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Mehr Digitalisierung und mehr Kommunikation Kreative Lösungen angesichts des Fachkräftemangels

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Chalfont/Rätsel

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Mehr Digitalisierung und mehr Kommunikation

Kreative Lösungen angesichts des Fachkräftemangels

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Jens Gieseler

Das Gesundheitswesen in der Schweiz klagt über Fachkräftemangel. Am stärksten betroffen sei die Langzeitpflege, sagt Cornelia Klüver, Präsidentin des Schweizer Berufsverbandes für Pflegefachpersonal Bern (SBK). So finden es 90% aller Altenpflegeeinrichtungen schwierig, qualifiziertes Fachpersonal zu finden, und im zweiten Quartal waren 6038 Stellen für diplomierte Pflegerinnen und Pfleger vakant – der Spitzenplatz unter den meistgesuchten Fachkräften. In der Ausbildung sieht es nicht besser aus: Die Ausstiegsquote des Pflegefachpersonals der Tertiärstufe lag bei 46%. „Der zunehmende Bedarf kann nicht ansatzweise gedeckt werden“, sagt Cornelia Klüver über die Pflegesituation in der Schweiz.

Die Mitarbeitenden des Pflegedienstes Hilfe Daheim von Johannes Tamme. Fotos: Jens Gieseler

Recruiting-Spezialistin Pia Tischer (siehe Foto unten) findet, dass vor allem mittelständische Pflegeorganisationen für die Bewerbungsprozesse zu lang benötigen. Weil Konzerne die Bearbeitung digitalisiert haben, bekommen Bewerberinnen und Bewerber oft bereits im Laufe eines Tages eine Mail, dass die Bewerbung eingegangen ist. Sie erhalten auch Zwischenbescheide über den Stand der Dinge, sodass die Kandidatinnen und Kandidaten sich wie ein guter Kunde behandelt fühlen. „Etliche Bewerber sind diesen Service gewohnt und springen ab, wenn es ihnen woanders zu lange dauert“, so die Coveto-Geschäftsführerin. Fatal, wenn es immer weniger Bewerberinnen und Bewerber gibt.

Wenn dagegen kleine und mittelständische Pflegeunternehmen ihren Bewerbungsprozess strukturieren und digitalisieren, sieht die 50-jährige Beraterin mit langjähriger Personalerfahrung in unterschiedlichen Positionen die „Kleinen“ im Vorteil, denn es sind weniger Personen und selten ein Betriebsrat an der Entscheidung beteiligt: „Über die Geschwindigkeit könnten sie viel Boden gegenüber größeren Unternehmen gut machen.“ Zusammen mit ihrem Partner Christian Asche hat sie ein Bewerbermanagement speziell für kleine und mittelständische Betriebe entwickelt. Ihre Kunden erleben bereits bei der Stellenausschreibung enorme Einsparung der Arbeitszeit, die dann für Personalarbeit direkt an der Mitarbeiterin oder dem Mitarbeiter genutzt werden kann. Statt die Ausschreibung händisch in diverse Portale einzupflegen, werden die Portale über die Software direkt ausgewählt und die Ausschreibung automatisch eingestellt. Steht das Gerüst für die Ausschreibung, benötigen die Personaler lediglich circa 30 Minuten für das gesamte Prozedere.

Einen klassischen Fehler beobachtet Pia Tischer immer wieder: Unternehmen zählen bei Ausschreibungen gerne auf, was eine Bewerberin oder ein Bewerber alles können muss und über welche sozialen Fähigkeiten die- oder derjenige verfügen soll. „Mal abgesehen davon, dass oft die eierlegende Wollmilchsau gesucht wird, heute bewirbt sich das Unternehmen eher beim Mitarbeiter“, kritisiert die Mittelhessin. Gerade in der Pflegebranche können sich die engagierten und qualifizierten Mitarbeiterinnen und

Mitarbeiter ihren Arbeitgeber aussuchen. „Das Unternehmen muss zunächst sich als attraktiven Arbeitgeber darstellen“, empfiehlt die Coveto-Geschäftsführerin. Unter dem interessanten Bild sollten deshalb zunächst gute Gründe stehen, warum Interessentinnen und Interesssenten sich bewerben sollten. Das dürfe dann gerne pfiffig sein. So wirbt Coveto auch damit, dass sich künftige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die mehrstündige Hin- und Rückfahrt ins Ballungszentrum Frankfurt sparen können und trotzdem herausfordernde Jobs in der Wetterau bekommen und mehr Lebensqualität genießen können.

Viele Personaler sind mit ihren Organisationen auch bei Bewerbungen noch nicht im digitalen Zeitalter angekommen. Klassisch wird mit Text und eventuell Bild geworben. Nur wenige Geschäftsführerinnen oder Geschäftsführer greifen zum Smartphone und drehen ein kurzes Video, bringen auf den Punkt, für was das Unternehmen steht und wie dort gearbeitet wird, laufen dabei durch die Pflegeeinrichtung, um sie den Bewerberinnen und Bewerbern schon mal zu zeigen, und lassen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu Wort kommen.

Johannes Tamme hat sich mit seinem Pflegedienst Hilfe Daheim am Wettbewerb „Bester Arbeitgeber Hamburgs“ beteiligt (siehe Einstiegsbild und Foto 1). Dass der ambulante Pflegedienst mit fünf Sternen die Höchstauszeichnung erhielt, wie lediglich 13 andere Unternehmen und als einzige der Gesundheitsbranche, ist eine Sache. Wichtiger war ihm und seiner Mitinhaberin Nicole Gatz, dass die „Jury“ aus sämtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern bestand und sie so ein fundiertes Feedback bekamen und erkannten, wo Verbesserungspotenzial liegt. So kam die Kenntnis der Unternehmensstrategie am schlechtesten weg. Lediglich 83 % der Mitarbeiter kennen sie. Tamme kommentiert trocken: „Das ist ein Klasse-Wert, vor allem wenn man bedenkt, dass Pflegekräfte mit Herz und Hand direkt mit unseren Kunden arbeiten. Strategie ist ihnen nicht wichtig.“ Dagegen gibt es mehr als 90% Mitarbeiterzustimmung, wenn es um die Erreichbarkeit von Führungskräften geht. Ambulante Pfleger sind den ganzen Tag unterwegs – umso wichtiger, wenn ihre Vorgesetzten am Ende des Dienstes erreichbar und ansprechbar sind und nicht bereits ihrer Freizeit frönen.

Die Berner SBK-Präsidentin bestätigt, dass es tatsächlich Unternehmen gibt, die weiterhin gut qualifiziertes Pflegepersonal rekrutieren können. „Maßgeblich ist die Führung, der vorherrschende Führungsstil und damit verbunden die Kultur eines Betriebes“, so Cornelia Klüver. Mit innovativen Ideen, hoher Professionalität, Mitarbeiter zugewandten Arbeitszeitmodellen und einer etablierten wertschätzenden Kultur eines beidseitigen Gebens und Nehmens unter Berücksichtigung einer fairen Abgeltung sei vieles möglich.

So können sich die Hamburger Pflegekräfte von Hilfe Daheim ganz auf ihre eigentliche Tätigkeit beim Kunden konzentrieren. Nicht sie, sondern ein ausgebildeter Einkäufer besorgt die notwendigen Medikamente. Das entlastet die Pflegekräfte, außerdem versteht der Einkäufer sein Geschäft und erzielt bessere Preise. Die rund 10 000 monatlichen Einsätze plant auch nicht die Pflegedienstleiterin, sondern ein ausgebildeter Logistik-Fachmann. Auch der kann das besser und die Leiterin kann sich auf ihre wesentlichen Aufgaben konzentrieren.

Die Berufsverweildauer liegt bei einem Drittel des schweizerischen Pflegepersonals unter 14 Jahren, weiß Cornelia Klüver. Wichtig Gründe für den frühzeitigen Ausstieg sind schwierige Rahmenbedingungen, wie die schlechte Vereinbarkeit von Familie und Beruf aufgrund der variablen Arbeitszeiten, vom Arbeitgeber zu wenig finanziell unterstützte Weiterbildungen und generell erschwerte berufliche Entwicklungsmöglichkeiten – und das angesichts hoher Verantwortung, die sich jedoch nicht adäquat im Lohn niederschlägt, so die Verbandsfrau.

Deshalb kümmert sich Johannes Tamme intensiv um seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. „Früher konnte ich unter 20 Bewerbern die besten zwei raussuchen.“ Heute investiert er in Pflegekräfte, die ihm und seiner Kollegin geeignet erscheinen. Immer mal taucht eine Kollegin oder ein Kollege ab. „Zu 90 % führen private Probleme zu schlechter Arbeit“, stellt der Pflegechef in der Praxis fest, wie zum Beispiel bei einer Pflegekraft, die acht Jahre sehr gut ihre emotional fordernde Arbeit gemacht hat. Er versucht dann herauszufinden, was zu der veränderten Arbeitseinstellung geführt hat und findet Lösungsmöglichkeiten, die die belastende Situation zumindest lindern. So liegt die Mitarbeiterfluktuation eigenen Angaben nach deutlich unter der von anderen Unternehmen in der Branche.

Jens Gieseler ist Journalist, selbständig als Kommunikationsberater, Öffentlichkeitsarbeiter sowie Seminar und WorkshopLeiter und Heilpraktiker für Psychotherapie.

jg@jensgieseler.de

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