Jahrgang 50 / Heft 1 / 2019
Herausgeberinnen und Herausgeber Barbara Müller Eveline Kühni Jürgen Georg
NOVAcura Das Fachmagazin für Pflege und Betreuung Themenschwerpunkt Ethik
Careum Pflegesymposium
In Beziehung treten – Luxus oder Notwendigkeit?
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Dienstag, 4. Juni 2019, Aarau Dienstag, 4. Juni 2019, Aarau www.careum-weiterbildung.ch www.careum-weiterbildung.ch Programm BeziehungsPflege
Rüdiger Bauer
Berührung berührt
Interview mit Anemone Eglin
Achtsamer Umgang mit sich, den anderen und der Welt
Pater Niklaus Brantschen
Gesagt gezeichnet.
Cartoonist Carlo Schneider
Zusammenarbeit und Zufriedenheit – eine Frage der Führung
Dr. Miriam Engelhardt
Beziehung gestalten mit Menschen mit Demenz – Standards heute
Prof. Dr. Pasquale Calabrese
Gelingende Angehörigenarbeit
Prof. Dr. Tanja Segmüller
In Beziehung treten. Notwendig. Keine Frage.
Prof. Christel Bienstein
Rückblick mit Augenzwinkern
Cartoonist Carlo Schneider
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NOVAcura
Das Fachmagazin für Pflege und Betreuung
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Jahrgang 50 / Heft 1/ 2019 Themenschwerpunkt Ethik
Herausgeber/Redaktion
Barbara Müller, Hogrefe AG, Bern barbara.mueller@hogrefe.ch Eveline Kühni, Hogrefe AG, Bern eveline.kuehni@hogrefe.ch Jürgen Georg, Hogrefe AG, Bern juergen.georg@hogrefe.ch
Redaktionelle Mitarbeiter/innen
Sonja Baumann, Brigitte Benkert, Heidi Diefenbacher, Tomas Kobi, Diana Staudacher, Elke Steudter, Kathrin Schaffhuser, Brigitte Zaugg
Verlag
Hogrefe AG, Länggassstrasse 76, 3012 Bern, Tel. +41 (0) 31 300 45 00, verlag@hogrefe.ch, www.hogrefe.ch
Satz/Herstellung
Fabian Hofmann Tel. +41 (0) 31 300 45 37, fabian.hofmann@hogrefe.ch
Anzeigen
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Druck
Kraft Premium GmbH, Ettlingen, Deutschland
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Jahresabonnement Private: Schweiz: CHF 120.-; Europa: EUR 91.- Jahresabonnement Institute: Schweiz: CHF 300.-; Europa: EUR 233.- Probeabonnement (2 Ausgaben): Schweiz: CHF 20.-; Europa: EUR 15.- Einzelheft: Schweiz: CHF 15.-; Europa: EUR 10.- inkl. Porto und Versandgebühren
Gelistet in
NOVAcura ist gelistet in GeroLit.
Titelbild
© Gettyimages | sturti
Erscheinungsweise
10 Hefte jährlich © 2019 Hogrefe AG ISSN-L 166 – 027 ISSN 166 – 027 (Print) ISSN 223 – 271 (online)
Inhalt Editorial
Aufmerksamkeit, Fingerspitzengefühl, Selbstkritik Eveline Kühni
7
Schwerpunkt
Ethik mit menschlichem Gesicht Diana Staudacher
9
Fokus
Palliative Care
Bildung
Dementia Care
Ethik in der pflegerischen Praxis und Forschung Christine Dunger
13
Advance Care Planning Isabelle Karzig-Roduner
17
Ethik ist der Boden pflegerischen Handelns Bianca Schaffert im Interview mit der NOVAcura
23
Basales Berühren während der Körperpflege bei Menschen mit Demenz Thomas Buchholz
27
Lebensende lässt Entscheide reifen Lukas Niederberger
31
Sterben lernen Heinz Rüegger
35
Sterbefasten bzw. freiwilliger Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit Christoph Gerhard
39
Demenz: Das Ende der Freiheit? Diana Staudacher
43
Der grosse Nutzen strukturierter ethischer Fallbesprechungen Petra Schweller
47
Kulturzeit: Gekaufte Nähe Swantje Kubillus
50
25 Jahre IVA: Wertschätzender Umgang für Menschen mit Demenz Institut für Integrative Validation
51
„Schwere Demenz ist eine Art Black Box“ Monika Bachmann
53
Selbstbestimmung bei Menschen mit Demenz Antonia Halt
57
à propos
61
Vorschau/Termine
62
Chalfont/Rätsel
63
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© 2019 Hogrefe
Gut vorbereitet für schwierige Gespräche
Viviana Abati / Stiftung Swisstransplant (Hrsg.)
Gespräche mit hohem Belastungsfaktor in der Medizin Praxislehrbuch für die Kommunikation mit Angehörigen 2019. 192 S., 33 Abb., 63 Tab., Kt € 39,95 / CHF 48.50 ISBN 978-3-456-85922-4 Auch als eBook erhältlich
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www.hogrefe.com
Ärzte und andere Fachpersonen müssen im klinischen Alltag mit Angehörigen oft Gespräche führen über lebensbedrohliche Verletzungen, Prognose von Krankheiten oder die Mitteilung über den Tod eines Familienmitgliedes meist ohne darauf vorbereitet worden zu sein. Dieses Buch vermittelt aufbauend auf wissenschaftlich relevanten Konzepten (u. a. aus der Notfallpsychologie) die hierfür notwendige Kommunikations-Kompetenz.
Das Werk beschreibt in didaktisch durchdachter und praxisorientierter Form, in welchen psychischen Ausnahmesituationen sich Angehörige von Patienten befinden, wie dadurch ihre Kommunikationsfähigkeiten eingeschränkt sind und wie die Fachpersonen konkret und professionell damit umgehen können. Zahlreiche Boxen und Übungen zur Anwendung und Selbstreflexion unterstützen und überprüfen den eigenen Lernerfolg.
Editorial 7
Aufmerksamkeit, Fingerspitzengefühl, Selbstkritik
Liebe Leserinnen, liebe Leser Immer wieder werden Fachpersonen der Pflegepraxis und Pflegeforschung mit ethischen Fragen konfrontiert. Ist es richtig, die Bewegungsfreiheit Demenzbetroffener einzuschränken? Richtig, die Tochter darin zu bestärken, den pflegebedürftigen Vater in einem Pflegeheim betreuen zu lassen? Die schwerkranke Frau mit allen Mitteln am Leben zu erhalten oder den Patienten mit Medikamenten ruhig zu stellen? Weil die Klientel in der Pflege besonders verletzlich ist, brauchen die Fachpersonen nicht nur medizinisches und juristisches Wissen, sondern auch viel Empathie und Fingerspitzengefühl, um solche Fragen zu beantworten. Ausserdem müssen sie sich eigener Werte und Normen mit ihrem subjektiven Charakter bewusst sein und sie kritisch hinterfragen. Letzteres veranschaulicht Christine Dunger in ihrem NOVAcura-Beitrag. Am Beispiel von sog. verwahrlosten Pflegebedürftigen beschreibt sie, welche Position Fachpersonen in einem Pflegearrangement innehaben, und wie schwierig es sein kann, dabei keine diskreditierende Haltung einzunehmen. Weiter können Sie in dieser Ausgabe lesen, wie die Präsidentin der SBK Ethik-Kommission die Fragen von Herausgeberin Barbara Müller beantwortet oder was Isabelle Karzig über die ethische Dimension gesundheitlicher Vorausplanung schreibt. Karzig informiert Sie darüber, welche Fähigkeiten und Kenntnisse Pflegefachpersonen haben müssen, damit auch in Notfallund Krisensituationen der Patientenwille entscheidungsleitend ist. Heinz Rüegger wiederum zeigt, welche Schwierigkeiten rund um diesen Willen auftreten können, wenn es um das eigene Sterben geht.
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Ich hoffe, dass diese und alle anderen Beiträge der ersten NOVAcura-Ausgabe im neuen Jahr Ihre Gedanken anregen und Sie Neues lehren. Ich wünsche Ihnen viel Freude beim Lesen. Ihre NOVAcura-Herausgeberin Eveline Kühni
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MIT DER NOVACURA DURCH DAS JAHR
2 0 1 9 partnerschaftlich anpassungsfähig rücksichtsvoll kooperativ
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04
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Leere Stille Ewigkeit Einssein
unabhängig individuell initiativ wegweisend
Ethik
06
Atemlos
07
Sexualität
08
Biografie
09
Lebensende
10
Sittlichkeit, Wertvorstellungen, Wertmassstäbe, Sittenlehre, Moral, ethische Einstellung, Würde, Selbstbestimmung
Erschöpft, überlastet, beschleunigt, dringend, hastig, rasen, eifrig, ungestüm
Geschlechtlichkeit, Sinnlichkeit, Sinnenfreude, Körperlichkeit, Fleischeslust, Liebesleben, Erotik
Lebensbeschreibung, Lebenslauf, Lebensgeschichte, Memoiren
Heimfahrt, Exitus, Leblosigkeit, Abend, Sterben, Untergang, Verlust
starkes Charisma empathisch ehrlich unabhängig geistreich
Motivation
Begründung, Antrieb, Edukation, Förderung, Beweggründe, intrinsisch
Pflegepraxis
Konzepte, Innovation & Kreativität, Interprofessionalität, Fachkräftemangel, Rekrutierung, Care Migration, Burnout, Management, Führungsmodelle
Basics der Pflege
Kommunikation, Sicherheit, Fürsorge, Hygiene, Mundpflege, Hilfe beim Waschen, Essen, Anund Ausziehen, Aufstehen und Fortbewegen, Ausscheiden
Gute Pflege
Qualitätsindikatoren, Dos & Don‘ts in der Pflege, Finanzierung, Aus- und Weiterbildung, Image des Pflegeberufs
Sinne
Herr seiner Sinne, fünf Sinne beisammen, im wirtschaftlichen Sinne, im Reich der Sinne, im Sinne des Gesetzes
MIT DER NOVACURA DURCH DAS JAHR
Schwerpunkt 9
Ethik mit menschlichem Gesicht Grundlagen der „Postmodernen Ethik“ von Zygmunt Bauman
© Martin Glauser
Diana Staudacher
Das Beglückende in der Beziehung zum Anderen: Handeln im Sinne der Postmodernen Ethik.
„Verletze mich nicht! Lasse mich nicht allein in meinem Leiden!“ So lautet der stumme Ruf, der vom Gesicht des anderen Menschen ausgeht. Diesem Ruf zu gehorchen, sich für den anderen einzusetzen und dabei die eigene Sicherheit aufzugeben – darin sieht der Soziologe Zygmunt Bauman das Ethische. Bauman (1925–2017) gilt als einer der einflussreichsten Soziologen der Gegenwart. Seine „Ethik von Angesicht zu Angesicht“ eröffnet ein neues Verständnis des Menschseins – und steht der pflegerischen Sorge sehr nahe.
M
enschsein ist nicht ein Für-sich-sein. Es ist [...] ursprünglich ein Für-den-Anderen-sein“ (Levinas 2013, S. 73). „Für-den-Anderen-sein“ bedeutet, herausgerufen zu werden aus der eigenen SelbstNOVAcura 1/19
bezogenheit beim Anblick eines leidenden Mitmenschen. Dieser Anblick löst einen unwiderstehlich starken „ethischen Impuls“ aus. Er „unterbricht“ das Für-sich-sein durch einen unabweisbaren Apell: Sei nicht gleichgültig gegenüber meiner Not! Das Gesicht des leidenden Anderen ist erschütternd – es führt unabweisbar vor Augen, wie verletzlich, schutzlos, zerbrechlich und bedroht menschliches Leben ist. Der Anblick „beunruhigt“, ist „schmerzlich“: „Das Antlitz [ruft] mich zu Hilfe, und es liegt etwas Gebieterisches in diesem Flehen …“ (Finkielkraut 1989). Kein abstraktes, allgemein gültiges ethisches Gebot könnte jemals eine so starke auffordernde Kraft haben wie das schutzlose menschliche Gesicht. Es wirkt derart erschütternd, dass ein Zustand der Selbstvergessenheit eintritt. In diesem Moment ist der Mensch von sich selbst befreit und offen für den Anderen: Das Gefühl der Verantwortung erwacht. Genau dieser Augenblick ist der eigentliche Beginn des Menschseins: Wahres Menschsein heisst, für andere verantwortlich sein, die eigene Sicherheit hinter sich zu lassen und sich verletzlich zu machen. © 2019 Hogrefe
10 Schwerpunkt
Diese Verantwortung verleiht dem Menschen seine einzigartige Identität: „Meine Identität ist untrennbar mit der Verantwortlichkeit für den Anderen verbunden – mit der Unmöglichkeit, mich der Verantwortung, der Sorge und dem Einstehen für den Anderen zu entziehen“ (Levinas 2013, S. 48). Niemand kann in dieser Situation an meine Stelle treten – ich bin gefragt und unersetzlich. In diesem Ethikverständnis des Philosophen Emmanuel Levinas (1906–1995) fand Zygmunt Bauman eine Antwort auf die Frage: Kann Ethik eine Schranke gegen Unmenschlichkeit bilden? (Crone 2007; Hirst 2014). Ethik war für Zygmunt Bauman eine Überlebensfrage der Menschheit. Denn die Geschichte hat gezeigt, dass allgemeingültige ethische Prinzipien die Menschen nicht davon abhalten konnten, ihren Mitmenschen unvorstellbare Grausamkeit zuzufügen. Weder die „Normen der Zivilisation und Kultur“ noch die „Prinzipien der Vernunft“ erwiesen sich als tragfähig, um unmenschliche Taten zu verhindern.
fähig, Gutes zu tun. Er ist immer selbstbezogen und auf seine eigenen Interessen fixiert. Erst die Erschütterung durch die Not des anderen Menschen kann ihn aus dieser Verschlossenheit befreien und zum Guten befähigen. Ethik setzt somit immer das „Hinterfragen“ des Egoismus voraus: „Die ethische Beziehung stellt das Ich in Frage. Diese Infragestellung geht vom Anderen aus“ (Levinas 2013). Ethik ist also nicht voraussetzungslos. Sie ist nur möglich, wenn der Mensch sein Ich nicht mehr absolut setzt, sondern sich für den Anderen öffnet: „Die Infragestellung meiner Spontaneität durch die Gegenwart des Anderen heißt Ethik“ (Levinas 2013, S. 51). Diese Grundannahmen hat Zygmunt Bauman aufgenommen und in seiner „Postmodernen1 Ethik“ zur Geltung gebracht. Wie kaum ein anderer Soziologe zeigte er auf, dass Ethik als „Für-den-anderen-sein“ die Grundlage des Sozialen und der Gesellschaft ist (siehe Kasten 1). Kasten 1
Das Ziel der Ethik von Zygmunt Bauman lässt sich in einem Satz zusammenfassen:
Die Gewalt der Gleichgültigkeit Die „tödliche Stille der Nichtbeachtung“ von menschlicher Not und erlittenem Unrecht war für Zygmunt Bauman die gefährlichste Form der Gewalt (Bauman 2013). Gleichgültigkeit, Wegsehen, Rücksichtslosigkeit, sich nicht verantwortlich fühlen – darin sah er den Ausdruck einer Ent-moralisierung der Gesellschaft. Nicht zu helfen und keinen Widerstand gegen Unrecht zu leisten, kann tödliche Folgen für Leidende und Opfer haben. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum der „Humanismus des anderen Menschen“ von Emmanuel Levinas so bedeutend für Zygmunt Baumans Ethikkonzept wurde. Bei Levinas fand er ein völlig neues Verständnis des Ethischen: • Nicht das Handeln nach Prinzipien steht im Mittelpunkt der Ethik, sondern eine andere Weise des Menschseins – das nicht-egoistische, soziale Für-den-anderen Sein. • Nicht das eigene Wohl und das persönliche „gute Leben“ bilden den Fokus, sondern das Wohl des anderen Menschen und dessen Lebensmöglichkeit. • Nicht die „herrschende Moral“ und der „Gehorsam“ gegenüber Regeln bilden den Maßstab der Ethik, sondern die persönliche Verantwortung des Einzelnen. • Das „ethisch Gute“ besteht nicht in der eigenen „Glückseligkeit“, sondern darin, von sich selbst abzusehen, um sich dem notleidenden Anderen zuzuwenden. • Unethisch sein, heisst „in sich selbst verschlossen“ bleiben, sich selbst ohne Rücksicht auf andere zu verwirklichen und menschlichem Leiden mit kalter Gleichgültigkeit zu begegnen. Ein Zusammenleben, in dem „jeder sich selbst der Nächste ist“, stellt eine Form der „Gewalt“ dar (Crone 2008; Perez 2017; Varcoe & Kilminster 2007). In diesem Sinn ist Ethik ein Ereignis, „das den Lauf der Welt unterbricht“ und der Gleichgültigkeit ein Ende bereitet (Levinas 1995, S. 140). Denn der Mensch ist von sich aus zunächst nicht © 2019 Hogrefe
Es geht darum, „Verantwortung für den Anderen zu übernehmen, was seinerseits zum Engagement für das Schicksal des Anderen und zu einer Bindung an sein Wohl führt“ (Bauman 1997, S. 163).
Unendliche Verantwortung „Jeder Mensch ist für alles vor allen verantwortlich – und ich am meisten“ (Dostojevskij 2006). Dieser Schlüsselsatz könnte als Motto der Ethik Zygmunt Baumans dienen. „Postmoderne Ethik“ geht der Frage nach: Wie weit reicht meine persönliche Verantwortung? Zygmunt Bauman möchte dafür sensibilisieren, dass Verantwortung immer einen unerreichbaren Anspruch darstellt. Verantwortung ist masslos und niemand kann ihr vollkommen gerecht werden. Den Anspruch an die Verantwortung des Einzelnen jedoch zu senken, würde der Unmenschlichkeit Tor und Tür öffnen. Zu den Besonderheiten der „Postmodernen Ethik“ gehört die einzigartige Verbindung zwischen Menschsein und Verantwortlichsein: Erst die Verantwortung macht ei-
Unter „Postmoderne“ verstand Zygmunt Bauman eine Denkweise, die sich von der Weltanschauung der „Moderne“ kritisch abgrenzt. „Moderne“ steht für den Versuch, eine „perfekte Ordnung“ bzw. eine „perfekte Gesellschaft“ zu verwirklichen. Dies geschah mit menschenverachtender Gewalt und bedeutete, alles zu vernichten oder auszuschliessen, was nicht der herrschenden Ideologie entsprach. Totalitäre Systeme wie der Nationalsozialismus und der Stalinismus entstanden. Menschenvernichtung wurde zum politischen Mittel. Im Gegensatz dazu ist die „Postmoderne“ (post = nach; nach der Moderne) durch eine Weltsicht gekennzeichnet, die „das Andere“ und die Vielfalt wertschätzt und die verschiedensten Formen der Gewalt offenlegt bzw. aufs Schärfste verurteilt.
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Schwerpunkt 11
nen Menschen wirklich zum Menschen. Emmanuel Levinas sprach von der „Geburt“ der eigenen Identität im Moment des Verantwortlichseins: „Ich bin ich einzig in dem Maß, in dem ich verantwortlich bin“ (Levinas 2013, S. 78). Was einen Menschen als Menschen auszeichnet, ist seine Verantwortung für den Anderen. Diese Aussage richtet sich gegen ein Menschbild, wonach Vernunft, Rationalität und Kognition das Fundament menschlicher Identität bilden: „Ich denke, also bin ich“ (Descartes 1641). Verantwortung ist in der „Postmodernen Ethik“ kein abstraktes Prinzip, sondern ein Ereignis mitmenschlicher Nähe. Das „Gebot“ der Verantwortung geht direkt und konkret vom Gesicht des anderen Menschen aus. Das Gesicht „erbittet“ oder „erfleht“ Hilfe. Diese „Nähe von Angesicht zu Angesicht“ ist für die Ethik Zygmunt Baumans entscheidend. Nur eine „Ethik der Nähe“ könnte verhindern, „dass ein gesetzesähnlicher Code von Regeln und Konventionen an die Stelle moralischer Empfindungen und Intuitionen treten“ (Bauman 1997, S. 162). Je grösser die Distanz zwischen Menschen ist, desto weniger sind sie sich der ethischen Tragweite ihres Handelns bewusst. Mit der räumlichen Ferne sinkt auch das Gefühl, verantwortlich zu sein (Bauman 2001). So lässt sich nachvollziehen, warum Zygmunt Bauman der Sensibilität in der Nähe zum Anderen einen so hohen Stellenwert einräumt. Ethik gründet nicht in „kalter“ Vernunft, sondern in Empfindungsfähigkeit. Zu erkennen, was Verantwortung für den Anderen konkret bedeutet, setzt lebendige Sensibilität voraus. Ethik erfordert somit, unermüdlich wachsam und hellhörig in der Nähe zum Anderen zu sein (Levinas 2000). Wie kann ich auf den stillen Ruf antworten, der vom Gesicht des Anderen ausgeht? Die Antwort beruht auf der je eigenen Sensibilität. „Ethik von Angesicht zu Angesicht“ kennt keine allgemeingültigen Regeln. Sie entspricht der komplexen Realität. Stets besteht die Gefahr, der Situation des Anderen nicht gerecht werden zu können – selbst bei höchster Sensibilität und äußerster Selbstzurücknahme.
Die „moralisch blinde“ Gesellschaft Der Verlust tiefer, dauerhafter Bindungen führt zu einer „Gesellschaft der Individuen“ (Bauman 2000). Jeder fühlt sich nur noch für sich selbst verantwortlich. Alle streben danach, sich selbst zu verwirklichen. Wer ist dann noch bereit, Verantwortung für andere zu übernehmen? Zygmunt Bauman warnte unablässig vor dem Verlust des Sozialen. Technologie, so seine These, führt zu oberflächlichen, unverbindlichen sozialen „Kontakten“, die das Wort „Beziehung“ nicht verdienen (Bauman & Leoncini 2018). Er wies auch darauf hin, dass Staat und Politik kaum noch soziale Sicherung bieten. Auch sie „entziehen sich ihrer sozialen Verantwortung“. Jeder Staatsbürger ist verpflichtet, für sich selbst zu sorgen. In der sorg-losen Profit- und Konsumgesellschaft haben soziale Not, Krankheit, Leiden, Alter und Tod kein „Gesicht“ mehr. Zygmunt Bauman machte unermüdlich darauf aufmerksam, dass die Gesellschaft zutiefst unmoralisch und unmenschlich sein NOVAcura 1/19
kann. Er sprach von wachsender „ethischer Unempfindlichkeit“ und „moralischer Blindheit“ (Bauman 2013). Deshalb liegt alles am Einzelnen, auch inmitten der Unmenschlichkeit die eigene Menschlichkeit zu bewahren – im Widerstand gegen die „herrschende Moral“ (Varcoe & Kilminster 2008). Als Soziologe sah Zygmunt Bauman seine Aufgabe darin, die Gesellschaft an ihre ethische Verantwortung zu erinnern. Seine „Postmoderne Ethik“ zeigt Werte auf, die verloren zu gehen drohen (siehe Kasten 2). Zugleich deutet sie ein Gegenbild zur illusionslosen Gegenwart an (Jacobsen 2008).
Kasten 2
Postmoderne Ethik Die „Postmoderne Ethik“ soll dazu beitragen, „uns sensibler zu machen, unsere Sinne zu schärfen und unsere Augen weiter zu öffnen, damit wir menschliche Lebenssituationen in den Blick nehmen, die bisher unsichtbar waren. Die scheinbar natürlichen, unausweichlichen, unveränderbaren Aspekte unseres Lebens gehen auf die Macht und Gewalt des Menschen zurück. Je besser wir dies verstehen, desto weniger werden wir akzeptieren, dass sie nicht veränderbar sind durch menschliches Handeln – auch durch unser eigenes Handeln“ (Bauman 1990, S. 16).
Der Zustand unserer Gesellschaft ist kein Schicksal, so Zygmunt Bauman. Zur ethischen Verantwortung gehört auch, die Gesellschaft zu verändern. Dies erfordert den Mut, sich selbst zu riskieren. Nur dadurch können sich „Möglichkeiten eines anderen Zusammenlebens ohne oder mit weniger Leid“ eröffnen (Bauman 2000, S. 252).
Pflege als ethischer Schutzort In einer Gesellschaft, die das Ethische zunehmend zu verlieren droht, erweist sich die Pflege als ein seltener Ort der Sorge und des Für-den-anderen-seins (Nordtvedt 2003). Pflegende leben täglich die Verantwortung für den anderen, leidenden Menschen. Sie setzen sich ein für Personen, die krankheitsbedingt ihre Selbstsorge nicht aus eigener Kraft leisten können. Die verletzlichsten Menschen der Gesellschaft sind existenziell darauf angewiesen, dass es Mitmenschen gibt, die ihren Nöten und Anliegen nicht gleichgültig und distanziert gegenüberstehen. In einer lebensbedrohlichen, traumatisierenden oder hochverletzlichen Situation keinen vertrauenswürdigen, offenen Menschen zu begegnen, wäre unerträglich und entwürdigend. So bildet die Pflege im Sinne Zygmunt Baumans einen ethischen Schutzort – einen Ort der Sorge und Sensibilität für Leiden, Schmerz, Verlust und Endlichkeit. Pflege ist somit weit mehr als eine Profession. Sie ist eine Weise des ethischen Menschseins (Nordtvedt 2007). Pflege ereignet © 2019 Hogrefe
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sich als ethische Nähe von Angesicht zu Angesicht. Um einem Menschen helfen zu können, braucht es die Fähigkeit, das Gesicht, den Körper und die Psyche des anderen Menschen zu „lesen“. Klinisches Verstehen ist jedoch nicht ausschliesslich rational. Auch in der Pflege kommt es darauf an, sich vom Gesicht, von Wunden oder Symptomen „innerlich erschüttern zu lassen“ (Nordtvedt 2003). Das Leiden, den Schmerz und die Sorge des Anderen bis zu einem gewissen Grad „in sich selbst zu spüren“, schärft die klinische Erkenntnisfähigkeit. Innere Betroffenheit löst prosoziales Handeln aus (Lonigro et al. 2014). Ohne persönliches Erschüttertsein fehlt die Sensibilität für das klinische Vorgehen. Vertiefte Empfindungsfähigkeit und Empathie sind „Erkenntnisinstrumente“, die pflegerisches Handeln leiten. „Berührt zu sein durch den Schmerz und das Leiden“ führt zu klinischer Sorgfalt, Achtsamkeit und Vorsicht (Nordtvedt 2003). Je ausgeprägter die Betroffenheit, desto höher ist die Bereitschaft, nicht selbstbezogen, sondern prosozial helfend zu handeln. Als zentral gilt hierbei die Fähigkeit, „eine andere Person in die eigene Selbstkonzeption einbeziehen zu können“ (Mathur et al. 2010). Wichtig ist hierbei, die eigene ethische Sensibilität unmittelbar in Handeln umzusetzen. Die Situation des Leidenden verändern zu können, wirkt beglückend – für Betroffene und Pflegende zugleich (Decety 2016). Im Sinne Zygmunt Baumans lässt sich die Pflege als gesellschaftlich verändernde ethische Kraft verstehen. Pflegen bedeutet auch, die Lebenswirklichkeit leidender Menschen umzugestalten – und ihnen dadurch „ein Leben ohne oder mit weniger Leid“ zu ermöglichen (Bauman 2000, S. 252).
Die Freiheit der Hingabe In unserer Zeit besteht oft der Eindruck, ein „erfülltes Leben“ zeichne sich durch Selbstverwirklichung und die Weisheit der „Selbsterkenntnis“ aus (Rajberg 2017). Es scheint auch selbstverständlich, dass der Mensch von Natur aus fähig ist, „das Gute“ zu verwirklichen. Vor dem Hintergrund von Zygmunt Baumans Ethik erweisen sich diese Annahmen als fragwürdig. Die „Postmoderne Ethik“ regt dazu an, neu darüber nachzudenken, was es heisst, ein „erfülltes“ Leben zu führen und Gutes zu tun: • Liegt vielleicht das größte Glück des Menschen gar nicht darin, sich selbst zu finden, sondern darin, von sich selbst frei zu werden – in der Begegnung mit dem Ande-
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ren, im Engagement für Andere oder im Einsatz für eine weniger leidvolle Welt? (Rajberg 2017) • Besteht „Glück“ tatsächlich in der „Zufriedenheit“ mit Erreichtem und Bestehendem? Ist es vielleicht viel beglückender, leidvolle Wirklichkeit zu verändern und den Schmerz anderer Menschen zu lindern? (Badiou 2015) • Könnte es sein, dass der Mensch erst dann Gutes bewirken kann, wenn er sich selbst zurücknimmt und sich für anderes öffnet? Setzt „erfülltes“ Menschsein vielleicht gerade voraus, sich selbst zu riskieren – in einer Bewegung der Hingabe an anderes? (Badiou 2015) Die „Postmoderne Ethik“ erinnert daran, dass es höhere Werte gibt als Selbstzufriedenheit, Genuss und persönliche Sicherheit. Der Mensch kann seine Freiheit wahrnehmen, um andere Menschen von ihrem Leiden, ihrer Not und ihrer Sorge zu befreien. Die eigene Freiheit für andere einzusetzen, bedeutet ein verantwortungsvolles, engagiertes Leben zu führen. Dies setzt voraus, sich selbst loszulassen. Denn vielleicht besteht „die höchste Freiheit gerade in der Hingabe“ (Levinas 1998).
Literatur Bauman, Z. (1993). Postmodern Ethics. London: Blackwell. Crone, M. (2008). Bauman on Ethics: Intimate ethics for al global world? In M. Hviid Jacobsen, P. Poder, The Sociology of Zygmunt Bauman. Challenges and critique. London: Ashgate. Hirst, B. (2014). After Lévinas: Assessing Zygmunt Bauman’s ‘ethical turn’. European Journal of Social Theory, 17 (22), 184–198. Nordtvedt, P. (2003). Subjectivity and vulnerability: reflections on the foundation of ethical sensibility. Nursing Philosophy, 4, 222–230. Die vollständige Literaturliste ist bei der Autorin erhältlich.
Dr. Diana Staudacher ist freie Publizistin und wissenschaftliche Mitarbeiterin des Universitätsspitals Zürich und der Fachhochschule St. Gallen. diana.staudacher@gmail.com
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Schwerpunkt 13
Ethik in der pflegerischen Praxis und Forschung Fragen zur Selbstbestimmung und „Verwahrlosung“
© Martin Glauser
Christine Dunger
Pflegende sollten sich stets bewusst sein, dass sie gegenüber Pflegebedürftigen in einer machtvollen Position sind.
Ethik ist in der pflegerischen Praxis und Forschung relevant. Besonders zu beachten ist, dass praktisch und forschend tätige Pflegende in einer machtvollen Position gegenüber vulnerablen Patienten und Teilnehmern sind. Ethisch verantwortbares Verhalten bedeutet daher, diese Menschen in einen ethischen Schutzbereich aufzunehmen und sie als autonome Akteure anzuerkennen. Das gilt auch, wenn Pflegende auf verwahrloste Menschen treffen, die gefährdet sind, stigmatisiert und diskreditiert zu werden.
P
rofessionelle Pflege1 kann als „Erkennen und Behandeln von menschlichen Reaktionen auf bestehende oder potentielle Gesundheitsprobleme“ verstanden werden (ANA 1980). Diese allgemeine Definition
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passt für verschiedene Settings und Fachbereiche, obwohl diese mit ganz unterschiedlichen Anforderungen verbunden sind. Allen Pflegenden wie auch anderen Sozial- und Heilberuflern ist gemeinsam, dass sie mit Menschen zusammenarbeiten, die aufgrund ihrer Lebenssituation verletzlich, d. h. vulnerabel sind. Diese Vulnerabilität ist für die normativ-ethische Grundhaltung der professionellen Helfer sowie die konkrete Beziehungsgestaltung von Bedeutung und spielt auch in der Forschung eine wesentliche Rolle. Klassischerweise wird der Mensch in ethischen Betrachtungen von seinen optimalen Möglichkeiten her gedacht. Vernunft, Autonomie, Rationalität und weitere Eigenschaften unterscheiden ihn von anderen Wesen und machen ihn zu einer besonders schützenswerten Person (vgl. hierzu Schnell 2008 & 2017). Vulnerable Menschen
Wenn im Text von Pflegenden oder Helfenden die Rede ist, sind immer professionelle Pflegende und Helfende gemeint.
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© 2019 Hogrefe
14 Schwerpunkt
erfüllen diese Kriterien nicht oder nicht vollständig. Dennoch werden sie nicht aus dem Schutzbereich des ethischen ausgeschlossen. Im Gegenteil: Ziel von Sozial- und Heilberufen ist gerade, dass vulnerable Menschen einbezogen werden, Schutz genießen und Teilhabe erleben. Hintergrund dafür ist eine Ethik im Zeichen vulnerabler Personen, in deren Mittelpunkt nicht die genannten Eigenschaften stehen, die eine vernünftige Person ausmachen, sondern Leiblichkeit und Sorge (Schnell 2017). Auch in der Pflegeforschung spielt diese besondere Perspektive auf Menschen eine wichtige Rolle. Teilnehmende werden nicht allein als Gegenstand der Forschung begriffen, sondern als Mitsubjekt. Das erfordert von Forschenden ein entsprechendes forschungsethisches Verhalten. Zudem werden Erlebnisse, Bedürfnisse und Eigenperspektiven, d. h. die Selbstaussagen der Teilnehmenden als relevant wahrgenommen, was Auswirkungen auf die Forschungsmethoden und ihre Anwendung hat (Schnell 2017). Was diese beiden Aspekte genau bedeuten, muss für die jeweilige Fragestellung betrachtet und umgesetzt werden (Schnell 2018). Im Folgenden wurde sowohl für die praktischen als auch forschungsethischen Überlegungen das Thema „Verwahrlosung“ gewählt.
Der Begriff „Verwahrlosung“ Der Begriff „Verwahrlosung“ ist problematisch. Es gibt keine klare Definition dafür, was darunter zu verstehen ist. Es handelt sich eher um einen Sammelbegriff dafür, dass Menschen in einen ungeordneten und chaotischen Lebenszustand abgleiten oder Störungen im Bereich des Sozial- und Leistungsverhaltens zeigen. Sie kann seelisch, sozial, moralisch oder körperlich auftreten und im Rahmen des selbstbestimmten Handelns, bzw. einer selbst gewählten Lebensform aber auch durch Fremdeinfluss und zugrundeliegende Erkrankungen auftreten. Nach Hofer (2003) kann auch von Dissozialität gesprochen werden, die sich als naturgemäß (Hunger, Armut, Krankheit, usw.), gesellschaftlich/kulturell (dissoziales Verhalten, Aggressionen, Kriminalität, usw.) oder personal (innere oder latente Verwahrlosung) kategorisieren lässt. Bei Erwachsenen sind desorganisierte Wohnformen bis hin zur Wohnungsvermüllung besonders bekannt. Als Ursache wird unter anderem ein Strukturmangel in der Lebensorganisation genannt. Dieser Mangel kann beispielsweise auf biografische Erlebnisse, Suchterkrankungen, psychische und hirnorganische aber auch begleitende körperliche Erkrankungen zurückgehen (H-TEAM 2015, S. 11ff). Daraus können dann psychische Überforderungen bei der Bewältigung einer Lebenssituation, physiologische Störungen oder auch Defizite durch ein fehlendes Repertoire an Techniken und Fertigkeiten resultieren (ebd.; Barocka 2009, S. 67ff). Diese Erläuterungen zeigen deutlich, dass Verwahrlosung immer aus einer bestimmten Perspektive heraus beobachtet, beschrieben und definiert wird. Die Gesell© 2019 Hogrefe
schaft oder ihre Vertreter blicken aus ihrer gewollten Normalität hinaus auf mehr oder weniger gravierende Abweichungen. Alle Definitionen, wie auch der Begriff selbst, sind daher normativ geprägt. Das Selbstbild derer, die in einer „verwahrlosten“ Lebenssituation leben, spielt ebenso wenig eine Rolle, wie mögliches Anpassungsverhalten, um dem aufgebauten Druck entgegenzuwirken. Diese Aspekte sind jedoch im praktischen Umgang mit sog. verwahrlosten Menschen und in der Diskussion des Themas immer einzubeziehen.
„Verwahrlosung“ als Stigma Der Begriff „Stigma“, der heute in der Forschung genutzt wird, wurde in den 1960er-Jahren vor allem von Erving Goffman etabliert: „Während der Fremde vor uns anwesend ist, kann es evident werden, dass er eine Eigenschaft besitzt, die ihn von anderen in der Personenkategorie, die für ihn zu Verfügung steht, unterscheidet; und diese Eigenschaft kann von weniger wünschenswerter Art sein – im Extrem handelt es sich um eine Person, die durch und durch schlecht ist oder gefährlich oder schwach. In unserer Vorstellung wird sie so von einer ganzen und gewöhnlichen Person zu einer befleckt, beeinträchtigten herabgemindert. Ein solches Attribut ist ein Stigma, besonders dann, wenn seine diskriminierende Wirkung sehr extensiv ist“ (Goffman 1963, S. 10f). Grundlage für diese Aussage sind die Annahmen, die Goffman über soziale Interaktionen und ihre identitätsbildenden Auswirkungen trifft (Goffman 1963; siehe Abbildung). Zahlreiche weitere Forscher bezogen sich auf Goffman und entwickelten das Stigmakonzept weiter. Neuere Studien oder Überlegungen differenzieren verschiedene Arten von Stigmatisierung. Die Zwei-Faktoren-Theorie unterscheidet so zwischen öffentlicher Stigmatisierung aufgrund von Stereotypen sowie Vorurteilen und Selbststigmatisierung aufgrund der Übernahme oder Selbstzuweisung dieser zunächst gesellschaftlich geprägten Stereotypen und Vorurteile (vgl. hierzu Rüsch 2005, S. 223). In viele Betrachtungen werden vor allem Ursachen der Stigmatisierung einbezogen, um anhand der sozialen Funktion auf individueller und gesellschaftlicher Ebene Lösungsmöglichkeiten zu entwickeln (Piontek 2009, S. 14). Aber auch die Betrachtung des Stigmatisierungsprozesses (Link 2001; Grausgruber 2005) ist relevant. Sie verbindet die dahinterliegende (diskreditierende) Interaktion mit ihrem Einfluss auf die individuelle Identität (Piontek 2009, S. 19ff) und mögliche Dilemmata der Betroffenen. Insgesamt kann festgehalten werden, dass Menschen, die in als verwahrlost geltenden Lebenssituationen oder Pflegearrangements leben: • nicht „alle gleich“ sind, sondern verschiedene Motive sowie Ursachen angenommen werden müssen, • alle mit einer nahezu identischen normativen Erwartung konfrontiert werden, die einen Anpassungsdruck aufbaut, dem nicht entsprochen wird, NOVAcura 1/19
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diskreditierbare (nicht erkannte) Person versucht, Informationen über sich zu managen situative Erwartungen innerhalb einer Interaktion: persönliche Identität
− geprägt durch gesellschaftliche Vorstellung, Sozialisation, usw. − richten sich als „Forderung an die Identität“ an die andere Person − beziehen sich auf die (erwarteten) Eigenschaften der Person
virtuale (erwartete) soziale Identität Eigenschaften Körper Charakter (Gruppen-) Zugehörigkeit
enttäuschte Erwartung führt zu Herabminderung der anderen Person STIGMA
aktuale (tatsächliche) soziale Identität
diskreditierte Person versucht, Spannungen innerhalb der Interaktion zu managen Interaktion, Identität und Stigma bei Goffman (eigene Darstellung)
• sich, je nach Ursache, nicht immer bewusst über ihre Abweichung von der Norm sind, • in dem Augenblick, in dem Helfer einbezogen werden, nicht mehr Gefahr laufen, diskriminiert zu werden, d. h. diskreditierbar sind, sondern die Diskreditierung aufgrund des Stigmas eintritt.
Haltung, Verhalten und Unterstützen Anschließend an die bisherigen Gedanken, können für die Begleitung folgende Kernaspekte festgehalten werden. Ausgehend von Goffmans Stigmatisierungskonzept ist zunächst eine Reflexion der eigenen Werte und erwarteten Verhaltensvorstellungen angebracht. In einem zweiten Schritt sollten Pflegende ihr Verhalten, vor allem ihre Reaktionen, anpassen. Damit übernehmen sie eine Rolle, die Goffman in einem anderen Kontext als „Weise“ bezeichnet: „Weise sind die Grenzpersonen, von denen das Individuum mit einem Fehler weder Scham zu fühlen noch Selbstkontrolle zu üben braucht, weil es weiß, dass es trotz seines Mangels als ein gewöhnlicher anderer angesehen wird“ (Goffman 1963, S. 40). Anders ausgedrückt: Im Zentrum steht eine nicht exklusive und würdekonstituierende Beziehung (Schnell 2008). Der pflegerische Auftrag unterstützt diese Art der Herangehensweise. Die Versorgung und Begleitung von Menschen, die beispielsweise desorganisiert wohnen, kann nur mit ihnen gemeinsam und in einem interdisziplinären Team gelingen. Die hohe Komplexität der Situation erfordert es, dass Pflegende ihre eigenen Kompetenzen wie auch die der anderen Disziplinen sowie Institutionen kennen und vorhandene Strukturen nutzen. Beispielhaft kann hier eine Initiative aus der Region Hannover genannt werden, die entsprechende Strukturen in einem Bericht vorstellt (Region Hannover 2014). In diesem Kontext kann es auch sinnvoll sein, NOVAcura 1/19
Fallbesprechungen durchzuführen (vgl. Gordijn 2000) oder Supervisionen sowie kollegiale Beratung zu nutzen. Die Selbstbestimmung der Betroffenen ist in jedem Fall zu achten. Das bedeutet, dass sie in die Entscheidungen, die im Kontext der Begleitung und Versorgung getroffen werden, eingebunden werden und sie, soweit möglich, autonom fällen. Das Modell der gemeinsamen Entscheidungsfindung, das in verschiedensten Kontexten beschrieben wird, bietet hier einen guten Ansatzpunkt. Es ist auch interdisziplinär einsetzbar (Legaré 2008) und bei langfristigen Begleitungen eine mögliche Basis settingübergreifender Versorgung. In allen Begegnungen ist die rechtliche Situation zu beachten. Hier sind die europäische Datenschutzgrundverordnung wie auch das Betreuungsrecht zu nennen. Aber auch bei einer Wohnungsvermülllung gibt es klare Grenzen dafür, wann gegen den Willen Betroffener Maßnahmen einzuleiten sind. Lediglich eine wesentliche Selbst- oder Fremdgefährdung wie eine Gefährdung der Bausubstanz ermöglichen das Eingreifen von Gericht und Polizei oder Ordnungsamt (Infektionsschutz, Tierschutz).
Pflegeforschung in und über „verwahrloste(n)“ Pflegearrangements Relevante Fragen in der Pflegeforschung beziehen sich zunächst auf das Selbsterleben Betroffener. Diese sind nicht nur in der Ursachenergründung und Unterstützung von Anpassungsleistungen ernst zu nehmen, sondern auch im Erleben ihrer eigenen Lebenswelt. Menschen, die in als ‚verwahrlost‘ geltenden Pflegearrangements leben, haben, wenn sie es wünschen, etwas zu erzählen. Anhaltspunkt für Studienkonzeptionen könnte, ähnlich wie in der Forschung zu psychischen Erkrankungen (Piontek 2009, S. 20), die Lebensqualität der Betroffenen sein. Mit Blick © 2019 Hogrefe
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auf die automatische Diskreditierung bei Hilfeleistungen ist in Bezug auf Hilfesuchverhalten die Furcht vor Diskriminierung ein mögliches Thema. Auch Angehörige sind dabei mit zu betrachten. Obwohl es in der Stigmatisierungsforschung zahlreiche Studien zur Fremdperspektive auf Verwahrlosung gibt, ist bisher noch nicht beschrieben, wie Pflegende in entsprechenden Pflegearrangements interagieren. Gerade im ambulanten Bereich und der Pflegeberatung werden entsprechende Situationen immer häufiger erlebt und Helfende fühlen sich nicht ausreichend vorbereitet. Welche Auswirkung die Konfrontation auf die Pflegenden hat und wie die Situationen gestaltet werden können, ist bisher lediglich im psychiatrischen Setting thematisiert.
Forschungsethik Die forschungsethische Reflexion (Schnell 2018) sollte in Bezug auf Betroffene und ihre vulnerable Lebenssituation beachten, dass es durch die Studie nicht zu Diskreditierung oder Diskriminierung kommt. In diesem Kontext ist zunächst die Begründung für die Teilnehmerauswahl zu nennen. Weiterhin ist der Datenschutz besonders relevant. Neben diesen beiden Aspekten, in denen auch die informierte Zustimmung zu thematisieren ist, sind schließlich das forschungsethische Verhalten im Forschungsprozess wie auch die Angemessenheit der gewählten Forschungsmethoden von hoher Bedeutung. Studien, die die Helfer als Experten einschließen, müssen berücksichtigen, dass diese im Kontext ihrer Arbeit möglicherweise stark belastet sind und daher ebenfalls einer besonderen Zuwendung bedürfen. Ebenso ist der Datenschutz von hoher Relevanz. Im Zentrum des forschungsethischen Verhaltens steht vor allem, dass die Forscher selbst wertfrei und nicht korrigierend auftreten. Das ist lediglich in Situationen angebracht (und dann auch notwendig), in denen „Gefahr im Vollzug“ besteht.
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Fazit Ethik ist für pflegerische Praxis und Forschung relevant. Sie findet dort Anwendung, wo Haltungen entstehen oder gefestigt werden, Akteure Entscheidungen treffen und Menschen miteinander interagieren. Dabei ist zu beachten, dass Pflegende als Praktiker und Forscher in einer machtvollen Position stehen. Zentraler Aspekt ethisch verantwortbaren Verhaltens ist daher, diese Menschen in den Schutzbereich des Ethischen mit aufzunehmen und dort als autonome, gleichberechtigte Akteure zu unterstützen. Beispielhaft dafür wurden ‚verwahrloste‘ Pflegearrangements thematisiert.
Literatur Goffman, E. (1963). Stigma: Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Hofer, R. (2003). Verwahrlosung interdisziplinär begreifen. Friedberg: Brigg Verlag. Schnell, M.W. (2017). Ethik im Zeichen vulnerabler Personen: Leiblichkeit – Endlichkeit – Nichtexklusivität. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft. Schnell, M.W. & Dunger, C. (2018). Forschungsethik: Informieren – reflektieren – anwenden. Bern: Hogrefe. Die vollständige Literaturliste ist bei der Autorin erhältlich.
Dr. Christine Dunger ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am „Lehrstuhl für Sozialphilosophie und Ethik“ sowie Mitarbeiterin am „Institut für Ethik und Kommunikation im Gesundheitswesen (IEKG)“ der Universität Witten/ Herdecke. christine.dunger@uni-wh.de
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Advance Care Planning Der Auftrag der Pflegefachpersonen
© Martin Glauser
Isabelle Karzig-Roduner
Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) hat im April 2018 ein nationales Rahmenkonzept zur gesund-
gerungen daraus beziehen sich auf Möglichkeiten zukünftiger Anpassungen der Curricula in der Pflegeausbildung.
heitlichen Vorausplanung mit Schwerpunkt Advance Care Planning veröffentlicht mit dem Ziel, zunehmend tatsächlich zu erreichen, was rechtlich seit 2013 grundlegend gefordert ist: dass der Patientenwille auch in Notfall- und Krisensituationen entscheidungsleitend ist. Für Pflegefachpersonen bedeutet diese Zielvorgabe der Patientenzentrierung eine Verantwortungserweiterung mit einer entsprechenden Ausdehnung der in den Ausbildungen vermittelten Kompetenzen.
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m den Auftrag der Pflegefachpersonen in der gesundheitlichen Voraus(=advance)planung aufzeigen zu können, stelle ich zunächst das Konzept Advance Care Planning vor, mit dem aktuellen Stand der Implementierung in der Schweiz. Danach erläutere ich die verschiedenen Aufgaben der Pflegefachpersonen im Prozess der aktiven Förderung des Patientenwillens. Die Fol-
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Konzept Advance Care Planning Im Projekt Respecting Choices® der Region La Crosse, Wisconsin, USA wurde in den 1990er Jahren das Konzept Advance Care Planning (ACP) auf der Basis von vier konstitutiven Prinzipien begründet: dem Prinzip eines Handelns gemäss der individuellen Idealvorstellung eines gelungenen Lebens, dem Prinzip des Rechts auf körperliche Unversehrtheit, dem Prinzip der Patientenautonomie und dem Prinzip der Einwilligung nach Aufklärung, dem informed consent (Hammes 2015, S.97ff, Coors et al. 2015, S.79). Diese Prinzipien geben den ethischen Rahmen von ACP vor: Ob eine Patientin oder ein Patient mit dem Therapieziel der Lebensverlängerung oder mit dem Therapieziel der Leidenslinderung behandelt werden möchte, hängt von ihren persönlichen Idealvorstellungen eines gelungenen Lebens ab, von ihren Lebens- und Krankheitserfahrungen, vom Krankheitsverlauf und von den Informationen zu ihrer Erkrankung und der Evidenz von Therapiemöglichkeiten. Die gemeinsame Festlegung der Therapieziele soll diese Prinzipien immer berücksichtigen. © 2019 Hogrefe
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Ethische Dimension der gesundheitlichen Vorausplanung – Autonomiebefähigung Das Beratungskonzept nach ACP, welches in den letzten Jahren in Fachgremien der Deutschsprachigen interprofessionellen Vereinigung – Behandlung im Voraus Planen (DiV-BVP) in Deutschland und der Schweiz weiterentwickelt worden ist, hat zum Ziel, die personale Integrität von Patientinnen und Patienten jederzeit ins Zentrum des medizinischen Handelns zu stellen, speziell auch für zukünftige Krankheitssituationen mit Urteilsunfähigkeit. Integrität bedeutet in diesem Zusammenhang, dass die eigenen Wertvorstellungen mit dem festgelegten Therapieziel übereinstimmen, was auch im Zustand der Urteilsunfähigkeit gelten soll: würde ein urteilsunfähiger Patient die Situation beobachten können, wäre er jederzeit einverstanden mit seiner Behandlung und Betreuung, mit der Art und Weise, wie mit ihm umgegangen wird. Die verfügenden Personen werden daher einerseits über die gesetzliche Regelung der Vertretungsberechtigung informiert und nach Wunsch darin unterstützt, eine oder mehrere Personen festzulegen, die sie bei Urteilsunfähigkeit vertreten sollen. Andererseits ermöglicht das Beratungskonzept ACP, möglichst gemeinsam mit den Angehörigen den eigenen Standort zu reflektieren und die Erwartungen und Befürchtungen bezüglich medizinischer Therapien und daraus folgernd die Therapieziele zu formulieren und festzuhalten. Dadurch wird das gegenseitige Verständnis und die Nachvollziehbarkeit der Festlegungen gefördert und dem Prinzip der Autonomie Rechnung getragen. Autonomie ist keine inhärente Fähigkeit, sondern muss immer situativ verstanden und als eine relationale, durch Beziehung hervorgebrachte Befähigung stets bewusst gemacht, gefördert und evaluiert werden. In der MAPS-Studie (Multiprofessional Advance Care Planning and Shared Decision-Making in End of Life Care) am Universitätsspital Zürich (Krones et al. 2019) konnte gezeigt werden, dass die Entscheidungskonflikte von Patienten und ihren Angehörigen durch den ACP-Beratungsprozess in Kombination mit Shared decision-making statistisch signifikant gesenkt werden konnten. ACP fördert das Vertrauen der Patientinnen und Patienten in die Medizin und die Gesundheitsinstitutionen.
Medizinische Dimension der gesundheitlichen Vorausplanung – Patientenverfügung „plus“ Strukturierte Formulare in der Patientenverfügung „plus“ ermöglichen aussagekräftige, umsetzbare Festlegungen für relevante klinische Entscheidungssituationen, die von interprofessionellen medizinischen Behandlungsteams nicht nur verstanden und umgesetzt werden können, sondern auch die Angehörigen im stellvertretenden Handeln und Entscheiden entlastet. Um die Umsetzbarkeit im medizinischen Alltag zu erhöhen, sind sie von Gesundheits© 2019 Hogrefe
fachpersonen verschiedener Professionen in einem deliberativen Prozess entwickelt worden. Das „plus“ besteht im gemeinsamen Gesprächsprozess und evidenzbasierten medizinischen Informationen, die zu einer sowohl werteals auch wissensbezogenen Entscheidung führen. Die verfügenden Personen werden in ihrer Autonomiewahrnehmung gestärkt durch die Fokussierung auf Therapieziele auf Basis der Standortbestimmung und durch evidenzbasierte Entscheidungshilfen zu wesentlichen Themen der medizinischen Behandlungsmöglichkeiten zur Lebensverlängerung. Die Patientenverfügung „plus“ besteht aus den vier Formularen: 1. Standortbestimmung zur Therapiezielfindung: Einstellung zum Leben, schwerer Krankheit und zum Sterben 2. Ärztliche Notfallanordnung für Notfallsituationen (ÄNO) 3. Spitalbehandlung bei Urteilsunfähigkeit unklarer Dauer 4. Behandlung bei bleibender Urteilsunfähigkeit
Gesundheitliche Vorausplanung…berücksichtigt den Umstand, dass die Voraussetzungen für medizinische Entscheidungen bei nicht voraussehbaren Notfallsituationen, im Rahmen einer sogenannten Postakutphase (nach Überstehen einer gesundheitlichen Krise) und für den Fall dauerhafter Urteilsunfähigkeit unterschiedlich sind und daher auch unterschiedlich diskutiert werden müssen. (BAG-Rahmenkonzept ACP)
Advance Care Planning in der Schweiz Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) hat im April 2018 das nationale Rahmenkonzept zur Gesundheitlichen Vorausplanung mit Schwerpunkt – Advance Care Planning veröffentlicht1 mit dem Ziel, das ACP-Konzept in der Schweiz flächendeckend zu fördern, um es für die Bevölkerung zugänglich zu machen und damit der Beachtung des Patientenwillens Vorschub zu leisten durch eine möglichst einheitliche Implementierung. Die gesundheitliche Vorausplanung wird allen Menschen empfohlen, ob jung oder alt, gesund, chronisch krank oder schwer erkrankt; das BAG legt aber einen Schwerpunkt auf Menschen mit einer langsam fortschreitenden Erkrankung und in der Palliative Care in der letzten Lebensphase. Für deren Betreuung ist eine gemeinsame Ausrichtung auf ein Therapieziel bei Zustandsverschlechterung ein wesentlicher Aspekt, welcher ungewünschte Hospitalisationen am Lebensende vermeiden könnte, was aber wissenschaftlich noch zu untersuchen wäre. Weiter sieht das Rahmenkonzept eine
www.bag.admin.ch/koordinierte-versorgung
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Qualitätsentwicklung in der professionellen Beratungskompetenz vor unter Berücksichtigung der Interprofessionalität im Gesundheitswesen.
Gesundheitliche Vorausplanung…ist ein kontinuierlicher, dem Krankheitsverlauf angepasster Prozess, wobei die Begleitung und regelmässige Überprüfung durch eine qualifizierte Fachperson in diesem Prozess unabdingbar sind. (BAG-Rahmenkonzept ACP)
ACP-Weiterbildungsmodule Zu den ACP-Weiterbildungsmodulen gehören der ACPBotschafterkurs, der ACP-Theoriekurs mit Zertifikatskurs, eine Hausärzte- und eine Spitalärzteweiterbildung sowie je ein Modul zur Vertreterdokumentation und zur Notfallplanung bei Palliativpatienten (ACP-NOPA). Zurzeit werden alle bestehenden ACP-Weiterbildungsmodule am Bildungszentrum des Universitätsspitals Zürich angeboten, der ACP-Botschafterkurs zusätzlich auch in Basel, Bern und St. Gallen und an verschiedenen Fachhochschulen im Rahmen der Pflegeausbildung. Die weiterführenden Kurse zur ACP-Koordination und Train the Trainer werden abwechselnd in verschiedenen Städten Deutschlands angeboten durch den Verein DiV-BVP. Zudem finden am Bildungszentrum des Universitätsspitals Zürich ab 2019 regelmässige Fachexpertentreffen statt.
Gesundheitliche Vorausplanung… enthält […] einen systematischen Prozess, der die regionale Umsetzung erleichtert, wozu etwa Weiter- und Fortbildungen der Ärztinnen und Ärzte, der Pflegeund Rettungsdienste, die Ausarbeitung von Handlungsstandards sowie eine Aufklärung der Bevölkerung gehören. (BAG-Rahmenkonzept ACP)
Pflegeprozess und Advance Care Planning Das zweitägige Weiterbildungsmodul zum ACP-Botschafter/zur ACP-Botschafterin fokussiert auf Aufgaben, wie sie gerade auch Pflegefachpersonen übernehmen sollten, wenn es darum geht, die Patienten in ihrer Autonomie zu befähigen, Entscheidungen für zukünftige Krisen- und Notfallsituationen im Voraus zu treffen. Im Pflegeassessment werden der aktuelle Gesundheitszustand und die Urteilsfähigkeit eingeschätzt und die Ressourcen des Patienten erhoben. Dabei liegt der Fokus auf dem Wissensstand der Patienten bezüglich ihrer Erkrankung und möglicher Komplikationen. Der diagnostische Prozess NOVAcura 1/19
führt zur Diagnosestellung, die den Beratungsbedarf zur gesundheitlichen Vorausplanung erfassen sollte, eine spezifische Pflegediagnose für ACP muss aber noch entwickelt werden. Von der Pflegediagnose wiederum hängt die Formulierung eines Pflegeziels und die in Zusammenarbeit mit den behandelnden Ärztinnen und Ärzten entsprechende Planung möglicher Notfall- und Krisensituationen ab. Die Pflegeinterventionen umfassen das Standortgespräch zur Therapiezielfindung und die Beratung zur Vertretungsberechtigung. Als ACP-Botschafter können die Pflegefachpersonen dadurch aktiv das Vertrauen der Patientinnen und Patienten fördern und sicherstellen, dass ihnen eine gesundheitliche Vorausplanung nach ACP ermöglicht wird.
Gesundheitliche Vorausplanung… bildet die Grundlage für das Ergreifen oder Unterlassen von medizinischen Massnahmen resp. für die Entscheidungsfindung bei erhaltener und nicht mehr erhaltener Urteilsfähigkeit. (BAG-Rahmenkonzept ACP)
Für die Implementierung des ACP-Konzepts in den Pflegeprozess brauchen die Pflegefachpersonen folgende erweiterten Kenntnisse und Fähigkeiten: Guter Anfang durch aufsuchende Gespräche Für die Thematisierung der gesundheitlichen Vorausplanung sind die Pflegefachpersonen in Zusammenarbeit mit den behandelnden Ärztinnen und Ärzten prädestiniert. Das Wissen um die aktuelle Verfügungssituation eines Patienten ermöglicht es ihnen, die Pflege gemäss des Willens des Patienten auszurichten, auch wenn dieser nicht urteilsfähig sein sollte. Patienten, welchen Gespräche im Rahmen eines Guten Anfangs angeboten werden, werden motiviert und bestärkt, ihr Therapieziel für die aktuelle Situation ebenso wie für zukünftige Krisensituationen zu überdenken. Die Thematisierung der gesundheitlichen Vorausplanung kann Teil der direkten Pflegetätigkeit im Rahmen eines Assessments sein, wie dies in der ambulanten Pflege zum Standard gehört oder durch die spezifischen Aufgaben einer Bezugspflegeperson wahrgenommen werden. Themen des Guten Anfangs zur gesundheitlichen Vorausplanung sind: • Stärkung der Beziehung zum Gesprächspartner • Information darüber, dass die gesundheitliche Vorausplanung fester Bestandteil einer guten Pflege und Betreuung ist, ein Standortfindungs- und Entscheidungsprozess ist und ein interprofessionelles Konzept mit spezifischen Aufgaben beinhaltet • Erhebung des Beratungsbedarfs bei der gesundheitlichen Vorausplanung • Angebot der Begleitung bei der gesundheitlichen Vorausplanung © 2019 Hogrefe
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Im ACP-Botschafterkurs werden die Pflegefachpersonen sensibilisiert, die Patienten unabhängig vom Alter und dem Schweregrad ihrer Erkrankung aktiv durch aufsuchende Gespräche auf die Themen der gesundheitlichen Vorausplanung anzusprechen. Sie lernen nicht nur danach zu fragen, ob eine Patientenverfügung vorhanden ist, sondern auch den Beratungsbedarf in einer ergebnisoffenen Haltung aktiv zu erheben, die Auskünfte und Bedürfnisse der Patienten zu dokumentieren und weiterzuleiten.
Ein Schwerpunkt liegt bei Menschen mit langsam fortschreitenden Erkrankungen (sog. vulnerable Menschen) und in der letzten Lebensphase. Hier soll die gesundheitliche Vorausplanung ein fester und möglichst klar strukturierter Bestandteil der klinischen Praxis werden, mit entsprechender Verankerung als professionelle Leistungskategorie und entsprechender finanzieller Vergütung. (BAG-Rahmenkonzept ACP)
Validierung der Festlegungen in einer bestehenden Patientenverfügung Ein guter Einstieg in die Thematik ist die Frage nach einer bestehenden Patientenverfügung. Damit Patienten nicht brüskiert werden, ist es hilfreich, wenn die Pflegefachpersonen ein erweitertes Wissen über die rechtlichen, medizinischen und ethischen Dimensionen von Patientenverfügungen haben. Dies hilft ihnen, die Thematik sorgsam und zielführend anzugehen. Wenn Patienten bereits eine Verfügung verfasst haben, ist es neben dem ärztlichen Dienst auch Aufgabe der Pflegefachpersonen, diese zu lesen und zu interpretieren. Damit der aktuelle Wille des Patienten für zukünftige Situationen der Urteilsunfähigkeit festgehalten und entsprechend in die Pflegeplanung einfliessen kann, ist es unumgänglich, eine vorliegende Patientenverfügung zusammen mit dem Patienten zu evaluieren und auf deren Aktualität hin zu überprüfen. Da sich die Lebens- und Krankheitssituation ändern kann, muss auch die gesundheitliche Vorausplanung parallel dazu reflektiert und nach Bedarf adaptiert werden. Pflegefachpersonen können diese Kongruenzprüfung vornehmen, gerade auch im Austausch mit den Angehörigen, um gemeinsam mit dem Patienten seine Therapieziele zu validieren. Sind Patienten hingegen urteilsunfähig, gilt es, eine vorliegende Patientenverfügung als Ausdruck ihres aktuellen Willens zu lesen, zu interpretieren und gemeinsam mit Ärztinnen, Ärzten und den Angehörigen die Therapieziele festzulegen und entsprechende Massnahmen umzusetzen. Beratung zu Vertretungsberechtigung In einer Patientenverfügung oder in einem Vorsorgeauftrag können die vertretungsberechtigten Personen festgelegt werden. Für die Pflegeplanung sind Pflegefachperso© 2019 Hogrefe
nen auf das Wissen um die Vertretungsberechtigung bei ihren Patienten angewiesen, um den Patientenwillen auch bei Urteilsunfähigkeit zu beachten. Ihre Aufgabe besteht daher auch darin, aktiv nach bestehenden Festlegungen zur Vertretungsberechtigung zu fragen und diese entsprechend der institutionalen Kommunikationssysteme zusammen mit der aktuellen Patientenverfügung zu dokumentieren. Ebenso können die Pflegefachpersonen die Patienten dabei unterstützen und beraten, die richtige Person als vertretungsberechtigte Person einzusetzen. In Krisensituationen können sie dadurch mit den vertretungsberechtigten Personen des Patienten die Pflegegespräche führen und die Pflegeziele und entsprechende Interventionen gemeinsam am Patientenwillen ausrichten.
Gesundheitliche Vorausplanung…beinhaltet je nach Wunsch der Person, die eine Beratung in Anspruch nimmt, auch das Gespräch mit den Angehörigen resp. Vertrauenspersonen mit dem Ziel, Verständnis für Entscheide zu schaffen oder bei Urteilsunfähigkeit den Angehörigen die von ihnen zu fällenden Entscheidungen zu erleichtern. (BAG-Rahmenkonzept ACP) Standortgespräch zur Therapiezielfindung Das Standortgespräch zur Therapiezielfindung bildet die Basis für medizinische Festlegungen. Die Pflegefachpersonen erheben als ACP-Botschafter die Fragen der Einstellungen zum Leben, schwerer Krankheit und zum Sterben gemäss der Patientenverfügung „plus“. Erst danach sind Patientinnen und Patienten in der Lage, wohlüberlegte, kongruente Festlegungen für Situationen der Urteilsunfähigkeit zu treffen und sie auf den entsprechenden Formularen festzuhalten.
Gesundheitliche Vorausplanung…ist nicht isoliert auf das Lebensende fokussiert, sondern kann ihren Anfang in gesunden Tagen nehmen und ist auch von Bedeutung für Massnahmen und Entscheidungen in Situationen, in denen das Lebensende nicht absehbar ist. (BAG-Rahmenkonzept ACP)
Die Fragen zur Standortbestimmung lauten: • Wie gerne leben Sie? Welche Bedeutung hat es für Sie, (noch lange) weiter zu leben? • Wenn Sie ans Sterben denken – was kommt Ihnen dann in den Sinn? • Darf eine medizinische Behandlung dazu beitragen, Ihr Leben in einer Krise zu verlängern? • Gibt es Situationen, in denen Sie nicht mehr lebensverlängernd behandelt werden wollen? NOVAcura 1/19
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• Gibt es religiöse, spirituelle oder persönliche Überzeugungen oder kulturelle Hintergründe, die Ihnen in diesem Zusammenhang wichtig sind? (ACP Patientenverfügung „plus“). Verschiedene ambulante Pflegedienste in der Palliative Care haben diese Fragen in ihr Assessment zur Erhebung des Pflegebedarfs eingebaut und erhalten damit eine Basis für die Besprechung von Pflegemassnahmen und eine individuelle Notfallplanung. Informationsvermittlung zur gemeinsamen Entscheidungsfindung Weitere Aufgaben der Pflegefachpersonen im Rahmen der gesundheitlichen Vorausplanung sind sowohl die Erhebung des Beratungsbedarfs ihrer Patienten und die Organisation von Beratungsgesprächen als auch die Informationsvermittlung von evidenzbasiertem medizinischen Wissen zu Themen wie die Reanimation, die invasive Tubusbeatmung und weitere lebensverlängernde Massnahmen. Dazu stehen ihnen Entscheidungshilfen zur Verfügung, welche sie als Wissensstütze verwenden, welche sie aber auch an die Patienten direkt abgeben können2. Die evidenzbasierten Entscheidungshilfen bilden einen wichtigen Teil des Konzepts von Shared decision-making. Dokumentation weiterer Behandlungswünsche Des Weiteren nehmen die Pflegefachpersonen Wünsche ihrer Patienten betreffend der letzten Lebensphase, der Sterbephase oder weiterer Festlegungen wie Organspende oder Forschungsteilnahme auf und ermöglichen es ihnen, diese mit den Angehörigen und in ihrem Umfeld zu besprechen und bei Bedarf schriftlich festzuhalten. So unterstützen und befähigen sie die Patientinnen und Patienten, ihre Selbstbestimmungsmöglichkeiten wahrzunehmen und schaffen die Voraussetzungen dafür, dass diese Festlegungen für zukünftige medizinische Behandlungen treffen können. Umsetzung des Patientenwillens Die Festlegungen des Patienten bezüglich der Therapieziele für Zustände der Urteilsunfähigkeit und zur Vertretungsberechtigung werden durch die Pflegefachpersonen in der intra-, der interprofessionellen, der interdisziplinären und interinstitutionellen Zusammenarbeit kommuniziert. Dies geschieht beispielsweise durch das Einscannen der Patientenverfügung, Anpassung der geplanten pflegerischen Massnahmen sowie mündliche und schriftliche Informationen im Behandlungsteam. Die Planung der Pflegeinterventionen wird an diesen Therapiezielen ausgerichtet, so zum Beispiel die Erstellung eines Notfallplans für Schwerkranke und palliativ behandelte Patienten in der Austrittsplanung.
www.pallnetz.ch
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Prozesskoordination Um diesen Mehrwert zu sichern, müssen die Informationsprozesse bezüglich Dokumentation von Patientenverfügungen analysiert werden. Besprechungen im Behandlungsteam sensibilisieren die Pflegefachpersonen selbst, aber auch die mit ihnen zusammenarbeitenden Fachangestellten Gesundheit (FaGe) und die Auszubildenden, sich der Themen der gesundheitlichen Vorausplanung bewusst zu werden, das eigene Wissen zu erweitern und die Teilnahme an ACP-Weiterbildungsmodulen zu fördern. Es hat sich gezeigt, dass ein Fachaustausch von ACP-Botschaftern unerlässlich ist, um die Qualität zu evaluieren und gegebenenfalls zu adaptieren. Weiter sind Teilnahmen an regionalen und nationalen bzw. internationalen Tagungen und Kongressen zu Themen der gesundheitlichen Vorausplanung für die Implementierung eines ACP-Beratungsangebots sehr unterstützend. Es muss institutionell geprüft werden, ob die ACP-Beratungen durch zertifizierte ACPBeratende angeboten werden, durch einzelne Beratende pro Klinik oder ob ein Beratungsteam die Bedürfnisse einer ganzen Institution oder Region abdecken soll.
Gesundheitliche Vorausplanung…kann nur sorgfältig umgesetzt werden, wenn eine (möglichst) einheitliche Dokumentation über die Gesprächsinhalte resp. die Wertvorstellungen, die Behandlungspräferenzen und Wünsche der zu beratenden Person vorliegt und diese Dokumentation allen an der Betreuung des Menschen beteiligten Personen, insbesondere Vertrauenspersonen und Gesundheitsfachpersonen, unabhängig vom Ort der Behandlung unkompliziert und zeitnah zugänglich ist. In der Regel kann dies nur mit einer regionalen Koordination erreicht werden. (BAG-Rahmenkonzept ACP)
Pflegefachpersonen als ACP-Beratende Als weiterführendes Modul wird am Bildungszentrum des Universitätsspitals Zürich der Theorie- und Zertifikatskurs ACP-Berater*in angeboten. In diesem Modul wird das ACP-Konzept vertieft und die Beratungskompetenzen gefördert mit dem didaktischen Best-Practice-Modell für kommunikative Skillstrainings durch erfahrene Simulationspatienten (Schauspieler). Die ACP-Beratenden können nach dem Erwerb des Zertifikats: • Beratungsgespräche planen und durchführen • den Patientenwillen zu zukünftigen medizinischen Behandlungen ermitteln und die Patienten darin unterstützen, ihren Willen in den verschiedenen Formularen festzuhalten © 2019 Hogrefe
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• erlernte Gesprächstechniken einsetzen • die wesentlichen klinisch-ethischen Probleme im Kontext von Beratungsgesprächen zur gesundheitlichen Vorausplanung erkennen und diese im Gespräch aufzeigen • die rechtlichen Aspekte von Patientenverfügungen kennen und diese sicher vermitteln • medizinische Herausforderungen in der Umsetzung von Patientenverfügungen kennen und diese beim Ausfüllen der Patientenverfügung beachten • die für ACP relevanten evidenzbasierten Entscheidungshilfen kennen und können diese bei der Beratung kompetent anwenden und deren Inhalte wiedergeben
Die Entwicklung der Qualität bei Beratung und Umsetzung im professionellen Bereich liegt in der Verantwortung der Fachorganisationen. Wichtig hierbei ist die Berücksichtigung der Interprofessionalität und einer besonders hohen Anforderung und Wertzumessung an die Kommunikationsqualität. (BAG-Rahmenkonzept ACP)
Schlussfolgerungen Die Pflegefachpersonen haben eine wichtige Rolle in der Umsetzung des Rahmenkonzepts Advance Care Planning. Da das ACP-Weiterbildungskonzept modular aufgebaut ist, können die Kompetenzziele differenziert in die unterschiedlichen Ausbildungsgänge der Pflegeausbildung integriert werden. Um die Kompetenzen in den Pflegealltag zu integrieren, muss der Veränderungsprozess professionell begleitet werden. Die Lernmodule des zweitägigen ACPBotschafterkurses sollten in die Grundausbildung und die Weiterbildung der Pflegeberufe integriert werden, um eine möglichst breite Basis zur Umsetzung des Patientenwillens zu erreichen. Die ACP-Beratungstätigkeit hingegen erfordert eine Evaluation des Tätigkeitsbereichs bezüglich Struk-
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turen und Prozesse der gesundheitlichen Vorausplanung und eine Rollenbeschreibung für diese spezifische Aufgabe, da diese nicht in den Pflegeprozess integriert werden kann. Die spezifische ACP-Beratungstätigkeit sollte daher als Weiterbildungsmodul allen interessierten Pflegefachpersonen zur Verfügung gestellt werden, sei dies im Rahmen eines Zertifikatskurses oder eines Masterstudiengangs.
Literatur Bundesamt für Gesundheit (2018). Gesundheitliche Vorausplanung mit Schwerpunkt „Advance Care Planning“: Nationales Rahmenkonzept für die Schweiz. Retrieved December 16, 2018 from https://www.pallnetz.ch/cm_data/Rahmenkonzept_Gesundheitl_Vorausplanung_DE_1.pdf oder https://www.bag.admin.ch/bag/de/home/suche.html#rahmenkonzept%20acp Coors, M., Jox, R.J., in der Schmitten, J. (Hrsg.). (2015). Advance Care Planning: Von der Patientenverfügung zur gesundheitlichen Vorausplanung. Stuttgart: Kohlhammer. Hammes, B.J. & Harter, T.D. (2015). Philosophisch-ethische Gründe für Advance Care Planning. In M. Coors, R.J. Jox & J. in der Schmitten (Hrsg.), Advance Care Planning: Von der Patientenverfügung zur gesundheitlichen Vorausplanung. Stuttgart: Kohlhammer. Krones, T., Budilivschi, A., Karzig, I. et al. (2019). Advance care planning for the severely ill in the hospital: a randomized trial. BMJ Supportive & Palliative Care. Retrieved January 21, 2019 from doi: 10.1136/bmjspcare-2017-001489 Krones, T. (2017). Forschungsdatenbank: Multiprofessional advance care planning and shared decision-making for end of life care MAPS Trial. Retrieved December 16, 2018 from http://www.research-projects.uzh.ch/p20811.htm.
Isabelle Karzig-Roduner, ACP-Expertin und wissenschaftliche Mitarbeiterin der Klinischen Ethik, Universitätsspital Zürich. isabelle.karzig@usz.ch
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Ethik ist der Boden pflegerischen Handelns Bianca Schaffert im Interview mit der NOVAcura
Die ethische Kompetenz ist die Grundlage des pflegerischen Handelns. Die Ethik-Kommission des SBK, des Schweizer Berufsverbandes für Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner, hat es sich zur Aufgabe gemacht, ethische Fragestellungen der Pflegepraxis zu erörtern. Mit ihren Publikationen zu ausgewählten Themen1 will die Kommission den Pflegenden helfen, in schwierigen Situationen den Boden nicht zu verlieren und ihnen Argumente vor-
bensende“, der aus der Thematik der Pflege von Patienten, die einen assistierten Suizid wünschen, angestossen wurde. Wir nehmen wahr, dass assistierte Suizide zunehmen. Das kann für Pflegende sehr belastend sein, gerade, wenn sie dann feststellen: „Für mich stimmt das aber nicht.“ Es geht um Beziehungen zwischen Pflegenden und den Patienten, die über die Jahre entstanden sein können. Ausserdem sind wir das beratende Gremium des Zentralvorstands des SBK: d.h. wir beraten bei den Vernehmlassungen mit einem ethischen Aspekt, den gesetzlichen Beschlüssen vom Bund oder auch den medizinisch-ethi-
stellen für ethisches Handeln und gute Pflege. Die Präsidentin der Ethik-Kommission, Bianca Schaffert, stellte sich in einem Interview den Fragen der Redaktion der NOVAcura.
NOVAcura: Was hat Sie veranlasst, sich näher mit ethischen Fragen in der Pflege zu beschäftigen? Bianca Schaffert: Ethik war mir immer etwas sehr Wichtiges. Ich bin jemand, der sehr theoretisch und analytisch funktioniert. Ethik gab mir einen Boden, das, was ich wahrnehme, auf eine sachliche Art zu argumentieren und gleichzeitig dafür zu sorgen, dass man vor lauter „richtiger“ Analyse nicht den Fehler begeht, den individuellen Menschen und seine Würde zu übergehen. Pflege ist spannend und man lernt immer sehr viel! – Und ich finde die Menschen spannend, die eben nicht einer Norm entsprechen, die eigene Persönlichkeiten sind. Ich arbeite sehr gerne mit Menschen, die eine Herausforderung sind. Im Beruf Pflege habe ich das Privileg, Menschen kennen zu lernen, die ich nie kennen lernen würde, wenn ich nur in meinem eigenen Umfeld bliebe. Ich sehe an und mit ihnen viele Varianten und Lösungen, wie man auch in der Welt stehen kann.
Welche Aufgaben hat die Ethik-Kommission? Wir erarbeiten und publizieren eigene Standpunkte zu Themen, die brennen: Beispielsweise „Umgang mit moralischem Stress bei der Begleitung von Menschen am Le-
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Bianca Schaffert ist Präsidentin der Ethik-Kommission des SBK. Bereits davor war sie Mitglied der EthikKommission: sie interessierte sich schon lange für ethische Fragen und die ethischen Werte im Pflegealltag. Sie ist Pflegewissenschaftlerin und arbeitet als Pflegeexpertin am Spital Limmattal, ein Regionalspital mit ca 200 Betten. Zudem hat sie einen CAS in Philosophie und ist Mitglied der Schulpflege: „Mir war immer wichtig, Pflege gut zu machen und zu verstehen, was „gut machen“ heisst, abgesehen davon, dass mich die Grundlagen des Faches Ethik sehr interessiert haben. Ethisch handeln heisst: Raum geben zum Entwickeln, zum Gestalten. Raum geben, der Mensch zu sein, der man ist, die Persönlichkeit, die man ist.“
https://www.sbk.ch/pflegethemen/ethik.html
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schen Richtlinien der SAMW. Wir schauen diese an, überprüfen sie und geben aus der pflegerischen Perspektive die Rückmeldung an den SBK mit einer Empfehlung. Unsere Ressourcen sind begrenzt, wir sind alle freiwillig in der Kommission. Wir versuchen rauszufinden, wo der Schuh drückt an der Basis. Direkte Anfragen an die Kommission sind eher selten. Die Kommission ist so aufgestellt, dass wir vor allem diskutieren. Und wir versuchen immer zu einem Konsens zu kommen. Meine Aufgabe besteht darin, die Themen zu strukturieren, zu moderieren und am Schluss zu gewährleisten, dass alle verstehen, um was es geht und dass ein Konsens entsteht.
Wie kann die Ethik-Kommission die Pflege im Pflegealltag unterstützen? Auch bei in der Mitarbeit in der Ethik-Kommission muss man in der Basis verwurzelt sein, um etwas für die Praxis zu machen. Theorie und Praxis muss sich vernetzen. Es ist meine Überzeugung, dass auch Pflegeexperten immer wieder ans Bett gehören. Wenn man die Situationen nicht mehr hautnah kennt, dann ist die Gefahr gross, dass man auf die Pflegenden Druck ausübt und mit gut klingenden aber realitätsfernen Anweisungen bestimmt, was gute Pflege am Bett sein soll. Selber zu erleben, wie es sich anfühlt, die Patientenzimmertüre nach einer Pflegehandlung zu öffnen und zu sehen, dass es in fünf Zimmern gleichzeitig klingelt und zu wissen, dass man zu zweit ist, um diese Klingeln abzunehmen – das ist etwas ganz anderes, als sich schöne Standards auszudenken, wie Massnahmen zu priorisieren sind. Es ist wichtig, immer wieder zu spüren, was das mit einem macht. Es wichtig zu merken: was ist gute Pflege in der Theorie und was ist gute Pflege in der Praxis. Ein Thema in der Pflege sind ethische Dilemmata, in denen Pflegende sich nicht einig sind, wie sie vorgehen wollen. Hier ist es wichtig, die einzelnen Hintergründe, insbesondere die damit verbundenen Emotionen, gut offen zu legen, um zur bestmöglichen Entscheidung zu kommen. Was mir abei wichtig ist: dass immer möglichst alle hinter der Lösung stehen können. Aus Fallbesprechungen habe ich immer wieder gelernt, wie bedeutend es ist, dass Menschen sagen können, warum ihnen etwas wichtig ist. Wenn man versteht, warum jemand so handelt und nicht anders, ist die Toleranz füreinander grösser und man kann plötzlich nachvollziehen, dass etwas aus der Sicht des anderen auch einen Sinn hat. Mir ist immer wichtig, dass wir darüber sprechen können und es keine Schande ist, zu sagen: „Ich kann nicht mehr!“
Welche Entwicklungen zeichnen sich ab, die eine ethische Stimme wie eine Ethik-Kommission notwendig machen? Wie haben das Thema der Unterversorgung und wir haben auch ein grosses Thema der Überversorgung. Ich sehe beides, ausserdem eine verstärkte Medikalisierung der Me© 2019 Hogrefe
dizin. Vor lauter Apparaten und Digitalisierung wird der Mensch fast vergessen. Wenn man den Patienten abholt bei seinen Fragen, Ängsten und Bedürfnissen und sich Zeit nimmt, ihn gut zu informieren, bringt das möglicherweise mehr als noch ein weiteres MRT. Oder einfach mal hinsitzen und nachdenken, bevor die ganze Batterie der Medizin aufgefahren wird. Ich nehme da eine Tendenz wahr, dass man sehr überzeugt ist von der Technisierung und Digitalisierung und denkt, sie lösen alle Probleme. Das Sein als menschliches Wesen bleibt dabei auf der Strecke. Das macht mir Sorgen. Pflege ist Beziehung, Beratung, dem Menschen zuhören, wie seine Lebensplanung aussieht. Das bedeutet, sich der Frage zu stellen: „Wie können wir das, was medizinisch möglich ist, mit der Ansicht des Menschen davon, wie er sein Leben als gelingend betrachtet und führen will, verbinden?“ Ziel sollte sein, dass der Mensch sagt: „Ja, das stimmt für mich.“ Aber das hat momentan fast keine Lobby.
Wie zeigen sich diese Entwicklungen in der Praxis des Pflegealltags? Die Zeit, die wir für einen Patienten haben, ist bei höherem Arbeitsaufkommen deutlich kürzer geworden. Zum Beispiel: Patienten mit einem Herzinfarkt bleiben nur noch 72 Stunden bei uns. Mit der modernen Technik, das Blutgerinnsel in den Herzkranzgefässen zu entfernen, ist das möglich und für den Körper auch sicher. Heute weiss man, dass es grundsätzlich gesünder ist, die Menschen nicht tagelang mit Bettruhe ins Bett zu stecken und sie wochenlang zu hospitalisieren. Aber der grosse Vorteil damals war, dass die Menschen Zeit hatten, sich mit der neuen Situation auseinanderzusetzen, bevor sie nach Haus gingen und dass Pflegefachpersonen da waren, die sie dabei begleiten und beraten konnten. Ein Herzinfarkt bleibt trotz schneller mechanischer Behebung des Problems eine tiefgreifende Erfahrung. Für viele ist es das erste Mal, dass sie ihre eigene Sterblichkeit am eigenen Körper erfahren. Wir haben diese Patienten nach dem Eingriff noch drei Tage und ich merke dann: ihrer Seele ist noch nicht angekommen. Wie schicken diese Patienten nach Hause und sie stehen vollkommen im luftleeren Raum. Sie wissen nicht, wie sie diese Erfahrung einordnen sollen und wie sie damit weiterleben sollen. Und dann fragen sie mich: „Was mache ich jetzt? Soll ich erstmal das ganze Zeug wegarbeiten, das im Geschäft liegengeblieben ist? Soll ich in mein Ferienhaus in den Alpen? Oder soll ich meinen Enkel zu mir nehmen und das Zusammensein mit ihm geniessen?“ Als diese Patienten länger bei uns waren, hatten sie die Möglichkeit, den ersten Schock zu verdauen. Sie konnten sich damit auseinandersetzen und wir konnten ihre Erfahrungen mit ihnen zusammen versuchen, in Worte zu fassen und erste Möglichkeiten aufzeigen, wie es weitergehen könnte. Gestern habe ich eine junge Frau mit Blinddarmentzündung betreut. Eigentlich hätte sie nach der Operation nach einer Nacht nach Hause gehen können, sie wollte aber nicht. Sie war absolut unsicher, sie kannte ihren KörNOVAcura 1/19
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per nicht mehr und wusste nicht, auf welche Signale des Körpers sie reagieren sollte, wenn sie alleine zuhause ist. Ich kann gut verstehen, dass man dann haltlos ist. Ergo – man muss sich einmal hinsetzen zu ihr und sie fragen: „Was macht Ihnen denn Angst?“ Das meine ich damit: vor lauter Digitalisierung und den technischen Möglichkeiten verlieren wir den Menschen aus den Augen, seine Fragen, seine Ängste, seine Sorgen. Das ist aber enorm wichtig und macht Pflege im Kern aus. Beziehung, Begleitung und dem Patienten das Gefühl geben, nicht alleine zu sein in der Welt, die ihm fremd ist! Das macht für mich den Kern der Pflege aus. Das macht für mich die ethische Grundhaltung der Pflege aus.
Sie beschreiben die verkürzte Arbeitszeit und hohe Arbeitsdichte als eine Folge der Entwicklungen – Wie geht Pflege mit diesen Herausforderungen um? Es ist eine pflegerische Aufgabe, die Menschen zu begleiten und zu beraten. Auf der einen Seite nehme ich momentan die Entwicklung wahr, dass jeder beraten will, sich spezialisieren will. Aber schlussendlich ist es auch pflegerische Aufgabe, Menschen zu waschen und auf die Toilette zu begleiten. Das ist nicht banal, sondern ganz wichtig. Es braucht beides. Situationen, die Stress bei den Pflegenden verursachen: nicht genug Zeit zu haben für ihre eigentliche Aufgabe. ich erinnere mich an meine Anfangszeit in der Pflege: Wie schwer war es für mich zu erkennen, dass ich nicht das
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Optimale machen konnte, weil es die Situation nicht zugelassen hatte. Wie schwer war es, das zu akzeptieren. Heute, nach 25 Jahren in der Pflege, kann ich das gut. Nach so vielen Jahren kann man besser Prioritäten setzen. Und es setzt Pflegefachpersonen zusätzlich unter Stress, wenn sie etwas machen müssen, das ihrer Vorstellung von guter Pflege zuwiderläuft. Viele Pflegende arbeiten ja aus der Motivation heraus, gern zu pflegen und gut zu pflegen. Schwierig wird es nur, wenn man anfängt, auszubrennen und man keine Möglichkeit sieht, die Situation zu verändern. Was ich auch wahrnehme ist, dass viel von der Leitung abhängt. Wenn man eine Leitung hat, die offen ist für die ethischen Fragen, die sieht, was und wo es für Pflegende schwierig ist, die sieht, wenn sie sieht, wo der Stress bei den Pflegenden sitzt, wo sie ein ungutes Gefühl haben, dann kann man das offen diskutieren. Das kann enorm helfen.
Was wünschen Sie sich für die nächsten Jahre? Ich wünsche mir eine nachhaltige Medizin im Sinne einer stärkeren Zentrierung auf den Menschen und ein bisschen weniger High tech. Es gibt zu viele, die im Medizinalsystem vor allem Geld verdienen wollen, und denen es nicht primär um den Menschen geht. Dort wünsche ich mir, dass uns als Gesellschaft eine Umkehr hin zum Menschen gelingt. Das Interview führte Barbara Müller, NOVAcura
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Basales Berühren während der Körperpflege bei Menschen mit Demenz Thomas Buchholz
© Martin Glauser
Berühren in der Pflege ist stets ein wechselseitiges Wirken von Körperkontakt. Gerade in Situationen der Körperpflege entscheiden Haltung und Handeln der Pflegenden über das Gelingen einer „Pflege ohne Kampf“. Basale Stimulation in der Pflege alter Menschen ist der Versuch, Antworten zu finden auf schwierige Lebenssituationen des Alltags.
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er Zugangsweg des Basalen Berührens leistet dazu einen Beitrag. Eine Studie der Hochschule für angewandte Pflegewissenschaften untersuchte die Auswirkungen Basaler Berührung auf das herausfordernde Verhalten während der Körperpflege bei Menschen mit Demenz. Die Datenerhebung zeigte, dass sich die Anwendung von Basaler Berührung positiv auf die Beteiligten auswirkt.
Fallbeispiel
loren im Raum und zwischen den Pflegenden hin und her. Es
Herr Schranz schlägt
scheint, als wollten alle Beteiligten die Situation schnell hinter
In 30 Grad Oberkörperhochlage liegt Herr Schranz im Bett, nur
schnell und auf das Notwendige der Körperpflege reduziert.
mit der Inkontinenzeinlage bekleidet. Aufrechtes Stehen und
Beim Drehen zum Rückenwaschen geschieht, was zu erwarten
Gehen sind nicht mehr möglich. Seine Demenzerkrankung hat
war. Frau Maurer lässt Herrn Schranz kurz los, um ihre Kollegin
sich in kürzester Zeit beängstigend entwickelt. Die Ehefrau
beim Umlagern des angespannten Mannes zu unterstützen.
pflegte ihn zu Hause und kam an ihre Grenzen. Der ehemalige
Plötzlich und unvermittelt rammt der Bewohner Frau Maurer die
Berufssoldat, ein sportlich durchtrainierter Mann, 67 Jahre alt,
Faust in den Unterleib. „Aua“, sie schreit kurz auf, „das tut weh“.
wird in die Demenzabteilung eines Altenheims aufgenommen.
Ihr steht das Entsetzen ins Gesicht geschrieben. Nun versucht
Dort begegne ich ihm drei Monate später, im Rahmen einer Pra-
Frau Sommer die Pflege noch schneller zu beenden und lässt
xisberatung. Die Pflegenden berichten, sich vor seinem „aggres-
das Waschen und Eincremen der Beine aus. Beim anschliessen-
siven“ Verhalten zu fürchten. Nahezu jede Mitarbeiterin kommt
den Ankleiden hält Herr Schranz zwar das Sweatshirt fest, nach
mit blauen Flecken aus seinem Zimmer, einer Pflegekraft ver-
verbaler Aufforderung, leichtem Umschliessen seiner Hand und
passt er ein schmerzhaftes „Veilchen“. Seither wird seine Pflege
Zug am Kleidungsstück lässt er aber zur Überraschung der Pfle-
stets von zwei Personen verrichtet. Manch eine Pflegende fühlt
genden los. Das Ankleiden gelingt ohne weitere körperliche An-
sich in ihrer körperlichen Unversehrtheit massiv bedroht. So
griffe. Der gemeinsame Austausch über diese sowohl psychisch
auch heute. Frau Sommer wäscht Herrn Schranz, während Frau
belastende als auch körperlich anstrengende Pflege ergibt, dass
Maurer seine Hände festhält. Das Gesicht des Bewohners wirkt
beide Pflegende sich sehr unwohl fühlen, mit hoher innerer An-
angespannt. Herr Schranz scheint die Pflegesituation nicht ein-
spannung und unter Stress die Pflege ausführen. Herr Schranz
ordnen zu können, klammert und hält Fassbares mit kräftigem
möge wohl die alltägliche Prozedur ähnlich erleben. Verände-
Griff fest. Der Kiefer ist fest verschlossen, die Lippen zusam-
rung scheint dringend nötig zu sein, um die eigene Gesundheit
mengepresst, die Stirn in Längsfalten gelegt. Sein Blick geht ver-
zu erhalten und den Bewohner vor Ausgrenzung zu schützen.
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sich bringen. Die Berührungen der Pflegenden sind zügig, gezielt,
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Abbildung 1. Begrüssungsgeste. Fotos: Thomas Buchholz
Basales Berühren: Ein Zugangsweg der Basalen Stimulation® Das Konzept der Basalen Stimulation® nach Andreas Fröhlich gehört seit langem in den Bildungskatalog der Pflege. Im Alltag der Einrichtungen hingegen beschränkt sich die Umsetzung auf die Anwendung einzelner Aspekte des Konzepts (z. B. auf atemstimulierende Einreibung), obwohl zahlreiche Veröffentlichungen – insbesondere der Neuro- und Sozialwissenschaften – die damals zukunftsweisenden Ideen und pädagogischen Grundannahmen Fröhlichs zur Förderung schwer beeinträchtigter Menschen bestätigen. Seine bereits in den 1970er-Jahren entstandenen Erkenntnisse zur Bedeutung des Körpers bei der ganzheitlichen Entwicklung des Menschen, verbunden mit den pflegerischen Anregungen von Christel Bienstein, sind ein komplexes, hoch individualisiertes, in der Praxis dennoch einfach anwendbares Konzept für Heilpädagogik und Pflege. Ziel des Konzepts ist, den Betroffenen in seiner Entwicklung zu unterstützen. Das Neuerleben vertrauter Körper- also Selbstwahrnehmung bei Verlust der Bewegungsfähigkeit ist ein Bestandteil der basalen Arbeit. Sie ermöglicht Selbstbestimmung trotz geistiger Beeinträchtigung, kognitiver Leistungseinbussen und trotz Abhängigkeit von Hilfe. Sich wohl fühlen und eingebunden sein in soziale Bezüge, sind weitere Absichten. Diese Ziele sollen durch primär auf den Körper bezogene Angebote sinnlicher Anregung erreicht werden. Dabei bezieht sich das Handeln der begleitenden Person sowohl auf die elementaren Wahrnehmungsbereiche als auch auf die Umweltsinne von Sehen, Hören, Riechen, Schmecken, Mund erkunden und Tasten. Das Erfahren der Körperoberfläche, -tiefe und -grenze, die Wahrnehmung von Schwingung, Bewegungs- und Lageempfinden im Raum sind wesentliche Bestandteile des Aufbaus der Identität und werden vom impliziten oder leiblichen Gedächtnis (Fuchs 2009) unbewusst erlebt. Jeder Austausch mit anderen Menschen spricht das zwischenleibliche Gedächtnis (ebd.) an. Aussehen, Bewegungen wie Gesten, Gang, Körperhaltung oder Stimme steuern unsere Einstellungen, © 2019 Hogrefe
Gefühle, Beziehungen und Verhaltensweisen, wobei wir auf frühe Interaktionserfahrungen mit unseren Eltern, aber auch mit anderen Menschen unbewusst zurückgreifen. Umso bedeutungsvoller erscheint der Umgang Pflegender mit ihren Schützlingen, wenn Handlungen direkter Pflege am Körper des Anderen stattfinden. Ohne dies vorab zu ahnen, können Berührungen Erfahrungen des traumatischen Gedächtnisses (ebd.) hervorrufen. Bienstein und Fröhlich wiesen bereits in ihrer ersten gemeinsamen Veröffentlichung zur Basale Stimulation in der Pflege (1990) auf die Wichtigkeit der „Initialberührung“ und eine „ruhig, mit flächig aufgelegter Hand“ ausgeführte Berührung hin. Den Betroffenen sollen auf diese Weise „Informationen über den eigenen Körper“ gegeben werden. Angeregt von der Beobachtung pflegerischer Interaktionen und eigener Erfahrungen mit demenzkranken Menschen schlagen Buchholz und Schürenberg (2003) die Verwendung des Begriffs des „Basalen Berührens“ vor. Basales Berühren will das prozesshaft interaktive Element der Pflegehandlung betonen. Die Begegnung zweier Personen. Im Zentrum steht das alltägliche pflegerische Handeln und der Austausch mit dem Gegenüber. Fröhlich spricht vom „somatischen Dialog“. Die Begründer des Begriffs geben Hinweise, wie Pflegende ihr Berührungsverhalten professionell und auf der Grundlage einer respektvollen, akzeptierenden und voraussetzungslosen Beziehung gestalten können. Dabei steht eine Form des Kontakts im Mittelpunkt, der die andere Person meint, sie über den Körper – auch im übertragenen Sinn – „berührt“ und zugleich eine pflegerische Absicht transportiert, wie z. B. Beruhigung oder Aktivierung. Die Elemente Basalen Berührens (Buchholz & Schürenberg 2013) sind Verhaltenshinweisen, um die wichtigsten Anliegen des Konzepts im Pflegealltag lebendig werden zu lassen: • Berühren als primäre Kommunikation • Anforderungen reduzieren • Stress vermindern • Akzeptieren individueller Bedeutung und • Resonanz anbieten statt einfach stimulieren (Fröhlich 2017).
Was bewirkt Basale Berührung? Die Frage, „welche Auswirkungen die Anwendung der Basalen Berührung durch Pflegepersonen während der Unterstützung bei der Körperpflege auf herausfordernde Verhaltensweisen von Menschen mit Demenz“ (Kohler et al. 2018) hat, war Gegenstand einer Studie der Hochschule für angewandte Pflegewissenschaften in St. Gallen. Mit einem Mix aus Methoden quantitativer und qualitativer Forschung beobachteten die Forscherinnen über sechs Wochen Situationen der Körperpflege bei 40 Bewohnerinnen und Bewohnern sowie 17 Pflegepersonen in drei Schweizer Pflegeheimen. Die wichtigsten Ergebnisse der Studie sind folgende: Alle Bewohnerinnen zeigten sogenannte herausfordernde Verhaltensweisen während der Körperpflege z. B. verbal agitiertes Verhalten wie schimpfen oder NOVAcura 1/19
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körperlich aggressives Verhalten wie schlagen, beissen etc. Die Pflegepersonen schätzten die Häufigkeit des Auftretens der herausfordernden Verhaltensweisen mit Hilfe des Erhebungsinstruments von Cohen-Mansfield für agitiertes Verhalten (CMAI) ein. Das Studienteam erhob unabhängig voneinander während der jeweils 30-minütigen Beobachtung das Verhalten mit standardisierten Beobachtungsprotokollen. Nach zwei Wochen erfolgte die Intervention, in Form einer zweitägigen Schulung der Pflegepersonen in Theorie und Praxis zum Thema „Basales Berühren“. Danach erfolgte während zwei Wochen eine erneute Beobachtungsphase durch die Forscherinnen. Anschliessend führten sie Interviews mit den Pflegenden über die Auswirkungen auf die Bewohnenden sowie die Erfahrungen bei der Durchführung der Basalen Berührung. Die Forscherinnen stellten fest, dass sich Pflegende sicher fühlten in herausfordernden Situationen und dass ein „erhöhtes Sicherheitsgefühl“ bei den Bewohnenden zu beobachten war. Die Ergebnisse quantitativer Forschung ergaben weniger „körperliche Aggression“ und weniger „körperlich nicht aggressives Verhalten“, wie z. B. fluchen, einen Rückgang der Anspannung/Unruhe und eine Erhöhung von Entspannung/Ruhe/Sicherheit“ (ebd., S. 22). Die Ergebnisse der Befragung der Pflegepersonen erbrachten ebenso Hinweise auf das Zurückgehen „körperlich und verbal aggressiven Verhaltens, eine Erhöhung der Aktivität, gesteigerte Wahrnehmung und Reduktion herausfordernder Verhaltensweisen während des ganzen Tages“ (ebd.). Eine Studienteilnehmerin merkte an, dass „man mehr in den Dialog hineingeht“ (ebd., S.21). Mit dieser Aussage bestätigt die Kollegin eine Absicht des Basalen Berührens. Die Begegnung auf Augenhöhe. Basales Berühren ist nicht nur als „erleichternde Intervention“ für die Pflegenden zu verstehen, sondern als Versuch der Stärkung und Sicherung der Selbstwahrnehmung der Beteiligten. Auf diese Weise können Personen sich entfalten.
Abbildung 2. Verabschiedungsgeste NOVAcura 1/19
Wie gehe ich vor im Pflegeprozess? Nachfolgend werden die Elemente Basalen Berührens im Einzelnen vorgestellt. Die Empfehlungen des Basalen Berührens helfen den Pflegenden, sich immer wieder neu auf den Dialog einzulassen, frei zu werden von zuvor erlebten Ereignissen. Der Alltag in der Pflege bringt stetig wechselnde Aufgaben und Anforderungen mit sich. Kontakte zu unterschiedlich gestimmten Menschen mit andersartigen Einschränkungen, verschiedensten Bedürfnissen körperlicher oder emotionaler Nähe, persönlichen Ansprüchen und teilweise extremen Verhaltensweisen oder „Mödeli“. Das kostet Energie und hinterlässt Spuren im Denken, Handeln, Fühlen und Erleben der Pflegekraft. Nicht jeder Mensch kann gleich gerne „gemocht“ werden. Die Gefahr entsteht, sich im Pflegealltag eine Art „SchutzHaltung“ anzueignen. Das geschieht z. B. in Form unreflektierter Routine, innerer Kündigung, einer Beschränkung auf zeitlich kurze Kontakte oder eines schnellen Vorgehens bei den Pflegetätigkeiten. Unabhängig von Sympathie und Antipathie, losgelöst von normativen Erwartungen, persönlichen Vorlieben, Interessen und Gefühlen ist eine professionelle Fähigkeit zur Begegnung erlernbar. Kurze Phasen der Reflexion und Regeneration, der Klarheit über das eigene Tun, das „Zu-SICH-kommen“, können einen Beitrag leisten, um beim Anderen zu „SEIN“.
Die Elemente Basalen Berührens • Ich stimme mich selbst ein, auf den Kontakt (durch ein Ritual, z. B. eine Körpererfahrung vor dem Zimmer/Haus). • Ich kündige mich beim Betroffenen an (anklopfen an der Tür, verbal ansprechen, anschauen, stets im Sichtfeld sein, auf Augenhöhe mittels Bewegungsgeste), um Beziehung herzustellen und Aufmerksamkeit zu erreichen. • Ich nähere mich –sichtbar – an die vom Betroffenen akzeptierte Kontaktstelle seines Körpers an. • Ich bin wirklich ganz bei der Person, meine sie. • Ich begrüsse verbal und mittels grossflächiger und eindeutiger Berührung zur Kontaktaufnahme (Berührungsgeste), verweilend für die Dauer einer Begrüssung (vgl. Initialberührung bei Bienstein & Fröhlich 2006). • Beständig bin ich im Berührungskontakt während des Austausches (wo nötig!). • Ich setze eindeutige Berührungen (deutlich spürbarer Druck, ganze, grossflächig aufgelegte Hand/ Hände – je nach Kontext der Handlung) und einfach nachvollziehbare, regelmässig wiederkehrende Bewegungen ein (gleichbleibende Richtung, an die Wahrnehmungsfähigkeit angepasste Geschwindigkeit und Rhythmus, individuell akzeptierter Druck, Dauer je nach Zeiterleben, Symmetrie).
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• Ich horche auf nicht sprachliche Mitteilungen und antworte mit der Berührung darauf. • Ich verbalisiere die Reaktion der Betroffenen und die Situation, indem ich diese beschreibe. • Ich verfolge eine erwartungsfreie Absicht und akzeptiere die Reaktionen der Betroffenen. • Ich nehme meine eigenen Gefühle ernst und folge diesen. • Ich bin nicht abgelenkt und handle im ‚Hier und Jetzt‘ • Ich beende die Begegnung, so wie ich sie begonnen habe, mit einem deutlichen Abschluss der Handlung, mit einer Verabschiedungsgeste. • Ich entferne mich, entlasse mich aus der „Rolle“ und verarbeite die Situation durch eine für mich ritualisierte Handlung (z. B. Körpererfahrung wie abschütteln, abstreifen, bewusstes ein- und ausatmen, an- und entspannen, Schritt für Schritt gehen) (in Anlehnung an Buchholz & Schürenberg 2013).
Mit dieser Vorgehensweise des Basalen Berührens kann möglicherweise ein Beitrag zur „Inszenierung“ der Pflege geleistet werden, die die Autoren der Emmoti-Komm Studie (Dammert et. al. 2016) vorschlagen. Denn, so ihre Beobachtungen, „Personen mit Demenz wie auch Mitarbeitende teilen ein Bedürfnis nach Sicherheit. Dieses Bedürfnis versuchen beide Gruppen jedoch durch je unterschiedliche Handlungsstrategien zu erreichen: Personen mit Demenz suchen Sicherheit durch Nähe, um sich in einer zunehmend fremden Welt zu orientieren. Mitarbeitende suchen dagegen Sicherheit durch Distanz, die ihnen (Eigen- und Fremd-) Kontrolle zur Minimierung ihrer vielfältigen Arbeitsbelastungen ermöglicht“ (ebd., S.79). Die unterschiedlichen Spannungsfelder der beruflich begleitenden Person (Buchholz 2017) im Umgang mit Menschen mit Demenz erfordern geradezu das Einnehmen einer zeitlich eng begrenzten, immer wieder wechselnden, aber authentische Rolle der Pflegekraft. Bei einem Betroffenen „inszeniert“ sie auf der Grundlage professioneller fachlicher Kompetenz die Begegnung zwischen Tochter und Vater, beim anderen zwischen Lehrer und Lernendem oder zwischen Geliebtem und Geliebter. Jede Rolle hat verschiedene Anforderungen, es müssen Grenzen erweitert oder deutlich gesetzt werden. Das kann authentisch erfüllt werden, wenn die pflegende Person vor und nach dem Kontakt immer wieder zurückkehrt zur eigenen Person, sich ihrer selbst bewusst wird und die Wirksamkeit für sich selbst
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und die für den Anderen (Bewohner) reflektiert. Auf diese Weise kann menschliche Begegnung gelingen und zu einem Alltag mit mehr Freude und Bewusstheit beitragen. In der nächsten Ausgabe der NOVAcura erscheint der zweite Teil dieses Beitrags.
Literatur Bartholomeyczik, S., Halek, M., Sowinski, C. et al. (2007). Rahmenempfehlungen zum Umgang mit herausforderndem Verhalten bei Menschen mit Demenz in der stationären Altenhilfe. Berlin: Bundesministerium für Gesundheit. Bienstein, C. & Fröhlich, A. (2006). Basale Stimulation® in der Pflege: Die Grundlagen. Bern: Huber. Bleses, H. & Hahn, D. (2010). SILQUA-Projekt. EMMOTI-KOMM: Wirkanalyse emotionsorientierter Kommunikationsabsätze in der Betreuung von Menschen mit Demenz in institutionellen Pflegesituationen. Bundesministerium für Bildung und Forschung. Buchholz, T. (2017). Basale Stimulation als Stimulation? Eine Provokation zu mehr Praxisnähe. Praxis Pflegen, 28 (3), 18–23. Buchholz, T. & Schürenberg, A. (2103). Basale Stimulation® in der Pflege alter Menschen: Anregungen zur Lebensbegleitung. Bern: Huber. Dammert, D., Keller, C., Beer, T. & Bleses, H. (2016). Person-Sein zwischen Anspruch und Wirklichkeit: Eine Untersuchung zur Anwendung der integrativen Validation und der Basalen Stimulation in der Begleitung von Personen mit Demenz. Weinheim: Beltz Juventa. Fröhlich, A. (2015). Basale Stimulation – ein Konzept für die Arbeit mit schwer beeinträchtigten Menschen. Düsseldorf: selbstbestimmtes leben. Fuchs, T. (2009). Leibgedächtnis und Lebensgeschichte. Existenzanalyse, 26 (2), 46–52. Halek, M. (2017). Umgang mit herausforderndem Verhalten von Menschen mit Demenz: Verstehende Diagnostik des Verhaltens. NOVAcura, 48 (1), 13–16. Kohler, M., Mullis, J., Burgstaller, M., Schwarz, J. & Saxer, S. (2018). Auswirkungen von Basaler Berührung auf das herausfordernde Verhalten während der Körperpflege bei Menschen mit Demenz: eine Mixed Methods Studie. KlinPfleg., 4, 13–26. Retrieved December 2018 from doi: 10.6094/KlinPfleg.4.13 Schmidt, G. (2014). Symphonien mit allen Sinnen: die hypnosystemische Komposition optimaler Erlebnis-Netzwerke für erfüllende Lösungen. https://www.youtube.com/watch?v=ThSw35uxH64
Thomas Buchholz, Krankenpfleger und Diplom-Pädagoge, schrieb verschiedene Publikationen zum Thema „Basale Stimulation® in der Pflege“ und ist Lehrbeauftragter der Katholischen Hochschule Freiburg und der Hochschule für angewandte Wissenschaften St. Gallen. buchholz-thomas@t-online.de
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Lebensende lässt Entscheide reifen
© Martin Glauser
Lukas Niederberger
Wie trifft man gute Entscheidungen?
Manche Fragen werden erst am Lebensende entschieden – durch die Sterbenden selbst oder durch Angehörige. Andere Entscheidungen beziehen sich zwar auf das Lebensende, können oder müssen aber viel früher getroffen werden. Und Entscheidungen, die die Gegenwart betreffen, können aus einer Perspektive des nahen Todes erfolgen und gewinnen dadurch an Klarheit, Tiefe und Sinn.
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m Lebensende befassen sich Menschen mehr als in früheren Lebensphasen mit der Frage nach dem Sinn des Lebens. Sie fragen sich, ob sie ihr wahres Wesen entdeckt, entfaltet und verwirklicht haben, ob die Lebensbilanz unterm Strich positiv ausfällt, ob sie ihr Leben nochmals leben möchten und ob ihr Leben einer
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höheren Bestimmung oder ihren Lebensidealen entsprochen hat. Der jüdische Religionsphilosoph Martin Buber berichtet in seinen „Chassidischen Geschichten“ über die Anekdote von Rabbi Sussja, der im Sterben lag und von seinen Schülern gefragt wurde, ob er gar keine Angst vor dem Tod hätte. Rabbi Sussja antwortete: „Wenn ich an all die Grossen und Bedeutenden denke, an Mose und Abraham und Jeremia, dann wird mir bange. Aber ich bin gewiss, dass mich Gott in der kommenden Welt nicht fragen wird, warum ich nicht Mose gewesen sei, sondern warum ich nicht Sussja gewesen sei.“ Diese Geschichte kann uns traurig stimmen, wenn sie in uns das Gefühl weckt, ein Leben lang vom eigenen Wesen davongelaufen zu sein. Sie kann aber auch ermutigen, künftig noch bewusster und authentischer zu leben. Wenn ich Sterbende besuche oder Abschiedsfeiern für Verstorbene gestalte, stelle ich mir oft die Frage nach meiner eigenen Lebensbilanz. Die Konfrontation mit Sterbenden und Toten wirkt bei mir jeweils wie ein Weckruf zum bewussten und entschiedenen Leben. © 2019 Hogrefe
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Nur einer von tausend Entscheiden fällt bewusst Damit unser Leben gelingt, ist bei grösseren Weggabelungen des Lebens eine gute Wahl nötig. Letztlich steckt hinter jedem noch so kleinen, bescheidenen und banalen Impuls ein Entscheid. Täglich entscheiden wir bis zu 100›000 Mal. 99,9 Prozent der Entscheide treffen wir allerdings unbewusst aufgrund angeborener oder früh angelernter Konditionierung. Der Bio-Computer in unserem Hirn vergleicht blitzschnell aktuelle Sinneseindrücke und Informationen und wählt jeweils wie ein Schach-Computer aufgrund bisheriger Erfahrungen die bestmögliche Lösung. Wenn ich 150 Mal mit einem bestimmten Joghurt oder Glasreiniger positive Erfahrungen gemacht habe, ist die Chance gross, dass ich beim 151. Mal wieder das gleiche Produkt kaufe. In etwa 100 von 100›000 täglichen Entscheidungen ist unsere Wahl aber nicht nur das halbautomatische Produkt von Synapsen-Schaltungen, sondern eines bewussten Abwägens zwischen verschiedenen an sich sinn- und wertvollen Optionen. Um diese vergleichsweise sehr wenigen Entscheidungen geht es, wenn wir möglichst bewusst und sinnerfüllt leben wollen.
Im Alter werden Entscheidungen seltener … Bei Vorträgen und Kursen zum Thema Entscheidung lasse ich zu Beginn die Anwesenden jeweils zu zweit über die Schwierigkeiten des Entscheidens austauschen. Als ich einmal die verschiedenen Erfahrungen aus den Kleingruppen hören wollte, um sie auf einem Plakat festzuhalten, meinte eine etwa 80-jährige Frau wehmütig: „Im Alter hat man immer weniger zu entscheiden. Eigentlich fast nichts mehr.“ Eine Seite in mir stimmte der Dame spontan zu. Viele Fragen stellen sich im fortgeschrittenen Alter tatsächlich nicht mehr. Ausbildung, Berufswahl und Familiengründung sind kein Thema mehr. Und mit der grossen Fülle von Milch-, Joghurt-, Nudel- und Fleischsorten im Supermarkt können 80-Jährige hoffentlich leichter umgehen als 20-Jährige in ihrer ersten WG. Jahrelange Gewohnheiten nehmen dem täglichen Entscheidungszwang in manchen Bereichen des Alltags seine Dramatik. Zudem muss man sich im Alter auf der Ebene von Körper, Gesundheit, Mobilität und Wohnen immer mehr mit unvermeidbaren Tatsachen abfinden und hat keine echte Wahl mehr.
… und wesentlicher Gleichzeitig meldete sich in mir auch Widerspruch zur Aussage der Frau. Denn manche Entscheidungen, die für unser Leben, unser Glück und unsere Sinnfindung wesentlich sind, stellen sich erst im Alter, oft erst kurz vor dem Lebensende. Mit Themen wie Vorsorgeauftrag, Patientenverfügung, Testament und Beerdigung setzen sich viele Junge und Gesunde nicht wirklich auseinander. Ältere so© 2019 Hogrefe
wie schwerkranke Personen werden geradezu gezwungen, sich mit den „letzten Dingen“ und mit radikalen Sinnfragen zu befassen.
Ziele und Werte als innerer Kompass Eine Hauptschwierigkeit beim Entscheiden liegt darin, dass wir unsere Ziele und Werte nicht genau kennen und darum keine geeigneten Kriterien und Leitplanken haben, um die verschiedenen Alternativen abzuwägen und zu bewerten. „Wenn du nicht weisst, in welchen Hafen du segeln willst, kannst du unterwegs den Wind nicht nutzen“, schrieb Antoine de Saint-Exupéry. Wenn wir wissen, wohin wir wandern wollen, richten wir uns nach den Hinweisschildern am Wegrand, nach dem Kompass oder dem GPS auf dem iPhone. Wenn wir aber nicht wissen, wohin wir wollen, nützen uns alle Schilder und Wegkarten nichts. Manche Menschen haben Mühe mit dem Formulieren eines Lebensziels, weil sie lieber kurzfristige Ziele setzen, die leichter terminier-, umsetz- und kontrollierbar sind. Weite, langfristige und idealistische Ziele wie Weltfrieden oder Klimaschutz erfordern eine hohe Frustrationstoleranz, weil sie innerhalb unseres irdischen Lebens nicht erreicht werden können. Gleichzeitig haben hehre Ziele den Vorteil, dass wir nicht permanent neue Ziele setzen müssen. In einem Entscheidungsseminar meinte ein 70-jähriger Teilnehmer, dass er zwar oft Gedanken über das Leben anstelle, aber sein Lebensziel tatsächlich noch nie ausdrücklich definiert habe. Ich nehme an, dass es sich bei ihm nicht um einen Einzelfall handelte.
Im Folgenden unterscheide ich drei Kategorien von Entscheidungen: Entscheidungen in Bezug auf das Lebensende, Entscheidungen am Lebensende selbst sowie Entscheidungen mit einem Weitblick auf das Lebensende.
Die „letzten Dinge“ regeln Entscheidungen in Bezug auf das Lebensende sind gleichzeitig erschreckend und befreiend. Die Konfrontation mit unserer limitierten Lebenszeit kann Angst, Panik und Schmerz auslösen. Darum verdrängen viele ihre Endlichkeit und Sterblichkeit. Sie haben ihre „letzten Dinge“ nicht geregelt. Ihre Angehörigen wissen nicht, ob ihre Organe bei einem Unfalltod gespendet werden und ob im Sterbeprozess lebensverlängernde Massnahmen eingeleitet werden sollen. Angehörige werden nicht selten von Schuldgefühlen geplagt, weil sie nicht sicher sind, ob ihre verstorbene Mutter sich hätte kremieren lassen wollen. Nicht selten machen Kinder ihren verstorbenen Eltern innerlich auch Vorwürfe, weil diese alle Entscheide rund um Sterben und Tod abgeschoben haben. Gläubige Angehörige erfahren manchmal mit Entsetzen erst nach dem Tod ihrer Eltern, Geschwister oder Kinder, dass diese aus NOVAcura 1/19
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der Kirche ausgetreten sind und kein Recht mehr haben auf eine kirchliche Bestattung. Sollen sie trotzdem nach Möglichkeiten einer kirchlichen Bestattung suchen oder den Willen der Toten respektieren und eine unabhängige Ritualbegleiterin engagieren? Viele Menschen regeln ihre „letzten Dinge“ bewusst frühzeitig und erleben diesen Prozess als befreiend, zuweilen sogar als kreativen und lustvollen Prozess. In einem Kurs erzählte mir eine 50-jährige Frau, dass sie mit einer Sterbeorganisation das Leben beenden möchte und bereits ihre Urne getöpfert habe. Und eine 87-jährige Frau, deren Abschiedsfeier ich gestaltet habe, bereitete im Voraus alle Karten und Couverts für den Versand ihrer Todesanzeige vor. Auf die hellblaue Karte klebte sie ein Bild von Segantini, auf dem ein Engel mit weiten Flügeln abgebildet war.
Ein kreativer, lustvoller Akt Wir müssen nicht bis zum 90. Geburtstag warten oder bis wir eine Krebsdiagnose erhalten, um uns die Frage zu stellen, was wir tun würden, wenn wir nur noch ein Jahr oder einen Monat zu leben hätten. Der Auslöser dafür, dass ich meine „letzten Dinge“ vor über zehn Jahren regelte, war die Lektüre eines Briefes, den Wolfgang Amadeus Mozart mit nur 31 Jahren an seinen Vater schrieb: „Ich lege mich nie zu Bett, ohne zu bedenken, dass ich vielleicht – so jung als ich bin – den andern Tag nicht mehr sein werde. Und es wird doch kein Mensch von allen, die mich kennen, sagen können, dass ich im Umgang mürrisch oder traurig wäre. Für diese Glückseligkeit danke ich alle Tage meinem Schöpfer und wünsche sie von Herzen jedem Mitmenschen.“ Meine Partnerin erschrak, als sie zu Beginn unserer Beziehung in der obersten Schreibtisch-Schublade das Couvert sah, auf dem in grossen Lettern steht: „Vorsorgeauftrag, Patientenverfügung, Testament, Lebenslauf, Todesanzeige, Adressliste, Beerdigung und Bestattung. Im Fall von Demenz, schwerem Unfall oder Tod bitte öffnen.“ Irgendwann werde ich auch an mir Nahestehende persönliche Abschiedsbriefe formulieren, die man im Fall von Demenz oder Tod verteilen soll (warum eigentlich erst dann?). Dann und wann ändere ich Entscheide in meinen Unterlagen, weil ich beim Begleiten von Sterbenden, bei Beerdigungen oder in Büchern etwas erfahren habe, das mich besonders gefreut oder gestört hat und das ich darum dereinst nicht dem Zufall überlassen will. Inzwischen macht es mir sogar einen gewissen Spass, meine „letzten Dinge“ zu ändern, wenn ich auf eine eindrückliche Todesanzeige stosse, eine neue Patientenverfügung entdecke, ein bewegendes Gedicht lese oder ein wunderbares Musikstück am Radio höre.
Wenn das Ende naht Viele „letzte Dinge“ kann man in jungen Jahren und bei bester Gesundheit entscheiden. Manche Entscheide treffen Sterbende oder deren Angehörigen aber in der Regel NOVAcura 1/19
erst dann, wenn der Prozess des Sterbens effektiv beginnt oder der Tod definitiv eintrifft. Weil Menschen am Lebensende oftmals nicht mehr die nötige Kraft zum Entscheiden besitzen, sind Angehörige und Fachpersonen wichtige Akteure in den Entscheidungsprozessen. Und es ist gut, wenn in einem Vorsorgeauftrag geklärt ist, wer bei den Entscheidungen das Sagen hat. Menschen am Lebensende wollen ihren Angehörigen meistens möglichst wenig Umstände und Arbeit bereiten. Manche treten lieber vorzeitig aus dem Leben, als dass sie von ihren Kindern Betreuung und Pflege beanspruchen oder durch teure Pflegeheime das Erbe verkleinern sowie das Pensionsguthaben der Jungen schmälern wollen. Manche Schwerkranke und Sterbende wollen sogar auf eine Abschiedsfeier verzichten, um den Hinterbliebenen Arbeit und Emotionen zu ersparen. Schon mehrmals habe ich Sterbende ermutigt, unbedingt eine Abschiedsfeier und eine feierliche Bestattung zu planen, weil diese Rituale den Angehörigen wortwörtlich notwendige Möglichkeiten für deren Trauerarbeit ermöglichen. Im Angesicht von Sterben und Tod stellen sich zahlreiche Fragen, die man so oder anders entscheiden kann. Soll ich alle medizinischen Möglichkeiten in Anspruch nehmen, um mein Leben etwas zu verlängern – mit dem Preis, dass ich nicht daheim sterben kann und allenfalls mancherlei Nebenwirkungen erleide? Wünsche ich eine Krankensalbung? Will ich auf dem Sterbebett allenfalls noch heiraten oder in ungelösten Konflikten Versöhnung suchen? Wer soll in meinen letzten Tagen und Stunden an meinem Bett sitzen? Wer soll mich nach dem Tod waschen und anziehen? Welche Kleidung will ich zu meiner Abschiedsfeier tragen? Wo will ich in den Tagen nach meinem Tod aufgebahrt werden? Will ich meine Organe spenden, falls sie noch in gutem Zustand sind? Will ich kremiert werden? Wenn ja, gibt es vor der Kremation eine Abschiedsfeier im engsten Kreis? Soll während meiner Kremation ein Ritual stattfinden? Wo soll die Urne bis zur Abschiedsfeier stehen? Wann und wo soll die Abschiedsfeier stattfinden? Sollen Sarg oder Urne während der Abschiedseier präsent sein? Wie soll die Abschiedsfeier gestaltet werden und von wem? Wo sollen meine sterblichen Überreste bestattet werden, wer soll bei der Bestattung präsent sein und wie soll dieser Akt gestaltet werden? Und gibt es anschliessend an die Trauerfeier und/oder die Bestattung ein Festessen? Soll ein Stein oder eine Tafel an mich erinnern? Soll ein bestimmtes Wort darauf stehen? Was will ich wem vermachen? Will ich im virtuellen Raum weiterleben – und wie?
Entscheidungen fällen fürs Heute mit Blick auf das Ende Bei kleinen Entscheidungen im Alltag kann man die verschiedenen Optionen und Alternativen durchaus nach dem Lustprinzip oder nach materiellen Kriterien abwägen und wählen. Ob man im Restaurant Pizza oder Lasagne © 2019 Hogrefe
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bestellt, die blaue oder die grüne Bluse kauft oder ob man diese oder jene Blume schenkt, ist an sich nicht so wichtig. Und doch kann ich im ganz Kleinen und scheinbar Bedeutungslosen mehr oder weniger kompatibel mit meinen Zielen und Werten entscheiden und leben. Ob ich das Joghurt mit saisonalen Früchten der Region oder mit eingeflogenen Ananas kaufe, ob ich in den Ferien in die Malediven fliege oder mit dem Zug in die Berge fahre, macht einen enormen ökologischen Unterschied, wenn man beide Optionen mit der Anzahl Menschen (acht Milliarden) multipliziert. In manchen Situationen spüren wir nicht so genau, ob wir diese oder jene Option wählen sollen. Sollen wir diese oder jene Ausbildung machen? Sollen wir da oder dort arbeiten gehen? Sollen wir dieses oder jenes Hobby wählen? Sollen wir hier oder dort wohnen? Soll ich mich in dieser Organisation oder in jenem Projekt freiwillig engagieren? Um gute Entscheide zu finden, müssen wir die verschiedenen Optionen jeweils an unseren Zielen und Werten messen. Wenn aber auch mit dieser Methode keine Option sich als die eindeutig bessere erweist, kann es hilfreich sein, die eigene Lebenssituation mit einer Imaginationsübung zu verändern. Der grosse Meister ganzheitlicher Entscheidungsprozesse, Ignatius von Loyola, stellte den Menschen in Wahlsituationen schon vor 500 Jahren die Frage, wie sie entscheiden würden, wenn sie wüssten, dass sie nur noch ein halbes Jahr zu leben hätten. Diese Frage kann uns helfen, uns von gesellschaftlichen Zwängen und eigenen Erwartungen zu befreien, voll und ganz der inneren Stimme zu folgen und das zu wählen, was uns klar als sinnvoller erscheint. Wenn jemand Mühe hat, sich dieser radikalen Frage zu stellen, um bei aktuellen Entscheidungen mehr Klarheit zu erhalten, kann sich auch Fragen stellen wie: Was würde mich am 75. Geburtstag zum Weinen bringen, weil ich es erleben bzw. nicht erleben durfte? Für welche Ziele und Werte würde ich Schimpf und Schande, einen Stellenverlust oder gar eine Gefängnisstrafe auf mich nehmen? Und welche Option würde ich empfehlen, wenn mich meine beste Freundin in einer ähnlichen Situation um Rat bitten würde?
„10-10-10“ und „tun als ob“ Auch wenn es keine hundertprozentige Sicherheit gibt, dass man sich für die Option entscheidet, die sich langfristig als die beste erweist, gibt es doch Hilfen und Methoden zum Treffen einer möglichst stimmigen Wahl. Zwei Methoden erlebe ich als besonders hilfreich. Oft folgen Menschen ihren Träumen und Wünschen darum nicht, weil sie die Reaktion ihrer Angehörigen in den ersten Minuten und Stunden sowie die Unannehmlichkeiten in den ersten Wochen und Monaten fürchten. Darum empfiehlt die „10-10-10-Methode“ von Suzy Welch, dass wir uns vorstellen sollen, wie wir in zehn Jahren leben wollen. Indem
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wir unseren langfristigen Visionen und Zielen möglichst viel Gewicht geben, erhalten wir die nötige Kraft, um den Schock der ersten zehn Minuten und die Mühsal der ersten zehn Monate zu meistern. Hilfreich ist auch die zweite Methode, die wiederum auf Ignatius von Loyola zurückgeht. Man tut bei dieser Übung so, als hätte man sich bereits definitiv für eine der beiden Optionen entschieden und notiert während drei bis vier Tagen alle Gedanken und Gefühle, die in dieser Zeit aufkommen. Danach vollzieht man die gleiche Übung mit der zweiten Option und tut drei bis vier Tagen lang so, als hätte man sich definitiv für diese Option entschieden. Diese Methode verhindert das permanente gedankliche Ping-Pong-Spiel zwischen den Möglichkeiten. Die Notizen der sechs bis acht Tage kann man anschliessend an den eigenen Zielen und Werten messen. In der Regel zeigen einem die Gedanken und Träume, Gefühle und körperlichen Reaktionen in diesen Tagen auch ohne die Gewichtung der Notizen klar und deutlich, welcher Weg der stimmigere ist.
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Buchtipp Lukas Niederberger (2013). Am liebsten beides: Wie man gute Entscheidungen trifft. Ostfildern: Patmos. Fahre ich im Sommer in die Berge oder ans Meer? Bewerbe ich mich auf die neue Stelle oder bleibe ich am alten Arbeitsplatz? Will ich eine Familie gründen oder nicht? Weitreichende Entscheidungen zwingen uns, äussere Gegebenheiten zu beurteilen, uns unserer eigenen Ziele bewusst zu werden und mit Unsicherheiten umzugehen. Gute Entscheidungen verlangen den Blick nach aussen und nach innen, damit die Wahl nicht zur Qual, sondern zur Chance wird, das eigene Leben bewusst, lustvoll und selbstbestimmt in die Hand zu nehmen.
Lukas Niederberger ist Geschäftsleiter der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft (SGG). Er leitet Kurse über Entscheidung und Standortbestimmung und gestaltet Rituale bei Lebensübergängen. ln@lukasniederberger.ch www.lukasniederberger.ch
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Sterben lernen
© Martin Glauser
Heinz Rüegger
Die heutigen medizinischen Möglichkeiten führen dazu, dass wir neu sterben lernen müssen.
In unserer Gesellschaft sterben die meisten Menschen erst, nachdem entsprechende Entscheide gefällt worden sind. Dabei kommt es primär auf den Willen des Patienten an, ob gegen den Tod ange-
Krankheitssituationen lebensverlängernd eingreifen, die früher tödlich verlaufen wären. Wie lange gegen den Tod angekämpft und wann ein allfälliges Sterben zugelassen werden soll, hängt heute weitgehend vom Willen der betroffenen Patientin ab.
kämpft oder das Sterben zugelassen werden soll. Aber wie trifft man solche Entscheidungen angesichts unserer Ambivalenz gegenüber Sterben und Tod? Vieles spricht dafür, dass wir in einem neuen Sinn sterben lernen müssen.
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rüher bestand das Risiko zu sterben in jedem Lebensalter, ganz besonders am Anfang des Lebens. Inzwischen ist es unserer Zivilisation gelungen, den Tod an das Ende eines langen Lebens hinaus zu schieben. Sterben und Tod sind weitgehend zu Themen der Hochaltrigkeit und der Geriatrie geworden. Heute kann Medizin auch im hohen Alter noch auf vielfältige Weise in
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Selbstbestimmtes Sterben als neues Paradigma Gemäss Sterbedaten aus dem Jahr 2013 erfolgt der Tod in der Schweiz in 58,7 Prozent der Fälle erst, nachdem entsprechende medical end of life decisions im Sinne Passiver Sterbehilfe (Verzicht auf lebenserhaltende Massnahmen) gefällt worden sind (Bosshard, Hurst & Puhan 2016). Dass solche Lebensende-Entscheidungen heutige Sterbeverläufe massgeblich mitbestimmen, machen unter anderem auch Erkenntnisse aus dem Nationalen Forschungsprogramm „Lebensende“ deutlich (Synthesebericht NFP 67 2017, S. 5.20). © 2019 Hogrefe
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Mit anderen Worten: Sterben wird von der Erfahrung eines fremd verfügten Schicksals immer mehr zur Herausforderung eines selbst mit zu bestimmenden „Machsals“ (O. Marquard). Selbstbestimmtes Sterben wird heute zum neuen Paradigma des Sterbens unter den real existierenden Bedingungen unseres modernen Gesundheitswesens (Kunz & Rüegger 2017). Darin liegt ein gegenüber früher markant erhöhtes Mass an Freiheit und Verantwortung, zugleich aber auch ein gesellschaftlicher Anspruch und eine Zumutung, die mitunter als Überforderung erlebt werden. Früher kam der Tod einfach, ungefragt, als fremdverfügtes Schicksal. Dagegen konnte man mangels wirksamer Medizin nicht viel ausrichten. Man konnte sich nur innerlich auf den Tod einstellen, sich mit ihm abfinden. Als Anleitung dazu entwickelte sich in der abendländischen Geschichte der Philosophie wie der Theologie eine sog. ars moriendi, eine Kunst, sich mit der eigenen Sterblichkeit und dem bevorstehenden Tod anzufreunden. Die ars moriendi war Teil jeder ernsthaften Lebenskunst (ars vivendi). Heute hingegen steht nicht mehr die eigene innerliche Vorbereitung zum Sterben im Fokus, sondern die medizinische Herausforderung, die äusseren Bedingungen des eigenen Sterbens (oder Noch-nicht-sterben-Wollens) zu bestimmen und entsprechende Entscheidungen zu treffen. Mit Reimer Gronemeyer gesprochen: „Das ist das Neue: Sterben und Tod sind für uns moderne Menschen zum ‚Problem‘ geworden. Der Tod kommt nicht mehr, sondern er wird zur letzten Gestaltungsaufgabe des Menschen“ (Gronemeyer 2007, S. 37). Es findet so etwas wie eine Responsibilisierung oder Moralisierung des Sterbens statt: „Solange der Tod ‚kam‘, musste sich keiner rechtfertigen: Es bedurfte einer solchen Debatte nicht. Das moderne Subjekt hat sich in die fatale Lage gebracht, dass es nun selbst sein Sterben und seinen Tod zu verantworten hat“ (Gronemeyer 2007, S. 177). Das kann Sterbende angesichts der völlig normalen menschlichen Ambivalenz gegenüber dem Sterben überfordern. Diese Einsicht ergibt sich auch aus dem Nationalen Forschungsprogramm ‚Lebensende‘: „Der Tod … wird immer mehr zu einer Folge individueller Entscheide: Wie, wann und wo will ich sterben? Diese Fragen zu stellen und zu entscheiden, bringt zwar einen Freiheitsgewinn, aber auch eine Verantwortung mit sich, die in Überforderung münden kann“ (Synthesebericht NFP 67 2017, S. 9).
Die Schwierigkeit autonomen Entscheidens in Grenzsituationen Die mögliche Überforderung ist nicht kognitiv-intellektueller Art, sondern existenzieller Natur. In der neueren Medizinethik geht man davon aus, dass Patienten selber – also nicht die Ärzte, die Pflege oder die Angehörigen – in letzter Instanz entscheiden sollen, welche medizinische Behandlung durchgeführt werden soll und welche nicht. Schliesslich geht es ja um ihr Leben. Dabei wird voraus© 2019 Hogrefe
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gesetzt, dass ein Patient im Normalfall autonomiefähig ist, also fähig, sich selbstständig ein Urteil zu bilden und zu kommunizieren, wie er oder sie behandelt werden will. Zur Diskussion steht allenfalls, ob jemand urteilsfähig ist. Als urteilsfähig im medizinischen Sinn gilt jemand, der die ärztliche Diagnose und die Therapieoptionen einigermassen versteht (Erkenntnisfähigkeit), Vor- und Nachteile verschiedener Therapien gegeneinander abwägen und sie vor dem Hintergrund eines eigenen Wertesystems gewichten kann (Wertungsfähigkeit), und der so zu einer Behandlungsentscheidung gelangt (Willensbildungsfähigkeit), die er oder sie gegenüber Dritten vertreten kann (Willensumsetzungsfähigkeit). Was zuweilen übersehen wird, ist dies, dass Menschen – auch solche, die unter kognitiven, intellektuellen Gesichtspunkten durchaus urteilsfähig sind – in existenzielle ‚Grenzsituationen‘ (K. Jaspers) geraten können, in denen für sie nicht klar ist, was sie eigentlich wollen. Medizinische Lebensende-Entscheidungen, bei denen es um die Frage geht, ob weiter gegen den Tod angekämpft oder ein allfälliges Sterben hingenommen werden soll, stehen exemplarisch für solche ambivalenten Situationen. Denn es ist durchaus normal, dass Menschen im Tod den Freund und den Feind zugleich erblicken, ihn meiden und ersehnen in einem (Jaspers 1973, S. 229).
Sterben lernen? Es ist wohl ein uraltes Erbe der Evolutionsgeschichte, dass Menschen grundsätzlich am Leben hängen und den Tod bekämpfen. Von der Sehnsucht des Menschen nach langem Leben, ja nach Unsterblichkeit berichten schon die ältesten Erzählungen der Kulturgeschichte. Und die moderne wissenschaftliche Medizin ist angetreten zum Kampf gegen den Tod und für die Verlängerung des Lebens. Was früher bei kurzer durchschnittlicher Lebenserwartung und bei sehr begrenzten Möglichkeiten medizinischen Intervenierens Sinn gemacht haben mochte, nämlich das Sterben so lange wie möglich hinaus zu schieben, bedarf heute einer Differenzierung. So nennt der letzte gross angelegte internationale Versuch einer globalen Definition der Ziele der Medizin, der Hastings Report von 1996, als Ziel Nr. 4 die „Verhinderung eines vorzeitigen Todes und das Streben nach einem friedvollen Tod“ (Stauffacher & Bircher 2002, S. 327). Damit wird das Ermöglichen eines guten Sterbens zu einem gleichrangigen Ziel wie der Kampf gegen das Sterben und für die Lebensverlängerung. Und die Unterscheidung zwischen der Vorzeitigkeit des Todes und dem subjektiv akzeptierbaren, vielleicht sogar sinnvollen Zeitpunkt des Sterbens wird ein zentrales medizin-ethisches Thema. Wir neigen dazu, Krankheit und Tod wenn immer möglich zu bekämpfen und Leben zu verlängern, auch bei Hochbetagten, auch wenn es nur um ein paar zusätzliche Monate geht. Und so handeln sich manche Menschen Lebensjahre als Hochaltrige ein, die zuweilen mühsam und belastend sind – für sie selber und für ihr soziales Umfeld. NOVAcura 1/19
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Manches spricht dafür, dass wir in einer Zeit leben, die uns vor die Herausforderung stellt, wieder sterben zu lernen: selbst bestimmt, eigenverantwortlich, aus innerer Freiheit, ohne zu meinen, es sei nötig und wünschbar, alle medizinischen Möglichkeiten der Lebensverlängerung bis zuletzt auszuschöpfen. In dankbarem Wissen darum, dass den meisten von uns mit 80 Jahren bereits ein Mass an Lebenszeit und Lebensqualität vergönnt war, das weit über all dem liegt, was Menschen in früheren geschichtlichen Epochen und in anderen Weltgegenden bis heute je erleben durften! In diese Richtung weist auch ein Positionspapier der SAMW zu den Zielen und Aufgaben der Medizin im 21. Jahrhundert: „Obwohl sich die Medizin spontan auf die Seite des Lebens stellt und demzufolge den Tod verhindern möchte, sollte diese Bemühung immer auf einer grundsätzlichen Akzeptanz der Sterblichkeit und des Todes beruhen. Entscheide über Lebensrettung und Lebenserhaltung bedürfen aufgrund der immensen technischen Fortschritte besonderer Sorgfalt; der Grundsatz ‚Erlaubt ist, was man kann‘ soll nicht gelten“ (SAMW 2004, S. 33). Im Alten Testament ist die Rede vom Sterben „in schönem Alter, alt und lebenssatt“ (z. B. Gen 25,8). Gibt es so etwas überhaupt: ein Stadium der Lebenssättigung, in dem man zu sterben bereit ist, bevor einem das Leben zur Last und zum Überdruss wird? Die Frage, wann es Zeit sein könnte, sein Leben zu beschliessen, kann letztlich nur individuell beantwortet werden. Jedes Postulieren von Kriterien, die für alle zu gelten haben, wäre anmassend. Aber – so kann man immerhin fragen – gibt es vielleicht Überlegungen oder Haltungen, die einem etwas helfen, eine subjektiv angemessen erscheinende Antwort zu finden? Ich möchte mit drei Hinweisen antworten: dem Hinweis auf die Lebenseinstellung einer ars moriendi, dem Hinweis auf eine erweiterte Aufklärungspflicht der Ärzteschaft und dem Hinweis auf die Auflistung von ein paar konkreten Fragen, die in einem persönlichen, individuellen Entscheidungsprozess vielleicht klärend wirken können.
Sich mit der eigenen Sterblichkeit vertraut machen Nach einer langen philosophischen Tradition des Abendlands muss man ein Leben lang nicht nur das Leben, sondern auch das Sterben lernen – so etwa sagte es der römische Philosoph Seneca (2005, S. 25f.). Aus dieser Einsicht hat sich eine eigentliche ars moriendi entwickelt, die dazu anleitet, sich mit der eigenen Sterblichkeit vertraut zu machen, das Sterben also als etwas zutiefst zum Leben Gehörendes anzuerkennen und zu würdigen. Zum Beispiel indem man lernt, abschiedlich zu leben: Dinge, Situationen, Gewohnheiten oder Beziehungen immer wieder loszulassen, um frei zu werden für Neues. Oder indem man lernt, jeden Tag bewusst zu leben und auszukosten (carpe diem!) im Wissen darum, dass unsere Tage gezählt und eben darum kostbar sind. Oder indem man offen wird für die passiven Seiten des Lebens, für das, was einem das NOVAcura 1/19
Leben zuspielt oder zumutet, ohne dass man es gesucht hätte. Dabei kann man entdecken, dass Selbstbestimmung mehr ist als völlig unabhängiges aktives Gestalten, dass zu ihr auch die Fähigkeit gehört, Dinge hinzunehmen und geschehen zu lassen, ja, sich bewusst gestalten zu lassen von Umständen, Situationen und anderen Personen. Wer solche Haltungen im Leben einübt, dürfte am Ende des Lebens eher fähig sein, sich zu rechter Zeit dafür zu entscheiden, den Tod nicht mehr zu bekämpfen, sondern das Sterben zuzulassen.
Aufklärung darüber, wie man heute sterben kann Um heute anstehende medizinische Entscheide über das Zulassen des Sterbens oder ein Ankämpfen gegen den Tod fällen zu können, bedarf es – mehr als heute üblich – einer gründlichen ärztlichen Aufklärung über mögliche Sterbeverläufe. Menschen wissen heute in der Regel nicht, woran man allenfalls wie sterben kann, welche Krankheitssituation unter Umständen ein ‚friedvolleres‘ Sterben ermöglicht als dies in einer späteren Situation des Krankheitsverlaufs der Fall sein dürfte. Eine neuere Befragung der Bevölkerung hat ergeben, dass die Mehrheit der Befragten von ihrem Arzt oder ihrer Ärztin erwarten, rechtzeitig über Optionen des Sterbens, ihre Vor- und Nachteile informiert zu werden (LINK Institut 2016). Das muss Teil sein des Bemühens der Medizin, ihren Beitrag zu einem „friedvollen Tod“ zu leisten. Dem steht nach wie vor ein Kompetenzdefizit mancher Ärzte gegenüber, offen und zugleich rücksichtsvollsensibel mit ihren Klientinnen über die Möglichkeit des Sterbens zu sprechen. Die neuen medizin-ethischen Richtlinien über den Umgang mit Sterben und Tod der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften SAMW (2018) sind ein Impuls, dem vertrauensvollen Gespräch zwischen Arzt und Patientin über das Sterben die zentrale Bedeutung beizumessen, die ihm zukommen sollte.
Existenzielle Überlegungen Die dem heutigen Patienten vor allem im höheren Alter zugemutete Aufgabe, angesichts gravierender Krankheiten sog. medizinische Lebensend-Entscheidungen vorzunehmen, ist zweifellos anspruchsvoll. Sie kann als Überforderung empfunden werden. Damit dies nicht geschieht, sind Ärzte, Pflegende und Angehörige von Patienten gefordert, in einer offenen, geduldigen Gesprächskultur Betroffene so zu begleiten, dass sie ermutigt und befähigt werden, herauszufinden, was sie selber eigentlich wollen, und diesen autonomen Willen möglichst klar zu kommunizieren.
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Auf dem Weg zu solcher Klarheit können sich Patienten Fragen stellen wie: • Habe ich mein Leben so gelebt, dass ich lebenssatt geworden bin und nun in Dankbarkeit loslassen (‚ab-danken‘) kann? • Bin ich noch lebenshungrig? Was konkret möchte ich noch erleben? Ist es relativ wahrscheinlich, dass ich meinen Lebenshunger noch stillen kann, wenn ich mich jetzt für lebensverlängernde Massnahmen entscheide? • Eröffnet mir die sich aktuell abzeichnende Möglichkeit des Sterbens eine relativ friedvolle Beendigung meines Lebens, die ich nicht grundlos ausschlagen sollte? • Wie wird meine wahrscheinliche künftige Lebensqualität aussehen, wenn ich mich jetzt gegen das Sterben und für eine Lebensverlängerung entscheide? • Habe ich eine allfällige spirituelle Hoffnung über das Sterben hinaus? Wenn ja, wie sieht diese aus und was ergibt sich daraus für meine jetzige Entscheidung? Wie immer wir uns verhalten, wir kommen angesichts der real existierenden Bedingungen des heutigen Gesundheitswesens nicht darum herum, uns mit solchen Fragen auseinander zu setzen und uns darauf einzustellen, dass uns nicht nur die Freiheit zugestanden, sondern zugemutet wird, die Frage (unter Umständen immer wieder im Verlauf einer Krankheit) zu beantworten, ob wir das Sterben zulassen oder bekämpfen wollen. Diese Zumutung kann man als Herausforderung verstehen, sterben zu lernen.
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Literatur Bosshard, G., Hurst, S.A. & Puhan, M.A. (2016). Medizinische Entscheidungen am Lebensende sind häufig. Swiss Medical Forum – Schweizerisches Medizin-Forum, 16 (42), 896–898. Die Ziele der Medizin – neue Prioritäten setzen. In W. Stauffacher & J. Bircher (Hrsg.) (2002), Zukunft Medizin Schweiz. Das Projekt „Neu-Orientierung der Medizin“ geht weiter (S. 324–389). Basel: Schwabe. Gronemeyer, R. (2007). Sterben in Deutschland: Wie wir dem Tod wieder einen Platz in unserem Leben einräumen können. Frankfurt a.M.: Fischer. Jaspers, K. (1973). Philosophie II: Existenzerhellung. Berlin: Springer. Kunz, R. & Rüegger, H. (2017). Der Tod kommt heute nicht mehr einfach – er muss beschlossen werden: Über die Herausforderung selbstbestimmten Sterbens. NOVAcura, 48 (8), 29–32. Leitungsgruppe des NFP 67 Lebensende (Hrsg.) (2017). Synthesebericht NFP 67 Lebensende. Bern: Schweizerischer Nationalfonds. LINK Institut (2016). Letzter Lebensabschnitt. Was erwartet die Bevölkerung vom Arzt? Retrieved from fileadmin/user_upload/ files/Studie_LINK_Institut_Erwartungen_an_Aerzte_2016.pdf SAMW (2004). Positionspapier: Ziele und Aufgaben der Medizin im 21. Jahrhundert. Basel: SAMW. SAMW (2018). Umgang mit Sterben und Tod: Medizinisch-ethische Richtlinien. Bern: SAMW. Seneca (2005). Von der Kürze des Lebens. München: C.H. Beck/dtv.
Dr. Heinz Rüegger ist freischaffender Theologe, Ethiker und Gerontologe. h.rueegger@outlook.com
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Sterbefasten bzw. freiwilliger Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit Wie gehe ich damit im Pflegealltag um? Christoph Gerhard
Was ist Sterbefasten bzw. freiwilliger Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit? Welche Formen gibt es und wie sind sie ethisch einzuordnen? Handelt es sich um Suizid oder einfach nur um selbstbestimmtes Handeln? Sollen und dürfen Pflegende die betroffenen Menschen dabei begleiten oder setzen sie sich damit ins Unrecht? Kommt es zu qualvollem Verhungern und Verdursten? Dieser Artikel möchte unterschiedliche Szenarien rund um das Thema detailliert betrachten, ethisch bewerten und damit Sicherheit im Alltag schaffen.
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© Martin Glauser
enschen hören aus unterschiedlichsten Gründen auf zu essen oder zu trinken. Mal geht das Leben zu Ende und das Nichtessen und Nichttrinken gehört zum normalen Sterbeprozess, mal möchte jemand so nicht weiterleben und durch den Verzicht auf Flüssigkeit und Nahrung aus dem Leben scheiden, mal sind es andere
Ein Gespräch ist Nahrung für Geist und Seele, auch am Lebensende. (Symbolbild) NOVAcura 1/19
Gründe. Mitarbeitende der Gesundheitsberufe sind häufig verunsichert, wenn diejenigen, die sie versorgen, aufhören zu essen. Sie fühlen sich für die Sicherstellung der Ernährung und Flüssigkeitsaufnahme im Rahmen ihrer Sorgfaltspflichten verantwortlich. Diese professionelle Fürsorge ist ein Herzstück der Gesundheitsversorgung. Auch die beste Fürsorge muss sich allerdings an der Autonomie des betroffenen Menschen ausrichten. Grundsätzlich darf jeder Mensch selbst entscheiden, keine Flüssigkeit bzw. Nahrung zu sich zu nehmen. Dies ist ihm in den jeweiligen Verfassungen garantiert (z.B. Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Artikel 10, Recht auf persönliche Freiheit; Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, Artikel 2, Absatz 1, Recht auf Selbstbestimmung). Es muss allerdings gewährleistet sein, dass die betroffenen Menschen wirklich die Flüssigkeit oder Nahrung selbstbestimmt als Akt der Autonomie ablehnen und nicht im Rahmen von Erkrankungen, ihre Fähigkeit, diese Dinge zu entscheiden, vorübergehend oder dauerhaft verloren haben.
Ausschluss einer psychischen Erkrankung Es ist daher wichtig, wachsam zu bemerken, wann die Ablehnung von Flüssigkeit und Nahrung Ausdruck einer (psychischen) Erkrankung ist. Wenn z.B. ein Mensch mit Schizophrenie an der Wahnvorstellung leidet, alles Essen und Trinken sei vergiftet, und deshalb nichts mehr zu sich nimmt, ist nicht von einer freien Willensentscheidung auszugehen. Desgleichen gilt bei einem Menschen mit fortgeschrittener Demenz im Pflegeheim, der das Essen ablehnt, weil das Gebiss nicht richtig sitzt, aber aufgrund seiner Demenz nicht verständlich machen kann, was ihn stört. Oder wenn ein Mensch mit schwerster Depression jegliche Nahrung ablehnt, da das Leben ja für ihn in seiner krankhaft depressiven Denkweise völlig sinnlos geworden sei. Deshalb ist immer eine krankhafte Störung auszuschließen, welche die Selbstbestimmung aufhebt und dem Nahrungs- und/oder Flüssigkeitsverzicht als Krankheitssymptome zugrunde liegen könnte, bevor der Verzicht auf Flüssigkeit und Nahrung als selbstbestimmte Handlung angesehen wird. Falls eine psychische Erkrankung vorliegt, hat die psychopharmakologische Therapie zunächst Vorrang, da in vielen Fällen dadurch die Selbstbestimmung zurückerlangt werden kann. © 2019 Hogrefe
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Palliative Begleitung Oft sind die Angehörigen der Gesundheitsberufe besorgt, dass Menschen letztlich qualvoll verhungern und verdursten, die selbstbestimmt auf Nahrung und gegebenenfalls auch Flüssigkeit verzichten. Dieser Sorge kann mit langjährigem palliativmedizinischem Wissen und Erfahrung begegnet werden. Wenn ein Mensch die Nahrungsaufnahme einstellt, so lässt in der Regel nach zwei bis drei Tagen das Hungergefühl nach und spielt dann kaum mehr eine Rolle. Ein qualvolles Verhungern ist daher nicht zu befürchten. Durstgefühle hängen mehr von der Feuchtigkeit der Mundschleimhaut ab als von der zugeführten Flüssigkeitsmenge. Daher ist die beste leidenslindernde Maßnahme die regelmäßige Mundbefeuchtung. Mitarbeitende der Palliative Care haben eine umfangreiche Erfahrung, wie diese Mundpflege/ Mundbefeuchtung im Sinne einer möglichst guten Lebensqualität angewendet werden kann: Tupfer mit Lieblingsgetränk befeuchten, als Pumpspray in den Mund geben oder das Getränk als Eiswürfel einfrieren. Damit ist es auch noch bei fortgeschrittener Situation möglich, diese palliative Mundbefeuchtung durchzuführen, indem z.B. mit einem Tupfer der Mund befeuchtet wird oder die Eisstückchen im Mund gelutscht werden (Gerhard 2015). Wir haben damit auch bereits die Idee, wie wir Menschen im Sterbefasten/FVNF gut (palliativ) begleiten können, an einem Anwendungsbeispiel kennen gelernt, nämlich der palliativen Mundpflege/Mundbefeuchtung. Schauen wir uns nun genauer verschiedene Situationen des freiwilligen Verzichts auf Flüssigkeit und Nahrung an. Wir gehen dabei davon aus, dass es sich beim FVNF jeweils um eine selbstbestimmte Handlung und nicht um den Ausdruck einer Erkrankung handelt (s.o.). Der freiwillige Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit ist daher im Sinne des Rechts auf Selbstbestimmung in jedem dieser Situationen zu akzeptieren und gegebenenfalls leidenslindernd zu begleiten. Es können sich diesbezüglich allerdings höchst unterschiedliche Szenarien ergeben, nämlich: 1. der freiwillige Verzicht auf Flüssigkeit und Nahrung als Teil der Sterbephase, 2. der freiwillige Verzicht auf Flüssigkeit und Nahrung per Vorausverfügung oder stellvertretender Entscheidung (mutmaßlicher Wille) bei einem nichteinwilligungsfähigen Patienten, der durch eine Krankheit bedingt nicht schlucken kann oder 3. der freiwillige Verzicht auf Flüssigkeit und Nahrung als Akt der Herbeiführung des eigenen Ablebens. Diese drei Szenarien werden im Folgenden differenziert betrachtet, da sie sich in einigen Punkten sehr deutlich unterscheiden.
Freiwilliger Verzicht auf Flüssigkeit und Nahrung am Lebensende Viele Menschen stellen am Lebensende Essen und Trinken ein, weil sie keinen Hunger oder Durst haben. Dieser © 2019 Hogrefe
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freiwillige Verzicht auf Flüssigkeit und Nahrung ist sozusagen ein Teil des Sterbeprozesses. Die Betroffenen essen und trinken nicht mehr, weil sie sterben und nicht etwa umgekehrt, d.h. sie sterben nicht, weil sie nicht mehr essen und trinken. Angehörige und Mitarbeitende der Gesundheitsberufe haben in diesem Zusammenhang manchmal unberechtigte Schuldgefühle, weil sie befürchten, die Betroffenen würden vielleicht doch schneller sterben, weil sie nicht essen oder trinken, was aber in der Sterbephase unzutreffend ist. Eine aus dieser Unsicherheit heraus gegebene parenterale Ernährung oder Sondenernährung wäre unsinnig, da sie das Sterben nicht verhindert und auch nicht aufhält. Diese künstliche Ernährung hätte vor allem den Nachteil, die Lebensqualität in der Sterbephase empfindlich zu beeinträchtigen. Durch die zusätzlich bei einem sterbenden Körper zugeführte Flüssigkeit kann es zu einer Zunahme oder dem Neuauftreten von unangenehmen Symptomen kommen. Beispielsweise kann das Tumorödem durch die zusätzliche Flüssigkeitsgabe zunehmen, was zu verstärkten Schmerzen führen kann oder die bronchialen Sekretionen können so stark zunehmen, dass Luftnotattacken bis hin zu Erstickungsanfällen auftreten. Diese aus Unsicherheit gegebenen Flüssigkeitsund Ernährungsformen in der Sterbephase sind daher nicht nur unsinnig sondern auch hochgradig belastend und schädlich für die Betroffenen, da sie den Sterbeprozess quälender gestalten (Borasio 2011). Die Kunst des liebevollen Unterlassens ist hier gefragt, nicht der blinde unsinnige Aktionismus.
Vorausverfügter Verzicht auf Flüssigkeit und Nahrung bei Nichteinwilligungsfähigkeit Anders stellt sich die Situation dar, wenn Betroffene mit Schluck- und/oder Bewusstseinsstörungen selbst nicht mehr essen können, aber durch vorausverfügte bzw. stellvertretende Entscheidung eine künstliche Ernährung ablehnen. Viele Menschen möchten (insbesondere auch bei fortgeschrittenem Alter) nicht mit einer schweren Beeinträchtigung leben und verfassen deshalb Patientenverfügungen, in denen sie für bestimmte Situationen eine lebenserhaltende Therapie und auch eine künstliche Ernährung ausschließen. Typische Szenarien sind schwere Schlaganfälle oder fortgeschrittene Demenzen. Das Bürgerliche Gesetzbuch in Deutschland (BGB §1896, 1901, 1904 etc.) bzw. das schweizerische Erwachsenenschutzrecht (Artikel 370 ff.) regeln sehr detailliert, dass solche Vorausverfügungen rechtskräftig möglich sind und beachtet werden müssen. Damit ist die Verbindlichkeit von Patientenverfügungen und Vorsorgevollmachten erheblich gestärkt worden. Da Patientenverfügungen oft nicht ausreichend zur Verwirklichung der Autonomie beitragen, hat sich im englischsprachigen Bereich schon seit vielen Jahren das Konzept des Advance Care Planning etabliert. Damit erfasst man vertieft mittels Gesprächsbegleitung die Lebenswelt der Betroffenen und arbeitet die zuNOVAcura 1/19
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grundeliegenden Werte und Ziele heraus, um dann zu verlässlicheren und wirksameren Patientenverfügungen 2.0. zu kommen. In Deutschland und der Schweiz wurde dieses Konzept in den letzten Jahren eingeführt und im §132g SGB V für Deutschland geregelt, dass das Advance Care Planning bei Pflegeheimbewohnern und Menschen in Behinderteneinrichtungen eine Leistung ist, die von den Krankenkassen finanziert ist. Im Gesprächsprozess des Advance Care Planning nach der DIV-BVP1 besteht noch deutlicher und klarer als in den bisherigen Patientenverfügungen die Möglichkeit, für z.B. schwere Schlaganfälle oder fortgeschrittene Demenzen einen Verzicht auf künstliche Ernährung etc. voraus zu verfügen. Die Betroffenen sterben letztlich u.a. daran, dass sie wegen der Schluckstörung ihrer Grunderkrankung keine Nahrung und/oder Flüssigkeit zu sich nehmen können und eine künstliche Ernährung ablehnen. Es handelt sich hierbei um erlaubte passive Sterbehilfe, da die Erkrankung (z.B. Schlaganfall oder Demenz) ihren natürlichen Verlauf nimmt und dieser ist eben unbehandelt das Versterben.
Sterbefasten als Handlung mit der Intention, zu versterben Anders stellt sich die Situation dar, wenn jemand der sich nicht in der Sterbephase befindet, freiwillig auf Flüssigkeit und Nahrung verzichtet. Hier übt ein Mensch sein Recht auf Selbstbestimmung aus und stirbt letztlich, weil er nicht mehr isst und trinkt. Möglicherweise braucht er palliative Mitversorgung, falls es in diesem Rahmen zu leidvollen Symptomen etc. kommt. Diese eher seltenere Situation (Prof. Dr. Alt-Epping spricht in seiner Stellungnahme für die Zeitschrift für Palliativmedizin 2018 von Einzelfällen) ist von dem Verzicht auf Flüssigkeit und Nahrung in der Sterbephase klar abzugrenzen. Es gibt unterschiedliche Einschätzungen, ob es sich dabei möglicherweise um eine suizidale Handlung handeln könnte oder nicht. Suizide sind meist einmalige Handlungen wie z.B. Tabletten in tödlicher Dosis einnehmen, sich vor einen Zug werfen, sich von einer Brücke stürzen… Beihilfe zum Suizid bedeutet in der Regel, die tödliche Substanz bereitzustellen, z.B. Medikamente zu besorgen. Beim Sterbefasten findet ein kontinuierlicher Prozess und nicht eine einmalige Handlung statt. Die Sterbefastenden können zumindest über lange Zeit jederzeit das Sterbefasten wieder beenden, indem sie wieder essen und trinken, was beim Suizid in der Regel so nicht umkehrbar ist. Die Begleitung beim Sterbefasten hat keine Ähnlichkeiten zur Suizidbeihilfe, da ja leidvolle Symptome gelindert werden, aber nichts getan wird, um das Sterbefasten konkret zu ermöglichen, zu fördern oder zu beschleunigen wie z.B. den Mund zuhalten, damit der Betroffene nichts isst oder den Kühlschrank abschließen etc. Die Begleitung von Menschen, die einen freiwilligen
Verzicht auf Flüssigkeit und Nahrung durchführen, ist daher von der Akzeptanz des Rechts auf Selbstbestimmung und der Verpflichtung zur Symptomlinderung getragen. Nach den vier medizinethischen Prinzipien von Beauchamp und Childress (Respekt vor der Autonomie, Gutes Tun, Nichtschaden, Gerechtigkeit) sind hier vor allem der Respekt vor der Autonomie und das Prinzip, Gutes zu tun im Vordergrund stehend. Im Zweifelsfall können (Autonomie zentrierte) ethische Fallbesprechungen zusätzliche Sicherheit geben (z.B. Modell KRISE, vgl. Gerhard 2015).
Fazit Zusammenfassend sind mehrere unterschiedliche Situationen im Kontext von freiwilligem Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit (FVNF) zu unterscheiden: • FVNF als Teil des Sterbeprozesses • FVNF im Rahmen einer schweren Erkrankung mit Unfähigkeit auf natürlichem Wege Nahrung und Flüssigkeit zu sich zu nehmen, wobei dann die künstliche Ernährung willentlich abgelehnt wird • FVNF als Sterbefasten mit dem selbstbestimmten Ziel, aus dem Leben zu scheiden. In allen genannten Fällen handelt es sich um einen Akt der Selbstbestimmung, die von den Mitarbeitenden der Gesundheitsberufe geachtet werden muss. Die Begleitung der Betroffenen in ihrem Sterben muss sich an den Prinzipien der Palliative Care ausrichten, um den Betroffenen eine möglichst hohe Lebensqualität und Linderung trotz tödlichem Ausgang zu gewährleisten.
Literatur Borasio, G. D. (2011). Über das Sterben. München: Deutscher Taschenbuchverlag. Gerhard, C. (2011). Neuro-Palliative Care. Bern: Huber Verlag. Gerhard, C. (2015). Praxiswissen Palliativmedizin. Stuttgart: Thieme Verlag. Simon, A. & Alt-Epping, B. (2018). Pro und Contra Freiwilliger Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit als Suizid. Zeitschrift für Palliativmedizin, 19, 10–15.
Dr. med. Christoph Gerhard, Chefarzt der Abteilung für Palliativmedizin am katholischen Klinikum Oberhausen (D) und Leiter des Kompetenzzentrums QB 13 Palliativmedizin, Institut für Allgemeinmedizin der Universität Duisburg-Essen (D). christoph.gerhard@kk-ob.de
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Wesen und Essenz von Leben und Sterben
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Spiritual Care beinhaltet eine existenzielle Auseinandersetzung, die jenseits von Schmerztherapie und Symptomkontrolle Sinn und Bedeutung des Todes für das menschliche Leben thematisiert. Dabei ist sie nicht auf die Sterbephase beschränkt, sondern auch bei Krankheit und in anderen kritischen Lebenssituationen bedeutsam. Sie ist eine Form professioneller menschlicher und gesellschaftlicher Partizipation, die Leiden und Tod in der Realität der
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Demenz: Das Ende der Freiheit? Bericht zum 6. St. Galler Demenz-Kongress „Freiheit leben – (gem)einsame Wünsche und Hoffnungen“ Diana Staudacher
Wer an Demenz erkrankt, kann seine Freiheit immer weniger wahrnehmen. Fürsorge und Sicherheit haben in der Pflege von Menschen mit Demenz oft einen höheren Stellenwert als Freiheit. Wie kann die Gratwanderung zwischen Freiheit und Sicherheit gelingen? Warum ist es für Pflegefachpersonen oft schwierig, die Balance zwischen Fürsorge und Freiheit zu halten? Solche Schlüsselfragen standen im Zentrum des St. Galler Demenz-Kongresses vom
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as würden Sie sich wünschen, wenn Sie die Diagnose Demenz erhielten?“, fragte Prof. Dr. Heidi Zeller, Leiterin der Fachstelle Demenz der FHS St. Gallen, bei ihrer Begrüssung der rund tausend Teilnehmenden. „Vermutlich werden Sie sich erhoffen, nach wie vor frei handeln zu können, zwischen verschiedenen Optionen wählen zu dürfen, ihren Willen äussern zu können und Respekt zu erfahren. Doch das Recht auf Selbstbestimmung wird in Pflegesituationen tagtäglich und oft unbemerkt tangiert – besonders bei Personen mit Demenz“. Pflegende sind dem Prinzip der Selbstbestimmung verpflichtet. Doch zugleich müssen sie sicherstellen, dass ein Mensch mit Demenz sich selbst oder andere Personen nicht gefährdet. So entsteht ein anspruchsvolles Spannungsfeld zwischen Freiheit und Sicherheit, wie Heidi Zeller betonte. Fundamentale Verwundbarkeiten und Schutzbedürfnisse stehen dabei auf dem Spiel. „Freiheit ist riskant“ und stets „in Gefahr“, bestätigte Dr. Ina Prätorius. Sie wies darauf hin, dass alle Menschen „frei geboren“ sind: „Niemand kann mir die Freiheit nehmen“. Was aber geschieht, wenn eine Krankheit wie Demenz dem Menschen mehr und mehr seine Freiheit raubt? Können Pflegefachpersonen dann vielleicht neue, bisher unerkannte Freiräume eröffnen? Inwieweit muss aber auch die Gesellschaft „demenzfreundlicher“ werden, damit Menschen mit dieser Krankheit weiterhin „Freiheit leben“ können? Fragen wie diese zogen sich wie ein „roter Faden“ durch die vier Referate und sechs Workshops.
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14. November 2018.
Freiheit und Sicherheit – Hand in Hand? Sicherheit – nicht Freiheit – gilt oft als höchstes Gut in der Pflege von Menschen mit Demenz. Die wichtigste Quelle der Sicherheit ist eine heilsame Beziehung zwischen der Pflegefachperson und dem demenzbetroffenen Menschen, wie Dr. Elisabeth Höwler hervorhob. Gefragt sind empathische, emotional authentische und feinfühlige Fachpersonen, die auf das „beziehungssuchende Verhalten“ von Menschen mit Demenz eingehen können. Wünsche und Hoffnungen von Menschen mit Demenz richten sich in erster Linie auf eine sicherheitsgebende Beziehung, wie Elisabeth Höwler zeigte. In einer tragenden Pflegebeziehung haben Betroffene das Gefühl, anerkannt, emotional verstanden und respektiert zu werden. Zugleich erleben sie, dass es immer Personen gibt, auf die sie vertrauen können. Dies trägt wesentlich zu ihrem Kohärenzgefühl bei. Eine respektvoll-empathische Pflegebeziehung könnte somit Sicherheit und Freiheit zugleich bieten. Umso bedauerlicher ist es jedoch, wenn beziehungsorientierte Pflege bei Vorgesetzten auf Ablehnung stösst. Das Beispiel einer jungen, hochmotivierten Pflegefachperson machte deutlich, dass Caring-Verhalten unterschiedliche Reaktionen hervorrufen kann. Menschen mit Demenz wussten es sehr zu schätzen, einzelne Teammitglieder und die Bildungsverantwortliche hielten es für distanzlos und unreflektiert. Professionalität wird teilweise noch immer mit „zweckrationaler“ Funktionspflege gleichgesetzt. © 2019 Hogrefe
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Das Empathievermögen einer Fachperson gilt dann nicht als Stärke, sondern als unprofessionelle Schwäche und Ausdruck mangelnder pflegerischer Selbstsorge. Umso wichtiger ist es aus Sicht der Referentin, bereits in der Pflegeausbildung deutliche Akzente zu setzen. Berufsbildner(innen) sollten beziehungsorientierte Pflege vorleben. Sonst besteht die Gefahr, dass die junge Generation der Pflegenden ihre beruflichen Ideale verliert und resigniert. Menschen mit Demenz könnten dies leidvoll zu spüren bekommen.
Keine Alternative zu Antipsychotika? Die Freiheit und Würde des Menschen mit Demenz zu bewahren, ist ein zentrales Anliegen der personzentrierten Pflege im Sinne Tom Kitwoods. Erfahrungen in Grossbritannien zeigten, dass Antipsychotika deutlich seltener zum Einsatz kommen, wenn Fachpersonen sich am personzentrierten Modell orientieren: Die Verschreibung von Antipsychotika sank von 41 auf 22 Prozent. Somit stellt personzentrierte Pflege eine wertvolle Alternative zu medikamentösem Vorgehen dar. Menschen mit Demenz sind dadurch nicht den schwerwiegenden Nebenwirkungen der Antipsychotika ausgesetzt. Nach dem Vorbild einer britischen Studie untersuchte Dr. Steffen Fleischer, Martin-Luther-Universität Halle, mit seinem Team, ob eine solche Entwicklung auch in deutschen Pflegeheimen möglich ist. In umfangreichen Schulungen erhielten Pflegefachpersonen und Ärztinnen bzw. Ärzte Informationen über Antipsychotika. Das Forschungsteam untersuchte kontinuierlich die Medikation der Bewohnenden und überprüfte die Lebensqualität sowie das Sturzrisiko. Die Ergebnisse widersprachen sämtlichen Vorannahmen. Bei Teilnehmenden, die personzentrierte Pflege erhielten, sank die Verschreibung von Antipsychotika nicht, sondern stieg sogar an. Den höchsten Wert erreichte ein Heim, in dem nur einer von zwanzig Bewohnenden kein antipsychotisches Medikament erhielt. Die Studienergebnisse geben Anlass zum Nachdenken. „Was in einem anderen Land funktioniert, kann unter veränderten Bedingungen scheitern“, so Steffen Fleischer. Besteht für die Ärzteschaft kein Anreiz, weniger Medikamente zu verschreiben, kann personzentriertes Vorgehen nicht die erhoffte Wirkung entfalten. Somit ist ein Wandel der gesamten Versorgungskultur und Haltung gefragt – bei allen beteiligten Professionen.
„Urteilsunfähig“: Wann ist ein Mensch nicht mehr autonom? Einer Person mit Demenz die Entscheidungsbefugnis zu entziehen, ist ein massiver Eingriff, betonte Prof. Dr. Harry Landolt, Universität St. Gallen. Ethisch lässt sich dieser Schritt nur als eine Art „Schutzmassnahme“ rechtfertigen, © 2019 Hogrefe
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um negative Folgen zu verhindern. Urteilsfähigkeit ist kein medizinischer, sondern ein rechtlicher Begriff. Häufig ist es sehr schwierig, zu entscheiden, ob ein Mensch mit Demenz noch urteilsfähig ist oder nicht. Pflegefachpersonen und Ärztinnen bzw. Ärzte wünschen sich hierfür Orientierung und können sich auf eine Richtlinie der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften beziehen. Stets gilt es jedoch zu bedenken, dass „Urteilsunfähigkeit“ keine Eigenschaft eines Menschen ist. Es handelt sich um eine Zuschreibung durch andere Menschen. Sie gilt nur für vorübergehend und erfordert stetiges Evaluieren. „Das menschliche Urteilsvermögen ist fluktuierend“, wie Dr. Ulrich Hemmeter, Chefarzt der Alters- und Neuropsychiatrie St. Gallen Nord, hervorhob. Je nach Situation kann es immer wieder „luzide Momente“ geben: Betroffene sind zeitweise wieder aufmerksam und zeigen Willenskraft. Solche klarsichtigen Augenblicke sind wertvoll, um Wünsche und Willensäusserungen einer Person mit Demenz zu erkennen: „In einer guten Pflegebeziehung können wir vieles herausfinden“, berichtete Ursa Neuhaus, Leiterin Bildung im Zentrum Schönberg, Bern. Um den Wünschen und Hoffnungen von Menschen mit Demenz so nahe wie möglich zu kommen, sind Angehörige die wichtigsten Gesprächspartner der Pflegenden. Doch was geschieht, wenn die betroffene Person nicht möchte, dass Familienmitglieder ihre Diagnose erfahren? Und inwieweit können „Vertretungspersonen“ im Interesse „urteilsunfähiger“ Personen mit Demenz handeln? „Können wir einen Menschen wirklich vertreten?“, lautete eine zentrale Frage in der Podiumsdiskussion über das Thema „Freiheit und Selbstbestimmung von Personen mit Demenz“. Diese Diskussion zeigte, wie anspruchsvoll es ist, sich im Spannungsfeld zwischen Selbst- und Fremdbestimmung verantwortungsbewusst zu positionieren.
Eine hoffnungslose Erkrankung? Wird es in absehbarer Zeit möglich sein, Demenz medikamentös zu heilen, aufzuhalten oder sogar zu verhindern? Prof. Dr. Reto W. Kressig, Ärztlicher Direktor der Universitären Altersmedizin am Felix-Platter Spital, Basel, gestand seine Zweifel ein. Seit Jahrzehnten hält die Forschung an einer Hypothese fest, die inzwischen widerlegt ist. Medikamente gegen Beta-Amyloid-Proteine einzusetzen, hilft den Betroffenen nicht. Zudem müsste die Therapie bereits einsetzen, bevor Symptome auftreten. Auch Wirkstoffe, die sich gegen Tau-Proteine richten, brachten bisher nicht den erhofften Durchbruch. Bedenklich sind auch die Nebenwirkungen aktuell getesteter Medikamente. Beispielsweise löst der Antikörper Aducanumab Irritationen an der Gefässwand aus und kann zu Mikroblutungen oder Ödemen führen. Wenig öffentliche Aufmerksamkeit erhielten Studienergebnisse, wonach das Risiko, an Demenz zu erkranken, um fast ein Viertel zurückgegangen ist. Die Ursache scheint im erfolgreichen Management kardiovaskulärer Risikofaktoren zu liegen. Mehr Beachtung sollten aus Sicht NOVAcura 1/19
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von Reto Kressig nicht-medikamentöse Therapien erhalten. Sie sprechen emotionale Kompetenzen an, die bis in späte Krankheitsstadien erhalten bleiben. Zugleich fördern sie noch vorhandene Hirnleistungs-Ressourcen. Musikbasierte Bewegungsprogramme wie Dalcroze-Rhythmik scheinen besonders geeignet, Hirnreserven zu mobilisieren und somit die Kognition signifikant zu verbessern. Auch herausforderndes Verhalten lässt sich durch Dalcroze-Rhythmik-Programme lindern. Agitiertes, aggressives und herausforderndes Verhalten sowie motorische Unruhe sind eine Ausdruckssprache der Not. Vieles weist darauf hin, dass gezielte Bewegungsförderung Menschen mit Demenz eine Ausdrucksfreiheit ermöglicht, die ihnen fehlt: Bewegungsfreiheit wirkt heilsam.
„Freiheit leben“ – in einer demenzfreundlichen Gesellschaft Fachpersonen und Angehörige können HoffnungsTräger(innen) für Menschen mit Demenz sein, wenn ihnen die Balance zwischen Freiheit und Fürsorge gelingt. Dies war eine zentrale Botschaft des Kongresses. Hoffnungs-Träger(innen) sehen in der Person mit Demenz einen wünschenden, wollenden und hoffenden Menschen. Wer sich täglich um Personen mit Demenz kümmert, muss jedoch selbst hoffnungsstark sein, einen inneren Halt haben und wissen, was „die Seele gesund hält“, betonte Dr. Matthias Mettner, Programmleiter des Forums Gesundheit und Medizin, Meilen/Zürich. „Freiheit leben“ mit einer Demenzerkrankung – das ist möglich, wenn es gelingt, gesellschaftliche Barrieren abzubauen und eine demenzfreundliche Gesellschaft zu gestalten. Die Referate und Workshops waren Wegweiser zu diesem Ziel. Demenz ist nicht nur ein pflegerisch-medizinisches Thema. Die gesamte Gesellschaft und die Politik stehen in der Verantwortung. Es muss selbstverständlich sein, dass Menschen mit Demenz und ihre Familien in der Mitte der Gesellschaft leben können und von Anfang an in unterstützende Netzwerke eingebettet sind. Dazu zählt beispielsweise ein Coaching für Angehörige, das Pro Senectute im Kanton St. Gallen anbietet: Eine Fachperson steht den betreuenden Angehörigen zur Seite, um zur richtigen Zeit ausreichende Entlastung zu sichern – je nach individuellen Wünschen und Bedürfnissen. „Freiheit leben“ mit Demenz setzt eine Gesellschaft voraus, die Betroffene nicht stigmatisiert und isoliert. Das Miteinander von Menschen mit und ohne
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Demenz im öffentlichen Raum muss selbstverständlich sein. Denn Dazugehören zur Gemeinschaft ist vielleicht die wichtigste Quelle von Freiheit und Hoffnung für Menschen mit Demenz.
Auszeichnung der besten Praxisprojekte Ein Höhepunkt des diesjährigen St. Galler DemenzKongresses war die Vergabe des Viventis-Pflegepreises für das beste Schweizer Praxisprojekt in der Pflege und Begleitung von Menschen mit Demenz. Die Fachstelle Demenz der FHS St. Gallen und die Viventis Stiftung überreichten den mit 10‘000 Franken dotierten Preis der Stiftung Hofmatt in Münchenstein für das Projekt „Schafsbesuchstage“ mit einem tiergestützten Angebot für Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen. Den zweiten Preis erhielt das Projekt „Weihnachtszelt“ des Alterszentrums Bürgerspital St. Gallen. Der Verein „Mosaik“ in St. Gallen gewann den dritten Preis für das Projekt „Unterstützte Gesprächsgruppen für frühbetroffene Menschen mit Demenz“.
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St. Galler Demenz-Kongress Der St. Galler Demenz-Kongress wird vom Fachbereich Gesundheit der Fachhochschule St. Gallen in Kooperation mit den Olma Messen St. Gallen veranstaltet. Der 7. St. Galler Demenz-Kongress findet am 13. November 2019 statt. Das Thema lautet: „Vergessene Anforderung – End of Life Care bei Personen mit Demenz“.
Dr. Diana Staudacher, Wissenschaftliche Mitarbeiterin, FHS St.Gallen, Fachbereich Gesundheit. diana.staudacher@fhsg.ch
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Der grosse Nutzen strukturierter ethischer Fallbesprechungen Petra Schweller
In Einrichtungen der Langzeitpflege sind ethischmoralische Konflikte und Fragestellungen keine Seltenheit. Aufgrund der längerfristigen Beziehungen zwischen Bewohnenden und Pflegenden werden im Pflegealltag andere ethisch-moralische Aspekte bedeutsam als in einem Akutspital. Die Pflegenden tragen in der Langzeitpflege eine noch höhere Verantwortung bei der Klärung relevanter Fragestellungen.
Der Bedarf an Ethikstrukturen Ethikstrukturen (klinisches Ethikkomitee, Moderatoren für ethische Fallbesprechung, Ethikcafés usw.) sind bisher primär in den grösseren Akutspitälern etabliert, werden aber zusehends auch in der Langzeitpflege und im ambulanten Bereich eingerichtet. (SAMW 2017). Durch die Implementierung von Ethikstrukturen werden ethisch relevante Themen und Probleme im Umgang mit Patienten aufgegriffen und reflektiert sowie bestmögliche Handlungsentscheide gesucht. Innerhalb dieser Ethikstrukturen wird mit/über Patienten und Bewohnende diskutiert, die aufgrund von Krankheit, Verletzung oder beeinträchtigter Lebensqualität leiden. Die Wahrnehmung des „Leidens“ unterscheidet sich aber je nach Profession deutlich. Während Mediziner den Fokus vorwiegend auf naturwissenschaftlich objektivierbare Symptomenkomplexe richten und Empfehlungen für Therapieprogramme diskutieren, gilt die Aufmerksamkeit der Pflegenden mehr der Lebensqualität der Patienten NOVAcura 1/19
© Martin Glauser
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ei der Klärung solcher Fragen kann die Einführung strukturierter, ethischer Fallbesprechungen eine Unterstützung sein. Die Besprechungen helfen allen an der Pflege beteiligten Personen, moralische Fragestellungen gezielt zu reflektieren und notwendige Entscheidungen moralisch begründet zu treffen. Die Erfahrung zeigt, dass die Durchführung der Fallbesprechungen die einzelnen Akteure enorm entlasten kann und die Zusammenarbeit im Pflegealltag auf allen Ebenen verbessert.
Ethische Fallbesprechungen entlasten die involvierten Personen und erleichtern die Zusammenarbeit.
oder Bewohneden und ihren Angehörigen. Obwohl sich die Perspektiven beider Berufsgruppen oft unterscheidet, äussern Pflegekräfte ihren Standpunkt zu ethisch-moralischen Fragestellungen bisher leider noch zu wenig. Sie werden in der öffentlichen Debatte kaum wahrgenommen (Kohlen 2009, S. 33). Zum Wohl von Patienten und Bewohnenden wäre es jedoch im Sinn einer Übernahme der Anwaltschaft für diese (Advocacy) äusserst hilfreich und notwendig, dass Pflegende ihre Wahrnehmung ethischmoralischer Problemstellungen deutlicher zum Ausdruck bringen als bisher. Dies wäre besonders in Langzeiteinrichtungen nötig, da die dort Pflegenden die grösste Verantwortung für das Wohlbefinden der Bewohnenden tragen und Ärzte häufig nur auf Initiative des Pflegepersonals zur Beurteilung einer Situation hinzugezogen werden. © 2019 Hogrefe
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Besondere Situation in der Langzeitpflege Es ist besonders zu betonen, dass sowohl in Sozialstationen als auch in Altenpflegeheimen häufig eine langfristige professionelle Beziehung zwischen Pflegekräften und Klienten/Bewohnern besteht. Pflegende kennen in der Regel zentrale Aspekte aus der Biografie der Betroffenen und sind über deren soziales Umfeld informiert. Diese tiefgehende Form professioneller Beziehung führt bei den Pflegenden zu einer sensiblen Wahrnehmung der Bedürfnisse von Pflegebedürftigen. Es werden umfassendere und tiefergehende Pflegeprobleme erfasst als bei einem Kurzkontakt im Krankenhaus. Infolgedessen werden auch ethische Problem- und Dilemmasituationen differenzierter wahrgenommen (Steinkamp & Gordijn 2010, S. 84). Pflegende kennen die Bedürfnisse, die Fähigkeiten und Eigenarten von Klienten und Bewohnern und machen sich Sorgen um sie. Zentrales Kriterium bei der Beurteilung von moralischen Handlungsoptionen ist stets das Wohl oder die grösstmögliche Lebensqualität des Betroffenen. Dies betrifft, im Gegensatz zur Akutklinik, nicht nur medizintherapeutische Fragen, sondern ebenso Fragen zur Alltagsbewältigung und zur Gestaltung des sozialen Umfeldes. Ethisch-moralische Fragestellungen treten in der Langzeitpflege vor allem in folgenden Kontexten auf: • Hilfebedarf wir nicht akzeptiert • Eindringen in die Privatsphäre einer Person • Fragen der Entscheidung-/Urteilsfähigkeit • Selbstgefährdung und Autonomie • Verweigerung der Nahrungsaufnahme • Essen und Trinken am Lebensende • Erhalt einer grösstmöglichen Lebensqualität • Umgang mit religiösen und kulturellen Fragen • Autonomie des Einzelnen als Mitglied einer „Wohngemeinschaft“ • Einleitung therapeutischer Massnahmen oder palliativer Pflege • Sterbebegleitung und Sterbehilfe. (Steinkamp & Gordijn 2010, S. 84) Im Vergleich zu Akutkliniken erweitert sich im Pflegeheim das Themenfeld ethisch moralischer Fragestellungen, da die Einrichtung, in der die betroffenen Menschen leben, gleichzeitig auch deren Wohnsitz ist. Die Betroffenen sind häufig in einem hohen Mass von anderen Personen abhängig und auf deren Schutz und Unterstützung angewiesen. Oftmals haben die Betroffenen nicht die Kraft oder die Möglichkeit, ihren Willen ohne fremde Unterstützung auszudrücken oder durchzusetzen. Hinzu kommen Probleme und Konflikte im Zusammenleben verschiedenster Menschen sowie Spannungen in der wechselseitigen Beziehung zwischen Bewohnern, deren Angehörigen und den Betreuenden. Durch den langdauernden Aufenthalt entstehen persönliche Beziehungen zwischen Personal und Bewohnern, die die Entstehung, Wahrnehmung und © 2019 Hogrefe
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Klärung moralischer Problemstellungen positiv und negativ beeinflussen können (SAMW 2017). Jeder Mitarbeiter, jede Mitarbeiterin in Einrichtungen der Langzeitpflege weiss, wie anstrengend und zeitraubend die Auseinandersetzung mit diesen Themen bei auftretenden Konflikten ist. Häufig kann keine gute Entscheidung für alle betroffenen Personen gefunden werden. Möglicherweise sind Bewohnende aufgrund von Erkrankungen oder Therapien vorübergehend oder dauerhaft in ihrer Autonomie eingeschränkt. Bei Menschen, die davon betroffen sind, ist es bedeutsam, deren Entscheidungsfähigkeit durch Beziehung und Fürsorge zu erweitern (Caritasverband der Erzdiözese Freiburg 2017) Pflegende, Angehörige oder Betreuer müssen im Interesse der Betroffenen handeln und entscheiden. Dabei geht es häufig um Fragen in den Spannungsfeldern „Gutes tun (Fürsorge) – nicht schaden“ oder „Autonomie – Fürsorge“. Da bei moralischen Fragestellungen immer die Einzigartigkeit einer Situation berücksichtigt wird, ist es nicht möglich Grundsatzentscheidungen für ähnliche Situationen zu definieren. Es muss immer die Einzelsituation betrachtet werden. Aus diesem Grund ist es sinnvoll, in Einrichtungen der Langzeitpflege Ethikstrukturen, z. B. ethische Fallbesprechungen, zu implementieren.
Implementierung ethischer Fallbesprechungen Aus organisatorischer Sicht ist es sinnvoll, Mitarbeitende der Langzeitpflege, Pflegebedürftige und Angehörige darüber zu informieren, dass das Angebot einer ethischen Fallbesprechung besteht. Um die Angehörigen zu informieren, bieten sich Info-Abende an, während denen der Nutzen von ethischen Fallbesprechungen erläutert wird. Zudem muss darüber informiert werden, wie und wo eine ethische Fallbesprechung beantragt werden kann. Um die Mitarbeitenden zu informieren, haben sich Workshops, in denen am Leitbild der Einrichtung gearbeitet wird, als nützlich erwiesen. Die Auseinandersetzung mit der Zielsetzung der Einrichtung und der Vergleich mit dem Pflegealltag machen in der Regel ethische Problemstellungen deutlich. Das führt bei den Mitarbeitenden zur höheren Sensibilität für ethische Fragen. Um ethische Fallbesprechungen zu organisieren und durchzuführen, wird empfohlen, speziell geschulte Moderatoren einzusetzen. Diese sollten in der Regel in die betroffene Situation nicht involviert sein, um möglichst „neutral“ das Gespräch leiten zu können. Sie achten im Gespräch auf die Einhaltung der Struktur und ermöglichen jedem Teilnehmenden, seine Perspektive zu äussern. Die Gesprächsführung ist eine Herausforderung, da die Gesprächsteilnehmenden unterschiedliche Fachkenntnisse haben (daher verschiedene „Sprachen“ sprechen) und mehr oder weniger emotional in die Situation involviert sind. NOVAcura 1/19
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Ethische Fallbesprechungen Die häufigsten ethischen Fallbesprechungen werden durchgeführt, wenn Bewohnende nicht mehr autonom und urteilsfähig sind und andere Personen in ihrem Sinn entscheiden müssen. In der Regel wird eine ethische Fallbesprechung von Pflegenden, Angehörigen oder Betreuenden beantragt, die Probleme mit einer vorliegenden Situation haben oder Unbehagen empfinden. Der Antragssteller sollte die zu klärende Frage so konkret wie möglich formulieren. Ein ausgebildeter Moderator für ethische Fallbesprechungen übernimmt die Organisation des Gesprächs und lädt alle Personen ein, die Auskunft zur Frage geben können. Das können die Bezugspflegenden, Angehörigen, Freunde, Betreuenden, der Hausarzt und weitere Bezugspersonen sein. In einem 60–90-minütigen Gespräch wird versucht, anhand einer vorgegebenen Struktur, einen gemeinsamen Konsens zu finden.
Klärung der ethischen Fragestellung Erfassen des Situationskontext Ethische Analyse der Situation Diskussion von Verhaltensoptionen im Sinne der relevanten ethischen Aspekte Konsensfindung gemeinsamer Handlungsentscheid Dokumentation Grundlegende Struktur ethischer Fallbesprechungen (eigene Darstellung)
Als normativer Bezugsrahmen gelten in der Regel die vier ethischen Prinzipien von Beauchamp und Childress (Beauchamp & Childress 2012): Autonomie, Gutes tun (Fürsorge), nicht schaden und Gerechtigkeit. Sie können jedoch auch im Sinne des Einrichtungsleitbilds erweitert werden. Im Gespräch sind alle Teilnehmenden gleichberechtigt. Es geht weniger darum, wer die besseren Argumente vorbringt, als zu klären, welche Werte in der vorliegenden Situation gefährdet sind und wie die betroffene Person wohl entschieden hätte, wenn sie urteilsfähig und autonom wäre. Das Ergebnis ist also eine reflektierte und ethisch begründete Entscheidung, die den mutmasslichen Willen der betroffenen Person zur Grundlage hat. Erfahrungsgemäss wird ein solcher Konsens fast immer gefunden.
Der Nutzen ethischer Fallbesprechungen Die verschiedenen Akteure äussern im Gespräch ihre Perspektive auf die Situation und ihre Kenntnisse zum mutmasslichen Willen einer Person. Für die anderen Teilnehmenden ist diese Perspektivenerweiterung wichtig. Die NOVAcura 1/19
Erkenntnis, dass alle am Gespräch beteiligten Personen bemüht sind, die bestmögliche Entscheidung zu treffen, ermöglicht es, die eigene Haltung zu reflektieren und kritisch zu hinterfragen. Besonders für die Personen, die aus rechtlicher Sicht im Grunde alleine entscheiden dürften (Betreuende, Angehörige), bedeutet die gemeinsame Reflexion eine grosse Entlastung. Zu wissen, dass auch die anderen Teilnehmenden die getroffene Entscheidung unterstützen, ist für viele eine grosse Erleichterung. Das gemeinsame Gespräch führt nicht nur dazu, eine gemeinsame Entscheidung zu treffen, sondern die Beziehung und Zusammenarbeit aller Beteiligten deutlich zu verbessern. Die Erkenntnis und das daraus wachsende Vertrauen, dass alle Akteure bemüht sind, im Interesse des Betroffenen zu handeln, erleichtert auch die Zusammenarbeit im Pflegealltag. Ausserdem werden dank der ethischen Fallbesprechung und der Kommunikation über die Ergebnisse die Mitarbeitenden in der Einrichtung für ethische Themenstellungen sensibilisiert. Das führt dazu, dass Gespräche mit Bewohnenden und die Erhebung ihrer Wünsche für die Betreuung und Versorgung am Lebensende sehr viel geführt und dokumentiert werden. So wird die Wahrscheinlichkeit, im Fall einer Autonomieunfähigkeit eine ethische Fallbesprechung durchführen zu müssen, deutlich reduziert.
Literatur Beauchamp, T.L. & Childress, J.F. (2012). Principle of Biomedical Ethics. Oxford: Oxford University Press. Caritasverband der Erzdiözese Freiburg (2017). Orientierungshilfe für ethisch fundierte Entscheidungen in Pflegeeinrichtungen. Freiburg im Breisgau: Caritas. Kohlen, H. (2009). Klinische Ethikkomitees und die Themen der Pflege. Berlin: Institut Mensch, Ethik und Wissenschaft (IMEW). SAMW (2017). Ethische Unterstützung in der Medizin. Retrieved October 28, 2018 from http://samw.ch/de/Ethik/Richtlinien Steinkamp, N. & Gordijn, B. (2010). Ethik in Klinik und Pflegeenrichtungen: Ein Arbeitsbuch. Köln: Luchterhand.
Petra Schweller, M.A. „Angewandte Ethik im Gesundheitswesen“, dipl. Pflegepädagogin, Gestaltberaterin und Krankenschwester, schult seit vielen Jahren Moderatoren für ethische Fallbesprechungen. Sie arbeitet am Bildungszentrum Gesundheit in Basel Stadt (BZG) und ist dort im Bildungsgang Pflege HF für das Modul „Ethik und Recht“ verantwortlich. petraschweller@yahoo.de © 2019 Hogrefe
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Bildung
Kulturzeit Gekaufte Nähe Swantje Kubillus
Als die 88-jährige Anne Pacht verwitwet, gerät ihr Leben durcheinander, und zu allem Überfluss wird sie allmählich dement. Auf keinen Fall will sie in ein Pflegeheim, die eigene Wohnung muss es sein. Doch wie soll das gehen? Ihre beiden Töchter Ulrike und Birgit müssen sich nun um die Mutter kümmern, die es alleine nicht mehr schafft. Da beide Frauen berufstätig sind und eigene Familien zu versorgen haben, entschließen sie sich dazu, eine Pflegerin aus Polen zu engagieren. So macht man das heutzutage nun mal, heißt es da. Nun wechselt die Perspektive und der Zuschauer lernt Jowita Sobolak kennen. Sie ist gerade dabei, mit ihrem Mann im polnischen Lubin ein Haus zu bauen. Doch dann geht das Geld aus. Die Familie lebt auf einer Baustelle, es gibt keine Küche und die Schlafzimmer sind noch im Rohbau. Ein eigenes Zimmer für die 13-jährige Tochter ist nicht in Aussicht. Nach langen Abwägungen und Diskussionen entschließt sich Familie Sobolak dazu, dass Jowita nach Deutschland gehen wird, um dort als Pflegerin Geld zu verdienen, so wie viele ihrer Landsleute auch. Sie macht eine Schulung zur Altenpflegerin und lässt sich schließlich legal über eine Agentur zu Anne Pacht nach Deutschland vermitteln. Im Dokumentarfilm „Family Business“ treffen nun zwei sehr unterschiedliche Frauen aufeinander, die keine andere Wahl haben, als miteinander zu leben. Da prallen zwei Kulturen aufeinander, doch nicht ganz so fremde Lebenskonzepte, wie es vielleicht zunächst den Anschein machen mag. Die Familie Sobolak steht für eine jüngere Generation polnischer Familien. Sie leben nicht mehr als Großfamilie zusammen, doch vertreten sie noch immer deren Werte. Sie halten zusammen und unterstützen sich gegenseitig über die Generationengrenzen hinweg. Das Familienleben halten sie über Skype und andere soziale Netzwerke aufrecht, während sie anderen Menschen in der Fremde soziale Nähe und Fürsorge gegen Geld anbieten. Viele Frauen wie Jowita leben über Jahre hinweg in diesen Konstellationen, fast jeder in ihrem Umfeld kennt jemanden, der sich gerade im Ausland aufhält, um dort Geld zu verdienen. Nur zehn Prozent der deutschen oder schweizerischen Familien mit pflegebedürftigen Angehörigen beschäftigen ihre Betreuerinnen legal. Meist werden die Frauen schwarz angestellt, sie haben keinen Urlaub oder genügend Freizeitausgleich, der Mindestlohn wird oft nicht © 2019 Hogrefe
gezahlt, illegale Agenturen kassieren jedoch große Summen für die Vermittlung. Man schlägt Profit aus der Misere zweier Seiten: auf der einen die finanzielle Not, auf der anderen die fehlenden Kapazitäten, um Pflegeleistungen zu erbringen. Anne und Jowita mögen einander von Anfang an nicht und es wird im Verlauf des Films auch nicht besser. Die Tage werden für Jowita lang und zäh, und zunehmend vermisst sie ihre Familie und ihr Leben daheim. Da wird nichts beschönigt. Zu sehen ist ein trister und trauriger Alltag. Christiane Büchner, die das Drehbuch schrieb und Regie führte, berichtet, dass sie dieses Thema bearbeiten wollte, weil es sich bei den Care-Migrantinnen um ein Massenphänomen handelt. Von besonderem Interesse, und daher auch die Wahl des Filmtitels, waren für Büchner die wirtschaftlichen Überlegungen, die hinter den jeweiligen Entscheidungen stecken. Für Jowita ist Annes Wohnung ein Arbeitsplatz. Für Anne ist Jowita eine Hausangestellte. In beiden Familien sind die Beteiligten gezwungen, dem Druck des Arbeitsmarkts zu folgen und sich gleichzeitig sorgsam um die Familie zu kümmern. Wie das gelingen kann, beziehungsweise nicht gelingen kann, beschreibt dieser Film nüchtern, sachlich und diskret.
Swantje Kubillus (M. Sc.) hat Public Health und Pflegemanagement studiert. Sie ist als Lehrerin für Pflege und Gesundheit tätig und schreibt regelmässig Film- und Buchkritiken. s.kubillus@freenet.de
Angaben zum Film Filmtitel: Family PerfectBusiness Sense Regie: Christiane David Mackenzie Büchner Genre: Dokumentarfi Science-Fiction-Drama lm Erscheinungsjahr:und Erscheinungsjahr 2011 -ort: 2015/Deutschland Dauer: 9 92Min. Min.
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25 Jahre IVA: Wertschätzender Umgang für Menschen mit Demenz
ihr kontinuierlich weiterentwickelt und konkretisiert. Nicole Richard legte dabei großen Wert darauf, dass die Idee praxisnah angewandt werden konnte. Dabei wurden von ihr Erfahrungen aus dem Arbeitsalltag immer wieder aufgegriffen und eingebunden. Sie verzichtete auf Fragetechniken und Interpretationen und distanzierte sich von Feils Aussagen, dass Demenz aufgrund von unerledigten Lebensaufgaben entstehe. Nicole Richard betrachtete den neuropathologischen Krankheitsprozess als grundlegend für die Demenz. Sie richtete ihren Blick jedoch nicht auf die Verluste, die mit der Krankheit verbunden sind, sondern stellte die Person in den Mittelpunkt. Nicole Richard ging davon aus, dass Gefühle, Antriebe und individuelle Lebensthemen im Sinne von inneren Kräften (Ressourcen), die den „Kern“ einer Person ausmachen, weiterhin erhalten bleiben. Die Hauptaufgabe der IVA-Kurse besteht darin, Wertschätzung (Validation) zu erfahren und zu verinnerlichen. Darauf stützend wird bei den Menschen mit Demenz eine bestimmte Methodik angewandt. Die sich daraus entwickelte Haltung kann auch in der Kommunikation im privaten Bereich angewandt werden. Das ist die Basis der „Integrativen Validation nach Richard®“.
Das Team vom Institut für Integrative Validation GbR. Fotos: Institut für Integrative Validation
Das Institut für Integrative Validation blickt in diesem Jahr auf eine 25-jährige Unternehmensentwicklung zurück, die zweifellos auch eine Erfolgsgeschichte ist.
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ls Nicole Richard im Jahr 1989 Naomi Feil, die Begründerin der Validations-Methode, kennenlernte, ließ sie das Thema nicht mehr los. Die ersten Ansätze der Integrativen Validation nach Richard® (IVA) entstanden in den 1990er Jahren, in einer bundesweiten Arbeitsgemeinschaft von PraktikerInnen sowie Lehr- und Leitungskräften der Altenpflege, an der Nicole Richard beteiligt war. Diese Ansätze wurden von
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Nicole Richard
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1993 gründete Nicole Richard das Institut für Integrative Validation – eine gute und weise Entscheidung. Die Nachfrage nach Kursen zur IVA wuchs und 1996 begann Nicole Richard autorisierte TrainerInnen für Integrative Validation auszubilden. Diese praktikable Methode IVA, die im Pflege- und familiären Alltag eingesetzt wird, entwickelte und konkretisierte Nicole Richard im Austausch mit IVA-TrainerInnen kontinuierlich weiter bis zu ihrem plötzlichen Tod in 2014. Stützend auf die Erfahrungen der autorisierten TrainerInnen – kritisch und konstruktiv begleitend –, setzte das Institut die Arbeit von Nicole Richard und die Weiterentwicklung der Methode fort. Innerhalb eines Viertel Jahrhunderts konnte sich die IVA weit in der Praxis verbreiten. Ressourcenorientiert und wertschätzend, stellt diese Methode der Begegnung und Kommunikation, die Individualität und Würde des Menschen mit Demenz in den Mittelpunkt. Dass die IVA hohe Anerkennung genießt, beruht aber auch auf dem hohen Engagement und der Fachkompetenz der IVA-TrainerInnen und der Pflegenden. Sie implementieren und leben die Methode in ihren Einrichtungen.
Verbesserung der Lebensqualität Dem Unternehmen mit ihren autorisierten TrainerInnen ist es gelungen, die Lebensqualität unzähliger an Demenz erkrankter Menschen, deren Pflegebegleiter und Angehörigen zu verbessern. In mehr als 6000 Kursen besuchten über 60.000 professionell und ehrenamtliche Pflegende sowie Angehörige Grund- und Aufbaukurse, Themen-, Praxis- und Reflexionstage, Impulsreferate sowie Workshops und Tagungen zur Integrativen Validation nach Richard®. Das Vertrauen in die Methode und die hochqualifizierte Arbeit der intensiv ausgebildeten autorisierten TrainerInnen, spiegelt auch die starke Kundenbindung über den langen Zeitraum wider. Derzeit unterrichten 18
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autorisierte TrainerInnen und 14 autorisierte ImpulstrainerInnen in Deutschland, Schweiz, Luxemburg, Belgien, Österreich und Kroatien aus dem umfassenden Kursportfolio des Instituts für IVA. Um der steigenden Nachfrage gerecht zu werden, bildet das Institut weiterhin autorisierte TrainerInnen intensiv über 12–18 Monate aus. Seit 2016 erscheint auch das Buch zur Methode Integrative Validation nach Richard® – Menschen mit Demenz wertschätzend begleiten – in der 2. Auflage.
Ab 2019 flexibles Kurssystem Immer mehr Menschen erkranken an einer Demenz – der Pflegebedarf wächst, die Probleme sind vielfältig. Das erfordert nicht nur zunehmend hohe soziale Anforderungen an professionelle und ehrenamtlich Pflegende, sondern verlangt auch den Unternehmen, Institutionen und Einrichtungen „zeitliche Kapazitäten“ zur Fort- und Weiterbildung ihrer MitarbeiterInnen ab. Diese Entwicklung hat das Institut für IVA zum Anlass genommen, ein neues Kurssystem zu entwickeln und ab 2019 anzubieten, das eine zeitlich flexiblere Teilnahme der Kurse ermöglicht. (Institut für Integrative Validation/Red. NOVAcura)
i Weiterführende Informationen zur Integrativen Validation nach Richard®: www.integrative-validation.de Institut für Integrative Validation (2016). Integrative Validation nach Richard: Menschen mit Demenz wertschätzend begegnen. 2. Auflage. Bollendorf: Eigenverlag Institut für Integrative Validation GbR.
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„Schwere Demenz ist eine Art Black Box“
Menschen mit schwerer Demenz mögen es, wenn man sich in ihre Welt versetzt. Diese Art von Konversation kann sogar zu plötzlicher Wachheit und Klarheit führen – oder anders gesagt: zu Luzidität. Alterswissenschaftler Daniel R. Emmenegger ist dem Phänomen auf der Spur.
© Béatrice Devènes
Monika Bachmann
Monika Bachmann: Herr Emmenegger, Sie haben einen Film gedreht, in dem es um Luzidität geht. Was kann man sich darunter vorstellen? Daniel R. Emmenegger: Luzidität umschreibt kurze Momente, in denen Menschen mit einer schweren Demenz plötzlich wach und klar sind. Sie reagieren während solchen Episoden auch in ihren Bewegungen adäquater. Damit sorgen die erkrankten Personen beim Pflegepersonal oder bei Angehörigen für Überraschung. Alterswissenschaftler Daniel R. Emmenegger will mehr über Luzidität wissen.
Worum geht es in Ihrem Film? Zu sehen ist die Konversation zwischen einer Frau mit einer schweren Demenz und einem Pflegefachmann. Es handelt sich dabei um nachgestellte Episoden. Anhand von vier Szenen wird aufgezeigt, welche Faktoren Luzidität fördern und welche hemmend sind.
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Schulungs-DVD erhältlich Das Berner Bildungszentrum Pflege (BZ Pflege) hat eine interaktive Schulungs-DVD mit dem Titel „Luzidität bei Menschen mit schwerer Demenz“ herausgegeben. Im Kurzfilm werden nachgestellte Gesprächssequenzen zwischen einem Forscher und einer schwer an Alzheimer erkrankten Patientin gezeigt. Während der Konversation lassen sich fördernde und hemmende Faktoren von Luzidität erkennen. Bestelladresse: www.bzpflege.ch (Rubrik „Lehrmittel zum Bestellen“), 29 Franken.
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Zur Person Daniel R. Emmenegger ist Alterswissenschaftler und Pflegefachmann FH. Er arbeitet am Berner Bildungszentrum Pflege (BZ Pflege) als Berufsschullehrer. Zurzeit absolviert er an der Donau-Universität im österreichischen Krems einen Master of Science in Demenzstudien.
Haben Sie ein Beispiel? In einer Gesprächssequenz geht es um den ehemaligen Arbeitsort der Patientin. Sie ist sich nicht sicher, ob sie während ihrer Erwerbstätigkeit in Bern oder in Thun beschäftigt war. Plötzlich erinnert sie sich – und sagt: „Ja, ich habe in Bern gearbeitet.“ Diese Rückbesinnung gelingt dank der zugewandten Haltung des Pflegefachmanns. Er stellt keine Fragen, sondern orientiert sich an dem, was die Frau sagt. Er wiederholt ihre Äusserungen und hilft ihr, Worte zu finden oder Sätze abzuschliessen. Das führt letztlich zu Luzidität. © 2019 Hogrefe
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Werden auch Sequenzen gezeigt, die weniger positiv verlaufen? Ja, in einer anderen Szene ist zu sehen, wie der Gesprächspartner die Bewohnerin nach dem Namen ihres Mannes fragt: „Sie wissen doch bestimmt noch, wie ihr Mann heisst“, sagt er. Diese Frage ist sicherlich lieb gemeint, doch sie ist mit einer Forderung verbunden. Deshalb wirkt sie sich negativ auf das Verhalten der Frau aus – und somit auch auf die Luzidität.
Das Phänomen ist bisher wenig erforscht. Wie sind Sie darauf gekommen? Im Rahmen meines Studiums, das ich zurzeit an der Donau-Universität in Krems absolviere, habe ich mich mit den verschiedenen Stadien der Demenz nach der Skala von Barry Reisberg beschäftigt. Beim Schweregrad sechs respektive sieben kommt es zu starken kognitiven Einschränkungen. Ein Dozent erwähnte in diesem Zusammenhang die emeritierte schwedische Forscherin Astrid Norberg, die bei betroffenen Personen luzide Episoden beschrieben hatte. Das ist an mir hängen geblieben – und ich begann mit der Recherche.
Mit welchem Ergebnis? Ich bin auf Literatur des Norwegers Hans Ketil Normann gestossen, der zusammen mit anderen Forschern verschiedene Studien zu Luzidität durchgeführt hat. In einer ersten Untersuchung wurden Pflegende zum Phänomen befragt. Sie schilderten berührende Episoden, die sie im Umgang mit schwer demenzkranken Menschen erlebt hatten. Danach machte Normann eine Fallstudie und sprach insgesamt 20 Stunden mit einer Frau, die schwer an Alzheimer erkrankt war. In einer dritten Expertise ging es um die Quantität: Die Autoren konnten nachweisen, dass es bei 52 von 92 Personen, die an der Studie teilgenommen hatten, zu luziden Momenten kam. Das sind 57 Prozent.
Ein bemerkenswerter Anteil. Allerdings – besonders interessant an den Ergebnissen der quantitativen Studien ist die Tatsache, dass Personen, die luzide Phasen hatten, signifikant häufiger mit einer Bezugsperson spazieren gegangen sind.
Was schliessen Sie daraus? Ich stütze mich auf die Autoren der Studien ab, die zum Schluss kommen, dass naher Kontakt oder eine bestimmte Form von Körperkontakt, zum Beispiel das Arm-in-ArmGehen, die Kommunikation verbessert. Auch die Option, sich gegenseitig zuzuhören, hat eine positive Wirkung. Normann weist zudem darauf hin, dass Fachpersonen der Langzeitpflege, die auf einer Abteilung arbeiten, womöglich zu wenig Zeit haben, um sich ausreichend auf Bewohnerinnen und Bewohner einzulassen. © 2019 Hogrefe
Dementia Care
Im Film zeigen Sie auf, welche Methoden zielführend sind. Können Sie diese kurz beschreiben? Wache und klare Episoden werden gefördert, wenn im Gespräch eine unterstützende Position eingenommen wird und die Sichtweise der erkrankten Person geteilt wird. Pflegende oder Angehörige sollten in der Konversation möglichst bei den Themen bleiben, die die betroffenen Menschen beschäftigen. Steht zum Beispiel ein Blumenstrauss auf einem Tisch und eine Bewohnerin sagt: „Blumen“, dann kann der Gesprächspartner das Wort Blumen wiederholen und die Frau damit ermuntern, weiterzureden. Das lässt sich verstärken, indem man positive Äusserungen verwendet und nicht etwa auf Fehler hinweist. Es spielt keine Rolle, ob man sich über Themen der Vergangenheit oder der Gegenwart unterhält. Entscheidend ist, dass die Bewohnerin als wichtige Person betrachtet wird und man mit ihr in Beziehung tritt.
Sollte man gänzlich auf Fragen verzichten? Wer Fragen stellt und Antworten erwartet, wird tatsächlich schlechte Erfahrungen machen. Zudem weist Normann in seinen Studien auf einen weiteren Punkt hin: Man sollte Rückfragen, die sich auf eben Geäussertes beziehen, vermeiden. Pflegende oder Angehörige, die zu stark nachbohren, verhindern, dass betroffene Menschen aus sich herauskommen.
Macht es einen Unterschied, ob eine Angehörige oder eine Pflegende die Person begleitet? Ich denke, der wichtigste Faktor ist die Beziehung. Diese Erfahrung habe ich im Umgang mit schwer demenzkranken Menschen immer wieder gemacht. Die Betroffenen realisieren sehr wohl, zu wem sie einen guten Kontakt aufgebaut haben.
In der Langzeitpflege fehlt häufig die Zeit, um Beziehungen aufzubauen. Sehen Sie Handlungsbedarf? Mitarbeitende der Langzeitpflege leisten eine immense Aufgabe. Deshalb liegt es mir fern, Kritik zu üben. Die Arbeitsbedingungen sind allerdings oftmals schwierig, da Ressourcen abgebaut werden. Wenn die Zeit für die Betreuung fehlt, kann es vorkommen, dass eine Pflegeperson einem demenzkranken Bewohner ein Buch auf den Schoss legt oder den Fernseher anstellt, um ihn zu beschäftigen. Dieser Zeitdruck führt auch dazu, dass Pflegende eher Forderungen an die Bewohner stellen, anstatt eine geduldige und unterstützende Haltung einzunehmen.
Wo würden Sie ansetzen? Eine Massnahme könnte sein, dass vermehrt Angehörige und Freiwillige diese betreuenden Rollen übernehmen.
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Angehörige gesucht Haben Sie als Angehörige schon einmal erlebt, dass Ihr Vater
chen soll es um Gründe, Auslöser und Bedingungen gehen,
oder Ihre Mutter, Ihr Ehemann oder Ihre Ehefrau Sie über-
die zu Luzidität führen. Aber auch die Befindlichkeit der Be-
rascht hat, weil er oder sie plötzlich wach und klar war – trotz
troffenen und der Angehörigen sind zentrale Themen.
schwerer Demenz? Falls ja, sind Sie eingeladen, im Rahmen einer Studie an einem Gespräch teilzunehmen.
Es handelt sich um die erste Studie, in der Angehörige über luzide Episoden von Menschen mit schwerer Demenz be-
„Wie erleben Angehörige von Menschen mit einer Demenz
fragt werden. Auf diesem Weg soll neues Wissen generiert
Episoden von Luzidität?“ Diese Frage steht im Fokus der
werden, das der Praxis dienlich ist.
Masterarbeit, die der Alterswissenschaftler Daniel R. Emmenegger derzeit erstellt. Für seine wissenschaftliche Studie sucht er Angehörige, die entsprechende Erfahrungen ge-
Alle Daten werden vertraulich behandelt. Interessierte Personen können sich direkt bei Daniel R. Emmenegger melden.
macht haben. Es können Personen teilnehmen, die eine nahestehende Person zu Hause betreuen oder diese regel-
Kontakt:
mässig in einer Pflegeinstitution besuchen. In den Gesprä-
daniel.emmenegger@bzpflege.ch / 079 957 05 50
Ist das Gespräch der wichtigste Faktor, um Menschen mit schwerer Demenz aus sich herauszulocken? Nachweislich bekannt ist bisher, dass die Konversation und die Beziehungsgestaltung die wichtigsten Elemente sind. Ich möchte im Rahmen meiner Masterarbeit (siehe Box „Angehörige gesucht“) herausfinden, ob es weitere „Trigger“ gibt, die Luzidität auslösen.
Was meinen Sie mit Triggern? Zum Beispiel bestimmte Themen oder Dinge, die man riechen oder sehen kann. Ich weiss von einem Fall, in dem eine vorbeihuschende Katze bei einer Patientin für einen absolut klaren und wachen Moment gesorgt hat.
Bekanntlich sprechen Menschen mit schwerer Demenz auch gut auf Musik an, die mit ihrer Biografie verbunden ist. Könnte man in solchen Fällen auch von Luzidität sprechen? Das ist möglich. Und ich werde dieser Frage sicher im Rahmen der Befragung von Angehörigen, die ich plane, auf den Grund gehen.
Kann es im Rahmen der Stimulation auch zu Überforderung kommen? In den bestehenden Studien von Normann heisst es, dass schwer demenzerkrankte Menschen möglicherweise viel kompetenter sind als wir annehmen. Deshalb scheine es weiser zu sein, das Risiko einer Überstimulation einzugehen als die Betroffenen zu unterfordern.
Woran erkennt man eine Überstimulation? Man sollte sehr genau auf nonverbale Signale achten und die Perspektiven der Patienten einnehmen. So lässt sich wahrnehmen, ob eine Person ermüdet oder etwas anderes tun möchte. NOVAcura 1/19
Wie fühlen sich Betroffene, wenn sie in einer luziden Phase sind? Leider kann man Menschen mit einer schweren Demenz dazu nicht befragen. Um ihre Befindlichkeit zu untersuchen, sind aufwendige Videoanalysen der Mimik, Gestik und Körperspannung notwendig. Ich habe jedoch eine Hypothese: Wenn man Betroffene beobachtet, die luzide Episoden erleben, dann wirken sie glücklich, so als würde etwas in ihnen aufblühen. In meiner Master-Arbeit werde ich vorerst die Angehörigen befragen – in der Hoffnung, auf diesem Weg zu Erkenntnissen zu kommen.
Welche Ziele verfolgen Sie damit? Ich möchte mehr Wissen über Luzidität generieren und somit Schlussfolgerungen für die Praxis ziehen zu können.
Warum beschäftigt Sie dieses Thema? Ich mache mir grundsätzlich viele Gedanken zu Menschen mit schwerer Demenz. In dieser Phase der Krankheit spielt die Pflege eine wichtige Rolle. Da ich ursprünglich Pflegefachmann war, beschäftigt es mich. Dazu kommt ein weiterer Punkt: Für das Stadium der schweren Demenz gibt es nur beschränkte Aktivierungsmöglichkeiten. Wenn man bedenkt, dass diese Zeitspanne rund sieben Jahre dauert, ist das bedenklich. Die schwere Demenz ist eine Art Black Box.
Monika Bachmann ist Journalistin und Kommunikationsberaterin. mb@bachmann-kommunikation.ch
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Berührung, Beziehung und Demenz Luke J. Tanner
Berührungen und Beziehungen bei Menschen mit Demenz Ein person-zentrierter Zugang zu Berührung, Beziehung, Berührtsein und Demenz Deutschsprachige Ausgabe herausgegeben von Carsten Niebergall. Übersetzt von Heide Börger. 2018. 272 S., 45 Abb., 1 Tab., Kt € 29,95 / CHF 39.90 ISBN 978-3-456-85855-5 Auch als eBook erhältlich
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Sinnvolle Berührungen sind ein wichtiger Bestandteil echter person-zentrierter Pflege von Menschen mit einer Demenz, dennoch gelten sie angesichts der wahrgenommenen Risiken als zweitrangig. Dieses Buch stellt das Vertrauen in das Potenzial von Berührungen wieder her. Es zeigt auf, wie wichtig Berührungen für die Stärkung der Persönlichkeit, der Beziehungen und des Wohlbefindens sind und es thematisiert die Hemm-
nisse, die die Mitarbeiter davon abhalten, Berührungen wirkungsvoll zu nutzen. Luke Tanner stellt verschiedene Berührungsarten vor und geht in diesem Kontext auch auf die Themen Zustimmung und Schutz ein, um konkret zu zeigen, wie es im Rahmen der Pflege gelingt, die Vorzüge von Berührungen zu maximieren und deren negative Auswirkungen zu minimieren.
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Selbstbestimmung bei Menschen mit Demenz Konzeptionelle Umsetzung einer Wohngemeinschaft für demenzkranke Bewohner Antonia Halt
umgesetzt werden, wenn jemand kognitiv beeinträchtigt ist? Am Beispiel einer ambulant betreuten Wohngemeinschaft für Menschen mit Demenz wird diese Frage untersucht. Im Fokus der Betrachtung steht das Konzept dieser Wohnform, das Individualität und eine selbstbestimmte Lebensweise verspricht.
I
mmer mehr Städte stellen sich mit kleinen Versorgungs- und Wohneinrichtungen für Demenzerkrankte auf die demografischen Veränderungen ein (Kricheldorf & Hewer 2016). Dazu zählen beispielsweise ambulant betreute Wohngemeinschaften, deren Ziel es ist, eine Versorgung mit häuslichen und alltagsnahen Strukturen zu ermöglichen, bei der eine weitestgehende Lebensnormalität herrscht (Wolf-Ostermann, Worch, Meyer & Gräske 2013). Insbesondere der Erhalt von alltagsrelevanten Fähigkeiten und einer selbstbestimmten Lebensführung ist wesentlich für die Lebensqualität der Menschen mit Demenz (RKI 2015). Im Rahmen meiner Bachelorarbeit untersuchte ich die Umsetzung des Konzepts einer Wohngemeinschaft für Menschen mit Demenz unter Berücksichtigung der Selbstbestimmung. Selbstbestimmung meint die freie Entscheidungs- und Einwilligungsfähigkeit eines Menschen und ist ein Grundrecht (Wunder 2008). Allerdings kommt die Frage auf, inwiefern das Recht auf Selbstbestimmung umgesetzt werden kann, wenn die Äußerung des eigenen Willens krankheitsbedingt nicht mehr möglich ist (ebenda). Grundlage der Arbeit war ein qualitatives Forschungsdesign bestehend aus drei Interviews und einer teilnehmenden Beobachtung (siehe Kasten 1). Die Interviews erfolgten mit Angehörigen, da diese mit den Bewohnern selbst aufgrund ihres fortgeschrittenen Stadiums der Demenz nicht mehr möglich waren. Die persönliche Sichtweise der Angehörigen wurde durch meine eigene Einschätzung, basierend auf einer teilnehmenden Beobachtung, ergänzt.
Kasten 1
Was ist eine teilnehmende Beobachtung? Die teilnehmende Beobachtung ist ein qualitatives Erhebungsverfahren und eine Standardmethode der Feldforschung. Durch Partizipation und Einbettung in den Untersuchungsgegenstand ist es dem Forscher möglich, die Innenperspektive des sozialen Geschehens zu erschließen (Mayring 2002).
Wie waren die Interviews aufgebaut? Ein Interview hat zum Ziel, „die Subjekte selbst zur Sprache kommen“ zu lassen (Mayring 2002, S. 66). Ein auf theoretischen Vorkenntnissen basierender Leitfaden gab die Struktur der Interviews vor und enthielt folgende Themenkomplexe: • Gründe einer Entscheidung für die Wohnform Wohngemeinschaft • Selbstbestimmung bei einer Demenzerkrankung • Unterstützung der Bewohner hinsichtlich ihrer Selbstbestimmung.
© Martin Glauser
Inwiefern kann das Recht auf Selbstbestimmung
Wie weit können Menschen mit Demenz selber bestimmen? (Symbolbild)
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Begriffserklärung In der Versorgungs- und Gesundheitsbranche wird der Selbstbestimmungsbegriff oft als Patientenautonomie aufgeführt, die einen freien Willen und selbstständige Entscheidungen des Patienten in den Fokus rückt (Wunder 2008). Verankert ist das allgemeine Selbstbestimmungsrecht in Artikel 2 des deutschen Grundgesetzes, nach dem jeder das Recht hat, seine Persönlichkeit frei zu entfalten, wenn er dabei keine anderen Regeln verletzt (Kotsch & Hitzler 2013). Im Kontext einer Demenzerkrankung stellt sich die Frage, inwiefern Betroffene ihr Selbstbestimmungsrecht wahrnehmen können, wenn eigene Willensäußerungen und Entscheidungsfähigkeiten aufgrund der Erkrankung kaum oder gar nicht mehr gegeben sind (Wunder 2008). Voraussetzungen für selbstbestimmte Entscheidungen sind gewisse kognitive Fähigkeiten, wie das Verstehen und Beurteilen von Informationen durch eigene Werte, das Treffen von Entscheidungen und das Äußern dieser gegenüber Anderen (ebenda). Obwohl diese Kompetenzen bei Menschen mit Demenz eingeschränkt sind und verloren gehen, besteht die Möglichkeit einer begrenzten oder Teilselbstbestimmung. Die Betroffenen verfügen über abgestufte Selbstbestimmungsfähigkeiten, die von dem jeweiligen Erkrankungsstadium abhängen (Kotsch & Hitzler 2013). Die Selbstbestimmtheit einer Person mit Demenz bezieht sich nicht mehr nur auf vernünftiges oder abwägendes Denken, sondern liegt vielmehr auf dem Ausdruck und dem Erfüllen aktueller Impulse (ebenda). Wunder stellt eine Graduierung der Selbstbestimmungs- und Mitwirkungsmöglichkeiten vor (siehe Kasten 2) und gibt an, dass die Betroffenen „auf jeder Stufe ihrer Entwicklung immer noch Kompetenzen des Verstehens, des Bewertens und des Selbstäußerns“ aufweisen, wenn auch in unbeständiger Form (Wunder 2008, S. 25). Neben diesen theoretischen Annahmen ist die Umsetzung von der Praxis abhängig, denn die Anerkennung und Gewährleistung der Selbstbestimmung erfolgt durch das Umfeld und die beteiligten Akteure (Wunder 2008). Da sich die Mitwirkung von Menschen mit Demenz meist auf alltagsbezogene Gegebenheiten bezieht, ist die Integration in alle Entscheidungen grundlegend (ebenda). Wegen der häufigen Schwererkennbarkeit der Willensbekundung Demenzerkrankter ist ein beobachtendes, einfühlsames und sensibles Verhalten sowie Achtung bedeutend für den Umgang mit Betroffenen (ebenda).
Charakteristik einer Wohngemeinschaft In einer Wohngemeinschaft für Menschen mit Demenz leben sechs bis maximal zwölf Bewohner mit einer Demenzerkrankung zusammen und erhalten durch einen ambulanten Pflegedienst eine ganztägige Betreuung (Deutsche Alzheimer Gesellschaft 2017). Die Bewohner sind Mieter der Wohnung und werden aufgrund der Krankheit meist durch Angehörige oder rechtliche Betreuer in ihren Rech© 2019 Hogrefe
Dementia Care
Kasten 2
Selbstbestimmungs- und Mitwirkungsmöglichkeiten 1. Phase • grundsätzlich ist eine Urteils- und Entscheidungsfähigkeit vorhanden • die Fähigkeit zur Willensbildung kann stark variieren und von psychischen Veränderungen beeinträchtigt sein (z. B. Angst, Depression) • der Betroffene benötigt ausreichend Zeit für die Willensbildung • komplexe Zusammenhänge müssen genau erklärt werden 2. Phase • die Willensbildung ist anschauungsgebunden (betrifft direkt erkennbare oder leicht vorstellbare Handlungen) • Unbeständigkeit von getroffenen Entscheidungen aufgrund mangelnder Erinnerung • sprachbezogene Entscheidungen basieren oft auf Floskeln, darum sollte nicht nur die verbale, sondern auch die Handlungsebene berücksichtigt werden (z. B. zwei konkrete Alternativen aufzeigen, die für den Betroffenen überschaubar und nachvollziehbar sind) 3. Phase • Entscheidungen beschränken sich auf ja/nein-Antworten des direkt Erlebten • der Betroffene orientiert sich dabei an seinem Wohlbefinden, seiner Zufriedenheit oder an negativen Gefühlen • aufgrund der intuitiven Wahrnehmung sollten Konfrontationen, angstauslösende Fragen und Veränderungen unterlassen werden (Wunder 2008)
ten vertreten (ebenda). Dazu zählen Entscheidungen über die Aufnahme neuer Mitbewohner, die Gestaltung der Räume oder das Regeln des allgemeinen Zusammenlebens (ebenda). Das Leben in einer Demenz-Wohngemeinschaft ist durch einen normalen Tagesablauf charakterisiert, der durch gemeinsame Aktivitäten und Mahlzeiten eine Struktur erhält (Deutsche Alzheimer Gesellschaft 2017). Die Aufgabe der Betreuer ist es, die Fähigkeiten und Ressourcen der Bewohner zu unterstützen und zu fördern, um diese so lang wie möglich zu erhalten (ebenda). Dem Konzept einer Wohngemeinschaft zufolge soll individuellen Wünschen und Bedürfnissen der Bewohner nachgekommen werden, was die Kenntnis über Vorlieben oder Abneigungen der Bewohner voraussetzt (ebenda). NOVAcura 1/19
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Ergebnisse „Der eine Mitbewohner, der ist ein Langschläfer und dann […] frühstückt er eben erst um halb elf, das ist auch ok.“ Die Institution Wohngemeinschaft ist durch ein hohes Maß an Flexibilität gekennzeichnet. Eine grobe Strukturierung des Tagesablaufes durch gemeinsame Mahlzeiten vermittelt den Bewohnern Regelmäßigkeit und Sicherheit. Individuelle Bedürfnisse, wie der Schlafrhythmus, finden jedoch ebenso Berücksichtigung. Die Umsetzung spontaner Wünsche ist gewährleistet, wenn andere Bewohner dadurch keine Störung erfahren. „Und dass sie ihren ganzen Alltag am Anfang wirklich so leben können, wie sie es möchten.“ Durch alltägliche Aktivitäten wird ein gewohnter Tagesablauf gelebt, den die Bewohner mitbestimmen. Die Bewohner wählen die Aktivitäten selbst und entscheiden über eine (Nicht-)Teilnahme. Neben der Auswahl an Aktivitäten zählt die räumliche Gestaltung zu selbstbestimmten Entscheidungen, indem die Bewohner ihr Zimmer selbst einrichten und mit eigenen Möbeln ausstatten können. Die persönlichen Möbel und Gegenstände bewirken ein Vertrautheitsgefühl und sorgen für Erinnerungen an das eigene Zuhause. „Dann wurde ein Wochenplan gemacht und jeder hat gesagt, was er gerne isst.“ Einen weiteren Bereich der Selbstbestimmung ist die Ernährung, wozu die Planung der Mahlzeiten, bestimmte Vorlieben oder spontane Entscheidungen zählen. Diese freie Wahl nimmt jedoch mit zunehmendem Verlaufsstadium der Krankheit immer mehr ab, weshalb die Betreuer dann unterstützend helfen. Konkret helfen sie den Bewohnern bei der Entscheidungsfindung, indem sie nicht nur Nachfragen stellen, sondern auch Alternativen aufzeigen, da die Bewohner allein oft keine Möglichkeiten erkennen. Es herrscht genügend Zeit für die Entscheidungsfindung. Obwohl das Tagesgeschehen überwiegend in einem großen Gemeinschaftsraum stattfindet, der für Begegnungen, Aktivitäten und Geselligkeit genutzt wird, bestehen individuelle Freiräume, so dass sich jeder Bewohner in sein eigenes Zimmer zurückziehen kann. Allerdings hängt die Nutzung der Freiräume von dem Zustand der Bewohner, im Speziellen von dem Grad der Mobilität, ab. Bei nachlassender Mobilität sind die Betroffenen auf Hilfe der Pflegekräfte angewiesen und verbringen die meiste Zeit im Gemeinschaftsraum. „Im Pflegeheim würde sie wirklich acht Stunden da sitzen und da sagt keiner: ‚Komm steh auf, jetzt geh mal ein Stück.‘“ Die Förderung und Stärkung der Ressourcen und das Bemühen der Betreuer, auf jeden Bewohner einzugehen, wird von allen Interviewten als besonderes Merkmal der WG erwähnt. Dies hängt zum einen vom Konzept einer Wohngemeinschaft, zum anderen von den dort tätigen Betreuungskräften ab. Die Betreuer fordern die Bewohner heraus, ihre noch vorhandenen Ressourcen und FähigkeiNOVAcura 1/19
ten zu nutzen, und versuchen, ihren Gesundheitszustand zu verbessern oder so lange wie möglich aufrechtzuerhalten. Wenn die Bewohner gewisse Tätigkeiten nicht mehr allein ausüben können, agieren die Betreuer als Unterstützer. „Die können sich dort demnächst zu sechst eine Pflegekraft für sich alleine leisten. Das ist toll.“ Für viele Angehörige ist eine Personal- und Betreuungssituation, die durch einen festen, überschaubaren Personalstamm mit selten wechselnden Pflegekräften und einen hohen Betreuungsschlüssel gekennzeichnet ist, von großer Bedeutung. Die Betreuer arbeiten oft schon jahrelang in der WG, sie kennen die individuellen Wünsche, Vorlieben und Abneigungen der Bewohner. Zudem lässt die geringe Anzahl an Demenzerkrankten in der Wohngemeinschaft zu, die Verhaltensweisen genau zu beobachten und intensiv auf jeden Bewohner einzugehen. Spontan geäußerte Wünsche werden von den Betreuern weitestgehend erfüllt. Dies bezieht sich nicht nur auf Mahlzeiten, sondern auch auf Aktivitäten: ein Rückzug in das Zimmer, schlafen anstatt spielen oder ein späteres Zurückkehren zur Gruppe wird berücksichtigt. Kommunikation als Austausch- und Verständigungsmittel hat einen hohen Stellenwert in der Wohngemeinschaft. Je nach vorhandenen Ressourcen wird die Kompetenz genutzt und Bewohner werden aufgefordert, Sprache zur Verständigung zu gebrauchen. Da sich einige Bewohner nicht mehr ausreichend artikulieren können, kommt der nonverbalen Kommunikation eine ebenso große Bedeutung zu. Schwierigkeiten treten bei Wünschen und Bedürfnissen auf, da die Betreuer viel Zeit und Aufmerksamkeit aufwenden müssen, um diese herauszufinden. Die zeitlichen und personellen Ressourcen sind dafür nicht immer gegeben. Durch ständiges Nachfragen vergewissern sich die Betreuer, ob die Entscheidung beständig ist und geben den Bewohnern so Gelegenheit, Entscheidungen nach ihrem Willen zu treffen. In der Befragung gingen die Angehörigen auch auf Grenzen der Selbstbestimmung ein, beispielsweise bezüglich des Abschließens der Wohnungstür. Argumente für die Begrenzung der Selbstbestimmung sind Schutzmaßnahmen und die Begründung, dass die Betroffenen mit zunehmender Erkrankung die Eigenverantwortung nicht mehr übernehmen können. Auf der anderen Seite steht das Argument der Freiheitsberaubung und dass eine geschlossene Einrichtung dem Konzept der Wohngemeinschaft widersprechen würde. Es ist schwer, hier eine richtige Antwort zu geben.
Zusammenfassung Das Leben in der Wohngemeinschaft ist durch Teilhabe und Selbstbestimmung gekennzeichnet – soweit dies möglich ist. Generell können die Bewohner in vielen Bereichen, wie der Wahl von Aktivitäten oder Mahlzeiten, selbst bestimmen, jedoch sind umfangreiche eigenständige Ent© 2019 Hogrefe
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scheidungen aufgrund des fortgeschrittenen Stadiums der Demenz kaum bis gar nicht mehr möglich. Die Betreuer übernehmen eine Unterstützungsfunktion und schlagen Möglichkeiten vor, während die Angehörigen bei größeren Angelegenheiten im Sinne der Betroffenen entscheiden. Die Bewohner haben somit Wahlmöglichkeiten, was sie jedoch noch aktiv selbst gestalten können, ist begrenzt. Anzumerken ist, dass sich die Untersuchung auf einen einzelnen Fall beschränkt und eine Momentaufnahme ist. Insgesamt hängt die Umsetzung von selbstbestimmten Entscheidungen bei Menschen mit Demenz von deren Krankheitsstadium sowie von der Unterstützung der Betreuungskräfte ab. Was jedoch für die Pflege aller Menschen mit Demenz und somit auch für die Unterstützung in ihrer Selbstbestimmung übernommen werden kann, ist die umfassende Sichtweise und innere Haltung gegenüber den Erkrankten. Das Zitat einer Interviewten fasst dies zusammen: „Die Selbstbestimmung Demenzerkrankter gewähre ich, indem ich ihnen auf einer Augenhöhe begegne und sie als erwachsene Menschen respektiere, trotz ihrer dementiellen Veränderung. Ich lasse mich auf ihre Welt ein und bewerte sie nicht als weniger wertvoll als meine.“
Dementia Care
Literatur Deutsche Alzheimer Gesellschaft (2017). Ambulant betreute Wohngemeinschaften für Menschen mit Demenz. Retrieved from www.deutsche-alzheimer.de/unser-service/informationsblaetter-downloads.html Kotsch, L. & Hitzler, R. (2013). Selbstbestimmung trotz Demenz? Ein Gebot und seine praktische Relevanz im Pflegealltag. Weinheim & Basel: Beltz Juventa. Kricheldorff, C. & Hewer, W. (2016). Versorgung von Menschen mit Demenz im gesellschaftlichen Wandel. Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie, 49 (3), 179−180. Retrieved from https://link. springer.com/article/10.1007/s00391-016-1048-7 Mayring, P. (2002). Einführung in die Qualitative Sozialforschung: Eine Anleitung zu qualitativem Denken. Weinheim & Basel: Beltz Verlag. RKI (Hrsg.). (2015). Gesundheit in Deutschland: Gesundheitsberichterstattung des Bundes: Gemeinsam getragen von RKI und Destatis. Retrieved from www.rki.de/DE/Content/Gesundheitsmonitoring/Gesundheitsberichterstattung/GesInDtld/GesInDtld_inhalt.html Wolf-Ostermann, K., Worch, A., Meyer, S. & Gräske, J. (2013). Ambulant betreute Wohngemeinschaften von Menschen mit Pflegebedarf: Versorgungsangebote und gesetzliche Rahmenbedingungen in Deutschland. Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie, 47 (7), 583–589. Retrieved from https://link.springer. com/article/ 10.1007/ s00391-013-0524-6 Wunder, M. (2008). Demenz und Selbstbestimmung. Ethik in der Medizin, 20 (1), 17–25. Retrieved from https://link.springer.com/ article/10.1007/s00481-007-0529-z
Antonia Halt, B.A., studiert derzeit im Master of Arts „Gesundheitsfördernde Organisationsentwicklung“ an der Hochschule Magdeburg-Stendal. antoniahalt@freenet.de
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à propos 61
Swiss Care Excellence Certificate Medienmitteilung der concret AG Im Rahmen der Feierlichkeiten anlässlich ihres 25-jährigen Bestehens stellte die bis 2013 zum SBK gehörende Firma concret im vergangenen Oktober
Organisationen der Einstieg ins Verfahren erleichtert und die Pflegequalität gegenüber Behörden und Kostenträger transparent.“ (Medienmitteilung concret/Red. NOVAcura)
ihr neues Zertifizierungsmodell vor.
In Zusammenarbeit mit dem Winterthurer Institut für Gesundheitsökonomie der ZHAW unter der Leitung von PD Dr. Florian Liberatore und der angewandten Forschung und Entwicklung Pflege des Departements Gesundheit der BFH unter Prof. Dr. Sabine Hahn entwickelte concret ein neues Zertifizierungsverfahren für die Pflege in Spitex-Organisationen, Pflegeheimen und Spitälern (Swiss Care Excellence Certificate). Die Macher, die an der Jubiläumsveranstaltung das neue Verfahren vorstellten, sind überzeugt, dass die Qualität und die Wirtschaftlichkeit stark optimiert wurden. „Dank einem definierten Mindeststandard in Swiss Care Excellence Certificate wird den Betrieben und
Elsbeth Luginbühl, Geschäftsführerin concret, blickt zurück. Foto zVg.
Thomas Hax-Schoppenhorst wurde mit dem PflegePublizistik-Preis des Hogrefe Verlags geehrt. Der Pädagoge, Öffentlichkeitsarbeiter und Integrationsbeauftragter der LVR Klinik Düren hat mit seinen vier
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Pflege-Publizistik-Preis 2018
Standardwerken in den Pflege-und Gesundheitsberufen Spuren hinterlassen. Mit dem zuletzt erschienenen Einsamkeits-Buch (2018) machte Hax-Schoppenhorst auf ein Phänomen aufmerksam, das in den vergangenen Jahren nur unzureichend bearbeitet wurde: Wie können die Akteure der Gesundheitsberufe einsame Menschen besser verstehen, unterstützen und integrieren? Der Longseller Praxisbuch Forensische Psychiatrie (3. Aufl. 2018), den der Autor mit Friedhelm Schmidt-Quernheim herausgab, gehört nicht nur zum Standard in Kliniken und gemeindepsychiatrischen Diensten, die sich mit dem Maßregelvollzug beschäftigen, sondern wird nahezu in jeder forensisch-psychiatrischen Arbeit zitiert. Und mit dem Depressions- (2016) bzw. Angst-Buch für Pflege- und Gesundheitsberufe (2014) blickte Hax-Schoppenhorst auf gängige, aber aus der Perspektive der Pflege noch nicht ausreichend untersuchte Phänomene. NOVAcura 1/19
Laudator Jürgen Georg, Hogrefe Verlag Bern, fand viele lobende Worte für den Autoren und Herausgeber. HaxSchoppenhorst überzeuge durch seine besondere Kommunikationsfähigkeit, mit der bei keiner Autorin und keinem Autoren ein Gefühl der Vernachlässigung aufkomme, und werde inhaltlichen Ansprüchen auf hohem Qualitätsniveau gerecht. (Christoph Müller/Red. NOVAcura) © 2019 Hogrefe
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Vorschau / Termine
Vorschau 2-19 | Atemlos Editorial Barbara Müller Schwerpunkt Wechselwirkung zwischen Asthma und Psyche Diana Staudacher Selbstmanagement-Coaching für COPD-Betroffene Lungenliga Schweiz
Änderungen vorbehalten
Palliative Care Erfahrungsbericht aus der Palliative Care Abteilung Marcel Meier Pflege zu Hause Smart Home Stefan Müller
Dyspnoe in palliativen Situationen Sara Häusermann
Bildung Supervision in der Altenpflegeausbildung Bettina Janssen
Fokus Von Sprichwörtern und Redensarten Susanne Hirsch
Dementia Care Entschleunigung in der Demenzpflege Sylke Werner
Termine Februar/März 27. Februar 2019, Zürich CURAVIVA Tagung
28. März 2019, Bern Fachtagung SBK, Sektion Bern
Food Waste – Im Müll statt im Magen
Palliative Care
7. & 8. März 2019, Bern Swiss eHealth Forum 2019
28. März 2019, Bern 21. Schweizer Onkologiepflege Kongress
Digitales Gesundheitswesen – Hope and Reality
Wenn die Chronizität akute Probleme verbirgt
14. März 2019, Aarau 5. Member-Forum: Netzwerk Bildung plus in Zusammenarbeit mit Careum Weiterbildung und scil
28. März 2019, Bern Allied Health Personnel Symposium 2019 von aha! Allergiezentrum Schweiz
„Zukunftsorientiertes betriebliches Bildungsmanagement im Gesundheits- und Sozialwesen“
Praxisnahes Wissen für Gesundheitsfachleute
19. März 2019, Bern Fachtagung Spitex Schweiz „Die Zukunft ist heute – Neue Versorgungsmodelle“
07.03.2019 | Fachtagung der NOVAcura Thema: Biografie
22. März 2019, Bern Symposium für Gesundheitsberufe 2019 Welches Behandlungsteam brauchen PatientInnen der Zukunft? 27. März 2019, Zürich Pflegesymposium Rehabilitation Care, Schweizerischer Verein für Pflegewissenschaft VFP „Es ist nicht genug zu wollen, man muss es auch tun“
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Veranstaltungsort: Tagungshotel Sorell, Bern Referentinnen und Referenten Diana Staudacher, Pasqualina Perrig-Chiello, Martin Glauser, Lukas Niederberger, Barbara Preusse-Bleuler, Jürgen Georg Weitere Informationen erhalten Sie unter novacura@hogrefe.ch oder +41 31 300 45 46.
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Neue Wege suchen
Wie zeigt sich Ethik in der Langzeitpflege am Ende des Lebens? In den Befürchtungen der Zu- und Angehörigen? Im Symptommanagement? In der Ungewissheit über die wahren Wünsche des Patienten? In der pflegerischen Versorgung? In den öffentliche Debatten um assistierten Suizid? Vieles ist unerreicht –, aber einiges kann verändert werden! Es ist Zeit für neue Wege in der Langzeitpflege!
Illustration Dr. Garuth Chalfont ist Landschaftsarchitekt, Lehrer und Forscher, spezialisiert für die Lebenswelten demenziell erkrankter Menschen. Website: www.chalfontdesign.com Mail: garuth@chalfontdesign.com
Rätsel Welche Aussage zur Forschungsethik ist richtig? a) Der Datenschutz spielt in der Forschungsethik nur eine untergeordnete Rolle. b) In einer Studie darf es nicht zu Diskreditierung oder Diskriminierung kommen. c) Ethik spielt in der pflegerischen Praxis und Forschung keine Rolle.
Bitte schreiben Sie die Lösung per Karte oder Mail an: Hogrefe AG Zeitschriftenabteilung Länggassstr. 76 3012 Bern Schweiz zeitschriften@hogrefe.ch
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Unter den Gewinnern verlosen wir: 1.–3. Preis: Schnell, M.W. & Dunger, C. (2018). Forschungsethik: Informieren – reflektieren – anwenden. Bern:Hogrefe.
Einsendeschluss ist der 01.03.2019. Auflösung und Bekanntgabe der Gewinner in der nächsten Ausgabe der NOVAcura. Lösung NOVAcura 10-2018 a) BAIA ist die Abkürzung für Beziehungsaufbau, Assessment, Intervention, Abschluss Gewinnerinnen und Gewinner 1. Preis: Daniel Tobler, Thal 2. Preis: Ruth Schmid, Wohlen 3. Preis: Caterina Vekic, Hägendorf
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Agogis setzt ganz neue Impulse
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senschaft und Praxis, Angehörige, Studierende oder weitere Interessierte können ihre Fragen stellen und so eine wichtige Diskussion in Gang bringen. Agogis schafft damit eine Plattform für einen lebendigen Fachdialog, der die Interessen aller Involvierten aufnimmt. agogis-impuls.ch ermöglicht es, die Vernetzung mit betroffenen Menschen, Fachpersonen und einem interessierten Publikum zu stärken und sich gemeinsam den wesentlichen Fragen des Sozialbereichs zuzuwenden. agogis-impuls.ch. Setzt neue Impulse, sorgt für wichtige Diskussionen und wirkt nachhaltig.
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