich mich mit ihnen auseinandersetze und von ihren Stärken und Schwächen weiss. Eigentlich ist es ganz einfach und das Schöne daran ist: Es macht Spass, wenn man sieht, wie sich Mitarbeiter zu verantwortungsvollen Mit-Unternehmern entwickeln. Herr Eisenberg, wir danken Ihnen herzlich für die Informationen dieses Gespräches.
Literatur Meffert, H.; Burmann, C.; Kirchgeorg, M. (2008). Marketing. Gabler: Wiesbaden Gerhard Schröder, Redakteur NOVAcura, Pflegefachmann und Lehrer für Pflegeberufe, Journalist gerhard.schroeder@hogrefe.ch
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Medientipps zum Thema Barbara Stammler
Alle Medien sind in der Pro Senectute Bibliothek ausleihbar. www.pro-senectute.ch/bibliothek; bibliothek@pro-senectute.ch Tel.: 044-2838981
Rider Jack
der Medizin- und Pflegeethik. Die Autorinnen und Autoren des letzten Teils
Gerade eben hat sich Jack von der Midlife-Crisis
untersuchen, wie die Würde im vierten Lebensalter vor dem Hintergrund der
erholt und ist daran, sein Leben wieder in den
Versorgungssicherheit gewährleistet werden kann.
Griff zu bekommen. Er plant, nach Formentera
Meireis, T. (Hrsg.) (2013) . Zürich:Theologischer Verlag
auszuwandern und dort ein Restaurant zu eröffdener Vater wieder auf, der mit der Diagnose Alz-
Der moralische Imperativ des Pflegens
heimer im Anfangsstadium aus Thailand in die
Richard Taylors Essay ist ein Appell an Pflegende
Schweiz zurückgeschickt wurde. Da im Heim
aus der Sicht sowohl eines selbst Betroffenen als
kurzfristig kein Platz für ihn verfügbar ist, muss
auch eines Psychologen. Die Frage, die ihn be-
Jack als einziger Verwandter für ihn sorgen. Die beiden unternehmen eine ereig-
schäftigt: Welche Wertekultur muss von Beglei-
nis- und konfliktreiche Reise ins Tessin, um nach dem Ferienhäuschen des Vaters
tenden gelebt werden im Umgang mit Erkrank-
zu suchen. Jack in der Absicht, mit dem Hausverkauf seine Pläne zu finanzieren,
ten? Deren abnehmende oder fehlende kognitive
der Vater, um sich dem Sohn wieder anzunähern. Während der schwierigen Su-
Fähigkeiten verlangen, dass Betreuungsperso-
che prallen zwei Welten aufeinander und längst Vergessenes taucht wieder auf.
nen Entscheide fällen und sich gezwungenermas
nen. Genau da taucht sein seit Jahren verschwun-
sen mit wichtigen ethischen Problemen ausein-
Ein Roadmovie von This Lüscher, Langfilm und Vincafilm (2014)
andersetzen müssen. Taylor erinnert an die Einzigartigkeit jedes von Demenz
Altern in unserer Zeit. Späte Lebensphasen zwischen Vitalität und Endlichkeit
Betroffenen und beharrt auf der Individualität und Integrität in jedem Stadium
Ist gutes Leben im hohen Alter möglich – auch
Entwurf. Porträtfotos von Taylor illustrieren den schmalen Band.
angesichts von Verletzlichkeit und Endlichkeit?
Taylor, R. (2011). Bern: Hans Huber
der Erkrankung. Der Essay wird ergänzt mit kurzen Erklärungen zu den theoretischen Grundlagen, auf die Taylor sich bezieht, und Entgegnungen auf seinen
Während die öffentliche Debatte von negativen
sundheit, soziale Sicherheit oder Mobilität zählt auch die Art und Weise des
Wenn die Freiheit in die Jahre kommt. Zehn sozialethische Impulse für den Umgang mit alten Menschen. Ein Lehr- und Lesebuch für die Praxis.
Umgangs mit dem Alter. Unabhängig von Lebensinhalten ist eine bestimmte Le-
Wofür steht der Begriff Freiheit im hohen Alter
benskunst ausschlaggebend für die Lebenszufriedenheit im hohen Alter. Die im
bei zunehmendem Hilfe- und Unterstützungsbe-
Band präsentierten Beiträge fassen Ergebnisse aus dem Forschungsprojekt «Gu-
darf? Wie sieht Alter und Altern in Europa aus und
tes Leben im hohen Alter» zusammen (gefördert durch die Volkswagen-Stiftung,
welche Werte sind unentbehrlich, damit einmal
Schlagworten wie «Vergreisung», «Alterslast» und «Rentnerberg» beherrscht ist, wissen hochbetagte Menschen selbst eine Vielzahl von Aspekten guten Lebens anzugeben. Neben Lebensinhalten und -umständen wie Ge-
gewonnene Freiheiten bis ans Lebensende be-
2009-2013). Allen gemeinsam ist das Bestreben, die defizitorientierte Sicht auf das hohe Alter zu überwinden.
wahrt werden können? Die Herausgeberin Elisabeth Jünemann leitet im Vorwort
Rentsch, T.; Zimmermann, H.-P.; Kruse, A. (Hrsg.) (2013). Frankfurt a.M.:
zehn Freiheitsräume aus den alttestamentarischen Geboten her – beispielsweise
Campus
Individualität und Integrität –, denen die Beiträge zugeordnet sind. Ihre Autoren und Autorinnen vertreten ganz unterschiedliche Bereiche und greifen vielfältige
Altern in Würde. Das Konzept der Würde im vierten Lebensalter
Themen der Altersarbeit auf wie Geragogik, Alltag in Alters- und Pflegeheimen
Der Begriff der Würde wird im Zusammenhang
sondern umfassen auch erzählende Beiträge, Predigten oder Erfahrungsberichte.
mit Alter gern und oft verwendet, meist aber,
Jünemann, E.; Langer, K. (Hrsg.) (2015). Erkelenz: Altius Verlag, Paulinus
ohne dass die konkrete Bedeutung klar wäre.
Verlag
oder Wohnen im Alter. Die Texte sind nicht ausschliesslich fachlich ausgerichtet,
Würde erscheint in erster Linie mit Autonomie und Selbstbestimmung verbunden – etwa in der Diskussion um assistierten Suizid. Doch was
Barbara Stammler, Bibliothek Pro Senectute Schweiz
heisst das für das hohe Alter, in dem gerade diese Kategorien oft durch Krankheit oder kognitive Beeinträchtigungen bedroht sind? Zwei einführende Beiträge des Bandes versuchen eine Klärung des Begriffs Würde und der Kategorie des vierten Lebensalters. Weitere Kapitel widmen sich dem Konzept Würde aus der Sicht
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Es muss nicht immer das grosse Zittern sein! Epilepsie im Alter Sonja Baumann
Epilepsie gilt als dritthäufigste neurologische Erkrankung im Alter. Das Erkennen und Unterscheiden von Krampfanfällen zu anderen Erkrankungen mit ähnlichen Symptomen stellt eine Schwierigkeit dar. Komplikationen der Epilepsie im Alter sind Stürze, erhöhte Abhängigkeit und Pflegebedürftigkeit, sowie soziale Isolation. Ein Krankheitsbild, das die pflegerische Praxis vor neue Herausforderungen stellt.
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ufgeregt kommt Franziska ins Teamzimmer und lässt sich auf den Stuhl fallen. «Frau Maier ist schon wieder gestürzt.» So oder so ähnlich ist eine Situation in einem Wohn- und Pflegezentrum nicht aus sergewöhnlich. Ein betagter Mensch gleitet unbeabsichtigt zu Boden. Betrachtet man jedoch die Situation genauer, stellt sich die Frage nach der Ursache des Sturzes. Das können sowohl intrinsische Risikofaktoren sein, also Sturz eigenschaften, die Bewohnende mitbringen, wie Probleme mit dem Gleichgewicht oder Gangveränderungen. Zum anderen auch extrinsische Risikofaktoren, von aussen auf Bewohnende einwirkend, wie Medikamente (mehr als 4 gleichzeitig), oder unpassende/ falsch eingesetzte Hilfsmittel (z.B. Rollator) (Pierobon & Funk, 2007). Es gibt jedoch noch weitere Ursachen.
Kardial oder epileptisch? Wenn der Sturz auf Grund einer Synkope stattfand, kommt man um die Differenzierung von mehreren möglichen auslösenden Ursachen nicht herum. Ein Bewusstseinsverlust bei älteren Menschen kann laut Sheldon et al. (2002) durch eine kardiale Synkope oder einen epileptischen Krampfanfall ausgelöst werden. Rüegg (2008) geht noch weiter und unterscheidet zudem zwischen neurokardiogen (vasovagalen) oder hypoglykämen (endokrinen) Ursachen. Hierbei zeigt sich die Schwierigkeit der Unterscheidung, denn man sieht die Ursache nicht, im Gegensatz dazu, wenn ein betagter Mensch über eine Teppichkante stolpert und stürzt. NOVAcura 1/16
Der Sturz eines Bewohners kann vielfältige Ursachen haben. Selten wird dabei an Epilepsie gedacht. Deshalb sollte genau beobachtet werden, wie es zu dem Sturz kam und wie der Bewohnende sich nach dem Sturz verhält. Auch sollten die Symptome der Epilepsie bekannt sein. Foto: Martin Glauser © 2016 Hogrefe
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Synkope: Klinische Differentialdiagnose kardial vs. epileptisch kardial – Blass – Bradykard/ pulslos – Hypotonie – Bilaterale, kurz dauernde asymmetrische Kloni – Keine/kaum Verwirrtheit – Keine/kaum Amnesie
epileptisch
bis 5 min
– Aufsteigendes Wärmegefühl – Übelkeit – Urin-/Stuhlabgang – Speichelfluss – Schwitzen
< 30 Sek.
– Schäumen – Nystagmus – Tonuserhöhung > 10 Sek. – Rhythmische, symmetrische Kloni
– Palpation – Erbrechen – Zungenbiss an der Spitze
– Gerötet – Tachykard – Hypertonie – Unilaterale Kloni/ Tonuserhöhung – Seitlicher Zungenbiss – Protrahierte Verwirrung – Längere Amnesie
Quelle: Lempert T. J R Soc Med 1996; 89: 372 – 5; Perrig & Jallon. Epilepsia 2008 ; 49 (Suppl 1) : S 2 – 7
Abbildung 1. Klinische Differentialdiagnose synkopaler Symptome. Stark auf eine epileptische Genese einer Synkope hinweisende Symptome finden sich rechts, auf eine kardiale Ursache hindeutend links. Unspezifische Symptome stehen mittig für beide Ursachen (Rüegg, 2008).
Die Unterscheidung zum Zeitpunkt des Geschehens sollte jedoch Gegenstand der praktischen Arbeit in Institutionen der Langzeitpflege sein, wenn Pflegende «live» dabei sind. Das Schaubild in Abbildung 1 (Rüegg, 2008) kann hier helfen, um typische Symptome zur Differentialdiagnose eines kardialen und eines epileptischen Geschehens zuzuordnen. Aufgeteilt in die klinischen Merkmale: Vitalparameter, Hautcolorit, Neurologie, Zeitdauer und Art der Kloni lassen sich Schlüsse auf die Diagnose ziehen. Neben der Anamnese werden zur letztlichen Diagnosestellung
des Arztes EEG, EKG und MRI durchgeführt. Abbildung 1 basiert auf der Untersuchung von Sheldon et al. (2002), dessen anamnestischer Score 94 Prozent Sensitivität und 94 Prozent Spezifizität ergab. Der anamnestische Score basiert auf folgenden neun Fragen mit dementsprechendem Punktesystem (Kasten 1). Der Patient hatte sehr wahrscheinlich einen epileptischen Anfall, wenn die Summe ≥ 1 ergibt, und eine neurokardiogene/kardiale Synkope, falls die Summe < 1 ausmacht.
Tabelle 1. Anamnestischer Score zur Unterscheidung von epileptischem Anfall und kardialer/ neurokardiogener Synkope. (adaptiert nach Sheldon et al., zit. nach Rüegg [2008]) Frage
Punkte (falls «ja»)
1
Zungenbiss nach dem Ereignis?
2
2
Gefühle eines «déjà vu» oder «jamais vu» vor dem Ereignis?
1
3
Vorausgehender emotionaler Stress verbunden mit dem Ereignis?
1
4
Fremdbeobachtete Kopfwendung zu einer Seite während dem Ereignis?
1
5
Fremdbeobachtete fehlende Reaktion auf Ansprache, ungewöhnliche Körperhaltung, zuckende Extremitäten, Erinnerungslücke nach dem Ereignis? (Falls auch nur eine der 4 Fragen mit «ja» beantwortet werden kann, zählt der Punkt)
1
6
Fremdbeobachteter Verwirrungszustand nach dem Ereignis?
1
7
Zunehmender Schwindel oder Benommenheit vor dem Ereignis?
2
8
Schwitzen vor dem Ereignis
2
9
Länger dauerndes Sitzen oder Stehen unmittelbar vor dem Ereignis?
2
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Rekapitulieren wir nun das fiktive Beispiel mit der gestürzten Frau Meier und der Pflegenden Franziska. Die betagte Dame kam vor etwa einem Jahr nach einem Schlaganfall ins Pflegeheim. Sie ist etwas langsam in ihren Ausführungen, jedoch blieben nach dem Insult keine Residuen. Franziska hatte Frau Meier bei der Körperpflege unterstützt, ihr beim Ankleiden geholfen und den Rollator mit festgestellten Bremsen parat gestellt. Frau Meier stand auf und machte sich in Begleitung von Franziska auf den Weg zum Speisesaal, um das Frühstück einzunehmen. Plötzlich blieb die Bewohnerin stehen, schaute abwesend und sackte zusammen. Während Franziska als Erstes auf die Uhr sah, um die Dauer der Bewusstlosigkeit festzuhalten und dann Kollegen zu Hilfe rief, erlangte Frau Meier 20 Sekunden später das Bewusstsein wieder. Gemeinsam brachten sie die verwirrte Frau Meier in einem Rollstuhl zurück auf ihr Zimmer ins Bett. Sie wusste nicht, was passiert war. Sie hatte unwillentlich eingenässt und Stuhl verloren. Im Verlauf des Tages war die Bewohnerin wieder «wie immer». Durch die Sensibilisierung mit dem Thema Epilepsie im Alter in einer Fortbildung waren sich die Pflegenden einig, dass Frau Meier einen epileptischen Krampfanfall gehabt hatte «ohne Zittern».
Nicht - konvulsiver Status epilepticus (NCSE) Rüegg (2008), Sheldon et al. (2002) und Baker et al. (2001) sind sich einig, dass Epilepsie die dritthäufigste neurologische Erkrankung bei über 65-Jährigen darstellt. Die Forscherteams geben an, dass sich aus neurologischen Erkrankungen wie Demenz, einem apoplektischen Insult, Hirntumoren oder Kopfverletzungen eine Epilepsie entwickeln kann. Tonisch-klonische Anfälle sind nach Beobachtungen «meist einfach» (Rüegg, 2008, S. 52) zu diagnostizieren,
Nicht selten sitzen Bewohnende in Langzeitpflegeinstitutionen abwesend am Tisch und schauen vor sich hin. jedoch gestaltet es sich schwierig, kaum oder nicht konvulsive epileptische Anfälle mit Sicherheit zu diagnostizieren und von ähnlich verlaufenden kardialen Geschehen abzu-
grenzen. Laut Krämer (n.d.) ist ein NCSE gekennzeichnet durch eine Bewusstseinsstörung, wobei das Spektrum von leichten Konzentrations- und Orientierungsstörungen bis zu antriebsarmen, verlangsamten Zuständen mit verminderter Reaktionsfähigkeit und «Verwirrung» reicht. Nach dieser Definition zeigt sich die Schwierigkeit, einen NCSE von einer Demenz oder einer anderen Bewusstseinsveränderung abzugrenzen. Nicht selten sitzen Bewohnende in Langzeitpflegeinstitutionen abwesend am Tisch und schauen vor sich hin. Nun, was mag das sein? Ein hypoaktives Delir, ein nicht-konvulsiver Status epilepticus oder einfach nur dem eigenen Ruhebedürfnis nachgehend und entspannt am Tisch sitzen? Ein weiteres Beispiel: der Bewohnende ist verwirrt und unruhig. Welche Ursachen könnten zu diesem Zustand geführt haben? Eine volle Blase oder Schmerzen? Oder ein typisches Verhalten bei Demenz oder im Rahmen einer akuten Infektion oder weil jemand von der KESB zu Besuch war und eine aufwühlende Nachricht überbracht hat? Man möchte, ohne die genaue Situation zu kennen, hilflos die Schultern hochziehen und sagen: «Kei Ahnig!». Zur Diagnosesicherung des NCSE ist meist die Ableitung eines EEGs notwendig, worin sich wiederum die Schwierigkeit zur Unterscheidung in der täglichen Praxis zeigt. Allein durch genaue Beobachtung – eine elementare pflegerische Tätigkeit – kommt man hier nicht weiter. Rüegg (2008) konstatiert, dass über ein Drittel älterer Patienten mit einem Verwirrungszustand einen gesicherten oder wahrscheinlichen NCSE aufweisen. Hierbei stellt sich die Frage, ob und wenn ja wie viele Menschen in Langzeitpflegeinstitutionen eine nicht erkannte Epilepsie aufweisen? Für die Schweiz bedeutet das, dass von 122.665 Bewohnenden in Langzeitpflegeinstitutionen im Jahr 2013 und einem Durchschnittsalter von 82,95 Jahren (Bundesamt für Statistik [BfS], 2015) die Inzidenz der Epilepsie mehr als 150 pro 100.000 Personen beträgt (Rüegg, 2008). Das bedeutet: 2 bis 4 Prozent der über 80-Jährigen leiden an einer diagnostizierten Epilepsie, wobei Rüegg im Weiteren proklamiert, dass diese Zahlen aus dem oben genannten Grund des nicht Erkennens von NCSE als zu tief eingestuft werden können.
Interventionen beim Krampfanfall Hier zeigt sich für die Praxis, dass Epilepsie ein bislang unterschätztes Krankheitsbild ist und dass nicht immer
Empfehlungen von Dr. Krämer für die Notfallbehandlung von einem epileptischen Anfall • Keinen Bisskeil verwenden! • Bei unkompliziertem Anfall oder bekannter Epilepsie: Schutz vor Verletzungen, abwarten, kein Notfallmedikament • Bei «unüblichem» Anfall oder Neigung zu Anfallserien: Benzodiazepine (Temesta expidet, Midazolam), die in der Regel nicht rektal appliziert werden • Bei länger als 3 Minuten dauernden Krämpfen: Notfall, Notarzt und Spitaleinweisung.
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das «grosse Zittern» eine Epilepsie kennzeichnet. Um hier ein geschärftes Bewusstsein zu entwickeln, fand 2015 in unserer Institution eine Fortbildung von Dr. Krämer, dem Präsidenten der Schweizerischen Liga gegen Epilepsie statt, die bei Pflegenden aller Ausbildungsstufen auf gros ses Interesse und Begeisterung stiess.
Komplikationen Eine Komplikation von einer Epilepsie im Alter wurde bereits im fiktiven Beispiel im ersten Abschnitt benannt: Stürze. Bei betagten Menschen ist die Knochensubstanz generell nicht mehr so stabil, als bei jüngeren. Sei das wegen einem Vitamin D-Mangel auf Grund fehlender Sonnenlichtexposition, oder durch Osteoporose oder mangelnder Bewegung. In Bezug auf Epilepsie erhöht die Gabe von Anti - epileptischen Medikamenten (AED1) laut Leppik, Walczak und Birnbaum (2012) das Sturz- und Frakturrisiko. Beispiele gängiger AEDs sind Phenytoin, Carbamazepin und Valproinsäure. Diese Medikamente können unter anderem zu Ataxie und Schwindel führen (Rüegg, 2008), was wiederum die Gangunsicherheit und konsekutiv das Sturzrisiko erhöht. Somit kommt es bei betagten Epilepsiekranken zu einer Potenzierung der Frakturgefahr durch das Alter an sich, Stürzen während eines Krampfanfalls und der AED-Gabe. Bei dieser Population ist ein konsequentes Sturzrisikomanagement unabdingbar. Mit Krafttraining aller Muskelgruppen durch begleitetes Laufen, Bett- oder Sitzvelo und Bewegungstherapie mit der AT können Kraft und Ausdauer gefördert werden. Diese Massnahmen sollten mit geeigneten Schuhen, die Halt bieten unterstützt werden. Zudem sollte die Institution Hilfsmittel vorhalten und einsetzen wie Rollator, Rollstuhl oder Stöcke. Die Angst vor Stürzen steigt im Alter, wodurch Menschen mit Epilepsie aus Angst vor einem Sturz dazu neigen könnten, sich weniger zu bewegen und damit weitere Komplikationen nach sich ziehen. In diesem Fall verringert sich auch die Autonomie, wohingegen Abhängigkeit und Pflegebedürftigkeit steigen (Krämer, 2015): Ein Teufelskreis. Weitere Komplikation zeigen sich im Artikel von Baker und Kollegen (2001), die unter anderem psychosoziale Konsequenzen von über 65-Jährigen herausstellten. Es zeigte sich, dass 2/5 der 32 Befragten Angst und Depressionen bei im Alter diagnostizierter Epilepsie entwickelten. Dafür spricht auch eine weitere soziale Folge: die gesellschaftliche Isolation (Rüegg, 2008). Entweder zieht sich ein Bewohner mit diagnostizierter Epilepsie zurück, weil er selbst Scheu davor hat, Kontakte weiter zu pflegen oder im umgekehrten Fall zeigen Bekannte Scheu, sich mit einem Menschen zu treffen, der möglicherweise in ihrer Anwesenheit einen Krampfanfall erleidet. Nun zeigt sich aus
der praktischen Erfahrung, dass viele Pflegeheimbewohnenden nur wenig Besuch erhalten. Wenn dann noch eine Epilepsieerkrankung hinzukommt, könnten die Bewohnenden noch weiter in die soziale Isolation rutschen: Noch ein Teufelskreis.
Schlussfolgerung Vor dem Hintergrund, dass Epilepsie die dritthäufigste neurologische Erkrankung bei über 65-Jährigen darstellt, zeigt sich eine Wissenslücke im Langzeitpflegebereich bezüglich der Pflege von Menschen mit Epilepsie im Alter. Die Pflegenden müssen geschult werden, um genauer zwischen gleichen oder ähnlich anmutenden Symptomen unterschiedlicher Genese zu differenzieren. Nicht nur dass damit nicht-konvulsive epileptische Ereignisse von kardialen Geschehnissen abgegrenzt werden können, sondern auch, um beim Status epilepticus ein besseres Outcome zu erreichen, da dieser bei nicht Erkennen mit einem «deutlich erhöhten Sterberisiko einher» geht (S. 54, Rüegg, 2008). Zudem führt ein Krampfleiden in einen Teufelskreis aus sozialer Isolation, einer erhöhten Frakturgefahr bei Stürzen und steigender Abhängigkeit und Pflegebedürftigkeit. Also Achtung: es muss nicht immer das grosse Zittern sein!
Literatur Baker, G. Jacoby, A., Buck, D., Brooks, J., Potts, P. & Chadwick, D. (2001). The quality of life of older people with epilepsy: findings from a UK community study. Seizure 10: S. 92 – 99 Bundesamt für Statistik (2015). Statistik der sozialmedizinischen Institutionen 2013 – Standardtabellen. Definitive Resultate. Online unter: http://www.bfs.admin.ch/bfs/portal/de/index/news/ publikationen.html?publicationID=6330 (letzter Abruf am 15.09.2015) Krämer, G. (2015). Epilepsie im Alter. Powerpointpräsentation im Rahmen einer Fortbildung am 15.04.2015 im Wohn- und Pflegezentrum Zollikon. [unver. Manuskript] Leppik, I., Walczak, T. & Birnbaum, A. (2012). Challenges of epilepsy in elderly people. In: The Lancet 380, S. 1128 – 1130 Rüegg, S. (2008). Epilepsie im Alter und ihre medikamentöse Behandlung. In: Epileptologie 25, S. 50 – 71 Sheldon, R., Rose, S, Ritchie, D., Connolly, S., Koshman, ML.& Murphy, W. (2002). Historical Criteria That Distinguish Syncope From Seizures. In: Journal of the American College of Cardiology (40) 1, S. 142 – 48 Weitere Literatur bei der Autorin
Sonja Baumann, Dipl. Pflegefachfrau FH, IPS, Studium MScN an der ZHAW, Fachverantwortliche Pflegeentwicklung im Wohn- und Pflegezentrum, Zollikon, ZH Baumann-Sonja@gmx.net
AED – nicht zu verwechseln mit Automatisierter Externer Defibrillator
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Epilepsie kann jeden treffen Julia Franke
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Seit 1931 unterstützt die Schweizerische Epilep-
Helfen: Fragen und Antworten
sie-Liga Fachleute und Betroffene. Ziel ist es, den Alltag von Epilepsie-Betroffenen und deren Situation in der Gesellschaft nachhaltig zu verbessern.
B
etraf Epilepsie früher hauptsächlich Kinder und Jugendliche, gilt heute mehr denn je: Epilepsie kann jeden treffen. Jeder Zehnte hat mindestens einmal im Leben einen Epilepsie-Anfall, knapp ein Prozent lebt mit Epilepsie – in der Schweiz sind das rund 70.000 Menschen. Rund zwei Drittel aller Betroffenen kommen gut damit zurecht: Medikamente, gelegentlich auch chirurgische Eingriffe und andere Methoden sorgen dafür, dass sie selten oder nie Anfälle erleiden. Die Epilepsie-Liga ist eine gesamtschweizerisch tätige, gemeinnützige Fachorganisation und zugleich Schweizer Sektion der Internationalen Liga gegen Epilepsie (International League Against Epilepsy ILAE). Die Epilepsie-Liga wird hauptsächlich durch Mitgliederbeiträge, Spenden und Sponsoring finanziert; sie erhält keine öffentlichen Zuschüsse.
Was die Liga tut: Forschung «Die Anschubfinanzierung durch die Epilepsie-Liga hat sich in höchstem Masse ausbezahlt. Wir haben viel zu genetischen Ursachen von Epilepsien gelernt und können nun zahlreiche Epilepsieformen besser und frühzeitig erkennen. In mehreren Folgestudien liess sich daraus zudem eine bessere und gezielte Behandlung für einige Patienten ableiten.» (Prof. Dr. Johannes Lemke, erhielt 2011 den Forschungsförderungspreis) Mit ihrer Forschungsförderung und dem Promotionspreis unterstützt die Epilepsie-Liga wissenschaftliche Projekte. So trägt sie dazu bei, Epilepsie besser zu verstehen sowie Behandlungsverfahren neu oder weiter zu entwickeln. Zudem bewegt sie Ärzte und andere Wissenschaftler, sich vertieft mit dem Thema Epilepsie zu beschäftigen. Publikationen und Fortbildungsveranstaltungen helfen ihren Mitgliedern, sich zu vernetzen und immer auf dem aktuellen Stand zu sein. NOVAcura 1/16
«Ein Bewohner unseres Heims hat epileptische Anfälle, auch nachts. Wie können wir sicherstellen, dass er nicht in Gefahr gerät?» Um die oben gestellte Frage zu beantworten: Es gibt spezielle Signalgeräte. Empfehlenswert ist ausserdem ein luftdurchlässiges Sicherheitskissen, weil Betroffene sonst nach einem Anfall ersticken könnten. Die Geschäftsstelle der Epilepsie-Liga ist offen für Anfragen rund um das Thema Epilepsie. Sie gibt kompetent Auskunft oder verweist an Spezialisten.
Wichtige Aufgabe: Informieren «Die Mitgliedschaft bei der Epilepsie-Liga hilft mir, auf dem Laufenden zu bleiben.» (ein Mitglied) Pflegefachkräfte, Ärzte, Apotheker, Mitarbeitende von Pharmafirmen und andere können ihr Wissen zum Thema Epilepsie auf den kostenlosen Fachanlässen der EpilepsieLiga vertiefen. Renommierte Neurologen und andere Spezialisten vermitteln aktuelle Informationen aus Forschung und Praxis. Informationsflyer und DVDs sind gratis oder für einen geringen Unkostenbeitrag für alle verfügbar. Betroffene und Angehörige informiert die Liga ebenfalls auf kostenlosen Veranstaltungen zu Behandlungsmöglichkeiten sowie über das Leben mit Epilepsie. Über ihre Website, durch Medienarbeit sowie mit Informationskampagnen, etwa zum «Tag der Epilepsie» am 5. Oktober, wendet sich die Epilepsie-Liga auch an die breite Öffentlichkeit. So klärt sie zum Thema Epilepsie auf und trägt dazu bei, Vorurteile abzubauen. Weitere Informationen über die Epilepsie-Liga sowie zum Thema Epilepsie finden Sie im Internet auf www.epi. ch. Dort stehen auch alle Publikationen zum Download oder zum Bestellen zur Verfügung. Dr. Julia Franke, Geschäftsführerin der Schweizerischen Epilepsie-Liga. Davor arbeitete sie in der Unternehmenskommunikation der Krankenversicherung Helsana. franke@epi.ch
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Mehr Energieeffizienz in der Rehaklinik Affoltern am Albis KommunikationsWerktatt GmbH, Ruth Koch
Elektroauto Probe fahren, beim Fachvortrag das Energie-Verhalten reflektieren, beim Energie-Quiz mitmachen oder die Vorteile von LED-Lampen prüfen – rund 230 Mitarbeitende profitierten bei den Energiewochen im Rehabilitationszentrum Affoltern am Albis des Kinderspitals Zürich vom vielseitigen Angebot.
A
uslöser für die Aktion Anfang November war der stetig steigende Stromverbrauch in den Jahren 2005 bis 2010 von 20 Prozent. Auf der Suche nach Reduktionsmöglichkeiten wurde damals Ruth Meierhofer-Luzi, Leiterin Ökonomie/ Verwaltung im Rehabilitationszentrum Affoltern a. A., auf das zukunftsorientierte Energieberatungsangebot der EKZ aufmerksam: «Wir wurden von den Fachleuten der Elektrizitätswerke des Kantons Zürich (EKZ) kostenlos zum Vorgehen beraten. Sie erläuterten uns anschaulich, mit welchen Mass-
nahmen die grössten Einspareffekte erzielt werden. Auf einem Rundgang mit dem Energieberater zeigte er mir Raum für Raum auf, wo überall mit kleinen Investitionen einiges an Energie und somit Kosten eingespart werden kann. Mir war klar, dass dies auch von den Mitarbeitenden mitgetragen werden muss. So organisierten wir 2010 die ersten EKZ-Energiewochen. Sie waren ähnlich strukturiert wie die diesjährige. Nur eine Probefahrt mit dem Elektroauto war damals noch nicht im Angebot. Die aktuellen Energiewerte beweisen die Wirksamkeit der Massnahmen. Trotz Erweiterung des Kinderspitals mit einem Neubau im Jahr 2011 sank der Energieverbrauch seither um ganze sechs Prozent – dank der Umsetzung von fünf Massnahmen und sensibilisierten Mitarbeitenden.»
Massnahmen zur Kostenreduktion Der Kostendruck im Spitalwesen macht auch vor dem Rehabilitationszentrum in Affoltern a. A. nicht halt. Deshalb setzte Ruth Meierhofer-Luzi seit 2010 fünf der von den EKZ vorgeschlagenen Massnahmen gestaffelt um: «Als erstes haben wir den Hebel in der Informatik angesetzt. Abschaltbare Steckleisten wurden für Bildschirme, Rechengeräte, Radios, Ladegeräte und Drucker installiert. Bei der regulären Hardware-Erneuerung haben wir eine neue Generation von Rechnern und LED-Bildschirmen angeschafft. Im Folgejahr stellten wir die Beleuchtung in Korridoren auf eine zeitgesteuerte Minuterie um. Die Leuchtstofflampen wurden auf LED umgerüstet. 2013 wurde zur Reduzierung der Stromspitzen in den Waschküchen über zwei Schaltuhren Sperren eingerichtet.»
Energieeffizienz für Küche und Therapiebad
Eine bleibende Erinnerung an die Energiewoche erhalten die Mitarbeitenden in Form eines ausgedruckten Thermografiebildes. Die EKZ-Energieberater verbinden mit dieser Aktion eine Sensibilisierung für Energieeffizienz-Massnahmen in den eigenen vier Wänden. Foto: KommunikationsWerkstatt GmbH © 2016 Hogrefe
Besondere Einsparungen versprachen Massnahmen in der Küche und beim Therapiebad. Ruth-Meierhofer-Luzi erzählt: «2014 ersetzten wir in der Hauptküche das Grosskochfeld sowie zwei Gasbrenner durch mehrteilige Induktionskochfelder. Mit dem Ersatz der Kochfelder sparten wir gleich doppelt: Wir erzielten einerseits eine Energieersparnis von 50 Prozent, andererseits erhielten NOVAcura 1/16
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EKZ Lösungen für mehr Energieeffizienz In vielen Institutionen ist das Potenzial, um Energie und Geld zu sparen, erheblich. Schlüsselfaktoren sind: eine energieeffiziente Heizung, ein energetisch optimiertes Gebäude und im Umgang mit Energie sensibilisierte Mitarbeitende. Hier setzen die EKZ mit zukunftsorientierten Lösungen an. Im Rahmen einer kostenlosen Vorgehensberatung zeigt der Energieberater auf, ob und welche Art von Effizienzmassnahmen im jeweiligen Unternehmen sinnvoll sind. Dokumentiert wird, mit welchen Massnahmen Spitäler und Heime den grössten Einspareffekt erzielen. Wirtschaftlichkeit hat dabei immer oberste Priorität. Dank langjähriger Erfahrung und technischen Hilfsmitteln eruieren die Energieberater umgehend, wo sich das grösste Einsparpotenzial zur Kostensenkung im Unternehmen befindet und können entsprechende Energieeffizienz-Massnahmen aufzeigen. Während der Energiewochen werden Mitarbeitende über den effizienten Umgang mit Energie informiert, sensibilisiert und zum Handeln animiert. Der Erfolg der Energiewochen ist messbar. Die EKZ zeichnen im Vorfeld den Stromverbrauch auf und verfolgen ihn während der Aktionsdauer. Bei 60 Prozent der bisher durchgeführten Energiewochen konnte der Stromverbrauch um 5 bis 10 Prozent gesenkt und entsprechende Kosten eingespart werden. Bei 30 Prozent lag das Einsparpotenzial sogar über 10 Prozent. Weitere Informationen für interessierte Spitäler und Heime vermittelt www.ekz.ch/energie-und-geld-sparen. Informationen zu Fördermitteln sind abrufbar unter www.energiefranken.ch.
wir für diese Investition von den EKZ Förderbeiträge. Dieses Jahr installierten wir im Therapiebad neue Umwälzpumpen, eine neue Steuerung und eine Wärmerückgewinnungsanlage. Mit den Energiewochen werden die Mitarbeitenden nun ein weiteres Mal fürs Stromsparen motiviert. All dies wird sich in den kommenden Jahren nochmals positiv auf unsere Energiebilanz auswirken», meint Ruth Meierhofer-Luzi zuversichtlich, deren Credo es immer war, nicht auf alles verzichten zu müssen. Die erneute Sensibilisierung der Mitarbeitenden für Energieeffizienz sieht sie denn auch als eine wiederkehrende Massnahme: «Energie einsparen beginnt mit dem bewussten Umgang mit Energie. Zum Beispiel beim richtigen Ein-und Ausschalten des Computers, des Steamers in der Grossküche, bei der Beleuchtung und bei der Kaffeemaschine. Und mit der Energiewoche wollen wir dieses Bewusstsein bei den Mitarbeitenden wieder auffrischen.»
Energieeffizienz ist ein strategischer Erfolgsfaktor EKZ-Energieberater Gian Cavigelli erläutert das Erfolgskonzept zur Sensibilisierung der Mitarbeitenden: «Wir stellen für jeden Betrieb ein individuelles Programm für die Energiewochen zusammen – abgestimmt auf die Bedürfnisse und Gegebenheiten vor Ort. Denn Energieeffizienz in den Betriebseinrichtungen sowie sensibilisierte Mitarbeitende sind wirtschaftliche Erfolgsfaktoren. Beim Programm wird auf einen attraktiven Massnahmen-Mix aus Information, Animation, Aktion und Erlebnis geachtet. Wir unterstützen die Verantwortlichen auch bei der Information rund um die EKZ-Energiewochen. Speziell an diesem Programm war, dass bei der diesjährigen Aktion im Spital Affoltern a. A. neben den Mitarbeitenden auch die kleinen Patienten und Besucher für Energiefragen sensibilisiert werden sollten.» NOVAcura 1/16
Information, Animation, Aktion Die Mitarbeitenden des Rehabilitationszentrums kispi wurden zwei Wochen vor dem Start bereits via Intranet und per E-Mail auf die Aktion hingewiesen. Am Starttag erhielten alle Mitarbeitenden am Arbeitsplatz ein persönliches Kuvert mit Ratgebern fürs Energiesparen in Büro, Haushalt und bei der Beleuchtung, Spartipps und eine Klimakarte (Raumthermometer) sowie Unterlagen für einen Wettbewerb. Auch wurden sie nochmals mit einer E-Mail an die Energiewochen erinnert. Der integrierte Wettbewerb animierte dazu, sich anhand der Unterlagen persönlich mit dem Thema auseinanderzusetzen. Dies wirkt sich nachhaltig auf das Verhalten am Arbeitsplatz und zu Hause aus. Am Grundlagenvortrag zur Energieeffizienz nahmen am Starttag mehr als die Hälfte der Belegschaft teil. Thematisiert wurde eine Verhaltensveränderung im Umgang mit Strom, der Mobilität, der Heizung und dem Warmwasserverbrauch. Im Eingangsbereich und in der Cafeteria erinnerten Info-Plakate an die Aktion. An zwei Tagen konnten die Mitarbeitenden mit einem EKZ Elektroauto Probe fahren. Mit den Mitarbeitenden wurden Thermografie-Aufnahmen mit Fotoausdruck erstellt – wieder verknüpft mit Energiefragen rund um Wärmedämmung und Heizung bei Privathäusern. Am Info-Point gaben die Energieberater mit einem Sortiment handelsüblicher LED-Lampen Tipps für den Ersatz von stromfressenden Lichtquellen. Am Energiequiz in der Cafeteria versuchten rund 370 Personen ihr Glück. Zudem motivierten zwei Moderatorinnen des EKZFachbereichs Jugend & Schulen die Patienten am Mittwochnachmittag zu handlungsorientierten Experimenten mit Energie. Medienbericht der KommunikationsWerkstatt GmbH, Ruth Koch Büro Luzern: Blumenweg 8, 6003 Luzern Büro Sarnen: Schwanderstrasse 34, 6063 Stalden koch@kommunikationswerkstatt.ch
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Palliative Care
Werte in der Palliative Care Heidi Diefenbacher
Werte sind in der Palliative Care ebenso wichtig wie in allen Gebieten der Pflege. Für professionelle Pflegefachpersonen ist es bedeutsam, die handlungsleitenden Werte des Faches zu kennen, ebenso aber auch die Werte des Patienten und der Patientin, um einen gemeinsamen Weg zu finden, diese zu leben. Im Folgenden wird auf die Werte Autonomie und Würde eingegangen.
W
ir denken über die eigenen Werte nach und Menschen teilen uns ihre Werte mit. Wir gehen also implizit davon aus, dass Menschen unterschiedliche Werte haben können. Werte sind kontextabhängig und sie entstehen, wenn Menschen das für sie moralisch Wichtige in Worte fassen. Die Wahl von Werten entsteht im Verlaufe des Lebens. Man sagt auch, verschiedene Gruppen, wie zum Beispiel die Gesundheitsberufe, hätten einen eigenen Wertekanon. Dieser Wertekanon wird als moralisch gültiges empfundenes Selbstverständnis der betreffenden Gruppe aufgefasst (Wils, 2009, S. 22). Häufig machen wir die Erfahrung, dass es einfach ist, sich über die Bedeutung eines bestimmten Wertes zu verständigen, aber bei der Bestimmung der konkreten
Handlungsanweisungen, die daraus folgen, kommt man nicht unbedingt zu einer übereinstimmenden Meinung (Wils, 2009, S. 25). Aus folgendem Dialog kann man einige Werte herauslesen, die diesem Patienten am Ende seines Lebens wichtig sind: Herr W.: Nun, ich sage Ihnen die Wahrheit. Eines Abends ging sie zu Bett, ich nahm die Pillen in meine Hand. Es wäre nicht lange gegangen. David: Warum haben Sie die Pillen zurückgelegt? Herr. W.: Wegen meiner Frau. David: Hat sie es gemerkt? Herr W.: Nein, nur eine leise Stimme, wissen Sie, bloss: «Tu das nicht!» Sie weiss, wenn ich Dummheiten machen will. Frau W.: Ich will, dass er lebt, lebt, für mich und seine Familie… wir sind erst seit zwei Jahren verheiratet und das ist so kurz. David: Sie fühlten sich hintergangen? Frau W.: Nein, ich will nur, dass er nicht wie mein erster Ehemann und meine Mutter vor meinen Augen stirbt. Ich denke, das könnte ich nicht ertragen. Natürlich werde ich mich dem stellen, wenn ich muss. Aber… Herr W.: (unterbrechend) Ich habe mich dagegen entschieden. Am nächsten Morgen sagte ich es ihr. Ich sagte ihr, ich werde jetzt einen Tag nach dem anderen nehmen (Moller, 2012, S. 150).
Werte in der Palliative Care: Den schwer kranken Menschen individuell begleiten, seiner Verletzlichkeit Rechnung tragen und dafür Sorge tragen, dass er im Kreise der Menschen sein kann, die ihm nahe sind, in den Situationen des Lebens und des Sterbens. Foto: Martin Glauser 36
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Palliative Care 37
Diesem Mann ist seine Autonomie wichtig, er hat sich anfänglich entschlossen, die Pillen in suizidaler Absicht zu nehmen. Dann hat er sich aber an seine Frau erinnert, die dann vielleicht sehr traurig und allein gewesen wäre. Möglicherweise spielen auch religiöse Werte eine Rolle, denn er beschreibt das Einnehmen der Pillen als «Dummheit». In der Palliative Care gibt es einerseits die Grundwerte und Haltungen, die für das Fach von besonderer Bedeutung sind. Einen hohen Stellenwert haben aber auch die Werte des Patienten und der Patientin, auf die wenn immer möglich Rücksicht genommen wird. In den medizinethischen Richtlinien der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) werden zwei Grundwerte und Haltungen genannt, die für das Fach wichtig sind. Es sind dies die Würde und die Autonomie des Patienten und der Patientin (SAMW, 2012, S. 7).
Die Würde Die Verfasser der Richtlinie schreiben, dass die Würde dem Menschen gegeben ist und von der Bewusstseinslage oder von einem bestimmten Kontext unabhängig ist. Daraus folgt, dass die Würde unverlierbar ist und bedingungslos akzeptiert werden muss. Sie ist allerdings in Situationen der Schwäche, wie sie bei schwerer Erkrankung am Ende des Lebens oft vorkommt, leicht verletzbar (SAMW, 2012, S. 7). In der Palliative Care orientiert sich das interprofessionelle Team an der Würde des Menschen. Dies zeigt sich darin, dass es den kranken oder sterbenden Menschen individuell begleitet und seine Einzigartigkeit respektiert, der Verletzlichkeit des Menschen in Pflege und Therapie Rechnung trägt und sich auf Fragen des Sinns und der Endlichkeit einlässt (SAMW, 2012, S. 8). Das folgende Fallbeispiel soll einige Aspekte aufzeigen, denen ein interdisziplinäres Team in Bezug auf die Würde, begegnen kann. C. M. war ein 70 Jahre alter Mann mit einem Prostatakarzinom und Knochenmetastasen. Er hatte bis dahin alleine gelebt, bis eine Pflegende der Spitex dies als ein Risiko für Selbstund Fremdgefährdung eingeschätzt hatte. Er wurde als das schwarze Schaf in der Familie beschrieben und hatte eine Vorgeschichte mit Alkohol- und Drogenabusus. Aufgrund der schwierigen Vorgeschichte hatte C. M. keine Beziehungen mehr zu Familienangehörigen. Nachdem er erkrankt war, nahm er wieder Kontakt zu seiner Schwester und seinem Sohn auf. C. M. zeigte in letzter Zeit Anzeichen einer beginnenden Demenz. Er war ein starker Raucher und die Pflegende der Spitex hatte bei ihrem Besuch bemerkt, dass er Brandlöcher in seinem T-Shirt hatte. Dies bewog sie, als ein Sicherheitsrisiko zu melden. Nach einer Besprechung mit der Familie wurde er in ein Hospiz verlegt. Dort wurde er sehr aggressiv und die Ärzte mussten ihm Beruhigungsmittel geben. Er war aber trotz seiner Krankheit immer noch gut mobil und wollte nicht ständig in seinem Zimmer bleiben, er wollte nach draussen und umhergehen. Da er stark weglaufgefährdet war, wurde ein weiteres Familientreffen abgehalten mit dem Vorschlag, ihn in eine Institution zu verlegen, die besser für solche Patienten eingeNOVAcura 1/16
richtet war. Der Sozialarbeiter schlug ein Pflegeheim mit einer Demenzabteilung vor. Seine Wohnung war bereits aufgelöst worden. C. M. war eben nicht der durchschnittliche Hospizpatient. Zusätzlich dazu, dass er überaus aktiv war, hatte er auch die ihm prognostizierte verbleibende Lebensdauer von sechs Monaten bereits überlebt. Die Familie wollte, dass er im Hospiz blieb, sie waren mit der Pflege dort eigentlich sehr zufrieden und wollte ihm einen weiteren Umzug in eine neue Institution ersparen (Norton, Waldrop & Gramling, S. 79-80). Dieser Fall stellt an ein interprofessionelles Palliative Care Team einige Fragen. Zum Beispiel: Wie können die Rechte von C. M. auf eine individuelle Pflege mit der Struktur der Institution in Einklang gebracht werden, die eine sichere Pflege anbieten will und die auch auf wirtschaftliche Belange Rücksicht nehmen muss (Norton et al., S. 80)? Die Geschichte von C. M. mit seinem Prostatakarzinom im Endstadium und einer beginnenden Demenz, die von einem Drogenmissbrauch überlagert wurde, forderte das Team im
Hier stellt sich auch die Frage, wie ein interdisziplinäres Team die Würde eines Menschen respektieren kann, auch wenn er nicht in das Schema des gängigen Hospizpatienten passt und nicht dem durchschnittlichen Sterbemuster entspricht. Hospiz heraus. Hier stellt sich auch die Frage, wie ein interdisziplinäres Team die Würde eines Menschen respektieren kann, auch wenn er nicht in das Schema des gängigen Hospizpatienten passt und nicht dem durchschnittlichen Sterbemuster entspricht. In den Augen der An- und Zugehörigen kann es immer verschiedene Einschätzungen geben, was eine gute Pflege beinhaltet. Aber Konflikte bergen auch das Potential in sich, ein Verständnis für verschiedene Per spektiven zu entwickeln und ein gemeinsames Verständnis für die Prinzipien einer personzentrierten und familienbasierten Pflege zu entdecken (Norton et al., S. 81).
Autonomie Unter Autonomie versteht man die Fähigkeit eines Menschen, seinen Willen auszudrücken und in Übereinstimmung mit den eigenen Werten und Überzeugungen zu leben. Die Autonomie am Ende des Lebens ist abhängig von der aktuellen Situation, dem Informationsstand und der Fähigkeit und Bereitschaft des Menschen, die Verantwortung für sein Leben und Sterben zu übernehmen. Die Autonomie beinhaltet aber immer auch die Verantwortung anderen gegenüber. Für Pflegefachpersonen heisst, die Autonomie eines Patienten, einer Patientin zu respektieren: • dem biografischen Hintergrund des kranken Menschen Rechnung zu tragen • die kranke Person und ihre An- und Zugehörigen klar und offen zu informieren • die Familie miteinzubeziehen © 2016 Hogrefe
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• sich zu vergewissern, ob der Wille des kranken Menschen richtig verstanden wurde und diesem im Rahmen des Möglichen Folge geleistet wird • sich bei urteilsunfähigen Kranken an den schriftlich formulieren Wert- und Willensäusserungen (z. Bsp. Patientenverfügung) orientieren (SAMW, 2012, S. 8). Das folgende Beispiel aus der Praxis zeigt, wie durch die Anstrengung eines interdisziplinären Teams den Wünschen eines Patienten entsprochen werden konnte: Das interne Palliative Care Team eines Spitals wurde auf die chirurgische Intensivstation zu einem 60-jährigen, sterbenden Patienten gerufen, der intubiert war. Herr F. war verheiratet und hatte drei erwachsene Söhne. Seine Frau und er hatten kürzlich ihr Haus am See für die Pensionierung fertiggestellt, als er schwer krank wurde. Als die Pflegefachperson des internen Palliative Care Teams eintrat, sass seine Frau neben ihm. Im Gespräch stellte sich heraus, dass sie beide wussten, dass er sterben wird und dass er wünschte, in seinem neuen Haus zu sterben. Sie sagte weiter, dass er nicht länger an diesem Beatmungsgerät bleiben möchte und dass es sein Wunsch sei, das Gerät abzustellen. Ohne Beatmungsgerät war es unwahrscheinlich, dass er länger als einige Stunden leben würde. Das Team der Intensivstation verstand zwar den Wunsch von Herr F., sie meinten aber, das sei praktisch kaum durchführbar (Norton et al., S. 81). Es wurden mehrere Möglichkeiten diskutiert. Wenn er im Spital extubiert werden würde, wäre es möglich, dass er die Fahrt nach Hause gar nicht überleben und in der Ambulanz sterben würde. Eine andere Möglichkeit wäre, ihn zu extubieren und auf die Palliativstation im Hause zu verlegen, damit er dort sterben könnte. Dagegen wehrten sich aber seine Söhne, weil dies nicht das war, was ihr Vater gewünscht hatte. Das Palliative Care Team traf sich noch zusätzlich alleine mit Frau F., um herauszufinden, wie es für sie wäre, wenn ihr Mann zu Hause sterben würde. Sie äusserte sich diesbezüglich klar und sagte: «Ich will, dass mein Mann zu Hause stirbt.» Auch nachdem die Familie über die Gefahren und Risiken informiert wurde, waren sie immer noch gewillt, ihn nach Hause zu nehmen. Das Palliative Care Team und das Team der Intensivstation waren sich einig, dass man Herr F. dies ermöglichen wollte und zwar mit einer Extubation zu Hause. Aufgrund des Zustandes hatte dies aber schnell zu geschehen. So konnte Herr F. die Intensivstation verlassen. Das Bett wurde ins Wohnzimmer gestellt, so dass Herr F. durch das Fenster auf den See blicken konnte. Er verbrachte noch einige Zeit mit der Familie und Freunden, wurde dann extubiert und starb so, wie er es gewünscht hatte, umgeben von seiner Familie, bequem in seinem Bett und mit dem Blick auf den See (Norton et al., S. 82). In der Praxis ist es nicht immer möglich, den Wünschen und Werthaltungen von Patientinnen, Patienten und Angehörigen nachzukommen. In einem ähnlichen Fall, in dem der Sterbende ebenfalls den starken Wunsch geäussert hatte, zu Hause zu sterben, sagte seine Frau zum Team: «Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich weiterhin in diesem Haus leben kann, wenn mein Mann darin gestor© 2016 Hogrefe
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ben ist.» Deshalb wurde dieser Patient nicht nach Hause verlegt. In unserer Kultur ist die Vorstellung von einem «guten Tod» weit verbreitet. Vor einigen Jahren untersuchte eine Studie, was denn genau einen guten Tod beinhaltet, welche Werte vorherrschen. Die Wertvorstellungen über einen guten Tod enthielten physische, persönliche und soziale Attribute vom Sterben. Es zeigte sich, dass Betroffene und deren Familien den Prozess des Sterbens mehr fürchteten als den Tod selbst. Wichtige Wertvorstellungen waren ein gutes Symptommanagement, vor allem was den Schmerz betrifft, geistige Klarheit und damit die Fähigkeit, bis zum Schluss Entscheidungen zu fällen (Autonomie und Handlungsfähigkeit). Weiter: die Vorbereitung auf den Tod, das Abschliessen von unerledigten Dingen und einen Beitrag an Hinterbliebene zu leisten. Das kann in Form von Zeit, Geld und materiellen Dingen geschehen. Weiter wichtig war die Erwartung, als Mensch ernst genommen zu werden. Vorausschauendes Planen und Abschied nehmen wurde ebenso als bedeutsam erachtet. Das zeigt, dass viele Menschen wissen wollen, wie es um sie steht und ob sie bald sterben werden, um sich darauf vorzubereiten. Vorausgesetzt natürlich, dass sie dazu in der Lage sind und eine gute Symptomkontrolle haben. Viele Menschen im Endstadium einer Krankheit beschäftigen sich mit der Sinnfrage, müssen ihre Rolle überdenken und möchten häufig auch ihre Familien von der Last der Pflege und Betreuung entlasten. Für viele Menschen ist dies ein wichtiger Aspekt ihrer Würde (Ashby, 2009, S. 81–82).
Literatur Ashby, M. (2009). The dying human: a perspective from palliative medicine. In: Kellehear, A. (Hrsg.). The study of dying. From autonomy to transformation (S. 76 – 98). Cambridge, UK, Cambridge University Press: New York. Moller, D. W. (2012). Dancing with broken bones: Poverty, race, and spirit-filled dying in the inner city. Oxford University Press: New York. Norton, S. A., Waldrop, D. & Gramling, R. (2014). Palliative Care, Ethics, and Interprofessional Teams. In: Quill, T. E. & Miller, F. G. (Hrsg.). Palliative care and ethics (S. 72 – 87). Quill, T. E. & Miller, F. G. (2014) (Hrsg.). Palliative care and ethics. Oxford University Press: New York SAMW (Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften) (2006, aktualisiert 2012). Palliative Care: Medizinische-ethische Richtlinien und Empfehlungen (Medizinischethische Richtlinien und Empfehlungen). Basel. Online unter: http://www.samw.ch/de/Ethik/Richtlinien/Aktuell-gueltigeRichtlinien.html (letzter Abruf am 16.12.2015) Wils, J. P. (2009). Ethik – Über Werte nachdenken. In Arn, C. (Hrsg.). Handbuch Ethik im Gesundheitswesen. Band 2: Ethikwissen für Fachpersonen (S. 21 – 32). Schwabe: Basel. Heidi Diefenbacher, Pflegefachfrau HF, MAS Palliative Care, arbeitet auf der Palliativstation des Spitals Affoltern am Albis als Fachverantwortliche Palliative Care. heidi.diefenbacher@ spitalaffoltern.ch
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Würdevolles Sterben auf der Intensivstation – ein Widerspruch?! Sonja Baumann
Die Konzeption von Intensivstationen, Leben zu erhalten, wird zu einer Belastung aller Beteiligter, wenn es ums Sterben geht. Welche Faktoren sollten darum gegeben sein, um als Erwachsener auf einer Intensivstation in würdevollen Umständen zu sterben? Die Bedürfnisevaluation des Sterbenden, das pflegerische Wissen um würdevolles Sterben, Schmerzlinderung, persönlichere Betreuung und Reizabschirmung ermöglichen würdevolles Sterben auf Intensivstationen.
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ieso veröffentlicht die Zeitschrift NOVAcura einen Artikel über würdevolles Sterben auf Intensivstationen, wenn das Zielpublikum nicht in der Akutpflege arbeitet? Mittlerweile arbeite ich in der Langzeitpflege und die Fragestellung um würdevolles Sterben auf Intensivstationen war Gegenstand meiner Bachelorarbeit. Diese Abschlussarbeit bildete die Grundlage meines Umdenkens, nach zwölf Jahren von der modernen Hightech Pflege in die Langzeitpflege zu wechseln. Die Ergebnisse der Arbeit entsprechen dem Stand von 2014. Die Pflegewissenschaft entwickelt sich schnell und bringt mittlerweile weitere Erkenntnisse hervor.
tionen kennzeichnen sich durch hochtechnologische Ausstattung, einen hohen Geräuschpegel und steriles Interieur. Durch künstliche Dauerbeleuchtung haben Patienten einen gestörten Schlaf-Wach-Rhythmus. Bedingt durch fehlende Intimsphäre erleben Patienten und Angehörige nicht nur ihre eigene Situation als sehr belastend, sondern auch die der Mitpatienten. Aus Sicht der Pflegefachpersonen oder Angehörigen, einen Sterbenden würdig zu begleiten, erscheint unter den beschriebenen Bedingungen nicht vereinbar. Das Sterben auf Intensivstationen ist oft unnatürlich. Von der komplexen Intensivtherapie mit Kabeln, Schläuchen und vielen Geräten auf den Weg zur Linderung von Beschwerden und Wohlbefinden bedarf es einer kompletten Wendung. Es gibt allerdings erste Ansätze, die ein Umdenken in der intensivmedizinischen Doktrin zeigen, Leben um jeden Preis zu erhalten. «Geänderte Therapieziele sind Beschwerdefreiheit und möglichst gute Lebensqualität von Patienten (...). Dieses Umdenken hat dazu geführt,
Würdevoll sterben auf der Intensivstation – ein Widerspruch?! Die Intensivstation ist nicht der favorisierte Platz der Schweizer Bevölkerung um zu sterben, da sich «die Mehrheit ein Sterben zu Hause wünscht.» (Bundesamt für Gesundheit [BAG], 2009, S. 3). Durch die zunehmende Überalterung der Bevölkerung der Industrieländer leben mehr Menschen an ihrem Lebensabend mit den Folgen schwerer chronischer Erkrankungen und deren oftmals lebensbedrohlichen Komplikationen. Damit steigt die Wahrscheinlichkeit, dass eine intensivmedizinische Behandlung nötig wird. Der Grundsatz der Intensivmedizin, Leben zu retten, ist das Gegenteil von palliativer Behandlung, deren Ziel es ist, Beschwerden bis zum Eintritt des Todes zu lindern (Weltgesundheitsorganisation [WHO], 2002). IntensivstaNOVAcura 1/16
Die Rahmenbedingungen des Lebens und Sterbens in einem Krankenhaus entsprechen nicht den Bedürfnissen sterbender Menschen, die sich das Ende des Lebens zu Hause ersehnen. Intensivpflegefachpersonen begleiten schwer kranke Menschen mit den Möglichkeiten von Hightech und Highcare und ermöglichen so ein werteorientiertes würdevolles Sterben. Foto: Martin Glauser 39
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dass von allen intensivmedizinischen Fachgesellschaften die Berücksichtigung palliativmedizinischer Grundsätze als Qualitätsmerkmal intensivmedizinischer Versorgung angesehen wird.» (Karg, 2012, S. 2558). Auch die Schweizerische Gesellschaft für Intensivmedizin [SGI] schreibt auf ihrer Homepage über diesen Behandlungsgrundsatz. Palliative Care [PC] ist laut WHO (2002) ein Ansatz zum Lindern von Leiden, Behandlung von Schmerzen sowie anderen belastenden Beschwerden körperlicher, psychosozialer und spiritueller Art.
Problemstellung Um das Problem darzustellen, werden zuerst die einzelnen Begriffe in ihrer Bedeutung erläutert.
Würde Die Würde wurde von Kant erstmals 1785 dem Menschen als Wesensmerkmal zugesprochen (Kant, 2004, zit. nach Schröder, 2008), bis sie 1948 in der Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika deklariert wurde (Forschner, 1998, zit. nach Schröder, 2008). Eine einheitliche Definition von Würde lässt sich schwer finden, da Würde von Menschen individuell belegt ist. Exemplarisch wird die Definition des deutschen online- Duden (2014) hier genannt: «Achtung gebietender Wert, der einem Menschen innewohnt, und die ihm deswegen zukommende Bedeutung; Bewusstsein des eigenen Wertes (und dadurch bestimmte Haltung)». Festzuhalten ist, dass die steigende Abhängigkeit im Krankheitsfall oder Sterbeprozess dem ethischen Grundsatz der «Autonomie» entgegen wirkt wenn das persönliche Würdegefühl mit Selbstbestimmung verbunden ist (Chochinov, 2002). Laut dem International Council of Nurses Palliative Care (ICNP®, 2013, S. 6) sind zum Erhalt der Würde und den Themenbereichen «körperliche Pflege, seelische Bedürfnisse und Unterstützung zur Verfügung stellen», kulturübergreifende Hilfestellungen im Sinne von Palliative Care bei relevanten Pflegediag nosen, Interventionen und Ergebnissen möglich.
Sterben Sterben wird laut online-Duden (2014) als «aufhören zu leben» definiert. Diese Definition lässt sich aber nicht vereinheitlichen. Wie im Empfinden von Würde ist auch dort die Individualität beziehungsweise der Verlauf der Sterbephasen unterschiedlich. Nauck (2001, zit. nach Roller 2004) teilt Sterben zeitlich in drei Phasen: Rehabilitation – Monate vor dem Tod; Terminal – sinkende Aktivität; Final – etwa von 72 Stunden vorher, bis zum Tod. Auf Intensivstationen kann dieser Phasenverlauf durch plötzliche Verschlechterung der Patientensituation oder einem spontanen Herz-Kreislauf-
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versagen gestört sein. Wie weiss man, dass die letzten Tage bis Stunden angebrochen sind? Die Diagnosestellung ist oft ein komplexer Prozess (Ellershaw, Ward, 2003): es ist eine wichtige klinische Fähigkeit, die Schlüsselzeichen und Symptome zu erkennen. Oft ist es keine Einzelentscheidung, sondern ein Konsens im Pflege- und Behandlungsteam.
Sterben in würdevollen Umständen Die Begriffe «Sterben» und «Würde» zusammenführend stellt Allmark (2002) wie folgt dar: Durch die persönliche Auslegung von Würde kann nicht generalisiert werden, was unwürdig ist. Es gibt laut Allmark kein unwürdiges Sterben, sondern nur Sterben unter unwürdigen Umständen. Seiner Meinung nach können Angehörige des Gesundheitswesens auf zwei Arten sicherstellen, dass ein Sterbender nicht in unwürdigen Umständen stirbt: indem sie ihn bei Entscheidungen nicht übergehen und unwürdige Zustände, wie beispielsweise Schmerzen, minimieren.
Ethische Prinzipien auf Intensivstationen Zwei der vier Prinzipien der Medizinethik von Childress und Beauchamp (2009): «Gutes tun» und «nicht schaden» scheinen durch die beschriebenen Umstände auf Intensivstationen verletzt. Ausserdem ist es ein schmaler Grat zwischen suffizienter Opioidgabe, um Gutes zu tun, und nicht zu schaden durch ein wenig zu viel Opioidgabe und damit verbundener etwaiger Verkürzung der Lebenszeit. Das dritte ethische Prinzip «Autonomie» ist eingeschränkt durch das Angebundensein an Kabeln und Schläuchen und der steigenden Abhängigkeit Sterbender von Health Care Professionals. Die Überschneidung mit Allmarks Äusserung bezüglich dem Übergehen bei Entscheidungen ist ein zentraler Punkt, an dem Autonomieverlust und unwürdiges Sterben zusammen treffen. Der Spagat der Intensivpflegefachpersonen besteht also darin, würdevolle Umstände zu schaffen, um mit geringstmöglicher Verletzung der Ethik durch palliative Versorgung einen Sterbenden entsprechend zu begleiten.
Refraktäre Symptome Zu den refraktären Symptomen1 zählen Schmerz, Dyspnoe, persistierende Emesis, das hyperaktive Delir, Todesrasseln durch erhöhte Bronchialsekretion und Vomitus (Ellershaw, Ward, 2003). Für diese Arbeit wird nur das Refraktärsymptom Schmerz beachtet, da bei der Frage nach einem würdevollen Tod oft ein schmerzfreier Tod genannt wird und Patienten auf Intensivstationen häufig Schmerzen haben. Schmerz wird als das «most distressing end-of-life symptom» (Bailey et al., 2011, S. 682) beschrie-
1 Symptome, die sich nicht zurückbilden
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ben und zeigt an dieser Aussage die Verbindung zum Thema des würdevollen Sterbens.
End-of-Life Care (EoLC) Die Pflege am Lebensende ist individuell. Gysels et al. (2013) versuchten, eine europaweit gültige Definition bezüglich der Bedeutung von EoLC zu erforschen. Sie fanden bei den Befragten heraus, dass EoLC in einem ethischen Zusammenhang steht, jedoch die Diversität der Auslegung keine einheitliche europäische Definition zulässt. Das wiederum kann laut den Befragten auch als Chance gesehen werden, damit EoLC kein starres Gerüst wird und einer Ideologie unterworfen wird. End-of-life Care ist eine individuelle Pflege.
Zielsetzung Übergeordnetes Ziel ist, Erkenntnisse aus der PC und EoLC zu gewinnen, diese zu bewerten und wenn möglich auf die Intensivpflege zu übertragen. Es gilt herauszufinden, was Annahmen von einem würdevollen Tod sind. Das ist eine wichtige Bedingung, um als Pflegefachperson eine Advokatenrolle für Sterbende zu übernehmen. Das gilt insbesondere, falls sich Sterbende nicht mehr selbst äus sern können. Darüber hinaus ist es notwendig, sich mit den Erwartungen Sterbender in der Finalphase auseinanderzusetzen. Da Sterben unter Schmerzen in der Literatur als unwürdiges Sterben gilt, ist es notwendig, mehr über das Management für das Refraktärsymptom Schmerz he rauszufinden. Abschliessendes Ziel ist es, die äusseren Gegebenheiten der Intensivstation wie mangelnde Intimsphäre und hohe Geräuschkulisse für Patienten in der Finalphase mit geeigneten Massnahmen zu mildern.
Forschungsfrage und Ergebnisse Welche Faktoren müssen laut derzeitigem Stand der Literatur gegeben sein, um als Erwachsener auf einer Intensivstation in würdevollen Umständen zu sterben? – an dieser Fragestellung orientierte sich die Untersuchung. Die ermittelten Ergebnisse der Studien lassen sich in vier Kategorien einteilen, die hier als bestimmende Faktoren auf Intensivstationen gelten sollen: 1. Annahmen von würdevollem Sterben 2. Erwartungen von Sterbenden 3. Schmerzmanagement 4. Umgebungsfaktoren der Intensivstation. Clarke et al. (2003) betonen, dass Symptommanagement und Comfort Care die höchste Priorität in der EoLC auf Intensivstationen besitzen. Da Comfort Care ebenso wie EoLC subjektiven Bedingungen und Interpretationen unterliegt, sind die individuellen Bedürfnisse des Sterbenden entscheidend und damit die individuelle Umsetzung NOVAcura 1/16
durch die Health Care Professionals. Kehl (2006) fordert deshalb, dass das Behandlungsteam nicht durch seine eigene Vorstellung eines guten Todes die Pflege beeinflussen darf. Durch diese Aussage von Clarke et al. zeigt sich, dass die Fragestellung nicht eindeutig beantwortet werden kann. Die systematische Literaturrecherche zeigt Eckpunkte der End-of-Life Care, jedoch sind die unten aufgeführten Antworten nur ein Teil, um ein würdevolles Sterben auf Intensivstationen zu ermöglichen. Zusammenfassend kann die Frage nach Faktoren, die für einen würdevollen Tod Erwachsener auf Intensivstationen gegeben sein sollten, folgendermassen beantwortet werden: Die Bedürfnisevaluation des Sterbenden hat höchste Priorität (Kehl, 2006). Das bedeutet, den Sterbenden in seiner Ganzheit zu sehen und somit eine holistische Behandlung und Pflege durch Health Care Professionals (Kehl, 2006, Wenrich et al., 2003). Die Würde und Autonomie des Sterbenden erhalten bedeutet, dass die Wünsche, die er äussert, gewahrt werden. Das ethische Prinzip «Gutes tun» kommt je nach belastendem (Refraktär-) Symptom zum Tragen. In dieser Arbeit am Beispiel Schmerz sollte ein adäquates valides Symptommanagement angewendet werden. Dazu gehören die regelmässige Evaluation des Zustandes, darauf abgestimmte Interventionen (Bailey et al., 2012, Steindal et al., 2011) sowie die Reevaluation, ob die Intervention erfolgreich war. Dieses Vorgehen sollte unabhängig von anwesenden Angehörigen durchgeführt werden. Das architektonische Setting Intensivstation sollte Einzelzimmer bieten können, um für Sterbende und deren Angehörige mehr Privatsphäre zu ermöglichen, um sich würdevoll verabschieden zu können (Fridh et al., 2007). In all den aufgeführten Punkten zur Beantwortung der Fragestellung spiegelt sich die Würde des Sterbenden wieder. Die Autoren der Studien sehen jeweils die Würde gewahrt, wenn die Empfehlungen der untersuchten Themenfelder umgesetzt werden.
Literatur Clarke,E., Curtis, J., Luce, J., Levy, M., Danis, M., Nelson, J., Solomon, M. (2003). Quality indicators for end-of-life care in the intensive care unit. In : Crit Care Med., 31 (9), S. 2255 – 62 Ellershaw, J., & Ward, C. (2003). Care of the dying patient: the last hours or days of life. In: BMJ: British Medical Journal, 326 (7379), S. 30 ICNP®-Katalog (2009). «Palliative Care for Dignified Dying». Berufsverbände DBfK, ÖGKV und SBK (Hrsg.). Online unter: http://www.dbfk.de/download/download/ICNP-Katalog-Palliative-Care-2013-06- 20.pdf (letzter Abruf am 23.09.2013) Kehl, K. (2006). Moving toward peace: An Analysis of the Concept of a Good Death. In : American Journal of Hospice and Palliative Medicine, 23 (4), S. 277 – 286. Hinweis: weitere Literatur bei der Autorin. Sonja Baumann, Dipl. Pflegefachfrau FH, IPS, Studium MScN an der ZHAW, Fachverantwortliche Pflegeentwicklung im Wohn- und Pflegezentrum, Zollikon, ZH Baumann-Sonja@gmx.net
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Pflegebedürftige kompetent im Alltag begleiten Sylke Werner
Praxishandbuch Alltagsbegleitung Pflegebedürftige Menschen und ihre Angehörigen im Alltag begleiten und entlasten 2015. 288 S., 19 Abb., 30 Tab., Kt € 29.95 / CHF 39.90 ISBN 978-3-456-85497-7 AUCH ALS E-BOOK
Pflegebedürftigkeit, Erkrankungen sowie Behinderung schränken die Fähigkeit von Menschen ein, ihren Alltag selbst zu gestalten, sicher zu strukturieren und kompetent zu bewältigen. Das Praxishandbuch • beschreibt übersichtlich wo, wie und warum pflegebedürftige Menschen Hilfen benötigen, um ihren Alltag kompetent und sicher zu bewältigen • klärt zentrale Begriffe der Alltagsbegleitung • vermittelt Wissen, um Menschen mit eingeschränkter Alltagskompetenz in den verschiedenen häuslichen und stationären Umgebungen zu begleiten • stellt Kompetenzen und Handlungsmöglichkeiten vor mit denen Alltagsbegleiter herausfordernde Alltagssituationen bewältigen und für sich selbst sorgen können
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• beschreibt wie Alltagsbegleiter pflegende Angehörige entlasten, beraten, informieren und unterstützen können • unterstützt Alltagsbegleiter darin, Menschen mit einer eingeschränkten Alltagskompetenz zu verstehen, ihre Wünsche und Bedürfnisse zu erkennen und entsprechend zu handeln • beschreibt verständlich, welche Erkrankungen die Alltagskompetenz beeinträchtigen von Demenz, über Depressionen, Gebrechlichkeit, Parkinson, Schlaganfall, Selbstvernachlässigung bis hin zu Sucht • klärt ethische, qualifikatorische und rechtliche Grundlagen der Alltagsbegleitung.
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Gelbe Blumen, viele gelbe Blumen Interview mit Carmen Lanini Wey Lea Frei
Carmen Lanini Wey arbeitet seit neun Jahren als Beraterin und Sterbebegleiterin bei Exit, der Vereinigung für humanes Sterben. Im Interview erzählt sie von ihrer Tätigkeit in stetiger Konfrontation mit Krankheit, Sterben und Tod und von ihrer persönlichen Auseinandersetzung mit der eigenen Vergänglichkeit. Im Januar 2015 wurde bei der 71-Jährigen ein Melanom diagnostiziert – gedanklich hat sie sich ihr Ableben schon vorgestellt.
Selbstbestimmung unterstützen
I
ch treffe Carmen Lanini Wey in ihrem Zuhause in Ebnat-Kappel im Kanton St. Gallen. Sie hat ein rundliches Gesicht, kurze graue Haare und einen gutmütigen Blick. Sie spricht hochdeutsch mit Akzent, man hört, dass ihre Wurzeln im italienischen Sprachraum liegen. Pro Monat begleitet die Tessinerin im Schnitt zwei Menschen beim Sterben, so erzählt sie. Aber ganz sicher ist sie sich ob der Zahl nicht. Denn sie zählt die Begleitungen nicht. Eine Zahl könne der Wichtigkeit dieser Ereignisse nicht entsprechen, das ist ihre Überzeugung. Bei der Arbeit von Exit geht es längst nicht nur um Sterbebegleitung. Die Organisation will die Selbstbestimmung der Menschen unterstützen und sieht diesbezüglich verschiedene Aufgabenbereiche. Im ersten geht es um die Patientenverfügungen. Diese erhält jedes Neumitglied gleich nach der Anmeldung zum Ausfüllen ausgehändigt. «Mitglied wird man nicht primär, um selber eine Sterbebegleitung einzufordern, sondern weil man die Haltung der Organisation unterstützt», erklärt Carmen Lanini Wey. Eine Sterbebegleitung von Exit können aber ausschliesslich Mitglieder beanspruchen. Die Organisation zählt mittlerweile über 90.000 Mitglieder. Davon haben 587 im Jahr 2014 von einer Sterbebegleitung Gebrauch gemacht. Nach drei Jahren Mitgliedschaft ist das Sterben mit Exit kostenfrei. Ein weiterer Bereich von Exit ist die Beratung. Diese kann sich auf ein einziges Gespräch belaufen oder sich auch über Jahre hinausziehen. Eine ihrer Aufgabe sieht die Organisation in der Information und Förderung der Palliativpflege, deren Projekte mit einem Stiftungsfond NOVAcura 1/16
Am Morgen vor einer Begleitung bereitet sich Carmen Lanini Wey gedanklich auf ihre bevorstehende Aufgabe vor. Sie zündet eine Kerze an, trinkt eine Tasse Kaffee und setzt sich für ein paar Minuten bewusst hin. Sterbebegleitungen sind für die 71-jährige Tessinerin tief erlebte Momente. Sie erfordern Professionalität, Empathie und Vertrauen.
Es ist Morgen. Carmen Lanini Wey zündet bei sich zu Hause eine Kerze an. Wie immer an Tagen, an denen sie einen Menschen in den Tod begleitet. Zum vereinbarten Zeitpunkt geht sie zu einem Mitglied von Exit. Die Frau liegt im Bett, neben ihr ein Therapiehund. Ein riesiges Bouquet Rosen steht im Raum. Angehörige sind da. Gemeinsam singen sie das Ave Maria von Schubert. «Möchten Sie noch ein bisschen Zeit haben?», fragt die Sterbebegleiterin. «Machen Sie vorwärts, ich will jetzt nicht mehr lange reden», so die Antwort. Die Sterbewillige nimmt ein Antibrechmittel ein, füllt die Freitoderklärung aus; trinkt das Glas Wasser, angereichert mit dem Pulver Natriumpentobarbital. Ein paar Minuten vergehen. Die Frau verliert ihr Bewusstsein. Eine weitere Viertelstunde später ist sie tot. Angehörige halten die Hand. Foto: Lea Frei
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unterstützt werden. Ein vierter Bereich ist der, wofür Exit bekannt ist, die Begleitungen beim Sterben. Wie alle Begleiterinnen und Begleiter von Exit arbeitet auch Carmen Lanini Wey als Freiwillige. Sie erhält eine Fallpauschale von 600 Franken. «Die Arbeit soll keinen finanziellen Anreiz haben», erklärt sie. Dies verlangt die Gesetzeslage in der Schweiz. Warum haben Sie sich dafür entschieden als Sterbebegleiterin tätig zu sein? Ich habe bis 64 gearbeitet. Zwei Jahre bevor ich pensioniert wurde, begann ich meine Tätigkeit bei Exit. Als junge Frau hatte ich eine Pflegeausbildung gemacht. Ich war über viele Jahre in Akutspitälern tätig und habe später noch Gerontologie in Zürich studiert. Die letzten 15 Jahre vor der Pension arbeitete ich dann bei der Spitex und leitete die in Toggenburg. Ich wollte die Zeit nach meiner Pension sinnvoll nutzen, meine Ressourcen einbringen und der Gesellschaft etwas zurückgeben. So meldete ich mich bei Exit. Ich machte die Einführung während den zwei Jahren, die ich noch bei der Spitex arbeitete. Nach und nach übernahm ich dann selber die Begleitung von Menschen, die zu sterben wünschten. Was ist Ihnen besonders wichtig, wenn sie jemanden begleiten? Die Begleitung ist der Abschluss einer Begegnung, einer Beziehung. Diese kann ganz lange gedeihen und gepflegt werden oder auch nur kurze Zeit dauern. Wenn sich jemand für ein Erstgespräch in Zürich meldet und sagt: ‹Ich bin krank und möchte sterben›, dann werden die Begleiter und Begleiterinnen angefragt, die je nach örtlicher und zeitlicher Verfügbarkeit in Frage kommen. Wichtig ist, dass es für die Begleitung stimmt und gut machbar ist. Ich kann eine Anfrage annehmen oder ablehnen. Im ersten Gespräch geht es darum, Vertrauen zu schaffen, die Situation wahrzunehmen und zu erfahren, welche Motivation die Person hat zu sterben. Dabei möchte ich jeweils auch wissen, ob der Wunsch tatsächlich autonom und stabil ist. Die spirituellen Bedürfnisse der Sterbewilligen sind mir dabei auch wichtig. Um mit Exit sterben zu können, muss immer ein Arztzeugnis vorliegen, welches die Krankheit beschreibt und die Urteilsfähigkeit der sterbewilligen Person bestätig. Dies fordern die Statuen von Exit. Im ersten Gespräch ist für mich wichtig, dass die Familie des kranken Menschen dabei ist. Ich frage jeweils zuvor an, ob dies machbar ist. Bei Ehepaaren ist meist der Partner da, bei Alleinstehenden sind es die Kinder. Es geht mir dabei darum, einen besseren Überblick über die soziale Situation zu bekommen. Da wird geklärt, wie dringend der Sterbewunsch ist. Nach Bedarf werden weitere Massnahmen veranlasst. Sollte gerade kein Handlungsbedarf bestehen, ist es für den Moment einfach mal gut. Ich hinterlasse meine Adresse und Telefonnummer und verabschiede mich, indem ich sage: ‹Wenn Sie das Bedürfnis haben mit mir zu reden, dann rufen Sie mich an›. Wichtig ist, dass die sterbewilligen Menschen die Initiative ergreifen, sie müssen sich melden, wir übernehmen keine Führung in der Situation. © 2016 Hogrefe
Pflege zu Hause
Die Entscheidung für das Sterben ist immer die Entscheidung gegen das Leben. Manche Menschen finden nach einem Suizidversuch wieder zurück ins Leben. Wäre in diesem Sinne nicht eher Lebenshilfe anstatt Sterbehilfe anzustreben? Diese Woche habe ich eine Person besucht, die sagte: ‹Es ist mir richtig peinlich, dass Sie kommen, da es mir jetzt wieder gut geht. Als ich Sie gerufen hatte, wollte ich gleich sterben›. Daraus entwickelte sich ein schönes Gespräch. Wir Begleiterinnen und Begleiter gehen hin und führen ein Gespräch. Wir erklären das Vorgehen. Wir zeigen Alternativen auf. Der Freitod kann gewählt werden, muss aber nicht. Das informative Gespräch beruhigt viele Menschen. Es reicht ihnen zu wissen, dass sie anrufen können, wenn es ihnen schlechter geht. So belassen sie es bei dieser einen Begegnung. Die Zahl der Freitodentscheidungen liegt nach einem Erstgespräch bei Exit bei etwa 60 Prozent. Bei der Aufgabe als Begleiterin steht die Beratung im Vordergrund. In diesem Sinne ist das, was wir machen, auch Suizidprävention. Häufig geht es gerade bei Schwerkranken einfach mal darum zu schauen, ob die Menschen wirklich informiert sind und ob sie über die Möglichkei-
In diesem Zusammenhang sind Informationen über palliative Pflege bedeutend. Ich stelle immer wieder fest, dass die Menschen einfach nicht Bescheid wissen. Sie kommen todkrank aus dem Spital und wissen nicht, was palliative Pflege ist. ten, ihre Krankheit zu behandeln, tatsächlich Bescheid wissen. In diesem Zusammenhang sind Informationen über palliative Pflege bedeutend. Ich stelle immer wieder fest, dass die Menschen einfach nicht Bescheid wissen. Sie kommen todkrank aus dem Spital und wissen nicht, was palliative Pflege ist. In solchen Fällen vermittle ich Kontakte zu betreffenden Organisationen und rate jeweils auch, den behandelnden Arzt zu konsultieren. Neulich hat mich eine Frau angerufen, die noch nicht vierzig war. Sie hatte zwei kleine Kinder und sagte, ich solle möglichst schnell kommen, sie wolle jetzt sterben. Sie hatte eine Krebserkrankung mit Metastasen. Als ich hinkam, war die Frau so erschöpft, weil sie den ganzen Tag erbrochen hatte. Klar war für mich, da geht es jetzt nicht ums Sterben, sondern zuerst darum, das Erbrechen zu stoppen. Ich rief eine palliative Organisation an, die innert zwei Stunden da war. Die Frau erhielt eine Infusion und ein Antibrechmittel. Als sie sich ein paar Tage später ein bisschen erholt hatte, rief sie mich an. Sie sagte, dass es ihr im Moment besser gehe. Das Ganze sei erträglich und sie werde sich weiterhin palliativ behandeln lasse und somit die Idee von Exit fallen lassen. Die Frau war sehr dankbar. Die Patientin konnte noch drei Monate den Umständen entsprechend gut leben. Für so einen jungen Menschen sind drei Monate Leben mit guter Lebensqualität wichtig. Die Beratung und das schnelle Handeln waren aber ebenfalls bedeutend. NOVAcura 1/16
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Wie steht es um den gesellschaftlichen Druck auf die ältere Generation? Werden sich in Zukunft die Freitode von älteren Menschen häufen, weil sie ihren Angehörigen nicht zur Last fallen wollen? Die Angst vor einer solchen Entwicklung ist in unserer Gesellschaft präsent. Das Durchschnittsalter von denen, die mit Exit sterben, ist aktuell 77,5 Jahre. Es sind also tatsächlich vorwiegend ältere Menschen, die sich für einen Tod mit Hilfe unserer Organisation entscheiden. Dennoch: Ich denke nicht, dass ein Zusammenhang mit einem gesellschaftlichen Druck besteht. Es sind selbstbewusste Menschen, die sich für einen Freitod mit einer Sterbehilfsorganisation entscheiden. Sie beschliessen bewusst, zu sterben, weil sie genug vom Leben haben und nicht mehr weiter leben möchten. Dass das Umfeld diese Entscheidung beeinflusst, glaube ich nicht. Menschen, denen es gut geht und die fit sind, wollen nicht sterben. Und – der Entschluss zu sterben ist nicht so einfach. Der Mensch hat den Impuls zu leben und nicht zu sterben. Wenn aber jemand beschlossen hat zu gehen, weil es Zeit für ihn ist, dann ist sterben schön. Dieser Abschied wird bewusst erlebt und ist berührend. Würden Sie vom Angebot von Exit Gebrauch machen, wenn Sie selber schwer krank wären? Ich habe im Januar eine Krebsdiagnose erhalten. Ich habe ein Melanom. Dadurch hat sich für mich die Perspektive geändert. Ich habe bereits überlegt, wo ich sterben will und wer von meinen Kolleginnen mich begleiten soll. Ich will gelbe Blumen, ich will ganz viele gelbe Blumen. Ich habe mir alles schon ausgedacht. Ich werde nicht zu lange warten. Ich wurde operiert, zurzeit ist es gut. Mit einem Melanom … weiss man aber nicht … diese sind sehr aggressiv … Wenn die Gefahr besteht, dass ich meine Urteilsfähigkeit verliere, werde ich mich entscheiden. Ich habe grosse Angst vor Hirnmetastasen. Falls dies eintreten würde, müsste ich schnell beschliessen, was ich tun will. Ich möchte nicht liegen, bewusstlos sein und keinen Kontakt mehr nach Aussen aufnehmen können. Das wäre für mich die Grenze. Ich müsste aber in einem noch guten Zustand entscheiden. Das ist schwierig und braucht viel Mut und Reife, sich mit der Krankheit auseinanderzusetzen und Gespräche mit der Familie zu führen. In diesem Moment ist es wichtig, dass man getragen wird. Zurzeit ist es für mich aber gut und es kann ja auch sein, dass ich die Chance habe noch ein paar Jahre zu leben. Aber: Ich bin 71 und habe ein gutes Leben gehabt und ich habe keine Ambitionen, 90 zu werden – absolut nicht. Ich möchte gut leben bis zum Ende. Ich habe auch noch gewisse Pläne. Im Moment ist alles gut. Ich liebe das Leben und in Anbetracht der Endlichkeit lebe ich es sehr bewusst. Was macht eine gute Sterbebegleitung aus? Sterbebegleiter und Sterbebegleiterinnen müssen gut auf eigenen Beinen stehen und gefestigt sein. Lebenserfahrung müssen sie haben und tolerant sein. Man muss kommunikativ sein und gute Gesprächsführung übernehmen NOVAcura 1/16
«Da hat jemand 85 Jahre gelebt und innerhalb von einer Viertelstunde ist er weg – und was ist dann? Das ist ja offen, wir wissen es nicht. Das ist wirklich unser letztes Mysterium. Wir wissen nicht, was sein wird. Wir glauben, doch sicher sind wir nicht.» Foto: Lea Frei
können. Es ist eine anspruchsvolle Arbeit, welche Professionalität und Respekt erfordert. Man muss präsent sein und den Überblick bewahren. Wichtig sind Empathie, Vertrauen und Verständnis. Man muss auch gewillt sein, sich mit dem Thema Tod und Sterben auseinanderzusetzen. Sterbebegleitungen sind ganz tief erlebte Momente und gleichzeitig eine sehr bereichernde Tätigkeit. Ich bekomme viel Wertschätzung und Anerkennung, das tut gut. Oft denke ich, manche Menschen sterben sehr schnell. Da hat jemand 85 Jahre gelebt und innerhalb von einer Viertelstunde ist er weg – und was ist dann? Das ist ja offen, wir wissen es nicht. Das ist wirklich unser letztes Mysterium. Wir wissen nicht, was sein wird. Wir glauben, doch sicher sind wir nicht. Glauben ist eine Gnade, es ist ein Geschenk, aber wir wissen dennoch nicht, was sein wird. Es bleibt offen, was nach dem Tod sein wird. Aber Angst macht mir das keine. Lea Frei, MAS Kulturmanagement Praxis, arbeitet als freie Journalistin in den Bereichen Kultur, Gesundheit und Soziales und ist für Ageing Nepal tätig, eine Organisation, die sich für die Anliegen älterer Menschen in Nepal einsetzt. leafrei@bluemail.ch © 2016 Hogrefe
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«Alterssuizide stossen in unserer Gesellschaft zunehmend auf Akzeptanz» Interview mit Heinz Rüegger Stefan Müller Heinz Rüegger ist Theologe, Ethiker und Gerontologe. Er arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Institut Neumünster (Zollikerberg) und ist Autor verschiedener Bücher über das Sterben. E-Mail: heinz.rueegger@institutneumuenster.ch
Mit dem Thema Suizidbeihilfe sieht sich das Pflegepersonal immer häufiger konfrontiert, insbesondere in der Langzeitpflege. Aber wie reagiere ich als Pflegende, als Pflegender darauf? Wie soll ich mich verhalten? Der Theologe, Ethiker und Gerontologe Heinz Rüegger versucht, sich in einem Gespräch diesen Fragen anzunähern.
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err Rüegger, die Suizidbeihilfe hat sich in der Schweiz, im Vergleich zu den Nachbarländern, schon ziemlich etabliert. Sehen Sie das auch so? Ja. Suizidbeihilfe ist in der Schweiz grundsätzlich rechtlich erlaubt, wenn sie nicht aus eigensüchtigen Motiven erfolgt. Vor allem Organisationen wie «Exit» haben viel dazu beigetragen, Suizidbeihilfe zu enttabuisieren und ihre Durchführung nach klaren Regeln sorgfältig und verantwortlich zu gestalten. Die Zahl der Exit-Mitglieder nimmt derzeit schweizweit stark zu. Allerdings stellt die Option eines begleiteten Suizids für die überwiegende Mehrheit der Exit-Mitglieder nur eine Absicherung für den schlimmsten Fall eines unerträglichen Lebensendes dar; die meisten sterben eines ganz natürlichen Todes. In der Schweiz stellen begleitete Suizide übrigens nur zirka 0,7 Prozent aller Todesfälle dar, sind also quantitativ ein Randphänomen, auch wenn sie den öffentlichen Diskurs über Sterbehilfe dominieren. Viel wichtiger wäre, das Phänomen passiver Sterbehilfe, also den Verzicht auf lebensverlängernde therapeutische Massnahmen, ins Zentrum der heutigen Sterbe(hilfe)diskussion zu stellen. Denn hier stellen sich heute die meisten Fragen im Blick auf ein würdiges, selbstbestimmtes Sterben.
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Was für eine Haltung besteht in unserer Gesellschaft gegenüber Alterssuiziden? Alterssuizide, gerade wenn sie von hochbetagten, multimorbiden Personen als begleitete Suizide vollzogen werden, stossen in unserer Gesellschaft zunehmend auf Akzeptanz, weil viele davon ausgehen, sie seien Ausdruck eines freien Entschlusses von Menschen, die genug vom Leben haben und einen leichten, selbst bestimmten Abgang einem längeren Sterbeprozess in Gebrechlichkeit vorziehen. Man spricht dann von einem wohl überlegten «Bilanz-Suizid» oder «Altersfreitod». Was braucht es heute in Bezug auf Alterssuizide vor allem: Prävention? Respekt vor der Autonomie einer suizidwilligen Person oder Sorgfaltskriterien zur Kontrolle von Sterbehilfeorganisationen? Ich sehe hier kein «entweder-oder», sondern ein notwendiges «sowohl-als-auch». Prävention soll verhindern, dass alte Menschen, denen mit entsprechenden medizinischen, psychologischen, sozialen oder seelsorglichen Interventionen geholfen werden könnte, in Notlagen und aus Verzweiflung am Leben einen Suizid begehen. Hier ist die Solidarität der Gesellschaft gefragt. Respekt vor der Autonomie verlangt, die Entscheidung eines Menschen ernst zu nehmen, der sein Leben durch einen (hoffentlich sorgfältig begleiteten!) Suizid beenden will. Es soll zwar alles Sinnvolle und Mögliche versucht werden, um den Lebenswillen eines Menschen zu stärken. Aber einen Menschen zum Leben zwingen zu wollen, wäre ethisch verwerflich. Und was die Formulierung von Sorgfaltskriterien im Umgang mit Suizidbeihilfe betrifft, wie sie etwa die Nationale Ethikkommission im Bereich Humanmedizin NEK formuliert hat, so können diese wirksam zu einem sensiblen und differenzierten Umgang mit Suiziden beitragen. Wie kann man Menschen beraten, die mit dem Gedanken spielen, durch einen begleiteten Suizid aus dem Leben zu scheiden? Wichtig ist: Die Situation weder aufgeregt dramatisieren noch moralisch-wertend beurteilen, sondern zu allererst einmal den Menschen und seine Absichten radikal ernst nehmen, ihm zu verstehen geben, dass man ihn nicht verurteilt, sondern verstehen will. Das schliesst nicht aus, in einem offenen Gespräch zu sondieren, warum das Gegenüber einen Suizid erwägt und ob es sich über NOVAcura 1/16
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mögliche Alternativen informiert hat. Beratung sollte die Möglichkeit eröffnen, den Plan eines begleiteten Suizids nochmals zu überdenken. Dabei ist es nicht Aufgabe der Beratung, jemanden partout von einem geplanten Suizid abzubringen. Aufgabe kann nur sein, alles daran zu setzen, dass niemand aus einem unüberlegten Affekt oder aus mangelnder Kenntnis möglicher Alternativen glaubt, seinem Leben durch Suizid ein Ende setzen zu müssen. Heute haben wir die Freiheit selbst zu entscheiden, wann wir aus dem Leben scheiden wollen. Doch wie frei sind wir dabei wirklich? Das Sterben hat sich im Verlauf der Zeit gewandelt. Sterben wurde institutionalisiert und professionalisiert: Es findet mehrheitlich in Spitälern und (zunehmend) in Heimen statt und wird dort von Ärzten und Pflegenden überwacht. Das kann sehr hilfreich sein, kann aber auch Ängste wachrufen, im Sterben professionell fremdbestimmt zu werden und (vor allem in Spitälern) unter die Handlungslogik einer High-Tech-Medizin zu geraten, der man hilflos ausgeliefert ist. Kommt dazu, dass Sterben heute nicht mehr einfach Schicksal ist, das es zu akzeptieren gilt, sondern immer mehr zu einem «Machsal» (O. Marquard) wird, über das man selber bestimmen kann und muss. Das kann als Zugewinn an Freiheit empfunden werden, aber auch als überfordernde Zumutung. In unserer ganzen Kulturgeschichte war die Verbindung von Sterben und eigenem Entscheiden über eben dieses Sterben nur in der Situation von «Selbstmördern» (wie man früher sagte) gegeben. Und um diese Situation – eine Art Sünde par excellence – zu verhindern, wurden kulturell alle möglichen sozialen, politischen, religiösen und familiären Tabus aufgebaut. Heute ist durch die Möglichkeiten der Lebensverlängerung, durch moderne Medizin das selbstbestimmte Sterben mehrheitlich zu einem «Muss» geworden, dem viele Menschen auf dem Hintergrund der angetönten Kulturgeschichte mentalitätsmässig noch gar nicht gewachsen sind. Wie stark ist der Einfluss von Medizin und Religion auf unsere heutige Haltung gegenüber dem Sterben? Unsere Gesellschaft hat die Begleitung des Sterbens an zwei Instanzen und ihre professionellen Vertreter delegiert: die Medizin und die Religion. Sowohl die Medizin als auch die christliche Theologie haben herkömmlicherweise ein negatives Todesverständnis vertreten. Die Medizin sah und sieht heute noch oft den Tod eines Patienten als ihren Todfeind, den es mit allen Mitteln zu bekämpfen gilt. Die offizielle kirchliche Lehrvorstellung vom Tod ist quer durch alle Konfessionen hindurch, dass der Tod etwas Negatives ist, Strafe für die Sünde Adams (Röm. 6,23) und der grösste Feind des Menschen (1. Kor. 15,26). Beide Einstellungen, die medizinische wie die theologische, sind nicht sehr hilfreich im Blick auf die Begleitung von Menschen beim Sterben. Glücklicherweise ändert sich diese Einstellung in Medizin und Kirche langsam und weicht einem Verständnis des Todes und des Sterbens als etwas, NOVAcura 1/16
das zutiefst zu menschlichem Leben gehört und zu gegebener Zeit akzeptiert und hilfreich begleitet werden soll. Vor allem die Palliative Care-Bewegung trägt heute wesentlich zu diesem Umdenken bei. Es ist immer wieder die Rede von einem «würdigen, selbstbestimmten Sterben». Was heisst das eigentlich? Viele Menschen verstehen unter einem «würdigen» Sterben, ein Sterben, das möglichst rasch und schmerzfrei, ohne längere vorausgehende Phase der Pflegebedürftigkeit geschieht. Ferner gehört zu einem «würdigen» Sterben die Vorstellung, dass man bis zuletzt bei klarem geistigem Bewusstsein ist, den Sterbeprozess tapfer erträgt und letztlich die Kontrolle über sich, seinen Körper (zum Beispiel Ausscheidungen) und den Vollzug des Sterbens behält, also selber bestimmen kann, wann, wo und wie man sterben will. Ein solches Wunschbild eines leichten Sterbens ist in vielen Fällen unrealistisch. Zu meinen, man müsse diese Idealform des Sterbens verwirklichen, um «würdig» zu sterben, setzt nur unter Druck und ist dementsprechend inhuman. Was verstehen Sie unter Menschenwürde? Menschen-Würde ist ein Anspruch auf Respekt, auf Lebensschutz, auf Selbstbestimmung und auf Grundrechte, der jedem Menschen unverlierbar zukommt, einfach weil er oder sie Mensch ist. Diesen Würde-Anspruch kann man im Sterben nicht verlieren, auch nicht in einem mühsamen Sterbeprozess. In Würde sterben können heisst: umgeben von Menschen sterben können, die mich bis zuletzt respektieren, mir wohlwollend zugewandt sind, meinen Willen ernst nehmen und mir so gut wie möglich helfen, mein Sterben erträglich, vielleicht gar friedlich zu durchleben. Das Sterben in Würde ist also nicht eine Aufgabe der Sterbenden, sondern eine moralische Verpflichtung derer, die eine sterbende Person begleiten.
Literatur Rüegger, H. (2004). Sterben in Würde? Nachdenken über ein differenziertes Würdeverständnis, TVZ (2. Aufl.): Zürich. Rüegger, H. (2009). Das eigene Sterben. Auf der Suche nach einer neuen Lebenskunst. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht (kann beim Autor für CHF 10.00 bezogen werden) Knellwolf, U., Rüegger, H. (2006). In Leiden und Sterben begleiten. Kleine Geschichten – ethische Impulse. TVZ: Zürich Borasio, G. D. (2014), Selbst bestimmt sterben. Was es bedeutet. Was uns daran hindert. Wie wir es erreichen können. Beck: München NEK, Stellungnahme Nr. 13/2006: Sorgfaltskriterien im Umgang mit Suizidbeihilfe: Bern Stefan Müller arbeitet als freier Journalist in Zürich. stefan.mueller09@sunrise.ch
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Student mit 46 Lea Frei
Nach über zwanzig Jahren Tätigkeit im Pflegeberuf nochmals eine Ausbildung starten. «Das ist ein grosser Schritt», findet Manuel Vogel. Doch er hat ihn gewagt. Pflegefachmann HF möchte er werden. Er hat sein Arbeitspensum reduziert und studiert seit Anfang diesen Jahres berufsbegleitend.
Vom Handwerker zum diplomierten Pflegefachmann
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anuel Vogel hat einen speziellen Werdegang. Nicht nur, weil er mit 46 Jahren noch studiert. Ursprünglich war er Handwerker. Als Fahrzeugschlosser hat er sich mit grossen und kleinen Gefährten beschäftigt. Das Fertigen von besonderen Aufbauten und Anhänger für Personen-, Nutz- und Spezialfahrzeuge war während seiner Lehre und anschliessend während weiteren acht Jahren sein Fachgebiet. Schon damals hat Manuel Vogel gerne Menschen unterstützt, die seine Hilfe brauchen konnten. Er hat in seiner Freizeit bei älteren Leuten im Garten oder bei Arbeiten am Haus geholfen. Er ist dort eingesprungen, wo Menschen nicht mehr alleine zurecht kamen. Der damalige Handwerker war fasziniert von den Begegnungen mit älteren Menschen: «Sie bringen einen Rucksack voller Erfahrungen mit, sie haben Lebenserfahrung. Ihre Erlebnisse und Prägungen interessieren mich. Vielen ist es nicht einfach ergangen. Auch die schönen Dinge des Lebens finde ich spannend. Es ist für mich immer etwas Wunderschönes zuhören und teilnehmen zu können.» Als sich dann die Gelegenheit ergab, in ein Heim in Langenthal reinzuschauen und zu schnuppern, war für Manuel Vogel klar, wo sein Weg hinführt: in die Langzeitpflege. So hat er die Ausbildung zum Betagtenbetreuer (entspricht dem heutigen Fachmann-Betreuung) absolviert. Acht Jahre arbeitete Manuel Vogel im Pflegeberuf. Doch dann kamen Zweifel auf. «Ich wusste nicht, ob ich da wirklich Zuhause bin», so sagt er heute. Deshalb packte er seine Sachen und zog mit seiner ganzen Familie zurück in die Innerschweiz in seine ursprüngliche Heimat, nach Obwalden, um dort einen Neustart als Handwerker zu wagen. Das Intermezzo war kurz. «Ich habe das damals irgendwie gebraucht», sagt Manuel Vogel heute. Schon nach einem © 2016 Hogrefe
«Ich bin verheiratet, habe drei Kinder und mache jetzt die berufsbegleitende Ausbildung zum Pflegefachmann.» So stellt sich Manuel Vogel vor, als ich ihn zu einem Interview an seinem Arbeitsplatz im SENIOcare Wohn- und Pflegezentrum Fischermätteli in Bern treffe. Der 46-Jährige wohnt mit seiner Familie in der Gemeinde Busswil im Kanton Bern und macht nach langjährigem Arbeiten als Betagtenbetreuer eine Ausbildung zum diplomierten Pflegefachmann HF. «Es war eigentlich immer schon mein Wunsch, etwas in diese Richtung zu machen; nur… wie soll ich sagen… die Zeit hat bis dahin einfach nicht gestimmt.», so ergänzt er sein erstes Statement. Vor ein paar Jahren wäre eine weitere Ausbildung für Manuel Vogel nicht in Frage gekommen. Familie, Ausbildung und Arbeit hätte er damals nicht vereinbaren können. Heute ist das anders: «In der jetzigen Situation ist es einfacher, alles unter einen Hut zu packen», findet der Studierende. Die Kinder sind mit 11, 16 und 17 Jahren aus dem «Gröbsten raus» und die beiden Älteren bringen dem Vater besonders viel Verständnis entgegen, da sie selber auch in Ausbildung sind. «So bin ich an den Punkt gelangt, wo ich sagen musste: Jetzt packe ich es an, je früher je besser.» Seit Frühling 2015 arbeitet Manuel Vogel nur noch Teilzeit bei der SENIOcare in Bern und drückt neben seiner Tätigkeit monatlich fünf bis sechs Tage die Schulbank im Zentrum für Ausbildung und Gesundheit in Winterthur.
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Administrative Tätigkeiten sind neben der Hinwendung zum Menschen Teil des Arbeitslebens von Manuel Vogel. Die Dokumentation des Pflegeprozesses nimmt heute einen immer grösseren werdenden Stellenwert ein und ist Teil des erweiterten Wissens durch die Ausbildung HF. Fotos: Lea Frei
Dreivierteljahr musste er aber sagen: «Nein, das ist es nicht mehr.» Die Aufgaben in der Langzeitpflege fehlten ihm. Also zog er zurück in den Kanton Bern. Dieser Weg führte ihn zu seinem heutigen Arbeitgeber, zur SENIOcare, wo er während zwölf Jahren im Wohn- und Pflegeheim Lindenegg arbeitete. «Ich habe dort viel gelernt», sagt Manuel Vogel. «Ich wurde mit Demenz konfrontiert, hinterfragte vieles, vor allem auch, wie es überhaupt zu dieser Krankheit kommt. Vieles von meinem heutigen Wissen konnte ich aus dieser Auseinandersetzung mit dem Thema ableiten.» Dieses Verständnis hilft ihm heute, die Menschen dort abzuholen, wo sie sind. Anfang 2015 wechselte Manuel Vogel seinen Arbeitsort, aber nicht den Arbeitsgeber. Denn im SENIOcare Fischermätteli konnte man ihm den entsprechenden Berufsbildner für seine Ausbildung zur Seite stellen. Das Wohn- und Pflegezentrum Fischermätteli liegt mitten in der Stadt Bern. Es hat 80 Pflegebetten und verfügt über 21 Seniorenwohnungen. Manuel Vogel arbeitet mit einer Anstellung von 70 Prozent in der Wohngruppe ‹Panorama›, einer Abteilung, in der auf drei Stockwerken 36 ältere Menschen leben. Er trägt den Titel ‹Pflegefachmann HF in Ausbildung›. Er hat aber dazu die Position des stellvertretenden Wohngruppenleiters inne und übernimmt somit auch zwischendurch mal die Führung der Abteilung. Seine langjährige Berufserfahrung bietet die Qualifikation dazu. NOVAcura 1/16
Die Theorie liegt Jahre zurück Je nachdem ob Manuel Vogel Früh- oder Spätdienst hat, startet er seinen Tag um sieben Uhr früh oder am frühen Nachmittag. Sein Alltag ist abwechslungsreich. «Es gibt allerhand zu tun», erklärt er. Rapport am Morgen, Pflege von Bewohnerinnen und Bewohnern, Medikamentenausgabe und Behandlungspflege sind nur eine Auswahl seiner Tätigkeiten. «Abwechslungsreich und manchmal auch anstrengend», so beschreibt er seinen Arbeitsalltag. Besonders die Arbeit in Schichten könne schon herausfordernd sein, findet er. Doch noch früher als für den Frühdienst geht Manuel Vogel aus dem Haus, wenn er zur Schule muss. Im Schnitt ein- bis zweimal pro Woche muss der Studierende um fünf Uhr aus den Federn, damit er es rechtzeitig ins Zentrum für Ausbildung und Gesundheit in Winterthur schafft. Trotz langem Schulweg hat er sich ganz bewusst für diese Ausbildungsstätte entschieden. «Speziell ist, dass die Ausbildung in Module gegliedert ist und ich weiterhin bei meinem Arbeitgeber arbeiten kann.» Die Module wählt er auf einer Plattform im Internet aus, wobei er der vorgegebenen Struktur des Studiums folgt, aber dennoch Freiheiten bezüglich der Wahl der Reihenfolge hat. Diese Art des Studiums sieht der Studierende als grossen Vorteil, sodass er den langen Weg gerne in Kauf nimmt. Auf dem Schulweg hat Manuel Vogel seinen Laptop im Gepäck. «Ich gehe immer mit dem öffentlichen Verkehr © 2016 Hogrefe
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nach Winterthur. Zwei Stunden sind lang. Aber ich kann mich ein bisschen ausruhen, oder für meine Ausbildung vor- oder nachbereiten. So ist die Fahrt kurzweilig.» Oft kommt es ihm beim Aussteigen vor, als sei er eben erst eingestiegen. Manuel Vogel profitiert bei seinem Studium von seiner langjährigen Erfahrung im Pflegebereich. In Bezug auf die praktische Erfahrung hat er verglichen mit seinen Mitschülerinnen und Mitschülern natürlich einen Vorsprung. Dies vor allem darum, weil er doch schon einiges erlebt hat und Verantwortung übernehmen durfte. Was aber die Theorie angeht, da spürt er seine Defizite: «Andere sind schon eher etwas weiter als ich. Meine Ausbildung zum Betagtenbetreuer liegt bereits Jahre zurück, da muss ich nun wirklich wieder bei null anfangen.» Manuel Vogel ist froh, dass er auf die Unterstützung seiner Familie zählen kann. «Es braucht das Verständnis der Kinder und natürlich auch das meiner Frau. Sie nimmt mir sehr viel ab, damit ich genügend Zeit habe, am Wochenende meine Hausaufgaben zu machen.» Beruhigend ist für ihn auch, dass er nicht der Einzige ist, der sich beim Lernen «stark reinhängen» muss. Manuel Vogels Mitstudenten haben unterschiedliche Ausbildungshintergründe dies spiegelt sich auch im Wissensstand in den verschiedenen Studienbereichen wider.
Vertrauen im Team Nicht nur beim Alter tanzt Manuel Vogel aus der Reihe. Auch als Mann unter vielen Frauen nimmt er im Pflegeberuf eine Sonderstellung ein. «Als ich vor Jahren meine erste Ausbildung machte, war die Anzahl der Männer sehr klein. Auf 15 Frauen trafen, wenn es hoch kam, zwei Männer.» Heute gibt es aber für ihn spürbare Veränderungen bezüglich der Geschlechterverteilung: «Es fällt auf, dass der Männeranteil in den Pflegeberufen grösser wird. Doch noch immer überwiegt der Frauenanteil.» Gestört hat es Manuel Vogel aber nie, in seinem Beruf einer geschlechtlichen Minderheit anzugehören. Im Gegenteil: Er habe nie Probleme mit der grossen Anzahl Frauen gehabt, so beteuert er und habe das einfach so angenommen. «In der Praxis spüre ich, dass die Mischung eine gute ist. Man respektiert sich gegenseitig und die Frauen sagen immer, dass sie froh sind, wenn ein Mann im Team mit dabei ist.» Dass er auf die Unterstützung und den Zusammenhalt seines Teams zählen kann, ist für Manuel Vogel bedeutend. Besonders deutlich spürbar war die positive Haltung seiner Mitarbeitenden für ihn, als er sich für seine aktuelle Ausbildung entschieden hat. «Ich fühlte mich sehr gut im Team aufgehoben. Ich habe von Anfang an die volle Unterstützung erhalten», betont er. Die Absicht zu studieren ist zwar von ihm gekommen. Von dem Moment an, als er den Gedanken geäussert hatte, sei aber das ganze Team hinter ihm gestanden. «Obwohl ich selber manchmal an mir zweifelte, haben sie mich dazu bewegt, diesen Weg tatsächlich zu gehen. Das bedeutet mir viel.» © 2016 Hogrefe
Horizonterweiterung Die Ausbildung zum Pflegefachmann HF bereitet Manuel Vogel Freude: «Spannend ist vor allem, dass man dadurch grössere Kompetenzen erhält und mehr Aufgaben übernehmen kann.» Auch erleichtern ihm seine neugewonnenen Kenntnisse das administrative Arbeiten, mit welchem er im Pflegealltag häufig konfrontiert ist. «Die Dokumentation des Pflegeprozesses nimmt heute einen immer grösseren werdenden Stellenwert ein. Als Fachmann-Betreuung ist man einfach nicht auf demselben Wissensstand wie ein Pflegefachmann.», erklärt Manuel Vogel und freut sich, dass er mit seinem künftigen Berufsabschluss ein Niveau erreichen kann, das ihm ermöglich gegenüber seinen Mitarbeitenden und den Bewohnerinnen und Bewohnern mehr Verantwortung zu übernehmen. «Ich denke, ich bin auf einem guten Weg», reflektiert der Studierende seine Entscheidung für die Ausbildung. Um am Ball zu bleiben, muss Manuel Vogel seinen Fokus auf theoretisches Fachwissen setzen. Für ihn sei aber klar, dass der Umgang mit den Bewohnerinnen und Bewohnern heutzutage immer auch eine Herausforderung im Alltag darstelle. Besonders wichtig ist für ihn diesbezüglich, dass die eigentliche Pflege und Betreuung nicht zu kurz kommt. Er hofft, dass er seine Wurzeln, die in der direkten Betreuung liegen, niemals vergisst. «Es geht mir bei meiner Arbeit um die Menschen, die ich betreue. Ich möchte trotz tickendem Faktor Zeit mit den Bewohnerinnen und Bewohnern zusammen sein können», betont er. Auf Grund all der Strukturen im Pflegealltag und der Zunahme administrativer Tätigkeiten, gelte es sich immer wieder bewusst dafür einzusetzen, dass die Pflege nicht zu kurz komme. Klar ist für ihn: Trotz guter Ausbildung wird die Pflege und der Umgang mit den Bewohnerinnen und Bewohnern einer Pflege-institution immer mit Herausforderungen verbunden sein. Manuel Vogel ist bescheiden und steckt seine Ziele nicht zu hoch. Ein recht grosser Schritt war es für ihn, nach all den Jahren wieder zur Schule zu gehen. Darum betont er: «Wenn ich den Abschluss schaffe, bin ich sehr zufrieden mit mir.» Im Moment ist er glücklich mit seiner beruflichen Position. Schliesslich kommt im Rahmen seiner Ausbildung fortlaufend viel Neues auf ihn zu. Er müsse erst lernen, dieses in der Praxis umzusetzen, findet der motivierte Spätstudierende. «Wenn ich in etwa zweieinhalb Jahren mein Ziel erreicht habe, hoffe ich, weiterhin als stellvertretender Wohngruppenleiter oder vielleicht sogar als Wohngruppenleiter arbeiten zu können.» Mehr beabsichtigt er nicht. Im Moment geht es ihm darum, Wissen anzueignen. Danach will er weiterschauen. Sicher möchte er weiterhin in der Langzeitpflege tätig sein. Lea Frei, MAS Kulturmanagement Praxis, arbeitet als freie Journalistin in den Bereichen Kultur, Gesundheit und Soziales und ist für Ageing Nepal tätig, eine Organisation, die sich für die Anliegen älterer Menschen in Nepal einsetzt.leafrei@bluemail.ch
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In Teilzeit zur Pflegefachkraft Jens Gieseler
Gardenia Ahmed freut sich jeden Tag. Sie lernt einen neuen Beruf, verdient dabei Geld und kann sich noch um ihren neunjährigen Sohn kümmern. Nach
Endzeitpunkte ermöglichen. Es sei in dieser Form eine pädagogische (neue Ziele, neue Methoden) und eine technologische (neue Technologien) Innovation.
zehn Jahren zu Hause kam die alleinerziehende Chemielaborantin wegen der technologischen Entwicklung in ihrem alten Job nicht mehr unter – wollte sie auch nicht: «Ich möchte lieber mit Menschen arbeiten.» Auf dem Arbeitsamt stiess sie auf das Pilotprojekt des Bildungszentrums Gesundheit Basel-Stadt (BZG).
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m Bildungszentrum Gesundheit Basel-Stadt (BZG) können seit Mai 2013 Interessierte mit grosser Flexibilität den Pflegeberuf erlernen: Montag bis Mittwochmittag die Schulbank drücken. Den Rest der Woche zu Hause am PC Aufträge bearbeiten. Daneben das kleine Kind betreuen oder Geld für den Lebensunterhalt hinzuverdienen. So lassen sich für die Lernenden Familie, Beruf und Ausbildung vereinen. Umgekehrt: So lässt sich für Spitäler und Pflegeeinrichtungen eine neue Klientel gewinnen, um den prognostizierten Pflegebedarf und auch das steigende Bedürfnis nach flexiblen Nachqualifizierungen decken zu können.
Bildungszentrum Gesundheit Basel-Stadt gewinnt IT-Innovationspreis der Pflege Mit dem Projekt gewann das BZG kürzlich den IT-Innovationspreis 2015 des Deutschen Pflegerates (DPR) und der Easysoft GmbH. Der fünfköpfigen Jury aus Pflegeverbänden und Wissenschaft war diese komplexe Problemlösung 10.000 Euro Preisgeld wert. Easysoft-Geschäftsführer Andreas Nau, der zusammen mit DPR-Präsident Andreas Westerfellhaus den Preis auf dem Deutschen Pflegetag überreichte, sagte: «Das Ausbildungskonzept spricht neue Zielgruppen an, setzt neue Formen des Lehrens und Lernens ein und erhält dabei den Klassenverband.» Erstmalig würde in einer Ausbildung nämlich systematisch ein blended Learning Konzept umgesetzt, verbunden mit flexiblen Arbeitszeitmodellen, die unterschiedliche Einstiegs- und NOVAcura 1/16
Verkürzung der Ausbildung Bereits seit Jahren schliessen etwa 150 Teilnehmer jährlich beim BZG den Bildungsgang Pflege HF ab: der dauert in Vollzeitausbildung drei Jahre. Dasselbe Curriculum durchlaufen demnächst bis zu 25 Studierende als Teilzeitausbildung – zwischen 60 und 80 Prozent je nach finanziellen und familiären Rahmenbedingungen und je nach Vorkenntnissen mit einem unterschiedlichen Einstiegszeitpunkt. So begannen vor zwei Jahren zehn Absolventen, die kaum über pflegerisches Wissen verfügten, mit der ersten Stufe, wie etwa Gardenia Ahmed. Dagegen stiegen weitere neun Fachleute Gesundheit (FaGe) direkt im 2. Bildungsjahr ein. Für sie beträgt die Ausbildungszeit lediglich 3.600 Lernstunden in Theorie und Praxis statt der üblichen 5.400 Stunden. Und wer eine dreijährige Ausbildung zur Gesundheits- und Krankenpflege bereits hinter sich hat, kann sogar in der 3. Stufe (3. Ausbildungsjahr) beginnen und benötigt nur noch 1.200 Stunden. Jede Stufe und jedes Lehrjahr umfasst zwei Schulblöcke und zwei Praktika. Der schulische Teil entspricht einem Teilzeitpensum von 70 Prozent gegenüber der Vollausbildung. Von den 900 Lektionen sind 770 durch das Curriculum inhaltlich festgelegt und werden in der Schule und zu Hause als e-Learning absolviert. Die restlichen 130 Lektionen stehen für individuelles Selbststudium zur Verfügung. Die Arbeitszeit für die obligatorischen Praktika beträgt je nach individueller Belastbarkeit zwischen 60 und 80 Prozent. Da die Dauer insgesamt gleich ist, bleiben die «60-Prozentigen» eben länger in der Ausbildung.
Nur neue Gefässe «Diese hohe Flexibilität ist schon ganz schön kniffelig», gibt Bernd Haag zu, «im Prinzip sind jeweils 25 individuelle Lösungen möglich.» Der Leiter Fachstelle mediengestütztes Lernen entwickelt das Projekt zusammen mit Brigitte Rappl, der Programmleiterin Teilzeitausbildung BG Pflege HF.TZ. und Charles Graf, dem Leiter der Ausbil© 2016 Hogrefe
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Den 2. Platz erreichte die Höher Management GmbH aus Bitterfeld mit einer «MOOC-Plattform», die unterschiedliche kostenlose Kurse für Pflegekräfte sowie Angehörige und sonstig Interessierte verbindet. Obwohl die Inhalte der Curricula qualitativ einzelnen beruflichen Bildungsgängen der Alten- und Krankenpflege entsprechen, bauen sie gleichzeitig Lernbarrieren ab. Damit gestaltet sich einerseits die Qualifizierung von Personal effektiver und effizienter, andererseits schlägt es die Brücke zwischen formeller Lehre und informeller Lehre und es entsteht ein Mehrwert für die Laienpflege, urteilte die Jury. Den 3. Platz erreichte die Hochschule für Angewandte Wissenschaften in München mit dem IT-unterstützten Planspiel «QM-Audit in der Pflege». Die Studierenden können im Planspiel den Ablauf eines QM-Audits für eine Langzeitpflegeeinrichtung erleben, in verschiedene Rollen «schlüpfen» und ihr Interaktionshandeln reflektieren und spielerisch erweitern. Alle nominierten Projekte mit den Beschreibungen können Sie auf der Internetseite www.easysoft.info abrufen.
Ausbildung reserviert, denn wöchentliche Lernkontrollen müssen bis Sonntagabend erledigt sein. Diese festgelegte Arbeitsstruktur hilft ihr kontinuierlich zu lernen. In ihrer Schulzeit ist die Familienorganisation noch relativ einfach zu erledigen. Der Sohn ist beim Mittagstisch und bis 18 Uhr in der Nachmittagsbetreuung. Trotzdem: Ohne Unterstützung durch ihre Mutter käme sie ab und zu in Not.
Praktikum problematisch Teilnehmerinnen der Teilzeit-Pflegeausbildung diskutieren über E-Learning-Aufgaben. Foto: BZG Basel
dungsentwicklung. Das Team trifft sich regelmässig und plant strategisch die nächsten Lernschritte. «Das Konzept steht schliesslich», sagt der 53-Jährige, der schon durch seine Ausbildung Pflege und Pädagogik verbindet, «wir giessen es nur in neue Gefässe». Diese Umsetzung erfolgt relativ zeitnah, so bekommen die Drei unmittelbares Feedback von den Auszubildenden, ob der Stoff zu komplex für die Heimarbeit ist oder zu viel Zeit beansprucht. «Es gibt starke Lernphasen», meint Gardenia Ahmed – gerade jetzt zum Ende des zweiten Bildungsjahres ist der Stoff reichlich dicht. Aber genau weil die Teilzeitausbildung ein Pilotprojekt ist, erwartet sie nicht, dass alles rund läuft und freut sich, dass die Klasse bei der Ausbildungsleitung auf offene Ohren trifft und gemeinsam Lösungen gefunden werden. Auch wenn ihr Sohn oder Angehörige anderer Teilnehmer mal krank sind. Schliesslich sitzt man im gleichen Boot.
Beispiel E-Learning Nicht alle Studierende sind gleichermassen medienaffin. Entsprechend mehr Unterstützung benötigen und bekommen sie. Allerdings ist der Umgang mit dem Programm bewusst simpel gestrickt, damit die Teilnehmer minutenschnell zum Lernen kommen und sich nicht mit technischem Schnickschnack aufhalten. Bernd Haag: «Wir haben die Technik gezielt nüchtern gehalten, denn es geht uns um die Inhalte.» Vor allem Selbstdisziplin ist beim E-Learning gefragt. Am Donnerstagvormittag kann Gardenia Ahmed konsequent lernen, weil ihr Sohn in der Schule ist. Ebenso sind am Samstag und Sonntag die frühen Morgenstunden für die © 2016 Hogrefe
Wesentlich problematischer sind die Praktikumszeiten, wenn Schichtdienst üblich ist – von 7 bis 16 Uhr oder von 13 bis 22 Uhr. Auch wenn der Neunjährige während der Frühschicht morgens eine Stunde allein zu Hause bleibt, ist dann nicht nur ihre Mutter, sondern hin und wieder auch der Bruder gefragt. Wenn alles glatt läuft, hat sie ihre Ausbildung im Februar 2017 abgeschlossen. Ihr Ziel ist es, eine Arbeit im Kinderspital oder einer Wochenbettabteilung zu finden. Das motiviert die gebürtige Baselerin durch die freizeitarmen Jahre. Von dem Engagement der Teilnehmer ist Bernd Haag begeistert: «Diese Menschen besitzen Lebenserfahrung und haben sich für die Ausbildung in der Pflege entschieden.» Sehr zielgerichtet gehen sie diesen Abschluss an und wissen in welchem Beruf und mit welcher Verantwortung sie arbeiten werden. Dabei waren die Studierenden in der ersten Phase aufgrund der geringen Gruppengrösse erwartungsgemäss besonders herausgefordert. Mit der zweiten Phase und weiteren neun Teilnehmern bekam nicht nur die Gruppendynamik einen neuen Schub, gleichzeitig kamen in Pflegeberufen Erfahrene in die Klasse und gaben den Jüngeren neue Impulse. Inzwischen haben Bernd Haag und seine beiden Kollegen aufgrund des Pilotprojektes vermehrt Anfragen von anderen Schulen, Bildungs- und Pflegeeinrichtungen bekommen. Doch ihres Wissens an ein vergleichbares Teilzeit-Projekt hat sich bisher niemand herangetraut. Jens Gieseler, freier Journalist und staatlich geprüfter Heilpraktiker für Psychotherapie. der-gieseler@web.de
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Techniknutzung im Alter Alexander Seifert
Technische Geräte gehören zum Alltag des Menschen. Dennoch zeigt sich, dass ältere Personen seltener als jüngere neue technische Geräte wie einen Computer oder ein Smartphone besitzen. Der vorliegende Beitrag nimmt sich der Thematik der unterschiedlichen Akzeptanz von Technik im Alter an und diskutiert anhand neuester Befragungsdaten aus der Schweiz die Technikausstattung älterer Menschen.
I
n fast allen Lebensbereichen lassen sich technische Geräte finden, sei es der Wecker, der uns morgens weckt, sei es das Mobiltelefon, das uns mit einem nahestehenden Menschen verbindet, oder sei es der Computer, mit dem wir Zugang zum Internet haben. Gerade jüngere Menschen leben heute in einer digitalisierten Lebenswelt mit Computern und Smartphones. Anders ist es bei älteren Menschen, die mit diesen Technologien nicht gross geworden sind und somit weniger Berührungspunkte damit hatten. Oftmals fehlen ihnen die nötigen Technikkompetenzen oder sie sehen keinen direkten Vorteil im Erlernen dieser für sie neuen technischen Geräte.
Gerontologische Aspekte der Techniknutzung Im Alter kann sich die körperliche Funktionsfähigkeit verändern, wodurch die Nutzung von Technik eingeschränkt beziehungsweise erschwert sein kann (Claßen et al., 2014). So können altersbedingte körperliche Beeinträchtigungen (zum Beispiel Seh- oder Höreinbussen oder taktile Einschränkungen) oder kognitive Einschränkungen die Nutzung des Computers erschweren. Darüber hinaus können auch sozioökonomische Ressourcen eine Rolle spielen, wenn zum Beispiel ein Internetanschluss aufgrund geringer finanzieller Mittel nicht finanziert werden kann. Ausserdem können personenbezogene Hemmnisse bestehen, wenn zum Beispiel technische Herausforderungen Angst machen. Wird die Lerndynamik bei älteren Menschen berücksichtigt, bedeuten die technologiNOVAcura 1/16
schen Veränderungen nicht nur ein «Neuerlernen» im Alter, sondern auch ein «Erlernen» unter erschwerten kognitiven Bedingungen. Dies führt dazu, dass neue Verhaltensweisen zeitintensiv neu erlernt werden müssen, wobei zudem häufig die Motivation für eine Auseinandersetzung mit der neuen Technik fehlt, da sich die Personen zum Teil sagen: «Es lohnt sich ja nicht mehr in meinem Alter.» Neben den möglichen altersbedingten Beeinträchtigungen sollte beim Thema Technikakzeptanz auch die biografische Technikerfahrung berücksichtigt werden. Da jede Generation mit unterschiedlichen technischen Geräten gross geworden ist beziehungsweise sozialisiert wurde, können – je nach Geburtskohorte – verschiedene Technikgenerationen voneinander unterschieden werden. Sackmann und Weymann (1994) unterscheiden hierbei die frühtechnische Generation (Personen, die vor 1939 geboren wurden), die Generation der Haushaltsrevolution (Personen, geboren von 1939 bis 1948), die Generation der zunehmenden Haushaltstechnik (geboren von 1949 bis 1963) sowie die Computergeneration (Personen, geboren von 1964 bis 1980). In einer neueren Studie konnten Sackmann et al. empirisch bestätigen, dass sich eine neue Technikgeneration entwickelt hat, die sogenannte «Internetgeneration» (Personen, geboren nach 1980). Heutige ältere Menschen wurden eher durch analoge Massenmedien wie Fernsehen und Radio in ihrer Jugend sozialisiert. Sie haben den Computer oder das Mobiltelefon erst als Erwachsene kennengelernt.
Einstellung zur Technik Eine aktuelle Befragungsstudie (Seifert & Schelling, 2015) konnte bei Personen ab 65 Jahren die Technikeinstellung und -nutzung erheben. Hierfür wurden 1.037 Personen in der gesamten Schweiz befragt. Die Studienergebnisse zeigen, dass sich 36 Prozent dieser Personen sehr für neue technische Dinge interessieren. Männer gaben hier öfter als Frauen an, dass sie technikaffin sind. 41 Prozent stimmten der Aussage «Die Bedienung moderner technischer Geräte ist für mich schwierig» eher oder völlig zu; hier waren es vorwiegend Frauen, die dieser Aussage zustimmten. 58 Prozent der befragten Personen können sich ihr Leben ohne technische Geräte nicht mehr vorstellen. © 2016 Hogrefe
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Technikausstattung Heutige ältere Menschen sind weniger mit dem Computer aufgewachsen. So zeigen Daten des Bundesamtes für Statistik, dass zum Beispiel Personen ab 70 Jahren deutlich seltener einen Computer im Haushalt haben als unter 40-Jährige. Im Vergleich mit europäischen Ländern lässt sich diese Spaltung bei der Computernutzung zwischen den Generationen ähnlich ausgeprägt konstatieren: So nutzten 2014 zwar 87 Prozent der Europäerinnen und Europäer im Alter von 35 bis 44 Jahren den Computer innerhalb der letzten drei Monate, aber nur 43 Prozent der Personen im Alter zwischen 65 und 74 Jahren (Eurostat, 2015). Werden die Ergebnisse der Studie von Seifert und Schelling (2015) berücksichtigt, zeigt sich, dass Personen ab 65 Jahren in der Schweiz seltener einen Computer besitzen (siehe Abbildung 1). Einen mobilen Computer (Laptop) besitzen 48 Prozent der Personen im Alter zwischen 65 und 79 Jahren und 18 Prozent der 80- und über 80-Jährigen. Dahingegen besitzen fast alle befragten Personen ein Radio, einen Fernseher oder ein Festnetztelefon. Fernseh- und Radiogeräte gehören schon seit den 1980er Jahren zur Grundausstattung in Haushalten älterer Menschen. Gerade im Alter gewinnt das Fernsehen an medialer Zentralität, auch weil durch die steigende Vulnerabilität und Zentrierung auf das nahe Umfeld die eigene Wohnung stärker zum Lebensmittelpunkt wird (Doh, 2011). Wird die tägliche Nutzung betrachtet (siehe Abbildung 1), zeigt sich, dass der Fernseher von der Mehr-
heit täglich eingeschaltet und das Telefon intensiver von Frauen genutzt wird.
Einmal Computer – immer Computer Ältere Personen, die heute einen Computer besitzen, haben häufig bereits im Berufsleben mit einem Computer gearbeitet. So gaben 41 Prozent der in der Studie von Seifert und Schelling (2015) befragten älteren Menschen an, dass sie bereits vor der Pensionierung viel mit einem Computer gearbeitet hatten. 22 Prozent gaben an, dass sie zumindest etwas damit in Berührung gekommen sind, und 37 Prozent nutzten vor der Pensionierung keinen Computer. Männer hatten im Vergleich zu Frauen vor dem AHVAlter häufiger Kontakt mit dem Computer im Berufsleben. Neben dem stationären Computer wird heute auch viel mit dem Smartphone oder dem Tabletcomputer gearbeitet. Mit diesen mobilen Geräten ist man nicht nur unterwegs erreichbar, sondern man kann damit zum Beispiel auch das Internet mobil nutzen. 38 Prozent der 65- bis 79-Jährigen und 13 Prozent der 80- und über 80-Jährigen besitzen heute bereits ein Smartphone. Einen Tabletcomputer besitzen bereits 30 Prozent der 65- bis 79-jährigen Personen und immerhin 30 Prozent der befragten Personen ab 80 Jahren. Insbesondere bei der Smartphone- und Tabletnutzung lässt sich erkennen, dass hier vor allem Männer diese mobilen Geräte besitzen und täglich einsetzen (siehe Abbildung 1).
BESITZ NACH ALTERSGRUPPEN
NUTZUNG TÄGLICH
65-79
80+
Mann
Frau
TV
95.8
95.5
89.6
88.2
Radio
96.6
92.1
78.8
76.5
Telefon
95.2
96.7
58.9
62.3
Computer
47.9
26.7
*
*
Laptop
48.3
18.4
*
*
Mobiltelefon
74.6
66.3
29.1
21.5
Smartphone
38.4
11.4
28.1
16.1
Tablet
29.7
12.6
18.9
13.6
Abbildung 1. Technikausstattung im Alter, getrennt nach Altersgruppen und Geschlecht. * Daten aus dem Jahr 2014 liegen hier nicht vor
© 2016 Hogrefe
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Hohe Bildung = Smartphone Am Beispiel des Smartphones kann auch gezeigt werden, dass bestimmte Ressourcen eine Nutzung begünstigen. So besitzen Personen mit einer hohen Bildung und einem hohen Einkommen häufiger ein Smartphone. Männer und jüngere Personen gehören eher zu den Smartphonenutzern. Eine gewisse Technikaffinität und die grundsätzliche Verwendung des Computers und Internets begünstigen eine Nutzung des Smartphones. Die Studie zeigte hier auch, dass die Nutzungsformen nicht unbedingt miteinander konkurrieren: So nutzen viele Personen sowohl herkömmliche Medien wie den Fernseher als auch den Computer und das Smartphone täglich; demnach besteht hier eine komplementäre Nutzung. Es kann festgestellt werden, dass in den Haushalten der älteren Personen vorwiegend klassische Informationsund Kommunikationstechniken wie der Fernseher, das Radio oder das Festnetztelefon vorhanden sind, dahingegen weniger ein Computer oder ein mobiles Gerät wie ein Smartphone. Jedoch zeigen die aktuellen Daten auch, dass die Nutzung des Computers und Smartphones an Bedeutung gewinnt und sich in den nächsten Jahren vermutlich stärker der Frequenz der jüngeren Personen angleichen wird. Gerade die Verbreitung des Tablet führt zu der Vermutung, dass solche mobilen Geräte den Einstieg in die digitale Welt des Internets erleichtern könnten, da die Bedienung hier (durch den Touchscreen) teilweise intuitiver ist und nicht unbedingt ein gesamtes Betriebssystem erlernt werden muss.
Unterstützung bei technischen Problemen Die Nutzung von elektronischen Geräten kann auch mit Problemen verbunden sein, beispielsweise, wenn der Fernseher nicht mehr funktioniert. Im Rahmen der Befragung von Seifert und Schelling (2015) konnten die älteren Personen befragt werden, an wen sie sich bei einem Problem wenden würden. Hauptsächlich und zuerst wenden sich die Befragten an die eigenen Kinder (sofern vorhanden), dann an den Fachhandel oder auch an Bekannte und Verwandte. Die Partnerin oder der Partner wird dabei interessanterweise seltener genannt, selbst von Personen im gemeinsamen Haushalt. Etwa 10 Prozent nutzen die Möglichkeit, technische Fachpersonen zu sich in den Haushalt kommen zu lassen. 6 Prozent geben an, dass sie technische Probleme selbst lösen und keine fremde Hilfe benötigen. Demzufolge sprechen die befragten Personen vorrangig das eigene soziale Netzwerk an, bevor sie in den Fachhandel gehen. Hierbei dienen vor allem die eigenen Kinder als wichtige Ressource für technische Probleme; vielleicht sind es gerade auch sie, die neue technische Dinge in den Haushalt der älteren Personen bringen, zum Beispiel, wenn gesagt wird, dass die Mutter oder der Vater doch bitte ein Mobiltelefon nutzen sollten, damit sie im Notfall erreichbar sind. Die Studie zeigte auch, NOVAcura 1/16
dass Personen mit einem technisch interessierten sozialen Umfeld häufiger zur Nutzung (zum Beispiel des Internets) geraten wird. Die Technik allein führt also noch nicht zu ihrer Nutzung, die soziale Unterstützung scheint hier relevanter zu sein. Fehlt diese soziale Unterstützung, kann es sein, dass die Technik zwar vorhanden ist, aber nicht genutzt wird.
Bedeutung für die Betreuungspraxis Die Betreuung von älteren Menschen im ambulanten wie stationären Setting berührt viele Lebensbereiche. Ein Alltagsbereich, der heute stark an Bedeutung gewonnen hat, ist die Auseinandersetzung mit technischen Geräten. Technik im Alltag älterer Menschen ist eine Alltagsrealität. Wie der Beitrag zeigen konnte, bestehen hier aber unterschiedliche Probleme – ob im Zugang zur Technik, in der Akzeptanz oder im Erlernen neuer technischer Geräte. Demzufolge sollte eine Betreuungsarbeit für diese Aspekte sensibilisiert sein und allfällige Unterstützungen vermitteln beziehungsweise mögliche Probleme ansprechen. Gerade die Aktivierung des sozialen Umfelds kann hier förderlich sein. Dabei sollte grundsätzlich eine Nichtnutzung von bestimmten Geräten akzeptiert werden. Darüber hinaus sollten unter anderem Entwickler von neuen technischen Geräten für die gerontologischen Aspekte der Techniknutzung sensibilisiert sein. Der vorliegende Beitrag versteht sich als Auftaktartikel einer geplanten dreiteiligen Serie zum Thema «Technik im Alter»: 1. Teil: Technikausstattung im Alter (01/2016) 2. Teil: Mediennutzung im Alter (02/2016) 3. Teil: Technische Hilfen im Alter – the new care world? (03/2016) 4. Teil: Technische Hilfen imAlter – Vor- oder Nachteil? (04/2016) Weitere Angaben zur Befragungsstudie von Seifert und Schelling (2015) können Sie der Projektseite entnehmen: http://www.zfg. uzh.ch/projekt/ikt-alter-2014.html.
Literatur Claßen, K., Oswald, F., Doh, M., Kleinemas, U. & Wahl, H.-W. (2014). Umwelten des Alterns: Wohnen, Mobilität, Technik und Medien. Kohlhammer: Stuttgart. Doh, M. (2011). Heterogenität der Mediennutzung im Alter. München: kopaed. Sackmann, R. & Weymann, A. (1994). Die Technisierung des Alltags: Generationen und technische Innovationen. Campus: Frankfurt. Seifert, A. & Schelling, H. R. (2015). Digitale Senioren. Nutzung von Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) durch Menschen ab 65 Jahren in der Schweiz im Jahr 2015. Pro Senectute Schweiz: Zürich. Alexander Seifert, Sozialpädagoge und Soziologe, wissenschaftlicher Projektmitarbeiter am Zentrum für Gerontologie (ZfG) der Universität Zürich, Verfasser von Studien zum Thema Technik im Alter. alexander.seifert@zfg.uzh.ch
© 2016 Hogrefe
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Lebenschancen im Alter Hermann Brandenburg und Helen Güther
«Die Frage nach dem guten Leben und damit ein auf Humanität und Menschenliebe hin ausgerichtetes Pflegehandeln» ist Ausgangspunkt jeder differenzierten Auseinandersetzung innerhalb der Gerontologischen Pflege, wie sie Hermann Brandenburg
Die Lebenschancen zu konzeptualisieren und damit einer personzentrierten Pflege und gesellschaftlichen Teilhabe der alten Menschen Tür und Tor zu öffnen, ist das Anliegen der Autoren im Lehrbuch zur Gerontologischen Pflege. Lesen Sie im Folgenden Auszüge aus einem Interview mit der Redaktion der NOVAcura.
und Helen Güther (am Lehrstuhl für Pflegewissenschaft der Hochschule Vallendar) in vielen Publikationen vorlegen, zuletzt als Herausgeber im Mehrautorenwerk ‹Lehrbuch Gerontologische Pflege› (Hogrefe Verlag, 2015).
P
ersonenzentrierte Pflege und gesellschaftliche Teilhabe erweitern die Lebenschancen im Alter: Brandenburg und Güther (2015) überzeugen mit der Forderung nach einer Analyse des konkreten Pflegealltags und einer Reflexion der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen in Bezug auf die Lebensbedingungen alter Menschen unter den Fragestellungen der Pflegewissenschaft.
Lebenschancen im Alter. Foto: Martin Glauser
© 2016 Hogrefe
Grundlegende Gedanken «Das Alter ist eine Lebensspanne, die genauso wertgeschätzt werden sollte wie auch die Jugend und das mittlere Erwachsenenalter. Einerseits sind mit dem Altern Einschränkungen verbunden, die wir nicht ignorieren dürfen. Und am Ende steht für uns alle der Tod. Aber andererseits ist das Altern – mindestens wenn wir uns auf die Zeit nach der aktiven Berufstätigkeit konzentrieren – eine Lebensphase, in der wir noch einmal neu anfangen können und (so hat es der Wiener Soziologe Rosenmayr einmal ausgedrückt) die «späte Freiheit» erleben dürfen. Aber das hängt natürlich auch von bestimmten Voraussetzungen ab. Die wichtigste ist, so glauben wir, die Offenheit für das Neue und die Bereitschaft, die Grenzen der eigenen Existenz zu akzeptieren. Wichtig ist, dass das Leben einen Sinn hat, und zwar gerade weil es begrenzt ist. Die Grenzen werden uns insbesondere im Alter aufgezeigt. Sinn an den Grenzen des Lebens zu erschaffen ist eine zentrale aber keine leichte Aufgabe in der Gerontologischen Pflege. Hier brauchen wir mehr als empirische Gewissheiten. Wir brauchen die Philosophie, die sich seit jeher mit der Frage nach dem guten Leben (und bei Heidegger noch grundlegender mit der Frage nach dem Sein) auseinandergesetzt hat. Nicht zuletzt dient dieser interdisziplinäre Austausch dazu, die eigenen Ängste in Bezug auf ein gelingendes Leben und Sterben offensiv und erkundend zu betrachten. Wichtig ist dann nicht nur die Auseinandersetzung mit sich selbst, sondern die grundlegende Beschäftigung mit gesellschaftlichen und kulturellen Vorstellungen hinsichtlich eines guten Lebens und guten Alterns, innerhalb derer wir uns als Pflegende oder auch (potentiell) Pflegebedürftige bewegen. Diese Handlungskontexte sind daraufhin zu betrachten, wo sie Menschwerden ermöglichen oder verhindern. Ein gutes Beispiel ist die Optimierung und das nicht nachlassende Bemühen um schlankere Personalkosten, effizientere Arbeitsprozesse, etc. Inwieweit dienen sie NOVAcura 1/16
Demenz 57
dem Menschen und wo werden sie zu Zwängen? In der Pflege gerade des älteren, pflegebedürftigen Menschen, der langsam ist, viel Zeit und Hilfestellungen benötigt und das häufig ohne Chance auf Heilung und gesellschaftlichen Mehrwert, können wir ökonomische und kulturelle Dynamiken nicht ignorieren, die unserer Auffassung nach in die falsche Richtung gehen. Wir sind davon überzeugt, dass die Gerontologische Pflege eine Möglichkeit zur Reflexion von Problemen bieten muss, gerade auch für die Pflegepraxis. Sie steht sonst in der Gefahr, immer weiter zu machen, immer mehr vom immer gleichen zu reproduzieren und ihre eigentlichen Anliegen und Ziele aus dem Blick zu verlieren. Wir denken, dass zunächst einmal politisch die Pflege alter Menschen nicht nur inszenatorisch auf die Agenda gerückt werden muss. Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass wir dafür mehr Ressourcen (Zeit, Geld, Personal) ausgeben müssen, und zwar deutlich mehr. Ganz konkret nennen wir auch die Bezahlung von Pflegenden (vor allem in der stationären Langzeitpflege), die nach wie vor völlig unzureichend ist. Damit verbunden ist die Notwendigkeit der Einsicht darin, dass die Zahl akademisch und breit ausgebildeter Personen in der Gerontologischen Pflege gegenwärtig zu gering ist. […] [Hier] sind neue und eigene Wege zu entwickeln in Bereichen der Pflegebildung, auch was die Qualifizierung von berufserfahrenen Perso-
nen aus der Praxis betrifft. […] Dem Pflegemanagement kommt hier natürlich eine entscheidende Rolle zu. Wir brauchen hier Personen mit einer Vision von guter Pflege, die tatsächlich Innovationen vorantreiben wollen. Wir sind uns darüber im Klaren, dass dies in Zeiten der Ökonomisierung von Gesundheit und Pflege immer eine Herausforderung bleibt. Für die Pflegepraxis scheint uns unverzichtbar, dass die «Klugheit der Praxis», ihr Engagement und die Notwendigkeit einer gezielten Unterstützung anerkannt werden». Prof. Dr. Hermann Brandenburg, Inhaber des Lehrstuhls Gerontologische Pflege an der Philosophisch-theologischen Hochschule Vallendar und Dekan Pflegewissenschaft der Fakultät
Helen Güther, Dipl. Heilpädagogin (Univ.), MPH, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl, promoviert zum Thema: Anerkennung von pflegenden Angehörigen in der Gerontologischen Pflege.
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Demenz ist menschlich! Bericht zum 3. St. Galler Demenz-Kongress «Selbstmanagement in der Pflege und Begleitung von Menschen mit Demenz». Diana Staudacher
Eine demenzfreundliche Gesellschaft ist notwendig, damit die Sorge für Menschen mit Demenz möglich wird, ohne die Sorge um sich selbst vernachlässigen zu müssen. Dies war eine zentrale Botschaft des Kongresses, den der Fachbereich
mente sind hierfür wichtig: Wissen, Verstehen und Handeln. Wissen Angehörige, welche Veränderungen Demenz mit sich bringt, können sie ihre Lebenssituation besser einschätzen und vorausschauend handeln. Doch auch die gesamte Gesellschaft sollte über Demenz Bescheid wissen. Menschen mit Demenz sind Mitmenschen.
Gesundheit der FHS St.Gallen organisierte.
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erwirrung, Vergessen und Demenz gehören zum Menschsein – genauso wie Altern und Leiden. Mit dieser These wandte sich Prof. Dr. Reimer Gronemeyer an die über 1.000 Teilnehmenden des Kongresses. Demenz ist nicht nur ein medizinisch-pflegerisches Problem – es ist ein Problem der Gesellschaft, betonte er. Aus seiner Sicht ist es wichtig, Demenz nicht auf eine Krankheit zu reduzieren, sondern als Auftrag zu mitmenschlich-sozialem Handeln zu verstehen. Dies setzt jedoch voraus, dass wir bereit sind, Demenz als etwas anzunehmen, das zum menschlichen Leben gehört. Erst wenn dies gelingt, werden Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen nicht mehr gesellschaftlich isoliert sein. Umso mehr braucht es Menschen, welche die leistungsorientierte, «kalte» Gesellschaft «wieder erwärmen», so Gronemeyers Appell. «Die Frage nach der Demenz ist die Frage nach der demenzfreundlichen Gesellschaft», so Gronemeyer.
Demenz bedroht Beziehungen «Er ist wie eine leere Hülle» − so erlebt eine Frau ihren demenzkranken Partner. Was Nahestehende am meisten schmerzt, ist meist nicht der Verlust geistiger Fähigkeiten, sondern die emotionale Unerreichbarkeit eines Menschen mit Demenz. Diesen Beziehungsaspekt der Erkrankung erläuterte Dr. Irene Bopp-Kisler, Oberärztin der Universitären Klinik für Akutgeriatrie im Stadtspital Waid. Die Person mit Demenz ist zwar sichtbar und spürbar «da», aber «doch so fern». Diese erschreckende «Ferne» kann Bezie-
Demenz zur gesellschaftlichen Priorität machen Etwa 119.000 Menschen in der Schweiz sind an Demenz erkrankt. 28.000 neudiagnostizierte Personen kommen jährlich hinzu. 36.000 Angehörige sind von der Demenzerkrankung eines Familienmitglieds betroffen. Etwa 300.000 Menschen widmen sich beruflich der Versorgung von Personen mit Demenz. Birgitta Martensson, Geschäftsleiterin der Schweizerischen Alzheimervereinigung, verdeutlichte die gesellschaftliche Herausforderung, die sich hinter diesen Zahlen verbirgt. Die Hälfte der Menschen mit Demenz lebt zu Hause − dank der Unterstützung durch Angehörige. Schreitet die Krankheit fort, sind pflegende Angehörige häufig rund um die Uhr gefordert. Umso wichtiger ist es, sie vor Überlastung und Erschöpfung zu schützen. Drei Ele© 2016 Hogrefe
Gemeinsam stark sein setzt der Isolation ein Ende. Foto: Martin Glauser
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hungen und Partnerschaften dramatisch gefährden. Betroffene und Angehörige erfahren tiefe Kränkungen, weil sie einander nicht mehr «verstehen» können. Um der drohenden Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung entgegenzuwirken, können Fachpersonen Wege aufzeigen, wie trotz dieser Fremdheit ein Leben in gegenseitiger Achtung möglich ist. Dazu gehört, Familien behutsam vorzubereiten auf das ständige «Abschiednehmen» von Gewohntem und Vertrauten. «Es wird niemals wieder so sein, wie es einmal war» − dieser Gedanke löst immense Trauer aus. Jedoch können Abschiedsrituale hilfreich sein, um gemeinsam etwas zu beenden, was in Zukunft nicht mehr möglich sein wird.
Betroffenen eine Stimme geben Wie geht eine Gesellschaft mit besonders verletzlichen Personen um? Prof. Dr. Hermann Brandenburg, Philosophisch-Theologische Hochschule Vallendar wies darauf hin, dass sich die öffentliche Wahrnehmung häufig ausschliesslich auf die erschreckenden und belastenden Aspekte der Demenz konzentriert. Wäre es nicht wichtig, eine «Entschreckung» der Demenz zu erreichen? Dies erscheint besonders dringend, da sich die Versorgungsstrukturen oft eher an den Bedürfnisse der Angehörigen oder der Trägerinstitutionen ausrichten – und weniger an den Anliegen und Wünschen der Personen mit Demenz. Menschen mit Demenz wünschen sich jedoch, am Leben der Gesellschaft weiterhin teilnehmen zu können, sich aktiv durch sinnvolle Tätigkeiten einzubringen und selbstbestimmt leben zu dürfen. Bedeutsam wäre es auch, die verbliebenen Fähigkeiten und Stärken von Menschen mit Demenz mehr als bisher zu beachten. Zugleich braucht es die Einsicht, dass Demenz, Gebrechlichkeit und Altern nicht menschenunwürdig sind und keine «minderwertige» Daseinsweise darstellen, so Brandenburg.
Ein Leben «auf der Suche nach mir selbst» «Ich habe mich sozusagen selbst verloren» − mit diesen Worten beschrieb im Jahr 1901 die erste Alzheimer-Patientin Auguste Deter ihr Erleben der Demenz. Der Verlust des eigenen Selbst ist eine bestürzende Erfahrung. Dafür zu sorgen, dass dieser Verlust nicht unerträglich ist, macht einem bedeutsamen Teil der Betreuung von Menschen mit Demenz aus, so Prof. Dr. Thomas Beer, Fachhochschule St. Gallen. Er erläuterte, wie eng das «Selbstmanagement» von Menschen mit Demenz mit dem Bestreben verbunden ist, das verlorene Selbst, die frühere Selbstständigkeit und Autonomie zurückzugewinnen. Wie die Forschung beschreibt, sind gerade im Frühstadium vier Interventionen wichtig, um das «Selbstmanagement» der Betroffenen zu stärken: das familiäre Netzwerk stärken, einen aktiven Lebensstil aufrecht erhalten, psychisches Wohlbefinden fördern, das Bewältigen kognitiver Veränderung unterstützen und über das Krankheitsbild Demenz informieren. NOVAcura 1/16
Zwischen Fürsorge und Selbstsorge Nur eine Persönlichkeit, die fest in sich selbst ruht, kann Menschen hilfreich begegnen, die unablässig «auf der Suche nach sich selbst» sind. Doch wer Menschen mit Demenz pflegt, sollte auch den Rückhalt der Organisation und des Teams erleben dürfen. Darauf wies Petra-Alexandra Buhl aus der Sicht der Organisationsentwicklung hin. Um zu verhindern, dass Pflegende in ihrer Arbeit mit Betroffenen die Grenzen ihrer Belastbarkeit überschreiten, stehen auch Arbeitgeber in der Pflicht. Hier setzt das Konzept der «organisationalen Resilienz» an. Die Organisation übernimmt vorausschauend Verantwortung für Mitarbeitende.
Viventis-Preis für das beste Praxisprojekt Erstmals vergaben die Fachstelle Demenz der FHS St. Gallen und die Viventis Stiftung einen mit 10.000 CHF dotierten Preis für das beste Praxisprojekt in der Pflege und Begleitung von Menschen mit Demenz in der Schweiz. Preisträgerin ist die Genossenschaft für Altersbetreuung und Pflege Gäu (GAG) in Egerkingen (SO). Im Alterszentrum «Stapfenmatt» hat sie das Projekt «Höchstmass an Normalität in der Alltagsgestaltung von Menschen mit Demenz» verwirklicht. Bewohnende können dadurch ihren vertrauten Lebensstil beibehalten. Erste Erfahrungen zeigen, dass Bewohnende im Alterszentrum «Stapfenmatt» seltener unruhig sind, weniger Medikamente benötigen, mobiler sind und seltener stürzen. Ein vielversprechender Ansatz, der Mut macht, kreative Wege zu gehen.
Das Publikum wird zum Hauptdarsteller Wie fühlt es sich an, am Boden zu sitzen, wenn die Person neben mir auf einem Stuhl steht und mich völlig überragt? Wie flexibel muss ich sein, um den Handschlag meines Gegenübers zu erwidern, wenn seine rechte Hand hoch in Luft gestreckt ist und seine linke Hand fast den Boden berührt? Franziska von Arb und David Schönhaus (Duo «Stimme Kontra Bass») forderten das Publikum am Ende des Kongresses auf, selbst zu erkunden, welche Drehungen und Wendungen nötig sind, um eine Gesellschaft zu gestalten, die Individualität achtet und Ebenbürtigkeit verwirklicht. So wurde das Publikum wurde zum Hauptdarsteller. Es konnte aktiv testen, wie ein verantwortungsvolles, kreatives Miteinander gelebt werden kann. Dr. Diana Staudacher, freie Publizistin, wissenschaftliche Mitarbeiterin, Fachhochschule St. Gallen. Diana.staudacher@fhsg.ch
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kulturzeit: Film
kulturzeit: Weinen – Kämpfen – Akzeptieren Swantje Kubillus
Wie geht es einem Menschen, der zunehmend in sich selbst gefangen ist? Wie geht Mann oder Frau damit um, wenn der Körper allmählich nachlässt und einem das Leben immer seltener lebenswert vorkommt? Wie lebt man weiter mit Multipler Sklerose (MS)? Der im Oktober 2015 in den Kinos gestartete Schweizer Film «Multiple Schicksale – Vom Kampf um den eigenen Körper» erzählt die Lebensgeschichten von sieben an Multipler Sklerose erkrankter Betroffener und deren Familien.
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eit Jann denken kann, leidet seine Mutter an Multipler Sklerose. Sie ist mittlerweile in einem Pflegeheim untergebracht, an das Bett gefesselt und vollständig pflegebedürftig. In der Eingangsszene des Films besucht Janns Grossmutter ihre Tochter und versucht, das Tagesaktuelle mit ihr zu besprechen. Es fällt jedoch schwer, weil die Unterhaltung einseitig ist, Janns Mutter kann sich nicht mehr äussern. Dann beginnt die Erzählung des jungen Jann. Er begibt sich auf eine Reise durch die Schweiz, um Antworten zu finden. Unterstützt wurde der junge Filmemacher dabei insbesondere von der Schweizerischen MS Gesellschaft. Der Zuschauer wird im Verlauf des Filmes sieben ganz unterschiedliche Menschen kennenlernen und deren Weg, mit der Krankheit weiterzuleben. «Vielleicht hat man auch nur eine gewisse Anzahl Tränen für eine Geschichte», sagt Graziella, die seit 2010 an MS erkrankt ist. Sie ist ein sehr positiver Mensch und sie hat sich vorgenommen, sich selbst und auch die Krankheit nicht zu ernst zu nehmen. Für sie ist ihre Familie das Wichtigste. Sie sagt, es sei wichtig, zu akzeptieren, was nicht mehr geht und gleichzeitig herauszufinden, was noch geht. Etwas anders sieht Reiner sein Schicksal. Er beschäftigte sich viel und intensiv mit der Erkrankung, schrieb sogar ein Buch darüber. Er versucht seinen Alltag noch so lange wie möglich selbst zu gestalten, ist sich aber sicher, dass er bald aus dem Leben scheiden wird. Er entscheidet sich über die Sterbehilfsorganisation Exit für einen selbstbestimmten Tod.
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Multiple Sklerose ist bis heute nicht heilbar. In der Schweiz ist jeder 700. Mensch davon betroffen. Durch Entzündungsprozesse im zentralen Nervensystem kommt es nach und nach zu Funktionsausfällen am gesamten Körper. Mit der Erkrankung gehen auch Sensibilitätsstörungen, extreme Müdigkeit sowie Stuhl- und Harninkontinenz einher. Die Krankheitsverläufe bei MS sind sehr individuell, weshalb sie auch als Krankheit mit den tausend Gesichtern bezeichnet wird. Luana bekam 2010 mit 18 Jahren die Diagnose. Seither hat sich ihr Leben enorm verändert. Ihre Leidenschaft für Fussball- und Tennisspielen kann sie nicht mehr ausleben. Sie leidet unter der Behandlung mit Cortison, die ihr Aussehen stark verändert hat. Lange Zeit verbringt sie in Spitälern und Rehabilitationseinrichtungen. Sie sagt, sie fühle sich in der Reha eigentlich ganz wohl, weil es ein geschützter Rahmen ist. Nach draussen zu kommen, bereitet ihr grosse Angst. Die Geschichten aus dem Leben der Betroffenen sind traurig, interessant und einfühlsam dargestellt. Dieser Film ist ein wichtiger Beitrag, um den Kampf mit der Erkrankung aufzunehmen und sie der Allgemeinheit besser verständlich zu machen. Oft heisst es, Menschen mit MS wären «speziell» – sie wären «schwierig». Je besser man die Betroffenen versteht, desto leichter wird der Umgang mit ihnen sein. Swantje Kubillus (M. Sc.) hat Public Health und Pflegemanagement studiert. Sie ist als Lehrerin für Pflege und Gesundheit tätig und schreibt regelmässig Film- und Buchkritiken. s.kubillus@freenet.de
Angaben zum Film «Multiple Schicksale – Vom Kampf um den eigenen Körper» Genre: Dokumentarfilm Regie: Jann Kessler Ort und Jahr: Schweiz 2015 Filmlänge: 85 Minuten
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kulturzeit: Literatur 61
«Wer bis zuletzt lacht, lacht am besten» Hintergründe zum Karikaturenbuch Heinz Hinse
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eidelberg, Januar 2008. Mein Abendvortrag «Humor im Hospiz« war eher gedacht für «Insider» der Hospizarbeit: Ärzte, Pflegekräfte, Seelsorger und ehrenamtliche Hospizhelfer. Sie wissen im Umgang mit Sterben und Tod die entlastende Wirkung des Humors besonders zu schätzen. An diesem Abend aber war unter den Zuhörern ein persönlich betroffener Patient, der an Kehlkopfkrebs erkrankte Lokalredakteur und Karikaturist der Rhein-Neckar-Zeitung Karl-Horst Möhl. Mein Vortrag und die darin verwandten Karikaturen hatten ihn motiviert, mit mir zusammen ein Buch mit Karikaturen zu den Themen Krankheit, Sterben und Tod herauszubringen. Ich stimmte seinem Vorschlag sofort zu, zumal mich immer wieder Zuhörer an Vorträgen zu einem solchen Buch angeregt hatten. Die Zusammenarbeit mit Karl-Horst Möhl, der mir bald zum Freund wurde, war für mich ein berührendes und bereicherndes Erlebnis. Sein Kehlkopfkrebs machte ihm das Sprechen schwer, aber mit seinen Augen und vor allem mit seinen Karikaturen konnte er ausstrahlen, was ihm trotz der Nähe zum Tod an Lebensfreude und Liebenswürdigkeit geblieben war. Den von ihm gewählten Titel unseres Buches: «Wer bis zuletzt lacht, lacht am besten» hat er gelebt. Es war sein persönlicher Weg, mit Angst und Verzweiflung in vier Jahren Krebskrankheit umzugehen. Mit unserem Buch wollte er auch anderen Patienten zeigen: Der Humor ist ein Weg, auch wenn ihn nicht viele gehen können. In drei Monaten war das Werk gelungen. Die enthaltenen Karikaturen illustrieren selbst erfundene und gefundene Texte oder zitieren Werke seiner Kollegen. Bei der Präsentation im Verpackungsmuseum Heidelberg kam es zu einer sehr berührenden Szene: Almut Rose, die Ehefrau von Karl-Horst Möhl, kam in einem «kurzen Schwarzen». Vor der Brust hatte sie ein weisses Papier angeheftet mit der Aufschrift: «Steht mir doch gut, oder?» - Damit zeigte
sie, wie sehr sie sich mit dem Werk ihres Mannes und seinem Humor im Angesicht des Todes identifizierte, vor allem mit dieser Karikatur in seinem Buch. Das Buch, im Selbstverlag herausgegeben, wurde bald ein ziemlicher Erfolg. Der Lebensweg von Karl-Horst Möhl endete fünf Monate später, am 29. April 2009. Noch am Vortag hatte er eine Karikatur für die Rhein-NeckarZeitung geliefert. Bei seiner Beerdigung – in dem wunderschönen, von ihm selbst gestalteten Sarg – habe ich für mich gedacht: «Wer bis zuletzt lacht, lacht am besten – aber danach darf auch geweint werden.» Mit Almut Rose habe ich «im Sinne des Verstorbenen» unser Buch weiterhin noch vielen Menschen, auch Patienten, zugänglich gemacht. Bei den Bestellungen per E-Mail gab es immer wieder interessante Hinweise, wo jemand das Buch kennen gelernt hatte und wem er es schenken wollte. Der originellste Hinweis kam von einem Pflegedienstleiter, der es bei einer Patientin entdeckt hatte und es sehr hilfreich fand: «Allerdings muss man aufpassen, dass sich Patienten dabei nicht totlachen!» Diese Bemerkung regt mich an zu persönlichen Bemerkungen über das derzeitige Modethema «Humor in der Pflege». Gewiss, Lachen ist gesund. Aber kein Kranker lacht, um wieder gesund zu werden, kein Sterbenskranker lacht, um leichter zu sterben. Lachen kann vielmehr plötzlich und unerwartet eine wohltuende, erleichternde, befreiende Begleiterscheinung in der Krankenpflege und Sterbebegleitung sein, für alle Beteiligten. Seit Jahren sammle ich Beispiele eines solchen Lachens und habe dabei eine interessante Beziehung zwischen Humor und Hospizarbeit festgestellt: Die Hospizarbeit orientiert sich ja an den körperlichen, seelischen, sozialen und spirituellen Bedürfnissen und Leiden sterbender Menschen. Auf wundersame Weise kann nun der Humor positive Wirkungen in all diesen vier Bereichen haben. Und er nimmt auch seine Anlässe zum Lachen aus diesen Bereichen. Das Buch «Wer bis zuletzt lacht, lacht am besten» bietet dazu viele Beispiele. Heinz Hinse, Dipl. Theologe heinz.hinse@web.de
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62 Expertenrat/Vorschau
Diabetes und Insulin im Alter ist anders! Leserin Maja Wurza aus Interlaken stellt folgende Frage: Ich habe gehört, dass es Besonderheiten in der Gabe von Insulin bei älteren Menschen gibt?
Vorschau 2/2016 – Bewegung Editorial Elke Steudter Schwerpunkt Bewegen ist leben – Mobilität erhalten und fördern Michaela Morath und Barbara Müller Arthrose – eine Übersicht Marcel Weber
Was muss ich dabei beachten?
Die Lebensform «Pflegeoase» Brigitte Benkert
Richtige Nadel und Spritztechnik
73 Lifter halten Pfleger bei Laune Jens Gieseler
Ältere Menschen haben eine andere Fettverteilung mit deutlich geringerem Anteil an Fettgewebe. Daher ist die Gefahr sehr hoch, dass bei zu langer Nadellänge das Insulin nicht in das Fettgewebe, sondern in die Muskulatur gespritzt wird. Durch die Insulingabe in die Muskulatur kann es zu einer beschleunigten Resorption des Insulins kommen – die Folge ist eine Hypoglykämie. Es sollten deshalb qualitativ hochwertige Injektionsnadeln verwendet werden mit einer Länge von ca. 4 Millimeter. Die Hautdicke bleibt im Alter gegenüber jüngeren Menschen gleich. Durch den geringeren Anteil an Fettgewebe bei vielen hochaltrigen Menschen, muss die Pflegefachperson zur korrekten Injektion des Insulins die Haut zwischen zwei Fingern angeheben und dann die Nadel senkrecht einstechen. Für jede Injektion sollte eine neue Injektionsnadel verwendet werden. Wird eine Kanüle mehrmals verwendet, kann Luft in die Kartusche des Pens eindringen oder sogar die Nadel verstopfen. Auch die Zusammensetzung des Insulins kann sich ändern. Wichtig ist ausserdem, den Ort der Insulininjektionen regelmässig zu wechseln. Sonst kann das Fettgewebe verhärten (Lipohypertrophie).
Motorisches Lernen: Bewegungen neu erlernen oder aktivieren Martina Kaspar
Praxistipps • Besprechen Sie mit dem Hausarzt oder Facharzt die notwendige Nadellänge. • Bauen Sie Ängste der Betroffenen vor Injektionen durch Schulungen und Informationen ab.
Richtige Kontrolle
Fallen ist auch Fortbewegung Barbara Maier Fokus Reisen für Menschen mit besonderen Bedürfnissen Ruth Frei Palliative Care Bewegung in der Palliative Care Heidi Diefenbacher Pflege zu Hause Bewegungsförderung in der Alltagsbegleitung alter Menschen Sylke Werner Mediennutzung im Alter – sind ältere Personen offline? Alexander Seifert Bildung Zutrauen zu eigenen Fähigkeiten fördert Selbstständigkeit Bernhard Müller Demenz Kann Stuhlinkontinenz bei Menschen mit Demenz verbessert werden? Myrta Kohler
Für die korrekte Gabe des Insulins ist die Kontrolle des Blutzuckerstatus entscheidend. Die heute auf dem Markt befindlichen Blutzuckermessgeräte haben eine hohe Genauigkeit, entsprechen etwa der Genauigkeit von Labormessungen. Gerhard Schröder
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Chalfont/Rätsel 63
Sommerflieder Diese Frau riecht an einem Sommerflieder, den ihr Neffe zu ihr ins Krankenhaus geschmuggelt hat. Hier war es nämlich verboten, Pflanzen in die Zimmer zu bringen. An der Krankenhauspforte muss man vieles zurücklassen, was das Leben wertvoll macht. Die Momente der Sinnesfreude gehören zu diesen Werten des Lebens, wie man am Gesichtsausdruck der Patienten ablesen kann.
Illustration Dr. Garuth Chalfont ist Landschaftsarchitekt, Lehrer und Forscher, spezialisiert für die Lebenswelten demenziell erkrankter Menschen. Website: www.chalfontdesign.com Mail: garuth@chalfontdesign.com
Rätsel Welcher der folgenden Sätze ist richtig? a) Für junge und ältere Menschen gelten die gleichen Referenzwerte der Laborparameter. b) Einflussgrössen der Laborwerte bei älteren Menschen sind u. a. Multimorbidität und Polypharmazie. c) N ikotin und Alkohol heben keinen Einfluss auf Laborparameter. Bitte schreiben Sie die Lösung per Karte oder Mail an: Hogrefe AG Zeitschriftenabteilung Länggassstr. 76 3000 Bern 9 Schweiz zeitschriften@hogrefe.ch
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Unter den Gewinnern verlosen wir folgende Buchpreise: 1. – 3. Preis: 1x Pflegekalender 2016 (Jürgen Georg)
Einsendeschluss ist der 15.02.2016. Auflösung und Bekanntgabe der Gewinner in der nächsten Ausgabe. Lösung aus NOVAcura 10/2015: b) Pflegeinterventionsklassifikation (NIC) Gewinner: 1. Preis: Adelheid Charvet, 3910 Saas Grund 2. Preis: Cristina De Biasio Marinello, 9010 St. Gallen 3. Preis Barbara Heeb-Iseli, 5742 Kölliken
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Eine Branche im Umbruch
Markus Reck
Spitex – zwischen Staat und Markt 2016. 256 S., 8 Abb., 57 Tab., Kt € 29.95 / CHF 39.90 ISBN 978-3-456-85568-4 AUCH ALS E-BOOK
Durch die demografische Entwicklung
Wo die Herausforderungen für die Zu-
werden künftig mehr Menschen auf Hilfe
kunft liegen, ob und wie viel staatliche
und Pflege zu Hause angewiesen sein.
Lenkung sinnvoll ist und welche Ansprü-
Die Spitex ist die ideale Lösung, steht
che unsere älter und individualistischer
heute jedoch an einem Scheideweg:
werdende Gesellschaft an die Spitex hat
mehr Markt oder mehr Staat, Wahlfrei-
– das alles sind Fragen, auf die dieses
heit oder Monopol?
Buch Antworten gibt.
Erstmals und ausführlich beleuchtet dieses Buch die Spitex als Branche. Aufgezeigt werden die Vielfalt der SpitexBetriebe, deren politische Vernetzung und die komplexe, föderale Finanzierung.
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