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Stufenorientiertes Medikamenten-Trainingsprogramm Förderung der Selbstwirksamkeit von chronisch erkrankten Menschen

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Chalfont/Rätsel

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Stufenorientiertes MedikamentenTrainingsprogramm

Förderung der Selbstwirksamkeit von chronisch erkrankten Menschen

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Julia Sonntag

Die regelmäßige Einnahme von Medikamenten erfordert von den Patienten und Patientinnen Wissen und Kompetenz.

Menschen mit chronischen Erkrankungen müssen über ein komplexes Medikamentenregime verfügen. Um ein solches bewältigen zu können, ist sowohl ein hohes Maß an Wissen als auch an Selbstmanagementkompetenz erforderlich. Dieses kann über ein Trainingsprogramm vermittelt werden, das die Selbstwirksamkeit des Patienten stärkt. Ob im ambulanten oder (teil-)stationären Setting, in den Disziplinen Psychiatrie, Rehabilitation oder Somatik – eine professionelle Haltung der Pflegefachkräfte bei der Schulung von Patientinnen im Umgang mit Medikamenten ist von großer Bedeutung.

Die Integration und der Umgang mit Medikamenten im Alltag sowie das Ausbilden von Routinen, um die Einnahme der Medikamente nicht zu vergessen, sind kompliziert und herausfordernd. Laut aktueller Studienlage haben Patienten Schwierigkeiten bei der

Beobachtung, Deutung und Kommunikation von Symptomen. Zudem weisen sie Defizite im Umgang mit Nebenund Wechselwirkungen, unangenehmen Begleiterscheinungen sowie der Informationssuche und beschaffung auf. Über die erforderlichen Selbstmanagementfähigkeiten und Kompetenzen verfügen nicht alle erkrankten Patienten. Die Förderung des Selbstmanagements kann über einen patienten und ressourcenorientierten Ansatz aus Information, Wissensvermittlung und Anleitung zur Selbstbefähigung (Empowerment) geschehen. Der Fokus liegt dabei auf der Kompetenzentwicklung, sodass die Patientin zu einem selbstbestimmten, gesundheitsbezogenen Handeln befähigt wird (MüllerMundt & Schaeffer 2011).

Neuer Ansatz im Gesundheitswesen

Insgesamt steigen die Kosten im Gesundheitssektor, auch in der Arzneimittelversorgung. Die Patienten sollen miteinbezogen werden, um damit verbundene Probleme mit Pflege und Ärzteschaft gemeinsam lösen zu können. Der Ansatz der partizipativen Entscheidungsfindung (shared decision making) ermöglicht die Verantwortungsübernahme im Umgang mit Medikamenten. Wie die Ergebnisse einer qualitativen Longitudinalstudie mit chronisch kranken Patienten zeigen, ist die reine Vermittlung von krankheits und medikamentenbezogenem Wissen nicht ausreichend. Laut den Ergebnissen der Befragung von chronisch kranken Menschen bedarf es einer zielgerichteten, individuellen Kompetenzförderung. Nur so ist es den Menschen möglich, ihre Erkrankung auch in schwierigen Phasen angemessen (selbst)managen zu können (Haslbeck 2010). In verschiedenen Bereichen und Zusammenhängen kommt es immer wieder zum Absetzen der Medikamente. Wenn Patienten gut eingestellt und somit symptomfrei sind, haben sie häufig das Gefühl, die Medikamente nicht mehr zu benötigen. Das Absetzen führt zu einer Verschlechterung der Krankheitssituation, häufig wiederkehrende stationäre Aufenthalte können die Folge sein. Es fehlt nicht nur an fachlich ärztlicher Aufklärung, sondern ebenso an kontinuierlicher Information und Schulung von Seiten der Pflege. Ziel ist es, dass die Patientin in Anlehnung an ihre persönlichen Lebensgewohnheiten informiert und beraten wird. Das hat nicht nur im Hinblick auf die Entlassung und die nachstationäre Versorgung, sondern auch langfristig auf eine selbstständige Lebensführung einen positiven Effekt. Für den Patienten ist es im Hinblick auf die Lebensqualität und psychosoziale Aspekte bei chronischen Erkrankungen unumgänglich, mit in die Behandlung einbezogen zu werden.

Individuelle Autonomieförderung

Im Rahmen eines pflegefachlichen Projektes wurde ein Medikamententrainingsprogramm entwickelt, das in Form von pflegerischen Schulungssequenzen bei Patienten und Patientinnen durchgeführt wird. Das konzipierte Programm besteht aus den Stufen 0, 1, 2 und 3, die sich von vollkompensatorischer bis hin zu aktivierender Pflege definieren lassen. Für jede Zielgruppe sind bestimmte Voraussetzungen und Kriterien vorgeschrieben. Jede Stufe definiert Feinziele. Der Patient kann sich weiterentwickeln und nach Erreichen der Ziele in die nächste Stufe hocharbeiten. Die einzelnen Interventionen sind beschrieben und inhaltliche Schwerpunkte für die Edukation formuliert.

Dank dieses Stufenmodells ist für jede Patientin ein angemessenes und personalisiertes Medikamentenmanagement möglich. Sie kann sich im Rahmen ihrer Kognition, Fähig und Fertigkeiten weiterentwickeln. Je nach der aktuellen, individuellen Krankheitsphase ist eine voll, teilkompensatorische oder aktivierende Pflege möglich. Beispielsweise können Menschen mit kognitiven Einbußen ihre Medikamente nicht selbstständig einnehmen und sind darauf angewiesen, dass das Medikamentenregime überwacht wird. Bei anderen Patienten kann es möglicherweise aus religiösen oder soziokulturellen Gründen zu bestimmten Einnahmebarrieren oder Besonderheiten kommen.

Dieses Konzept erlaubt ein standardisiertes Vorgehen und bietet gleichzeitig die Möglichkeit, den Patienten individuell zu fördern. Das Training lässt sich allgemein bei chronischen Erkrankungen durchführen. Jedoch bedarf es einer Anpassung auf den jeweiligen Fachbereich und die krankheitsspezifischen Kriterien.

Das hier beschriebene Konzept ist angelehnt an ein Medikamentenstufenprogramm, das für Patienten mit Erkrankungen aus dem schizophrenen Formenkreis konzipiert wurde. Die von Schirmer et al. durchgeführte randomisierte Kontrollstudie hat einen Effekt in der poststationären Einnahmebereitschaft nach der Teilnahme am Medikamententraining bewiesen (vgl. Schirmer et al. 2015).

Steigerung der Pflegequalität

Um eine hohe pflegerische Qualität erreichen zu können, ist es von großer Bedeutung, Theorien und Erkenntnisse aus der Pflegewissenschaft in die Praxis zu transferieren. Elemente dieses Konzeptes wurden auf Basis der Pflegetheorie nach Dorothea Orem formuliert. Um Patienten zu unterstützen, wenden alle professionellen Helfer die Methoden nach Orem an. Das sind Handlungen, die gesundheitsbedingte Einschränkungen ausgleichen zu können. Außerdem soll die Patientin oder eine Bezugsperson im Rahmen der Dependenzpflege befähigt werden, selbst tätig zu werden. In dem hier aufgezeigten Konzept sind alle drei Theorien nach Orem verankert. Wenn ein Patient mit seinen Medikamenten nicht zurechtkommt, liegt ein situatives Selbstpflegedefizit vor. Dieses kann mit Anleitung / Beratung im Sinne des unterstützenderzieherischen Systems ausgeglichen werden. Das Konzept ist sowohl auf vollkompensatorische Pflege als auch auf teilkompensatorische Pflege ausgelegt. Durch das Miteinbeziehen von Angehörigen und anderen Bezugspersonen, wird zusätz

lich die Dependenzpflege berücksichtigt. Ein Beispiel dafür wäre das sogenannte RoomingIn.

Auch das Handeln im Pflegeprozess sowie der Einbezug von Pflegediagnosen können die pflegerische Qualität steigern. Das situative Selbstpflegedefizit im Hinblick auf ein unzureichendes Medikamentenregime beschreibt die Pflegediagnose „Unwirksames Gesundheitsmanagement“ (vgl. NANDA/NIC/NOC). Durch ein Screening beim pflegerischen Aufnahmeprozess wird entschieden, ob und inwieweit dieses Defizit /Problem besteht. Je nach Kognition und Fähigkeit des Patienten, wird von der Pflegefachperson entschieden, in welches Pflegesystem der Patient eingruppiert werden kann. Sobald ein Patient die Bereitschaft oder Motivation zeigt, Eigenverantwortung zu übernehmen, sollte die passendere Pflegediagnose „Bereitschaft für ein verbessertes Gesundheitsmanagement“ gewählt werden. Auch andere Pflegeprobleme können Ursache für ein unzureichendes Management der eigenen Gesundheit sein. Der Prozess des Diagnostizierens in der Pflege ist enorm wichtig und grundlegend für sämtliche pflegerische Maßnahmen.

Evidenzbasiertes Arbeiten in der Pflege

Das stufenorientierte Trainingsprogramm wurde anhand des EbNProzesses bearbeitet und mit dem Rahmenwerk „Ottawa Model of Research Use“ in die Praxis implementiert. Das Praxisumfeld war in diesem Fall das Epilepsiezentrum Bodensee.

Es ist von großer Bedeutung, Wissen, angelehnt an aktuelle Forschungsergebnisse und wissenschaftliche Evidenz, in die Praxis zu transferieren. Das Handeln sollte vor allen Beteiligten fachlich begründet werden können. Beim Evidence based nursing Prozess geht es um die Beurteilung von Forschungsarbeiten und deren Implementierung in die Praxis.

Hierbei werden die Grundpfeiler der Evidenz (Patientenpräferenzen und erfahrungen, klinische Erfahrung, lokale Faktoren, Forschung) sowie die verschiedenen Wissensformen (ethisch, persönlich, ästhetisch, empirisch) berücksichtigt. Konkret geht es darum, fundierte Forschungsergebnisse auf die eigene Einrichtung / Institution /Station/ individuelle Patientensituation herunterzubrechen, mit dem Ziel, die Pflegequalität zu erhöhen. So wird wissenschaftliche Erkenntnis hergestellt, verfügbar gemacht und in der Praxis angewendet (Behrens & Langer 2010). Dieser wissenschaftliche Transfer von der akademischen Lehre zur direkten Patientenversorgung ist durch den Einsatz hochschulisch qualifizierter Pflegender möglich.

„Evidence based nursing ist die Integration der derzeit besten wissenschaftlichen Belege in die tägliche Pflegepraxis unter Einbezug theoretischen Wissens und der Erfahrung der Pflegenden, der Vorstellungen des Patienten und der vorhandenen Ressourcen“ (Langer 2001). Für die Implementierung von akademischem Pflegepersonal setzt sich die „Initiative für akademisierte Pflege e.V.“ ein. Mehr Informationen dazu finden Sie unter www.akademisierte-pflege.de

Literatur

Behrens, J.& Langer, G. (2010). Evidence-based Nursing and Caring: interpretativ-hermeneutische und statistische Methoden für tägliche Pflegeentscheidungen: vertrauensbildende Entzauberung der „Wissenschaft”. Bern: Hans Huber. Haslbeck, J. W. & Schaeffer, D. (2011). Selbstverantwortung im Gesundheitswesen, diskutiert am Medikamentenmanagement aus Sicht chronisch kranker Patienten. Das Gesundheitswesen, 73(3), 140–141. Müller-Mundt, G., Geuter, G., Haslbeck, J. & Schaeffer, D. (2009).

Unterstützung des Selbstmanagements komplexer Medikamentenregime bei chronischer Krankheit – Potenziale der ambulanten Pflege. In J. Behrens (Hrsg.), Hallesche Beiträge zu den

Gesundheits- und Pflegewissenschaften. Halle-Wittenberg:

Martin-Luther-Universität. Retrieved May 2019 from https:// www.medizin.uni-halle.de/fileadmin/Bereichsordner/

Institute/GesundheitsPflegewissenschaften/Hallesche_

Beitr%C3%A4ge_und_EBN/Halle-PfleGe-08-01.pdf Müller-Mundt, G. & Schaeffer, D. (2011). Versorgung chronisch

Kranker – Herausforderungen aus pflegerischer Perspektive.

Hannover: Springer. Müller-Mundt, G. & Schaeffer, D. (2011): Bewältigung komplexer

Medikamentenregime bei chronischer Krankheit im Alter: Förderung des Selbstmanagements als Aufgabe der Pflege. Zeitschrift für Gerontologie & Geriatrie, 44(1), 6–12. Specht, U. (2008). Medikamenten-Compliance bei Epilepsie. Der

Nervenarzt, 79(6), 662–668. Schirmer, U., Steinert, T., Flammer, E. & Borbe, R. (2015). Skillsbased medicaton training program for patients with schizophrenic disorders: a rater-blind randomized controlled trial.

Patient Preference and Adherence, 9, 541–549. Specht, U. & Altrup, U. (2006). Informationstafeln Epilepsie. Nürnberg: Novartis Pharma Verlag.

Für weiterführende Informationen zum stufenorientierten Medikamententrainingsprogramm ist eine Kontaktaufnahme erwünscht.

Julia Sonntag, staatlich anerkannte Gesundheits- und Krankenpflegerin, B.A. Pflege, Vorstand im Verein Initiative für akademisierte Pflege e.V.

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