Jahrgang 12 / Heft 1 / 2017
Herausgeber/innen Michael Bossle Doris Eberhardt Katrin S. Rohde Susanne Schewior-Popp Kordula Schneider Angelika Zegelin
PADUA
Fachzeitschrift für Pflegepädagogik, Patientenedukation und -bildung Professionelle Berufsidentität Lehren und Lernen Edukation und Patientenberatung in der Berufsprüfung Die Wittener Werkzeuge als Prüfungsinstrument in der Berufsprüfung für die Berufe in der Kranken- und Kinderkrankenpflege Wissen und Forschen Praxisorientiert und interprofessionell – Lehre in der Medizinpädagogik Informiert sein und Handeln Lernen aus Fehlern
Gesundheit, Krankheit und das Gesundheitssystem verstehen
David Klemperer
Sozialmedizin – Public Health Gesundheitswissenschaften Lehrbuch für Gesundheits- und Sozialberufe 3., überarb. Aufl. 2015. 384 S., 153 Abb., Kt € 29,95 / CHF 39.90 ISBN 978-3-456-85550-9 Auch als eBook erhältlich
Dieses Lehrbuch will die Gesundheitsund Sozialberufe darin unterstützen, ihre berufliche Praxis weiterzuentwickeln. Dafür ist eine breite Wissensbasis hilfreich, die dieses Buch praxisnah vermittelt. Dazu zählt das Wissen über • Individualmedizin und Bevölkerungsgesundheit (Public Health) • Modelle von Gesundheit und Krankheit • Epidemiologie und Forschungsmethoden • Prinzipien einer evidenzbasierten beruflichen Praxis • Theorie und Praxis von Gesundheitsförderung und Krankheitsprävention • soziale Ungleichheiten der Gesundheit.
www.hogrefe.com
Das Buch richtet sich sowohl an Studierende als auch an bereits Berufstätige. Angesprochen sind ebenfalls Patientenvertreter in der Selbstverwaltung, Krankenkassenmitarbeiter, Mitglieder und Mitarbeiter der gesundheitsbezogenen Selbsthilfe, Journalisten und an Gesundheitspolitik Interessierte.
PADUA
Fachzeitschrift für Pflegepädagogik, Patientenedukation und -bildung
Jahrgang 12 / Heft 1 / 2017
Schwerpunkt Professionelle Berufsidentität Herausgeber Michael Bossle Doris Eberhardt Katrin S. Rohde Susanne Schewior-Popp Kordula Schneider Angelika Zegelin
Herausgeberinnen und Herausgeber
Prof. Dr. Michael Bossle, Deggendorf Doris Eberhardt, Neumarkt Katrin S. Rohde, Berlin Prof. Dr. phil. Susanne Schewior-Popp, Mainz u. Vallendar Prof. Dr. phil. Kordula Schneider, Münster Prof. Dr. rer. medic. Angelika Zegelin, Dortmund (Verantwortliche Patientenedukation)
Redaktorin
Edith Meyer, BScN, MScN, Nürnberg padua@hogrefe.ch
Verlag
Hogrefe AG, Länggass-Str. 76, CH-3000 Bern 9, Tel. +41 (0) 31 300 45 00, zeitschriften@hogrefe.ch, www.hogrefe.ch
Anzeigenleitung
Josef Nietlispach, Tel. +41 (0) 31 300 45 69, inserate@hogrefe.ch
Abonnemente
Zeitschriftenvertrieb, Tel. +41 (0) 31 300 45 13, zeitschriften@hogrefe.ch
Herstellung
Fabian Hofmann, Tel. +41 (0) 31 300 45 37, fabian.hofmann@hogrefe.ch
Satz und Druck
AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten im Allgäu
Titelbild
© S_L-Fotolia
ISSN
1861-6186
Elektronische Version
www.econtent.hogrefe.com/loi/pad
Preise 2016
Jahresabonnement: Institute: CHF 403.– / € 313.– Private: CHF 116.– / € 87.– Studierende: CHF 67.– / € 50.– Porto und Versandgebühren; Schweiz: CHF 15.– Europa: € 15.– Übrige Länder: CHF 27.– Der Zugang zu den Volltexten ab 2006 ist für Privatkunden im Abonnement inbegriffen und kann online aktiviert werden. Einzelheft: CHF 29.– / € 20.– (+ Porto und Versandgebühren)
Hinweise für Autoren
PADUA (2017), 12 (1)
Für die Einreichung Ihres Beitrags und für jegliche redaktionelle Fragen wenden Sie sich bitte an die Redaktion unter padua@hogrefe.ch. Mit der Einreichung Ihres Beitrags willigen Sie einer allfälligen redaktionellen Bearbeitung ein und bestätigen, dass das Manuskript weder im Inland noch im Ausland publiziert, und dass es nicht gleichzeitig bei anderen Publikationsorganen eingereicht wurde. Weiter bestätigen Sie, dass sämtliche Abdruckgenehmigungen von allfälligen Abbildungen vorliegen. Bitte befolgen Sie die Hinweise zur Manuskriptgestaltung, die auf www.padua-zeitschrift.com downloadbar sind. Jeder Autor erhält ein kostenloses Belegexemplar des Hefts, in dem der Artikel erschienen ist. Sonderdrucke können gegen Rechnung bestellt werden. Eine diesbezügliche Bestellung muss spätestens mit der Rücksendung der Korrekturfahnen an den Verlag erfolgen. Die Verantwortung für den redaktionellen Inhalt der einzelnen Beiträge liegt bei den Autoren.
©2017 Hogrefe
Inhalt Editorial
Die Generalabsage an das „schulische Arbeiten“ und ihre Bedeutung für die Pflegeberufliche Identitätsarbeit Doris Eberhardt
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Schwerpunkt
Ich kenn' mich nicht mehr aus! Ethische Orientierung und berufliche Identität
7
Hans-Ulrich Dallmann und Andrea Schiff Auf dem Weg zu einer EBN-fördernden Haltung Erste Schritte zur Implementierung einer Evidence-basierten Pflegepraxis
15
Doris Eberhardt und Laura Wild Bitte nur an- und zupacken, mehr wollen wir nicht! Pflegehistorische Lehr- und Lerninhalte in der Ausbildung von Pflege fachhelfern in Bayern
25
Elisabeth Bauermann Ich sehe was, was Du nicht siehst Ein Theaterprojekt zur ästhetischen Erforschung pflegerischer Wirklichkeiten
33
Doris Eberhardt, Elisabeth Bauermann, Birgit Krakhofer, Beatrice Landschulze, Carina Loibl, Mirka Rauch, Stefan Schiewietz, Sabine Wurzer und Michael Bossle Lehren und Lernen
Die Beurteilung der praktischen Prüfung Transparenz und Objektivität bei der Notenbildung
41
Marius Rebmann Edukation und Patientenberatung in der Berufsprüfung Die Wittener Werkzeuge als Prüfungsinstrument in der Berufsprüfung für die Berufe in der Kranken- und Kinderkrankenpflege
45
Benjamin Kühme und Ralf Ruge Wissen und Forschen
Praxisorientiert und interprofessionell Lehre in der Medizinpädagogik
53
Christina Hemberger und Ulrike Morgenstern „Ich wollte doch nur helfen“ Aggressionsmanagement in der Altenpflege Ausbildung
59
Sandra Wirth Informiert sein und Handeln
Lernen aus Fehlern Strukturierte Reflexion von Sturzereignissen mit dem „Learning from Defects-Tool“
65
Von Susanne Hoffmann, Dorothea Helberg, Irena Anna Frei Service Vorschau
Meldungen, Neuheiten, Termine
70 72
©2017 Hogrefe PADUA (2017), 12 (1), 3
Die Pflegeklassifikationsdatenbank Hogrefe NCDB Nursing Classifications Database
Was ist die NCDB?
Wo erhalte ich die NCDB?
Die Datenbank für pflegerische Klassifikationen basiert auf den deutschsprachigen Ausgaben von Doenges, der NIC-Pflegeinterventionsklassifikation und der NOC-Pflegeergebnisklassifikation.
Die NCDB können Sie direkt beim Hogrefe Verlag beziehen. Wir unterbreiten Ihnen gerne ein maßgeschneidertes Angebot. Wenden Sie sich dazu bitte an ncdb@hogrefe.ch.
Was ist enthalten?
In Kürze wird die NCDB auch als Modul in verschiedenen führenden europäischen Softwaresystemen zur Pflegedokumentation erhältlich sein.
• alle Pflegeziele und Pflegemaßnahmen aus Doenges • alle 554 NIC-Pflegeinterventionen • über 10.000 Pflegeaktivitäten • alle 385 NOC-Pflegeergebnisse • Möglichkeit zur Verknüpfung mit NANDA International • Schlüsselinterventionen für rund 50 Pflegefachbereiche • Angaben zum Zeitaufwand und notwendiger Qualifikation für einzelne Interventionen
Wie sieht das Lizenzmodell aus?
Wie werden die Daten geliefert?
Die zwei in der Datenbank enthaltenen Klassifikationen (NIC, NOC) sowie die Pflegeziele und -maßnahmen aus Doenges sind separat oder in beliebiger Kombination in einem nach Einrichtungsgröße (Anzahl Pflegefachkräfte) abgestuften Jahreslizenzmodell erhältlich.
Die NCDB ist ab sofort in einem neutralen, weitgehend selbsterklärenden XML-Format lieferbar, was die Integration in elektronische Pflegedokumentationssysteme sehr vereinfacht.
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Identitätsarbeit vollzieht sich, indem die persönliche Welt aktiv und bewusst gegen die äußere Welt gesetzt wird. Keupp & Höfer (1997) bezeichnen diesen Prozess auch als Kompromissbildung zwischen Eigensinn und Anpassung. Gelingende Identitätsentwicklung zeichnet sich demnach nicht durch die zwangsläufige Anpassung an äußere Strukturen oder Erwartungen aus – dies entspricht vielmehr Identitätszwang – sondern durch die individuell verändernde Aneignung der Außenwelt. Dies gilt ebenso für die Entwicklung beruflicher Identität: Persönliche Interessen, Wertmaßstäbe und Bedürfnisse sind hierfür in Einklang mit im Beruf vorherrschenden Strukturen, Erwartungen und Anforderungen zu bringen. Doch inwieweit kann die eigene berufliche Identität überhaupt frei bzw. bewusst definiert werden? Benner (2012) betont, dass man sich den Werten, die man im Rahmen der beruflichen Sozialisation übernimmt, in der Regel nicht bewusst ist. Die praxeologische Wissenssoziologie hebt in diesem Zusammenhang den Unterschied zwischen expliziten Bewertungen und impliziten Werthaltungen hervor. Während Bewertungen häufig mit Rollenerwartungen und darin eingelassenen Normen zusammenhängen, entstehen Werthaltungen infolge derer alltagspraktischer Umsetzung – sie sind also an habituelle Praktiken gebunden (Lamprecht 2012). So sind implizite Werthaltungen zwar Formen des Wissens, im Unterschied zu Bewertungen aber nicht Gegenstand des reflektierenden Bewusstseins bzw. des Denkens (Bohnsack 2006). Dass Pflegearbeit vor allem mit praktisch-instrumentellen Verrichtungen gleichgesetzt oder dass der körperbezogenen Begegnung mit Patienten mehr Bedeutung beigemessen wird als der psychosozialen, entspricht beispielsweise in der Pflegepraxis verankerten, impliziten Werthaltungen (Weidner 1995; Veit 2004; Arnold 2008; Dörge 2009b; Gerlach 2013). Obwohl diese in Diskrepanz zu den normativen Zielstellungen professioneller Pflege stehen, prägen sie seit Jahrzehnten die pflegerische Handlungspraxis. Damit stellt sich die Frage, ob und wie es gelingen kann, Identitätszwang entgegenzuwirken und stattdessen iden titätsbildende Räume zu schaffen. Um für potentiellen Identitätszwang im Pflegefeld zu sensibilisieren, können beispielsweise empirisch belegte Ausdrucksformen kollektiver, selbstverständlicher Handlungspraktiken vorgestellt und in Bezug zu den eigenen Werten der Lernenden oder zu normativen Zielstellungen professioneller Pflege gesetzt werden. Für derartige Bewusstmachungsprozesse ist der Lernort Schule prädestiniert. Dem Lernort Praxis kommt hingegen die Verantwortung zu, Lernenden „ech-
te“ Entscheidungsmöglichkeiten zuzugestehen. Was passiert beispielsweise, wenn eine Schülerin sich dafür entscheidet, einen Patienten – so wie sie es in der Schule gelernt hat – in seiner Aktivität zu fördern und sie dafür in Kauf nimmt, länger für die Unterstützung bei der Körperpflege zu benötigen als vorgesehen? Derartiger Handlungsspielraum wird gerade Auszubildenden in der Regel nicht zugestanden. Wer von uns kennt nicht die weit verbreitete Argumentation: „In der Praxis kann eben nicht schulisch gearbeitet werden!“ Erschreckend finde ich, dass Pflegelernende bereits kurz nach Ausbildungsbeginn Unterrichtsinhalten generell fehlende Umsetzbarkeit attribuieren – auch hier könnte man durchaus von Identitätszwang sprechen. Ungeachtet der Tatsache, dass die Generalabsage an das sogenannte schulische Arbeiten den durch das „Anwendbarkeitsdogma“ irregeführten Erwartungen an Theoriewissen (Mayer 2010) Vorschub leistet, möchte ich an dieser Stelle vor allem auf die fatalen Folgen für die Identitätsentwicklung hinweisen: jegliche identitätsfördernde Kompromissbildung, die darüber hinaus von der „Identitätsarbeiterin“ selbst zu leisten ist, wird damit überflüssig. Auch wenn es damit sicher nicht getan ist – wird mit der Entscheidung, den Ausdruck „schulisches Arbeiten“ bewusst aus dem Wortschatz zu streichen, die dahinterliegende Werthaltung automatisch Gegenstand reflektierenden Denkens, meines Erachtens eine hervorragende „Identitätszwangprophylaxe“. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen eine spannende Lektüre! Doris Eberhardt
Literatur Arnold D (2008): „Aber ich muss ja meine Arbeit schaffen!“. Ein ethnografischer Blick auf den Alltag im Frauenberuf Pflege. Frankfurt a. M.: Mabuse. Benner PE (2012): Stufen zur Pflegekompetenz from Novice to Expert. Bern: Huber. Bohnsack R (2006): Qualitative Evaluation und Handlungspraxis – Grundlagen dokumentarischer Evaluationsforschung. In Flick U (Hrsg.): Qualitative Evaluationsforschung: Konzepte – Methoden – Umsetzung. Reinbek bei Hamburg: rororo, 135 – 155. Dörge C (2009): Professionelles Pflegehandeln im Alltag. Frankfurt a. M.: Mabuse. Gerlach A (2013): Professionelle Identität in der Pflege. Akademisch Qualifizierte zwischen Tradition und Innovation. Frankfurt a. M.: Mabuse. Keupp H & Höfer R (Hrsg) (1997): Identitätsarbeit heute. Frankfurt: Suhrkamp.
©2017 Hogrefe PADUA (2017), 12 (1), 5–6 DOI 10.1024/1861-6186/a000349
Editorial
Die Generalabsage an das „schulische Arbeiten“ und ihre Bedeutung für die pflegeberufliche Identitätsarbeit
6 Editorial
Lamprecht J (2012): Rekonstruktiv-responsive Evaluation in der Praxis: neue Perspektiven dokumentarischer Evaluationsforschung., Wiesbaden: VS. Mayer H (2010): Die Problematik praxisorientierter Forschung und forschungsorientierter Praxis. In Käppeli S (Hrsg): Pflegewissenschaft in der Praxis. Bern: Huber, 149 – 164.
Veit A (2004): Professionelles Handeln als Mittel zur Bewältigung des Theorie-Praxis-Problems in der Krankenpflege. Dissertation. Weidner F (1995): Professionelle Pflegepraxis und Gesundheitsförderung: eine empirische Untersuchung über Voraussetzungen und Perspektiven des beruflichen Handelns in der Krankenpflege. Frankfurt a. M.: Mabuse.
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Kommunikation in der Pflege Bernice Buresh / Suzanne Gordon
Der Pflege eine Stimme geben Was Pflegende wie öffentlich kommunizieren müssen Deutsche Ausgabe herausgegeben von Angelika Zegelin / Andreas Büscher. Übersetzt von Heide Börger. Mit einem Geleitwort von Patricia Benner / Franz Wagner / Pierre-André Wagner / Christine Ecker. 2006. 303 S., 1 Abb., Kt € 39,95 / CHF 56.00 ISBN 978-3-456-84220-2 Bernice Buresh und Suzanne Gordon, zwei erfahrene Autorinnen und Journalistinnen, die mit ihrem Buch „From Silence to Voice“ in den USA schon
für Furore gesorgt haben, bieten ein praktisches Handbuch für die professionelle, öffentliche und mediale Selbstdarstellung von Pflegenden.
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PADUA (2017), 12 (1), 5–6
©2017 Hogrefe
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Ich kenn' mich nicht mehr aus! Ethische Orientierung und berufliche Identität
In als krisenhaft erlebten Situationen benötigen Menschen Orientierung. Das ist leichter gesagt und geschrieben als getan. Denn sich zu orientieren erfordert komplexe Leistungen und Kompetenzen. Identität hat zudem eine ethische Dimension. Was lässt sich allgemein von der Analyse des Orientierungsbegriffs für die ethische Orientierung ableiten – und hat dies Konsequenzen für die pädagogische Praxis?
Berufliche Identität und Krise Die Frage nach der beruflichen Identität ist ein Krisenphänomen. Sie stellt sich nicht, solange sich Professionelle ihrer Identität gewiss sind. Vielmehr zeigt die Frage eine Unsicherheit der Orientierung an. Das kann schon ein kurzer Blick auf klassische und aktuelle Identitätstheorien zeigen. Wir beziehen uns im Folgenden auf die Identitätstheorie des kanadischen Sozialphilosophen Charles Taylor. Nach Taylor (1994) gehören die Identität einer Person und ihre „starken Wertungen“ zusammen. Eine Person gewinnt ihre Identität dadurch, dass sie beschreiben kann, welche Bindungen und Wertungen für sie wichtig wurden und sind. Es ist für eine Person entscheidend, sich im moralischen Raum verorten zu können; dieser Ort wird bestimmt durch die Fragen, die für sie von Bedeutung sind. Im Blick auf die zeitliche Erstreckung des Lebens entschlüsselt sich die biographische Erzählung aufgrund ihrer Beziehungen zu den Werten, die bedeutsam waren. Letztlich erschließt sich die Lebensgeschichte durch den Rekurs auf die ihr zugrunde liegenden starken Wertungen. Durch sie strukturiert eine Person die Ereignisse der Vergangenheit und blickt auf das, was in Zukunft geschehen wird. Deshalb gehören beides, das für eine Person typische Set ihrer starken Wertungen und ihre biographische Erzählung, untrennbar zusammen. Sie machen ihre besondere Identität aus. Nur wo die starken Wertungen einer Person in lebensgeschichtlicher Perspektive zur Sprache kommen, kann im strengen Sinne von Identität die Rede sein. „Definiert wird meine Identität durch die Bindungen und Identifikationen, die den Rahmen oder Horizont abgeben, innerhalb dessen ich von Fall zu Fall zu bestimmen versuchen kann, was gut oder wertvoll ist oder was getan werden
sollte bzw. was ich billige oder ablehne. Mit anderen Worten, dies ist der Horizont, vor dem ich Stellung zu beziehen vermag.“ (Taylor, 1994, S. 55). Im Alltag bin ich dieser Orientierungen zumeist gewiss; fraglich werden sie, wenn Situationen auftauchen, in denen meine bisherige Orientierung nicht mehr ausreicht. Identitätskrisen sind darum Orientierungskrisen. Dies betrifft die Lebensführung von Personen ebenso wie die berufliche Praxis. Um diese Orientierungs- bzw. Identitätskrisen näher zu analysieren, werden wir zunächst darlegen, welche Konstellationen für Orientierung typisch sind. Dabei werden wir darauf eingehen, was in diesem Zusammenhang ethische Orientierung ausmacht. Schließlich werden wir daraus einige Folgerungen für die Bedeutung der ethischen Orientierung in der Pädagogik ziehen.
Orientierung in als krisenhaft erlebten Situationen Die Frage der Orientierung entsteht für mich dann, wenn ich mir des Weges nicht mehr sicher bin. Solange ich das Gefühl habe, zu wissen woher ich komme und wohin ich gehe, suche ich nicht nach Orientierung. Wie bereits angedeutet: Das Bedürfnis nach Orientierung entsteht in einer als krisenhaft erlebten Situation. Krise verstehen wir als eine Situation, in der unterschiedliche Optionen bestehen, wie ich handeln kann. Krisen setzen – um im Bild zu bleiben – mindestens eine Weggabelung voraus oder eine Kreuzung, von der mehrere Wege abzweigen. Im Normalfall bin ich orientiert – oder fühle mich zumindest so – und erst wenn ich eine Entscheidung über den weiteren Weg treffen muss, stehe ich vor der Aufgabe, mich zu orientieren. Das gilt für die Praxis – und auch für die Theorie, denn: „Ein philosophisches Problem hat die Form: ‚Ich kenne mich nicht aus‘.“ (Wittgenstein, 1971, S. 82). Wir möchten das im Anschluss an Gernot Böhme (1997) entfalten. Im Alltag – und natürlich auch im Berufsalltag – sind wir gewöhnlich durchaus orientiert; der Alltag ist durch „Zweckmäßigkeitserwägungen und das Übliche“ hinreichend geregelt. (Böhme, 1997, S. 16) Für die meisten Fälle verfügen wir über einen Strauß von Gründen. Aber wir stoßen in unserer Lebensführung immer wieder auf Fragen, die in einer anderen Weise „ernst“ sind als die, wohin wir nächstes Jahr in den Urlaub fahren. Diese Fragen sind im Sinne Böhms die „eigentlich“ moralischen Fragen.
©2017 Hogrefe PADUA (2017), 12 (1), 7–12 DOI 10.1024/1861-6186/a000353
Schwerpunkt
von Hans-Ulrich Dallmann und Andrea Schiff
8 Schwerpunkt
Ernste Fragen können in jedem Handlungszusammenhang auftauchen. Es ist nicht so, dass es z. B. in der Pflegepraxis „fachlich relevante Situationen“ gibt und dazu oder darüber hinaus noch „ethisch relevante Situationen“, die einen ganz eigenen Charakter haben. Vielmehr kann jede Handlungssituation „moralisch valent“ sein, wie Katrin Wille im Anschluss an Dewey formuliert (Wille, 2016, S. 406) In jeder Handlungssituation schlummert ein ethisches Potential: die Patientin reagiert auf meine Intervention, sie erweitert damit den Handlungskontext und ich muss die Reaktion in mein Verständnis der Situation integrieren und dieses unter Umständen verändern. Gegenüber diesen Veränderungen kann ich offen oder verschlossen sein; ist letzteres der Fall, stellt sich die – auch ethische – Frage, ob ich der Patientin in ihrer Situation mit meinem Handeln gerecht geworden bin. Die Ethik pflegerischen Handelns beginnt nicht erst mit den großen Problemen im Kontext von Leben und Sterben, sondern identifiziert im beruflichen Alltag die Aspekte, die von ethischer Bedeutung sind. Wenn sich solche Fragen stellen, eignet ihnen eine gewisse Unabweisbarkeit. Ich kann mich ihnen nur um den Preis der Ignoranz, des Selbstbetrugs oder der Kälte gegenüber den legitimen Erwartungen anderer entziehen. Will ich sie beantworten, muss ich in einen Prozess der Selbstverständigung eintreten, der nicht abgeschieden und selbstbezüglich im „stillen Kämmerlein“ abläuft, sondern in denen Personen, die mir aus den ein oder anderen Gründen wichtig sind, beteiligt sind. Das Verstehen meiner selbst ist aber nicht Selbstzweck. Das Verstehen dient dazu, das Verhältnis zwischen meinem Denken, meinen Überzeugungen und meinem Handeln zu klären. Anlass einer solchen Klärung ist eine erlebte Dissonanz zwischen der Art und Weise wie ich lebe und arbeite und der Vorstellung, wie ich leben und arbeiten möchte. Die Auflösung dieser Dissonanz kann in zwei Richtungen erfolgen: Entweder müssen sich mein Denken und meine Überzeugungen ändern oder mein Handeln. Meine Vorstellungen von einem gelingenden Leben können z. B. überzogen oder nicht realitätsgerecht sein. Umgekehrt kann ich erkennen, dass mein Handeln „eigentlich“ nicht zu mir passt. Die Voraussetzung dieser Klärung ist in beiden Fällen das Verstehen. Insofern gestaltet sich Ethik als Hermeneutik der Lebens- und auch Berufsführung. (Volz, 1993 und Dallmann / Schiff, 2016, S. 11 – 2 2) In diesem Sinn ist die Aufgabe der Ethik Interpretation und Kritik. Sie muss hinschauen, was wo schon in Geltung ist, um daran anzuknüpfen, um beratend tätig zu werden und um Personen zu einem besseren Verständnis, zu einem Verstehensangebot ihrer eigenen Werte, Güter und Normen zu verhelfen, sie zum Engagement zu befähigen und ihre Kompetenzen zu stärken. Ethik geht es um Selbstaufklärung. Aber ihr muss es ebenso darum zu tun sein, für die jeweilige Kontextualität zu sensibilisieren, indem sie
ein Bewusstsein von Struktur, Entstehung und Geltung der herrschenden Orientierungsmuster vermittelt. Ethik expliziert das Implizite, sie versprachlicht es, rekonstruiert und rechtfertigt es, und sie kritisiert die Geltung von Handlungsorientierungen, Rechtsnormen, Regeln und Verhaltenskodizes. In diesem Sinne ist Ethik „kritische Theorie des Ethos“.
Orientierung und die Notwendigkeit von Zielen Für die Frage, wie ich mich orientieren soll, ist es weniger wichtig, woher ich komme, wichtiger ist, wohin ich will. Orientieren kann ich mich nur, wenn ich ein Ziel habe. Daher sind Orientierungsfragen etwas anderes als Zielbestimmungen. Diese erfordern eine andere Art von Überlegungen. Und je nach der Antwort, die ich mir gebe, kann es sogar sein, dass ich zurückgehen muss, weil das Ziel in einer anderen Richtung liegt. Trotzdem ist die Herkunft nicht belanglos für die Frage, wie ich mich orientieren soll. Wo ich her komme, ist insofern wichtig, als ich abschätzen kann, welche Strecke ich bereits zurückgelegt habe und wieviel noch vor mir liegt. Die zurückgelegte Wegstrecke kann mir Aufschluss über noch benötigte Ressourcen geben. Aber der Blick zurück sagt mir nicht, wie es weitergehen kann. Oder um Kierkegaard zu paraphrasieren: Das Leben wird zwar rückwärts verstanden, aber vorwärts gelebt.1 Wenn ich nicht weiß, wohin ich will, lohnt es sich kaum, nach dem Weg zu fragen. In gewissem Sinne liegen die Ziele jedoch nicht einfach in meinem Belieben. Das mag seltsam klingen, aber wir möchten das im Anschluss an Harry G. Frankfurt (2007) kurz ausführen. Frankfurt geht von der Beobachtung aus, dass die Sorge um etwas oder jemandem für uns und unser Handeln einen begründenden Charakter besitzt. Allerdings sind wir nicht wirklich frei bei der Entscheidung, um was wir uns sorgen oder wen oder was wir lieben sollen. Die wirklich wichtigen Dinge im Leben sind nicht Gegenstand unserer Wahl. Über die Menschen, um die wir uns sorgen und auch über unsere identitätsprägenden Überzeugungen können wir nicht willentlich disponieren. Dabei ist es einerlei, ob diese sozialisatorisch erworben wurden oder der soziokulturellen Prägung entstammen oder was auch immer sonst. Die Pointe dieses Konzepts von Sorge ist, dass sie in ihrem Kern volitional ist, also weniger auf Verstand und Gefühl, sondern auf den Willen bezogen. Allerdings muss einschränkend gesagt werden, dass uns nicht immer bis ins Letzte klar ist, was dies in einer konkreten Situation bedeutet. Frankfurt: „Unsere Motive und Dispositionen sind notorisch ungewiß und undurchsichtig und oft mißverstehen wir uns selbst.“ (Frankfurt, 2007, S. 68) Das heißt, dass wir in den Situationen, in denen wir uns orientieren müssen, vor der Aufgabe stehen herauszufinden,
„Es ist ganz wahr, was die Philosophie sagt, daß das Leben rückwärts verstanden werden muß. Aber darüber vergißt man den andern Satz, daß vorwärts gelebt werden muß.“ (Kierkegaard, 1923, S. 203)
1
PADUA (2017), 12 (1), 7–12
©2017 Hogrefe
Schwerpunkt 9
was wir eigentlich wollen. Dieses Verstehen ist irrtumsanfällig und vorläufig, suchend und kompromisshaft. Allerdings in einer solchen Situation notwendig, wollen wir uns nicht einfach nur treiben lassen. Für die Pflegepraxis stellt sich hinsichtlich der Ziele die Frage, was gute Pflege ausmacht. Dies lässt sich aus zwei Perspektiven betrachten, der der Betroffenen und der der Pflegenden und ihrer Wissenschaft. Diese Perspektiven können übereinstimmen, müssen es aber nicht. Selbst verständlich werden Fachwissen und die notwendigen technischen Fähigkeiten von beiden Seiten für wichtig erachtet; von Seiten der zu Pflegenden spielen jedoch Kommunikation und eine fürsorgliche Achtsamkeit eine größere Rolle als bei den Pflegenden (vgl. Schaffert-Witvliet, 2015). Allerdings kann die Orientierung an den Bedürfnissen und Wünschen der Betroffenen ambivalent werden. Dies kann insbesondere dann passieren, wenn diese mit den fachlichen Standards kollidieren. Dann sind Aushandlungsprozesse nötig, um in der jeweiligen Situation eine angemessene Lösung zu finden (vgl. Dallmann / Schiff, 2016, S. 69 – 78).
Orientierung und die eigene Position Um mich orientieren zu können, muss ich meine aktuelle Position kennen. Wenn ich nicht weiß, wo ich bin, ist die Wahl des weiteren Weges beliebig. Daher setzt Orientierung eine Positionsbestimmung voraus. Die Position ist mehrfach determiniert: zunächst durch den physischen Ort, aber auch durch die Zeit, letztlich durch ihren Kontext, durch verfügbare Ressourcen, durch den Abstand zu anderen Positionen, durch meine Reserven und Vorräte, durch meine Kraft und Zuversicht, mein Ziel erreichen zu können. Kontexte gibt es nur in Bezug auf eine Position; sie sind relational auf diese bezogen. Daraus ergibt sich, dass die Kontexte, in denen z. B. zwei Akteurinnen in einer Situation stehen, nicht identisch sind. Inwieweit sie sich überlappen, muss erst herausgefunden werden. Die Orte, an denen Menschen handeln, sind nicht einfach wie sie sind, sondern wie die Akteurinnen sie sehen und verstehen. Die eigene Position zu bestimmen, setzt voraus, sich mit den Situationsdeutungen und –beschreibungen anderer Beteiligter und mit diesen selbst auseinanderzusetzen. Diese Orte sind z. B. das Stationszimmer, mit seinen räumlichen Anordnungen und den Alltagspraktiken, die sich daran anlagern. Wer stellt die dreckigen Kaffeetassen in die Spülmaschine? Wer reagiert als erstes auf das Telefon oder die Klingel? Gibt es eine Hierarchie? Formell oder informell oder beides? Wie gestaltet sich das Verhältnis zu den Ärztinnen? Und zu den Patienten? Die Fragen lassen sich beliebig ausweiten. Zu beachten ist nur, dass die am Ort versammelten Akteurinnen diese Fragen nicht gleich beantworten werden. Die Notwendigkeit, seine Position – und damit auch die der anderen – neu bestimmen zu müssen, entsteht dann, wenn eingefahrene Praktiken und Routinen, Vorverständnisse und Zuschreibungen nicht
mehr funktionieren. Für Auszubildende und für Studierende wird diese Orientierungsleistung noch erschwert, weil sie an verschiedenen Lernorten unterwegs sind und sich ständig auf neue Beschreibungen und Zuschreibungen einstellen und sich mit ihnen auseinandersetzen müssen. Die anspruchsvolle Aufgabe für sie besteht darin, sich in wechselnden Kontexten flexibel auf diese einstellen zu können und gleichzeitig eine eigene Ortsbestimmung, eine eigene – auch berufliche bzw. professionelle – Identität aufzubauen. Die Frage ist, wer und was sie bei dieser Aufgabe unterstützt.
Orientierungsmittel Es gibt von Immanuel Kant eine kleine Schrift mit dem Titel: „Was heißt: Sich im Denken orientieren“ aus dem Jahr 1786 (Kant 1977a). Dort beschreibt er Orientierung anhand eines geographischen Bildes. Wer sich orientiert, sucht nach der Himmelsrichtung. Kant nennt den Sonnenstand am Mittag oder die Position des Polarsterns in der Nacht. Bleiben wir im Bild: Wenn wir Auszubildenden oder Studierenden empfehlen würden, sich anhand des nächtlichen Himmels zu orientieren, käme wohl die erstaunte Nachfrage, ob es dafür irgendeine App gebe. Die gibt es natürlich; aber da die Zahl der Studierenden, die eine Sozialisation als Pfadfinderin oder Pfadfinder hinter sich haben, nach unserer Einschätzung kontinuierlich abnimmt, können die wenigsten mit derlei Hilfestellung etwas anfangen. Gleichwohl halten wir Kants Bild nicht nur für die Orientierung im Denken, sondern auch für die ethisch / moralische Orientierung durchaus anschlussfähig. Es gibt Situationen, in denen die Kenntnis traditioneller Orientierungsmittel hilfreich sein kann. Aber die Handhabung solcher Mittel will erlernt sein. Wenn ich nicht weiß, was man damit wie anfangen kann, helfen Karte und Kompass nichts, man muss eine Karte lesen und sie mit Hilfe des Kompasses einnorden können. Das setzt allerdings eine gewisse Erfahrung und Vertrautheit mit diesen Orientierungsmitteln voraus. Für die Auszubildenden und Studierenden in der Pflege sind diese – mehr oder minder technischen – Orientierungsmittel zunächst das Lehrbuchwissen, Regeln und Standards. Nach Patricia Benner sind für die Anfängerinnen „kontextfreie Regeln […], an denen sie ihr Handeln ausrichten sollen“ kennzeichnend (Benner, 1994, S. 41). Für die weitere Entwicklung muss deshalb zunächst die Verwendung solcher Orientierungsmittel eingeübt und gleichzeitig vermittelt werden, dass die eigentliche Expertise in einem reflektierten und eigenständigen Umgang mit diesem Regelwissen besteht und dieses an Kontexte, Situationen und Personen angepasst werden muss. Hinzu kommt für die Auszubildenden / Studierenden, dass die Regeln und Standards, die sie am Lernort Schule / Hochschule erlernen, nicht unbedingt identisch sind mit denen, die am jeweiligen Praxisort Verwendung finden. Diese Diskrepanz an Orientierungsmitteln kann zu Demotivation, Burn- und Cool-Out führen (vgl. Kersting, 2002).
©2017 Hogrefe PADUA (2017), 12 (1), 7–12
10 Schwerpunkt
Neben verschiedenen Reaktionsmustern kann eine – zumindest vorübergehende – Lösung sein, sich an Rollenvorbildern zu orientieren. Deren Wahl hängt jedoch nicht zuletzt davon ab, wie man sich selbst versteht oder verstehen will. Nicht nur aufgrund dieser Konstellation fragt sich, wie sich diese auch ethisch orientieren und verorten können. Zunächst verfügt jede und jeder über eine wie auch immer geartete – in einem weiten und schwachen Sinne – normative Landkarte. Menschen haben eine Vorstellung von gut und böse, wichtig und unwichtig, angemessen oder unangemessen. Und in der Regel kommen sie mit diesen Karten ganz gut zurecht. Das Problem bei Orientierungskrisen ist, dass diese Vorstellungen fragwürdig werden oder dass der Strauß von unterschiedlichen Orientierungsmustern nicht mehr geordnet und konsistent, sondern als bunt zusammengewürfelt erscheint. Die Aufgabe der Ethik an dieser Stelle ist nicht, es besser zu wissen. Also der Person, die nicht mehr so recht weiter weiß, das „richtige“ Verständnis ihrer Situation beizubringen. Ethik hat stattdessen eine beratend / didaktische Funktion. Es geht ihr im Sinne von Charles Taylor um den „best account“, also den angemessensten Verstehensvorschlag und um die Kultivierung ethischer Diskurse. Dass dabei die wissenschaftliche Expertise der Ethik hilfreich sein kann, ist offensichtlich. Aber die Wissenschaftlichkeit garantiert nicht die Überlegenheit ihrer Deutungen und Schlüsse bei konkreten Problemen. Denn das Bindeglied zwischen Wissenschaft und Praxis, die Urteilskraft, gehorcht selbst nicht methodisch klar zu definierenden Gesetzen. Weshalb es, so Kant, „Theoretiker geben (kann), die in ihrem Leben nie praktisch werden können, weil es ihnen an Urteilskraft fehlt: z. B. Ärzte, oder Rechtsgelehrte, die ihre Schule gut gemacht haben, die aber, wenn sie ein Consilium zu geben haben, nicht wissen, wie sie sich benehmen sollen.“ (Kant 1977b, S. 127)
standen werden. Gründe können als einer Handlung vorhergehend oder auf sie zurückschauend gedacht werden. Im ersten Fall habe ich einen Grund und richte mein Handeln an diesem aus. Im zweiten Fall handele ich und antworte auf eine Warum-Frage mit der Angabe von Gründen. In der traditionellen Ethik wird meist vom ersten Fall ausgegangen. Im Alltag kommt meist der zweite Fall zum Tragen. Wir handeln und werden gelegentlich von anderen gefragt – oder fragen uns selbst – warum wir das so oder so getan haben. Wir rechtfertigen uns dann dadurch, dass wir Gründe nennen. Diese Gründe bestehen schon vor dem Handeln, sind aber meist nicht explizit und bewusst in die Handlung eingegangen. Gründe sind nicht immer moralischer Natur, sondern beziehen sich oft auf Zwecke oder auf Fakten. Wenn es aber im ernsten Sinn um Rechtfertigungen geht, gebe ich Rechenschaft über die Orientierungen, die mein Handeln leiten. Das muss ich – zum Glück – nicht ständig tun; und ich werde es – hoffentlich – nicht ständig von anderen erwarten. Normalerweise wird erst dann nach Gründen gefragt, wenn etwas an einer Handlung fragwürdig erscheint. Dann bedeutet Rechenschaft ablegen, diese problematisierte Handlung im Blick auf meine Orientierungen auszulegen. Diese Auslegung kann plausibel sein oder nicht. Bei der Selbstprüfung kann ich zu dem Ergebnis kommen, dass diese oder jene Handlung nicht zu mir passt, nicht mit meinem sonstigen Verhalten übereinstimmt. Menschen sind in ihren Motiven selten kohärent. Wahrscheinlich auch deshalb, weil sie sich und ihre Absichten nicht völlig durchschauen. Menschen sind sich oft selbst ein Rätsel. Das ist so lange kein Problem bis wir an den Punkt kommen, wo eine explizite Entscheidung zu treffen ist. Dann wäre es gut, wenn ich zu den Gründen für meine Entscheidung auch „Ja!“ sagen könnte.
Ethische Orientierung und Selbstbestimmung
Sich orientieren zu können, ist eine besondere Kompetenz. Der Erwerb von Kompetenzen weist eine ganze Reihe von Parallelen mit der klassischen Tugendpädagogik auf (vgl. Dallmann, 2009). „Gut und tugendhaft werden die Menschen nun aber durch drei Dinge; diese drei Dinge sind: Natur, Gewöhnung, Vernunft.“ (Aristoteles, 1981, S. 266) Dieser Satz des Aristoteles bündelt die antike Vorstellung der Erziehung und bringt sie auf ihren moralpädagogischen Punkt (vgl. Hoyer, 2005, S. 142 – 157). Pädagogisch entspricht ihnen Anlage, Übung und Lehre. Dabei wird vorausgesetzt, dass die drei Faktoren zusammenwirken müssen, um zu ihrem Ziel zu kommen. Den Schwerpunkt seiner pädagogischen Ausführungen legt Aristoteles auf die Habitualisierung durch Gewöhnung. „Die rechte Gewöhnung ist für Aristoteles insofern das A und O der Erziehung, als durch sie die primäre sittliche Persönlichkeitsbildung erfolgt, von der das Subjekt ein Leben lang zehrt. Die Gewöhnung arbeitet der Vernunfterziehung in die Hände, indem sie jene Gemütsverfassung generiert, die für eine vernünftige Lebensführung unentbehrlich erscheint.“
Irgendwann muss ich handelnd Entscheidungen treffen. Und ich werde mich unwohl fühlen, wenn ich einfach rate, welchen Weg ich weiter nehmen will. Mir geht es in einer solchen Situation deutlich besser, wenn ich gute Gründe für meine Entscheidung habe. Das trifft wahrscheinlich auch dann zu, wenn sich herausstellen sollte, dass ich mich geirrt habe. Einen Irrtum kann ich mir selber zurechnen, ich kann aus ihm, wenn es gut läuft, etwas lernen, auf jeden Fall kann ich ihn korrigieren; das funktioniert mit dem blanken Zufall nicht. Und nur wenn ich Gründe für eine Entscheidung habe, kann ich selbstbestimmt eine Entscheidung treffen. Ich kann sie mir zu Eigen machen. Autonomie ist Selbst-Bestimmung und nicht reine Willkür, genauer gesagt: sie ist Selbstbestimmung aus Gründen (vgl. Bieri, 2003). Dabei geht es weniger um das Entscheidungsverfahren, sondern um die Gründe, die für diese oder gegen jene Option sprechen. Gründe zu haben, kann unterschiedlich verPADUA (2017), 12 (1), 7–12
Sich orientieren lernen
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(Hoyer 2005, S. 200) Denn, so der gleichsam programmatische Satz, „aus gleichen Tätigkeiten erwächst der gleiche Habitus.“ (Aristoteles, 1985, S. 27). Insofern ist die Tugenderziehung strikt handlungsorientiert anzulegen, denn das Individuum lernt entsprechende Praktiken durch deren Vollzug: „Denn was wir tun müssen, nachdem wir es gelernt haben, das lernen wir, indem wir es tun. So wird man durch Bauen ein Baumeister und durch Zitherspielen ein Zitherspieler. Ebenso werden wir aber durch gerechtes Handeln gerecht, durch Beobachtung der Mäßigkeit mäßig, durch Werke des Starkmuts starkmütig“ (Aristoteles, 1985, S. 26 – 2 7). Tugenden wie Kompetenzen sind demzufolge nicht in einem theoretischen Sinne lehrbar und lernbar. Man erlernt nicht durch das Lesen eines Buches „Schwimmen lernen leicht gemacht“ das Schwimmen, sondern nur dadurch, dass man schwimmt. Auf die Bedeutung der Gewöhnung hat in der Pädagogik vor allem Otto Friedrich Bollnow aufmerksam gemacht (Bollnow, 1987; vgl. zu Bollnow und seinem Werk Klappenecker, 2007) Ausgangspunkt bei Bollnow ist die Unterscheidung von Wissen und Können (vgl. Bollnow, 1987, S. 26 – 3 7). Wichtig ist in diesem Zusammenhang jedoch, dass die Übung im Sinne Bollnows an Aristoteles‘ Konzept der Habitualisierung durch Gewöhnung anknüpft. „Wer beispielsweise eine Wissenschaft studiert hat oder lehrt, ist darum noch nicht imstande, sie beispielsweise als Ärztin oder Richter anzuwenden. Für die praktische Ausübung ist nicht das Aufnehmen von Wissensstoff konstitutiv, sondern die Übung. Das sichere Urteil kann beispielsweise nicht auf einmal gelernt, sondern muss jahrelang geübt werden. Der dazu nötige Takt, die Fähigkeit, intuitiv Zusammenhänge zu erfassen, Urteilsfähigkeit zu erwerben, entsteht nur, indem sie über Jahre hinweg an immer neuen Beispielen erprobt werden.“ (Klappenecker, 2007, S. 161). Auch bei Bollnow wirkt das Üben zurück auf den ganzen Menschen, das entsprechend Geübte ist mehr als eine einfache Fertigkeit – nicht umsonst bezieht er sich in diesem Zusammenhang auf die Praxis des Übens im Zen-Buddhismus. Schließlich erwächst aus den vielfachen Erfahrungen intuitives Wissen, das situativ abgerufen wird (Benner 1994, S. 50). Olbrich (2010) erweitert das Handeln Pflegender um die Fähigkeiten des reflektierten Handelns und des aktiv-ethischen Handelns. Die Pflegende nutzt ihr gesamtes Repertoire an Wissen, Erfahrung und Selbstreflektion, um dem Patienten beizustehen. Neben der Bedeutung der Gewöhnung und Übung spielt für die Pädagogik der Orientierung ihr Verhältnis zu bestimmten Praxisformen eine zentrale Rolle. Üben und Gewöhnen verkommt zum sinnentleerten Pauken und Dressieren, wenn dem Geübten keine Praxisform entspricht, wenn es nicht eingebettet ist in Praxiszusammenhänge, die für die Lernenden bedeutsam sind. Für die Pädagogik der Orientierung lässt sich daraus folgern, dass beide Elemente – Übung und Praxisformen – zusammen kommen müssen, um Kompetenzen zu vermitteln und zu fördern. Dafür braucht das pädagogische Rad nicht neu erfunden zu werden. Es braucht nur an die Konzeptionen angeknüpft zu werden, „die ein Angebot an ganzheitlichen,
mehrdimensionalen Aufgaben- und Problemstellungen enthalten und selbstgesteuertes und ganzheitliches Lernen ermöglichen.“ (Müller-Seng / Weiss, 2001, S. 168 – 169). Zu denken ist hierbei etwa an Projekt- oder anderen Formen handlungsorientierten Unterrichts (vgl. Gudjons, 2008). Hinzu kommen in jüngerer Zeit Ansätze wie insbesondere das Lernfeldkonzept, das zunehmend in der Berufspädagogik an Bedeutung gewinnt (vgl. Clement, 2003). Von besonderer Bedeutung ist hier die Kooperation der Lernorte (Schule / Hochschule und Praxis), weil das Handeln in den jeweiligen Orten unterschiedlichen Logiken folgen kann, wenn etwa dem kompetenzorientierten Unterricht in der Schule / Hochschule das vollzugsorientierten Handeln am Lernort Praxis gegenübersteht (vgl. Bau (Hrsg.), 2005). Zu wissen, was gut ist, bedeutet noch nicht, es auch anzustreben, zu wissen, wie die Lebensführung glückt, heißt noch nicht, auch entsprechend zu leben. Das Dilemma der Ethik ist, dass sich Wissen und Lebensform nicht immer entsprechen. Das ist kein neues Problem, schon Aristoteles kannte es: „Wir betrachten die Tugend nicht, um zu wissen, was sie ist, sondern um tugendhaft zu werden; sonst wäre unsere Arbeit zu nichts nütze“ (Aristoteles 1985, S. 28).
Literatur: Aristoteles (1981). Politik (4. Aufl.). Hamburg: Meiner. Aristoteles (1985). Nikomachische Ethik (4. Aufl.). Hamburg: Meiner. Bau H. (Hrsg.) (2005). Lernortkooperation – neue Erkenntnisse aus Modellversuchen. (Berichte zur beruflichen Bildung, 268). Bonn, Bielefeld: Bertelsmann. Benner P. (1994). Stufen zur Pflegekompetenz: From Novice to Expert. Bern: Huber. Bieri P. (2003). Das Handwerk der Freiheit. Über die Entdeckung des eigenen Willens. München: Hanser. Böhme G. (1997) Ethik im Kontext. Über den Umgang mit ernsten Fragen. Frankfurt: Suhrkamp. Bollnow O. F. (1987). Vom Geist des Übens. Eine Rückbesinnung auf elementare didaktische Erfahrungen. 2. Aufl. Oberwil bei Zug: Kugler. Clement U. (2003). Berufliche Bildung zwischen Erkenntnis und Erfahrung. Realisierungschancen des Lernfeld-Konzeptes an beruflichen Schulen. Baltmannsweiler: Schneider-Verlag Hohengehren. Dallmann H.-U. (2009). Eine tugendethische Annäherung an Begriff und Pädagogik der Kompetenzen. Ethik und Gesellschaft, 3, 1: 1 – 51. http://www.ethik-und-gesellschaft.de/ojs/index.php/eug/ article/view/1-2009-art-3 [Zugriff 21.08.2016]. Dallmann H.-U., Schiff A. (2016). Ethische Orientierung in der Pflege. Frankfurt: Mabuse. Frankfurt H. G. (2007). Sich selbst ernst nehmen. Frankfurt: Suhrkamp. Gudjons H. (2008). Handlungsorientiert lehren und lernen. Schüleraktivierung – Selbsttätigkeit – Projektarbeit. 7. Aufl. Bad Heilbrunn: Klinkhardt. Hoyer T. (2005). Tugend und Erziehung. Die Grundlegung der Moralpädagogik in der Antike. Bad Heilbrunn: Klinkhardt. Kant I. (1977b). Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis. (Werkausgabe, hrsg. von Wilhelm Weischedel, Band XI, S. 125 – 172). Frankfurt: Suhrkamp. Kersting K. (2002). Berufsbildung zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Eine Studie zur moralischen Desensibilisierung. Bern: Huber. Klappenecker G. (2007). Offenheit für die Fülle der Erscheinungen. Otto Friedrich Bollnow und seine Bedeutung für eine phänomenologisch orientierte Religionspädagogik. Stuttgart: Kohlhammer.
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Auf dem Weg zu einer EBNfördernden Haltung Erste Schritte zur Implementierung einer Evidence-basierten Pflegepraxis
Am Klinikum Neumarkt gehört die Umsetzung von Evidence Based Nursing (EBN) zu den Zielbereichen der Praxisentwicklung. Ausgehend von der Annahme, dass der Ausbau einer EBN-fördernden Haltung zu den wesentlichen Voraussetzungen für die erfolgreiche Umsetzung von EBN gehört (Köpke et al., 2013), konzentrierten sich die bisherigen Implementierungsbemühungen vor allem auf die aktive und systematische Information aller Pflegenden über EBN sowie auf die Sensibilisierung für die Bedeutung dieses Konzepts.
Hintergrund Seit 2013 erfolgt am Klinikum Neumarkt die systematische und wissenschaftliche Steuerung bzw. (Weiter-)Entwicklung der Pflege mit dem Ziel der Steigerung der Wirksamkeit der patientenzentrierten Versorgung. Den methodischen Rahmen hierzu bietet das Konzept Praxisentwicklung nach McCormack et al. (2009). Dieser Ansatz zeichnet sich durch eine Kombination unterschiedlicher
Strategien und Methoden aus, mit denen einerseits Veränderungsprozesse in Organisationen partizipativ entwickelt und durchgeführt werden und andererseits die Umsetzung wissenschaftlicher Ergebnisse in die Praxis vorangetrieben wird (Shannon & McCormack, 2014). Mit Blick auf Forschungsergebnisse aus dem deutschsprachigen Raum lässt sich festhalten, dass neben der institutionellen Unterstützung, der Verfügbarkeit von aufbereiteten Forschungsergebnissen und angemessenen Zeitressourcen vor allem auch das Wissen und die persönliche Einstellung der Pflegenden zu EBN Auswirkungen auf die Implementierung haben (Breimaier et al., 2011; Schnittger et al., 2012; Köpke et al., 2013, HaslingerBaumann et al., 2015). Auch wenn sich die verbreitete skeptische Haltung bzw. niedrige Akzeptanz Pflegender gegenüber Forschungswissen bzw. Forschungsanwendung in den letzten Jahren scheinbar tendenziell verbessert (Haslinger-Baumann et al. 2015; Köpke et al., 2013), zeigt sich in der Praxis immer wieder, dass nach wie vor nicht von einem Berufsverständnis ausgegangen werden kann, in dem die Kenntnis des aktuellen Forschungsstandes als wichtiger Teil der professionellen pflegerischen Entscheidungsfindung verinnerlicht ist. Ebenso wenig kann man annehmen, dass ein differenziertes Verständnis der Grundzüge und Bedeutung von EBN sowie der ei-
Tabelle 1. Teilschritte zur Implementierung von EBN am Klinikum Neumarkt (Eberhardt & Krautz 2016) Ein auf die Qualifikationsniveaus abgestimmtes Stufenmodell hinsichtlich Rolle und Aufgaben von Pflegenden bezüglich Pflegeforschung und Forschungsanwendung ist vorhanden und dient als Orientierungsrahmen für das Lehren und Lernen innerhalb hausinterner Bildungsangebote1. Alle Leitungspersonen kennen die Bedeutung und Grundzüge von EBN und vertreten diese im Pflege- und interprofessionellen Team. Alle Leitungspersonen haben eine klare Vorstellung von der Umsetzung von EBN im eigenen Bereich und kennen Ihre Rolle hierbei. Alle Pflegenden kennen ihre Rolle innerhalb von EBN und werden in der Kompetenzentwicklung zur Übernahme der Rolle systematisch gefördert1. Die hemmenden und fördernden Faktoren für die Umsetzung von EBN sind erhoben und die erforderlichen Kontextbedingungen geschaffen. Ein Konzept zur systematischen Umsetzung von EBN liegt vor und leitet das methodische Vorgehen bei der Recherche, Synthese, Bewertung und Aufbereitung von Evidence sowie die Steuerung von Disseminations- und Implementierungsprozessen an. Forschungsergebnisse werden systematisch implementiert bzw. zur Entscheidungsfindung herangezogen.
Siehe ausführlich Eberhardt (2014)
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von Doris Eberhardt und Laura Wild
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genen Rolle innerhalb des Forschungsanwendungsprozesses vorliegt (Meyer et al. 2013; Eberhardt 2014). Wohl wissend, dass aufgrund der spärlichen Datenlage keine Aussagen darüber getroffen werden können, welche Strategien sich nachweislich zur Implementierung von EBN eignen, wird in der Implementierungswissenschaft davon ausgegangen, dass es für die nachhaltige Verankerung einer Evidence-basierten Praxis nicht ausreicht, Bemühungen rein auf die „technischen“ Aspekte von EBN zu beschränken. So reicht z. B. die alleinige Vermittlung von Methodenkompetenzen zur Recherche und kritischen Beurteilung externer Evidence oder auch die Konzentration auf einzelne Akteure nicht aus (Hoben et al. 2016). Vor diesem Hintergrund spiegeln die ersten Schritte der Implementierung von EBN am Klinikum Neumarkt (Tabelle 1) vor allem die aktive und systematische Information aller Pflegeakteure über EBN sowie die Sensibilisierung für die Bedeutung dieses Konzepts wider, mit dem Ziel, die notwendige Haltung für die eigentliche Umsetzung von EBN zu schaffen (Rycroft-Malone et al. 2002, Grol et al. 2013).
denkompetenz zur unmittelbaren Umsetzung von EBN, sondern die Auseinandersetzung mit der Führungsrolle in einer Evidence-basierten Praxis sowie die Entwicklung der hierzu erforderlichen Führungskompetenzen. Im Jahr 2014 absolvierten alle pflegerischen Leitungspersonen dieses eintägige Bildungsangebot. Im Rahmen des seit Anfang des Jahres etablierten internen Leadership- Programms, das u. a. zu einem evidence- und ergebnisorientierten Führungsstil befähigen soll, wird das in der Basisschulung erworbene Wissen der Führungspersonen vertieft und erweitert. Als weitere Schlüsselpersonen wurden Pflegende, deren Rolle stark durch die Weitergabe von Wissen geprägt ist, ermittelt. So wurden Ende 2014 bis Mitte 2015 alle Praxisanleitenden und Hygienebeauf tragten in einer eintägigen Veranstaltung geschult. Die geschulten Personen übernehmen eine Multiplikato renfunktion und unterstützen die Leitungen als wichtige Ressourcenpersonen bei der Verbreitung des Themas EBN. Ebenfalls wurden alle Lehrpersonen der dem Haus angegliederten Berufsfachschule für Krankenpflege geschult.
Strategien Entwicklung eines Stufenmodells 2014 wurde ein Stufenmodell entwickelt, in dem die Rollen und Aufgaben2 von Pflegepraktikern innerhalb der Forschungsanwendung bzw. von EBN qualifikationsbezogen zugeordnet und transparent beschrieben sind (Eberhardt 2014). Dieses diente als Ausgangspunkt und Orientierungsrahmen für die Strukturierung und Umsetzung hausinterner Bildungsangebote. Mit Hilfe des Modells wurde u. a. aufgezeigt, worin die Rolle aller Akteure in der Umsetzung von EBN besteht, so dass sich die gegenwärtigen Pflegepraktiker nicht nur ein Bild von der eigenen Aufgaben machen konnten, sondern auch davon, welche Rollen und Aufgaben akademisch ausgebildete Pflegende übernehmen und wie die künftige Zusammenarbeit in diesem Bereich aussehen wird. Gleichzeitig wurden die Curricula der Grundausbildung sowie der hausinternen Fort- und Weiterbildungsprogramme mit Hilfe des Stufenmodells angepasst.
Zugang zu Wissen Konstitutiv für die Umsetzung von EBN ist der Zugang zu aktuellem Wissen. Bei der Bereitstellung von Wissensquellen wurde sowohl darauf geachtet, akademisch aus gebildeten Pflegepersonen die zur systematischen Evidence-Recherche erforderlichen Quellen zur Verfügung zu stellen als auch darauf, Zugang zu fachpraktischen Zeitschriften und aufbereiteten Forschungsergebnissen zu ermöglichen, um nichtakademisch ausgebildete Pflegepersonen an das Lesen von Fachartikeln heranzuführen und ihre Bereitschaft und ihr Interesse anzuregen, sich eigenverantwortlich und kontinuierlich mit neuem Wissen auseinander zu setzen. So sind am Klinikum Neumarkt sowohl Lizenzen für die Datenbank CINAHL, die Cochrane Library und Volltextzugang zu allen deutschsprachigen, begutachteten pflegewissenschaftlichen Zeitschriften vorhanden als auch Zugang zur Internetplattform FIT-Nursing Care. Des Weiteren erhalten alle Stationen mehrere nichtbegutachtete, pflegepraktische Zeitschriften.
Förderung eines grundlegenden Verständnisses und einer informierter Haltung Die erforderliche Wissens- und Kompetenzerweiterung von Schlüsselpersonen wurde durch die Entwicklung eines spezifisch auf die unterschiedlichen Zielgruppen (Pflegemanagement, -bildung und -praxis) abgestimmten, ein tägigen Bildungsangebots sichergestellt. So wurde beispielsweise die Schulung für Führungspersonen inhaltlich konsequent auf den Führungsauftrag ausgerichtet, der im Zusammenhang mit der Umsetzung von EBN entsteht. Im Vordergrund steht hier weniger der Aufbau von Metho-
Systematischer Einbezug der Führungspersonen in den Disseminationsprozess Unter der Annahme, dass Führungspersonen eine Schlüsselrolle bei der Implementierung von Neuerungen einnehmen, erschien es zentral, die Teamleitungen aktiv an der Dissemination, sprich an der systematischen Information der Teammitglieder über EBN und den Maßnahmen zur Förderung einer proaktiven Haltung zur Umsetzung (Buscher et al. 2016) zu beteiligen. Hierbei wurden die Leitungspersonen (n = 21) inhaltlich und methodisch begleitet. Im Sinne von Leadership (Kouzes & Posner
Das Einnehmen einer wissenschaftlichen Grundhaltung stellt keine Aufgabe im eigentlichen Sinn dar. Da dieser Aspekt sowohl handlungsgleitenden Charakter für die Ausgestaltung der anderen Aufgaben sowie einschneidende didaktische Konsequenzen für die gesamte Aus- bzw. Weiterbildung hat, wurde er bewusst im Stufenmodell aufgenommen.
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2003) sollten die Teamleitungen die hausweite Vision von EBN so kommunizieren, dass die Mitglieder ihrer Pflegeteams 1. wissen, was sich hinter dem Begriff EBN verbirgt. 2. die Bedeutung von EBN für die Pflegepraxis und den -beruf erkennen. 3. verstehen, wer welche Rolle bei der Umsetzung von EBN einnimmt. 4. Interesse und Bereitschaft entwickeln, sich kontinuierlich mit dem Thema EBN auseinanderzusetzen. Die Ziele sollten mit Hilfe von drei aufeinander aufbauenden Schritten (Kasten 1) erreicht werden. Für die Disseminationsaktivitäten wurde ein Zeitraum von vier Monaten angesetzt. Während dieser Zeit fanden mit den Bereichs- und Teamleitungen Reflexionsgespräche über Umsetzungstand, Schwierigkeiten und Unterstützungsbedarf statt. Ca. drei Monate nach Beendigung der Disseminationsphase erfolgte eine formative Evaluation, die nachfolgend beschrieben wird.
Kasten 1: Schritte und methodische Möglichkeiten zur Umsetzung der Arbeitsaufträge Schritt 1: Bewusstsein schaffen, z. B. Problem auf Station oder gelungenes Umsetzungsbeispiel als Aufhänger nutzen Neues Wissen als Aufhänger nutzen (die tägliche Praxis z. B. mit Hilfe einer aktuellen Evidence-Synthese hinterfragen) Eigene Fragen als Aufhänger nutzen (Was tun wir täglich, ohne zu wissen, ob es wirkt?) Schritt 2: Wissen vermitteln, z. B. Kurzinput EBN-Quiz Gemeinsam einen Strukturlegeplan zum Thema EBN erstellen Stufenmodell vorstellen und diskutieren Kurzartikel „Was ist EBN“ zur eigenständigen Vertiefung ausgeben und nachbesprechen Schritt 3: Bereitschaft zur Auseinandersetzung fördern / EBN als obligatorischen Punkt in den Alltag integrieren, z. B. „EBN-Corner“ auf Station einrichten 5-Minuten-Info EBN bei jeder Teambesprechung Studie / Artikel des Monats in Tandems vorstellen lassen Themenbeauftragte In regelmässigen Abständen "One Minute Wonder" (Schmidt & Krüger 2016) installieren
Formative Evaluation3 Zielsetzung Eine wichtige Rolle spielte die formative Evaluation. Sie sollte Erkenntnisse liefern, um weitere Steuerungsentscheidungen im Implementierungsprozess auf eine rationale Grundlage zu stellen (Stockmann 2007). Neben der Rückmeldefunktion für die Teamleitungen, in welchem Ausmass ihre Aktivitäten (Kasten 1) die Teammitglieder erreicht hatten, sollten die Evaluationsergebnisse herangezogen werden, um auf die spezifischen Bedarfe des Teams abgestimmte weitere Schritte im Implementierungsprozess zu entwickeln. Stichprobe und Datenerhebung Die Evaluation erfolgte mit Hilfe einer schriftlichen Be fragung. Eingeschlossen wurden alle bettenführenden Stationen (n = 21)4. Befragt wurden ausschließlich examinierte Pflegepersonen, d. h., ausgeschlossen waren Auszubildende, Organisationsassistentinnen und medizinische Fachangestellte. Da kein deutschsprachiger Fragebogen existierte, der das Evaluationsinteresse gänzlich widerspiegelte, musste ein entsprechender Fragebogen entwickelt werden. Als Vorlage hierzu diente der Fragebogen von Köpke et al. (2013), aus dem einzelne Fragen entnommen und teilweise modifiziert wurden. Dem Evaluationsinteresse ent sprechend wurden weitere Fragen ergänzt. Der Frage bogen wurde sowohl in Experten-Diskussionen auf Augenscheinvalidität als auch durch einen Pre-Test mit Auszubildenden der Gesundheits- und Krankenpflege im 3. Ausbildungsjahr (n = 26) auf Verständlichkeit überprüft. Nachdem die Fragebögen von der jeweiligen Teamleitung auf den Stationen verteilt waren, hatten die Pflegenden vier Wochen Zeit, um den Fragebogen auszufüllen. Die Fragebögen wurden persönlich von den Teilnehmenden in eine verschlossene Box eingeworfen, die von der Forscherin eingesammelt und nur durch sie geöffnet wurde. Datenauswertung Die statistische Auswertung erfolgte mittels SPSS 21. Aufgrund des Vorliegens von Ordinaldaten wurden ausschließlich Häufigkeiten berechnet. Es wurden sowohl Werte für jede einzelne Station als auch ein Gesamtwert errechnet. Die Dateneingabe wurde durch die eingebende Person zwei Mal überprüft. Ethische Aspekte Die Teilnahme an der Befragung war freiwillig. In der Einleitung erfolgte eine schriftliche Aufklärung über die Ziele und Durchführung der Befragung. Um infolge der Ergebnisse stationsspezifische Maßnahmen ergreifen zu können, musste die Zugehörigkeit der Bögen zur jeweiligen Station gekennzeichnet werden. Jedoch wurde die Anony-
Die Durchführung der Evaluation stellt den Beitrag der Zweitautorin dar. Sie erfolgte im Rahmen einer Bachelorarbeit im Studiengang Pflege an der Hochschule München und wurde dort von Frau Prof. Dr. Christine Boldt betreut. 4 Funktionsbereiche wurden ausgeschlossen, da dort (zu diesem Zeitpunkt) keine systematische Verbreitung des Themas EBN vorgesehen war. 3
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Tabelle 2. Ergebnisse (Fragen mit „Voll oder eher zutreffend“ beantwortet) Kenntnisstand der Pflegenden zu EBN Mir ist klar, was Evidence-based Nursing (EBN) bedeutet.
Ich kann den Begriff EBN mit eigenen Worten erklären (z. B. Kollegen, Schülern).
Ich habe eine klare Vorstellung, wie EBN im Pflegealltag umgesetzt werden kann.
87,8 %
76,8 %
42,2 %
66,6 %
44,4 %
0 %
97,4 %
85,2 %
73,5 %
Pflegeforschung ist für die berufliche Praxis relevant.*
Die Pflege sollte ein auf Forschung basierender Beruf werden.
Pflegewissenschaftliche Studien liefern Ergebnisse, die für meine Arbeit hilfreich sind.*
Gesamt
79,1 %
58,3 %
63,7 %
Station A
44,4 %
33,3 %
44,4 %
Station B, C, D
92,6 %
75,7 %
76,4 %
Gesamt Station A Station B, C, D
+
Einschätzung der Relevanz von EBN für die Praxis
Eigenes Rollenverständnis bei der Umsetzung von EBN Mir ist klar, wer (Pflegende mit / ohne Studium) welche Aufgaben in der Umsetzung von EBN übernimmt.
Ich kenne mein Aufgabengebiet bei der künftigen Umsetzung von EBN.
Ich kenne das hausinterne Stufenmodell der Beteiligung von Pflegenden (mit / ohne Studium) an EBN.
An der Umsetzung von EBN sind Pflegekräfte ohne Studium beteiligt.*
Gesamt
50,7 %
87,8 %
52,8 %
42,6 %
Station A
11,1 %
33,3 %
11,1 %
0 %
Station B, C, D
73,8 %
100 %
71,6 %
59,1
Bereitschaft und Interesse, sich mit EBN auseinanderzusetzen Durch die Vorstellung des Themas EBN ist mein Interesse an Forschungsarbeiten geweckt oder vergrößert worden.
Ich nutze regelmäßig den Zugang zu Fit-Nursing Care (Online-Plattform) oder ausliegende Fachzeitschriften, um selbst nachzulesen.
Ich hoffe, dass wir EBN in Zukunft systematisch in unserer Station umsetzen.
Gesamt
51,6 %
44,1 %
70,1 %
Station A
11,1 %
0 %
11,1 %
Station B, C, D
75,7 %
68,7
87,8 %
Förderung von Kompetenz- und Rollenentwicklung in Bezug auf EBN Auf meiner Station wird das Thema EBN regelmäßig zur Sprache gebracht.
Ich weiß, wie ich über den hauseigenen Zugang zu FitNursing Care (Online-Plattform) an aktuelle und aufbereitete pflegewissenschaftliche Erkenntnisse komme.
Ich habe das hausinterne Stufenmodell der Beteiligung von Pflegenden (mit / ohne Studium) an EBN verständlich erklärt bekommen.
Auf meiner Station gehört die gegenseitige Vorstellung von neuem Wissen zum festen Bestandteil des Pflegealltags.
Gesamt
58,3 %
44,5 %
59,8 %
73,3 %
Station A
0 %
0 %
11,1 %
66,7 %
Station B, C, D
97,7 %
70 %
86 %
93,3 %
* Fragen im Originalfragebogen negativ formuliert + Mittelwert der zusammengefassten Ergebnisse der drei PE-Stationen
mität der einzelnen Teammitglieder gewährleistet, indem keine demografischen Daten erhoben wurden. Die Originaldaten wurden nicht an Dritte weitergegeben und nur in aggregierter Form veröffentlicht. Die Ergebnisse der einzelnen Stationen wurden ausschließlich an das jeweils verantwortliche Leitungsteam (Pflegedienst-, Bereichs- und Teamleitung) weitergegeben. PADUA (2017), 12 (1), 15–22
Ergebnisse Insgesamt wurden 388 Fragebögen ausgegeben. Die gesamte Rücklaufquote betrug 65,46 %. (254 Fragebögen). Alle Bögen konnten ausgewertet werden. Der Rücklauf auf den einzelnen Stationen lag zwischen 35,7 % und 100 %. Nachfolgend wird entlang der evaluierten Zielbe©2017 Hogrefe
Schwerpunkt 19
reiche das Gesamtergebnis beschrieben (siehe auch Tabelle 2). Aufgrund der Vielzahl an Daten werden nur die zustimmenden Antworten, und zwar der jeweils für die Frage zusammengerechnete Prozentsatz der Antworten „Trifft voll zu“ und „Trifft eher zu“ ausgewiesen Kenntnisstand der Pflegenden zu EBN Bei der Evaluation des Kenntnisstands hat sich gezeigt, dass fast 90 % der Pflegenden die Bedeutung des Begriffs EBN kennen und mehr als Dreiviertel der Pflegepersonen den Begriff erklären können. Somit kann am Klinikum Neumarkt von einer informierten Haltung der Pflegenden hinsichtlich des EBN-Ansatzes ausgegangen werden. Da sich ein Großteil der Pflegenden zudem in der Lage fühlt, diese Kenntnisse an andere weiterzugeben, bestehen gute Voraussetzungen dafür, dass „unwissende“ bzw. interessierte Personen entsprechend auf geklärt werden können. Von der konkreten Umsetzung in die Praxis hat hingegen weniger als die Hälfte der Pflegenden eine Vorstellung. Mit Blick auf die derzeit noch fehlende gelebte Praxis scheint dies nicht weiter verwunderlich. Einschätzung der Relevanz von EBN für die Praxis Knapp 80 % der Pflegekräfte halten Pflegeforschung für die beruflichen Praxis für relevant. Rund 64 % denken, dass pflegewissenschaftliche Studien hilfreiche Ergebnisse für die Praxis liefern können, wohingegen nur rund 58 % zustimmen, dass Pflege ein auf Forschung basierender Beruf werden sollte. Dass die Hälfte der Befragten ablehnen, dass Pflege ein auf Forschung basierender Beruf werden sollte, wirft angesichts der mehrheitlich eingeschätzten hohen Bedeutung von Forschung Fragen auf. Eine Erklärung hierfür könnte darin liegen, dass ein auf Forschung basierender Beruf mit einer Praxis gleichgesetzt wird, in der nur noch akademisch ausgebildete Pflegepersonen arbeiten dürfen bzw. in der alle Pflegehandlungen auf Forschungswissen basieren müssen und dass derartige Vorstellungen abgelehnt werden. Eigenes Rollenverständnis bei der Umsetzung von EBN In Bezug auf das eigene Rollenverständnis wird ersichtlich, dass sich die Großzahl der Pflegenden (90 %) bewusst ist, dass an der Umsetzung von EBN alle Pflegepersonen beteiligt sind und nicht nur akademisch ausgebildete. Hinsichtlich der Aufgabendifferenzierung zwischen akademisierten und nichtakademisierten Pflegepersonen sowie der eigenen Aufgaben im Zusammenhang mit EBN herrscht hingegen nur bei rund der Hälfte Klarheit. Dies
gilt auch für die Bekanntheit des hausinternen Stufenmodells zur Beteiligung an EBN. In diesem Zusammenhang ist anzumerken, dass laut den Ergebnissen weniger Personen das Stufenmodell kennen, als Personen, die es erklärt bekommen haben. Gemäß der Taxonomie kognitiver Lernziele ist das Verstehen eines Sachverhalts, ohne ihn zu kennen, jedoch nicht möglich (Schewior-Popp 2005). Ohne didaktische Kenntnisse könnte es jedoch schwer fallen, zwischen „kennen“ und „verstehen“ zu unterscheiden. Wurden die Begriffe alltagssprachlich gleichgesetzt, könnten die Ergebnisse bedeuten, dass manche das Stufenmodell zwar erklärt bekommen haben, sich danach aber trotzdem nicht damit „auskannten“. Bereitschaft und Interesse, sich kontinuierlich mit dem Thema EBN auseinanderzusetzen Fast Dreiviertel aller Pflegepersonen hoffen, dass EBN zukünftig systematisch auf ihrer Station umgesetzt wird. Bei knapp über der Hälfte ist durch die Vorstellung des Themas EBN das Interesse an Forschungsanwendung und EBN geweckt oder vergrößert worden. Etwas weniger als die Hälfte nutzen regelmäßig den Zugang zu Fit-Nursing Care oder den ausliegenden Fachzeitschriften. Förderung von Kompetenz- und Rollenentwicklung in Bezug auf EBN Rund 60 % der Pflegepersonen stimmen zu, dass das Thema EBN auf ihrer Station regelmäßig zur Sprache gebracht wird und ihnen das hausinterne Stufenmodell verständlich erklärt wurde. Noch größere Zustimmung findet die Aussage, dass die gegenseitige Vorstellung von neuem Wissen zum festen Bestandteil des Pflegealltags gehört. Allerdings weiß nur knapp die Hälfte, wie sie den Zugang zu Fit-Nursing Care nutzen können, um an pflegewissenschaftliche Erkenntnisse zu gelangen. Sowohl die Ergebnisse als auch der Rücklauf variierten zwischen den einzelnen Stationen mitunter stark. Ohne an dieser Stelle alle Einzelergebnisse aufführen zu können, soll die in Tabelle 2 abgebildete Auswahl die Spannweite zumindest exemplarisch illustrieren. Bei Station A5 handelt es sich um eine Station, in der es aufgrund eines unvorhersehbaren Teamleitungswechsels zu Brüchen in der Wahrnehmung der Schulungsangebote und damit auch in der Umsetzung des oben beschriebenen Arbeitsauftrags kam. Bei den Stationen B, C, D handelt es sich um drei Praxisentwicklungsstationen (PE-Stationen)6, in denen eine besonders intensive und systematische, über die oben beschriebenen Arbeitsaufträge hinausgehende Bearbeitung des Themas EBN stattfand.
Die Stationsbezeichnungen wurden anonymisiert. 2014 wurden am Klinikum Neumarkt nach dem Konzept der „Nursing Development Units“ (Atsalos et al. 2007; Graham 2003) drei PE-Stationen etabliert. Die Pflegeteams der Stationen bewarben sich aktiv um diesen Status, mit dem Ziel, sich explizit zur Weiterentwicklung der Pflegenden und Pflegepraxis durch systematische Methoden zu verpflichten. PE-Stationen müssen definierte Merkmale erfüllen (Schiereck 2000; Draper 1996), so z. B. die Implementierung einer forschungsbezogenen und personenzentrierten Pflegepraxis, die systematische Bewertung der Effektivität und Effizienz der Pflege, den Einsatz akademischer Pflegepersonen und die strukturierte begleitende Kompetenzentwicklung aller Mitglieder des Pflegeteams. Die PE-Stationen sind in die Unternehmensstrategie eingebunden und erhalten von der Führungsebene spezifische Unterstützung zur Zielerreichung.
5 6
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20 Schwerpunkt
Station A Auf Station A wurden 15 Bögen ausgeteilt. Der Rücklauf betrug 60 %. Rund 67 % der Pflegenden ist dort klar, was der Begriff EBN bedeutet. Den Begriff mit eigenen Worten erklären kann weniger als die Hälfte. Eine Vorstellung von der Umsetzung in die Praxis ist dort nicht vorhanden. Dass Pflegeforschung für die berufliche Praxis relevant ist und Studienergebnisse für die eigene Arbeit hilfreich sind, findet weniger als die Hälfte der Pflegepersonen. Die Vorstellung von Pflege als ein auf Forschung basierender Beruf findet sogar nur bei rund einem Drittel der Pflegenden Zustimmung. Lediglich einem Drittel der Pflegenden ist bewusst, dass an der Umsetzung von EBN auch Pflegende ohne Studium beteiligt sind. Fast niemand kennt das hausinterne Stufenmodell und die spezifische Aufgabenbeteiligung von Pflegekräften mit und ohne Studium (11,1 %). Zum eigenen Aufgabengebiet bei der künftigen Umsetzung von EBN herrschen auf Station A keinerlei Vorstellungen. Nur bei einem Bruchteil ist Interesse an Forschungsarbeiten bzw. am Thema EBN vorhanden. So hofft auch nur ein verschwindender Teil auf die systematische Umsetzung (11,1 %). Keiner der Teilnehmenden nutzt regelmäßig den Zugang zu Fit-Nursing Care bzw. die ausliegenden Fachzeitschriften. Dass das Thema EBN regelmäßig zur Sprache gebracht wird, wird ebenfalls von keinem der Teilnehmenden bestätigt. Ebenso verneinen fast alle, das Stufenmodell verständlich erklärt bekommen zu haben (11,1 %). Der Zugang zu Fit-Nursing Care ist auf dieser Station nicht bekannt. Die gegenseitige Vorstellung neuen Wissens gehört hingegen für zwei Drittel der Pflegenden zum festen Bestandteil des Pflegealltags. Station B, C, D Ein völlig anderes Bild zeigt sich auf den PE-Stationen. Auf Station B wurden 15 Bögen verteilt, der Rücklauf betrug 86,67 %. Auf Station C betrug der Rücklauf von 16 ausgeteilten Bögen 93,75 %. Auf Station D kamen von ebenfalls 16 Bögen 81,25 % zurück. Wie sich herausstellte, weisen sowohl die Disseminationsaktivitäten als auch die Ergebnisse auf diesen Stationen so große Ähnlichkeiten auf, dass sie hier zusammengefasst dargestellt werden. Auf den PE-Stationen ist nahezu allen Pflegenden (98 %) die Sinnbedeutung des Begriffs EBN klar und ein Großteil der Pflegenden traut sich auch zu, diesen Begriff mit eigenen Worten zu erklären (85,6 %). Eine Vorstellung bezüglich der Umsetzung von EBN in die Praxis haben fast dreiviertel aller Teilnehmenden. Die Relevanz von Forschungsergebnissen für die Praxis findet nahezu bei allen Zustimmung (92,6 %). Auch finden rund dreiviertel, dass Studien hilfreiche Ergebnisse für die Praxis liefern und Pflege ein auf Forschung basierender Beruf werden sollte. Dass Pflegende ohne Studium an der Umsetzung von EBN beteiligt sind, ist allen Teilnehmenden der PE-Stationen klar. Auch das Stufenmodell ist dort bei knapp dreiviertel der Pflegenden bekannt. Hinsichtlich der Aufgabendifferenzierung zwischen akademisierten und nichtakademisierten Pflegepersonen herrscht bei 71,6 % Klarheit. Eine Vorstellung von den eigenen Aufgaben haben immerhin noch PADUA (2017), 12 (1), 15–22
rund 60 %. Fast 90 % hoffen, dass EBN in Zukunft systematisch in ihrer Station umgesetzt wird. Rund dreiviertel der Pflegenden geben an, dass sich ihr Interesse an Forschungsarbeiten bzw. EBN durch die Vorstellung des Themas auf Station vergrößert hat. 70 % wissen, wie sie über Fit-Nursing Care an aktuelle und aufbereitete pflegewissenschaftliche Erkenntnisse kommen und fast 70 % nutzen diesen Zugang bzw. die Fachzeitschriften regelmäßig. Ebenfalls wird ersichtlich, dass in den PE-Stationen das Thema EBN bzw. die gegenseitige Vorstellung neuen Wissens zum festen Bestandteil des Pflegealltags gehört (97,7 % bzw. 93,3 %). Fast ebenso viele bestätigen, das hausinterne Stufenmodell verständlich erklärt bekommen zu haben (86 %).
Verwertung der Evaluationsergebnisse Die Befragungsergebnisse wurden gemeinsam mit den Leitungspersonen im Rahmen einer Klausurtagung reflektiert. Hierfür erhielt jede Leitungsperson im Vorfeld sowohl die Ergebnisse der eigenen Station bzw. des eigenen Bereichs als auch das Gesamtergebnis mit der Bitte, sich auf die Klausurtagung wie folgt vorzubereiten: • „Bitte sehen Sie sich das Ergebnis Ihrer Abteilung an und machen Sie sich bis zur Klausurtagung zu folgenden Fragen Gedanken: • Mit welchen Punkten sind Sie zufrieden, mit welchen unzufrieden? • Stimmen die Ergebnisse mit Ihrer eigenen Einschätzung überein? • Welches Ergebnis überrascht Sie, was hätten Sie nicht erwartet? Wie erklären Sie sich die unerwarteten Ergebnisse? • Was bedeuten die Ergebnisse für Sie als Leitung?“ Diese persönliche Vorbereitung bildete die Grundlage für die gemeinsame Bearbeitung der Ergebnisse an der Klausurtagung. Dort bekamen die Teamleitungen den Auftrag, sich bereichsweise zusammenzufinden und gemeinsam mit der verantwortlichen Bereichsleitung eine Bilanz über die Erreichung der Zielsetzung des Arbeitsauftrags zu EBN zu erstellen. Neben der Bewertung, inwiefern die Ziele erreicht wurden, ging es auch darum, den eigenen Beitrag als Führungsperson zu hinterfragen und zu würdigen sowie hemmende und fördernde Faktoren in der Umsetzung des Arbeitsauftrags zu ermitteln. Im Anschluss erstellte jeder Bereich eine Präsentation zum Stand der Zielerreichung und sollte dabei Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Stationen eines Bereichs herausstellen. Ebenfalls sollten die aus dem Austausch hervorgegangenen zentralen Erkenntnisse mitgeteilt werden. Die Zielsetzung hierbei bestand darin, sowohl Erreichtes zu würdigen als auch die noch anstehenden Herausforderungen aufzuzeigen. Das Sichtbarmachen der unterschiedlichen Erfahrungen und Einsichten ermöglichte den Beteiligten, voneinander zu lernen. Danach formulierten die Teamleitungen stationsspezifische Jahresziele für die Umsetzung ©2017 Hogrefe
Schwerpunkt 21
von EBN, die als verbindlicher Ausgangspunkt für die weiteren Bemühungen dienten. Im letzten Schritt wurde gemeinsam die Vorstellung der Ergebnisse im Team vorbereitet. Durch die Diskussion mit den Teammitgliedern konnten Fragen oder auch Widersprüche geklärt und damit ein besseres Verständnis der quantitativen Daten erreicht werden. Die hierbei gewonnenen Erkenntnisse flossen sowohl in die weitere Maßnahmenplanung als auch in die Optimierung des Fragebogens ein.
Fazit und Ausblick In allen Stationen findet sich ein Trend, der – wenn auch mehr oder weniger ausgeprägt – Stärken in folgenden Bereichen erkennen lässt: • Wissen über die Sinnbedeutung des Begriffs EBN • Bewusstsein darüber, dass Forschung für die Positionierung und Entwicklung des Pflegeberufs relevant ist • Erkenntnis, dass die Umsetzung nicht nur von akademisch ausgebildeten Pflegenden durchgeführt wird, sondern dass alle Pflegepersonen aktiv mitwirken • Interesse an der künftigen systematischen Umsetzung von EBN Das größte Verbesserungspotential zeichnet sich demgegenüber bei diesen Aspekten ab: • Wissen über die konkrete Umsetzung von EBN • Kenntnis darüber, wer welche Aufgaben bei der Umsetzung von EBN übernimmt • Überzeugung, dass Forschung einen Nutzen für den eigenen Arbeitsalltag bringt • Bereitschaft bzw. Wunsch, sich selbstständig mit neuem Wissen auseinanderzusetzen Wie sich in der Diskussion mit den Teamleitungen zeigte, ist es schwierig, die Wissenslücken in Bezug auf die konkrete Umsetzung ohne gelungene Praxisbeispiele vor Ort zu schließen. Dasselbe gilt für die Auflösung der Skepsis hinsichtlich der Relevanz von Forschung für den eigenen Arbeitsalltag. Ob es derzeit sinnvoll ist, die Dissemination in diesen Bereichen aktiv voranzutreiben, ist daher zu hinterfragen. Immerhin ist es möglich, dass sich diese Schwierigkeiten spätestens dann, wenn EBN-Projekte zum festen Bestandteil in der Einrichtung gehören, von selbst auflösen oder zumindest um einiges leichter auflösen lassen. Zum jetzigen Zeitpunkt mit Hilfe des Rollenmodells aktiv(er) an der Schärfung des Rollenverständnisses in Bezug auf EBN zu arbeiten, erscheint hingegen sinnvoll. Denn es ist davon auszugehen, dass mit dem besseren Verständnis von der eigenen Rolle und der Aufgabenverteilung auch das Bild von der Umsetzung klarer wird. Ob die eher zurückhaltende Nutzung der vorhandenen Zugangsmöglichkeiten zu aktuellem Wissen der geringen Bereitschaft bzw. dem fehlenden Wunsch geschuldet ist, sich selbstständig mit neuem Wissen auseinanderzusetzen oder der unzureichenden Aufklärung über die Zugangsmöglichkeiten, lässt sich auf Basis der Daten nicht
sagen. Angesichts der Tatsache, dass die Hälfte aller Befragten offenbar nicht weiß, dass bzw. wie sie auf Fit Nursing Care zugreifen kann, sollte die Aufklärung über den Zugang zu den am Arbeitsplatz vorhandenen Wissensquellen unbedingt nachgeholt werden. Auch wenn der deskriptive Evaluationsansatz keine Aussage über die Wirksamkeit der gewählten Strategien erlaubt, geben die deutlichen Unterschiede zwischen Station A und den PE-Stationen einen Hinweis auf den Nutzen systematischer Informations- und Sensibilisierungsmaßnahmen für die Entwicklung einer EBN-fördernden Haltung. Der für die Anwendung von Forschungsergebnissen vielfach als fördernd ausgewiesene Faktor der institutionellen Unterstützung (Meijers et al. 2006; Breimaier et al., 2011; Köpke et al. 2013, Haslinger-Baumann et al. 2015) steht in Einklang mit den eigenen Ergebnissen. Offen bleibt, wie sich das hiesige Pflegepersonal in Bezug auf eine EBN-fördernde Haltung von Pflegepersonen anderer Einrichtungen unterscheidet. Aufgrund der uneinheitlichen Erhebungsinstrumente erscheint der Vergleich der eigenen und der Ergebnisse bereits vorliegender Untersuchungen wenig sinnvoll. Dieses Erkenntnisinteresse musste gewissermaßen dem Evaluationsinteresse weichen. Der wohl größte Gewinn der durchgeführten Evaluation liegt in der Möglichkeit einer spezifischen Planung bzw. Umsetzung weiterer Disseminations- und Implementierungsaktivitäten. Dass beispielsweise für die Praxisentwicklungsstationen (Station B, C, D) derzeit andere Maßnahmen im Vordergrund stehen als für Station A, liegt auf der Hand. Da Zahlen zwar Defizite aufdecken, jedoch keine Erklärungen liefern können, kann sich der Nutzen der Evaluation nur durch die aktive Weiterarbeit mit den Ergebnissen entfalten. Das Hinterfragen von Einflussfaktoren auf die Ergebnisse aus Sicht der Beteiligten trägt nicht nur zur Partizipation der Akteure am Implementierungsprozess und zur Ableitung bedarfsgerechter Maßnahmen bei, sondern schafft Raum für die identitätsbildende Auseinandersetzung der Pflegeteams mit bestehenden Strukturen, beruflichen Anforderungen und individuellen Zielen. Der systematische Einbezug der Teamleitungen in den Disseminationsprozess und die befähigende Begleitung hierbei stellen unserer Erfahrung nach unverzichtbare Elemente für die Implementierung einer Evidence-basierten Pflegepraxis dar.
Literatur Atsalos C., O'Brien L., Jackson D. (2007). Against the odds: experiences of nurse leaders in Clinical Development Units (Nursing) in Australia. Journal of Advanced Nursing, 58, 6: 576 – 584. Breimaier H., Halfens R., Lohrmann C. (2011) Nurses´ wishes, knowlegde, attitudes and perceived barriers on implementing research findings into practice among graduate nurses in Austria. Journal of clinical nursing, 20, 11 – 12: 1744 – 1756. Buscher I., Roes M., Hoben M. (2016). Gegenstandsbereich der pflegewissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Disseminations- und Implementierungsprozessen in Deutschland: Konzeptionelle Formung der Sektion Dissemination und Im-
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plementierung (SDI) in der Deutschen Gesellschaft für Pflegewissenschaft (DGP). In Hoben M., Bär M., Wahl HW. (Hrsg.) Implementierungswissenschaft für Pflege und Gerontologie. Grundlagen, Forschung und Anwendung – Ein Handbuch (387 – 400). Stuttgart: Kohlhammer. Eberhardt D. (2014). Der Blick für das Wesentliche. Pflegepraktiker zu Akteuren einer Evidence-basierten Praxis ausbilden. In PADUA 9, 4: 213 – 221. Draper J. (1996). Nursing development units: an opportunity for evaluation. In Journal of Advanced Nursing, 23: 267 – 271. Graham I. (2003). Leading the development of nursing within a Nursing Development Unit: The perspectives of leadership by the team leader and a professor of nursing. In International Journal of Nursing Practice, 9: 213 – 222. Grol R, Wensing M., Eccles M. (2013). Improving patient care: the implementation of change in health care. 2. Aufl. Edinburgh: Elsevier. Haslinger-Baumann E., Lang G., Müller G. (2015). Einfluss und Zusammenhang von Einstellung, Verfügbarkeit und institutioneller Unterstützung auf die Anwendung von Forschungsergebnissen in der pflegerischen Praxis. Pflege, 28, 3: 145 – 155. Hoben M. (2016). Einführung. In Hoben M., Bär M., Wahl HW. (Hrsg.) Implementierungswissenschaft für Pflege und Gerontologie. Grundlagen, Forschung und Anwendung – Ein Handbuch (13 – 21). Stuttgart: Kohlhammer. Köpke S., Koch F., Behncke A., Balzer K.(2013). Einstellungen Pflegender in deutschen Krankenhäusern zu einer evidenzbasierten Pflegepraxis. Pflege, 26, 3: 163 – 175. Kouzes J. M., Posner B. Z. (2003). Leadership Practices Inventory: Facilitator's Guide. 3. ed. San Francisco: Pfeiffer. McCormack B., Manley K., Garbett R. (2009). (Hrsg.) Praxisentwicklung in der Pflege. Bern: Hans Huber. Meijers J., Janssen M., Cummings G., Wallin L., Estabrooks C., Halfens R. (2006). Assessing the relationships between contextual factors und research utilization in nursing: systematic literature review. Journal of Advanced Nursing, 55, 5: 622 – 634. Meyer G., Balzer K., Köpke S. (2013). Evidenzbasierte Pflegepraxis–Diskussionsbeitrag zum Status quo. Zeitschrift für Evidenz, Fortbildung und Qualität im Gesundheitswesen (ZEFQ) 107: 30 – 35. Rycroft-Malone J. (2009). Implementierung von Erkenntnissen aus wissenschaftlichen Untersuchungen: Evidenz, Kontext und Begleitung – der PARIHS – Bezugsrahmen. McCormack B., Manley K., Garbett R. (Hrsg.) Praxisentwicklung in der Pflege. Bern: Hans Huber.
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Garbett R. (Hrsg.) Praxisentwicklung in der Pflege. Bern: Hans Huber. Schewior-Popp S. (2013). Lernsituationen planen und gestalten. Stuttgart: Thieme. Schiereck S. (2000). Soziale Interaktion zwischen Pflegekräften und PatientInnen. Eine empirische Studie innerhalb einer Nursing Development Unit in England. In Pflege, 13: 234 – 241. Schmidt, B., Krüger, L. (2016). Lernen in nur einer Minute. In Intensiv, 24, 5: 258 – 259. Schnittger T., Hilgefort M., Hauken T. (2012). Status quo des Evidence-based Nursing: „Interesse, Wissen und Bereitschaft für den Wissenschaftstransfer der Pflegefachkräfte in drei deutschen Kliniken“. Pflegewissenschaft, 14, 3: 140 – 150. Shannon M., McCormack B. (2014). Practice Development – ein Konzept zur Entwicklung der beruflichen Pflegepraxis in Irland. In Tewes, R., Stockinger A. (Hrsg.) Personalentwicklung in Pflege- und Gesundheitseinrichtungen (165 – 178). Berlin: Springer. Stockmann R. (2007). Einführung in die Evaluation. In Stockmann, R. (Hrsg.) Handbuch zur Evaluation. Eine praktische Handlungsanleitung (24 – 70). Münster: Waxmann.
Doris Eberhardt Doris Eberhardt, Gesundheits- und Pflegewissenschaftlerin M.Sc., Diplom-Pflegepädagogin (FH), Theaterpädagogin BuT, Stabstelle Praxisentwicklung Pflege am Klinikum Neumarkt / Opf. doriseberhardt@web.de
Laura Wild Laura Wild, Gesundheits- und Kinderkrankenpflegerin Pflege (B. S.), derzeit ausbildungs integrierendes Studium der Physiotherapie
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Wissen weitergeben
Marianne Rabe
Ethik in der Pflegeausbildung Beiträge zur Theorie und Didaktik 2008. 336 S., 2 Abb., 7 Tab., Kt € 49,95 / CHF 68.00 ISBN 978-3-456-84665-1 Auch als eBook erhältlich
Ethik ist trotz aller Betonung ihrer Wichtigkeit in der Ausbildung ein Randthema geblieben. Marianne Rabe stellt die Themen Ethik und ethische Reflexion in den Mittelpunkt pflegerischer Praxis und Bildungsarbeit. Ihre Studie • leistet einen Beitrag zur theoretischen Klärung in der Ethik, wobei nach einer Kritik rationalistischer Ansätze ein phänomenologisch-anthropologischer Bezugsrahmen vorgestellt wird • weist theoretische Grundlagen bildenden Lernens auf und geht der Frage ihrer Umsetzbarkeit nach
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• macht konkrete curriculare Vorschläge zur Vermittlung von Ethik in der Pflegeausbildung • zeigt, wie die ethischen Prinzipien Würde, Autonomie, Fürsorge, Gerechtigkeit, Verantwortung und Dialog im Rahmen eines Unterrichtskonzepts bearbeitet werden können • stellt ein eigenes Modell zur ethischen Reflexion von selbst erlebten Situationen vor.
Professionelle Pflegepädagogik
Alexander Renkl (Hrsg.)
Lehrbuch Pädagogische Psychologie 2008. 479 S., 37 Abb., 35 Tab., Gb € 64,95 / CHF 89.00 ISBN 978-3-456-84462-6 Auch als eBook erhältlich
Das „Lehrbuch der Pädagogischen Psychologie“ behandelt die wichtigsten Fragen der Psychologie zur Erziehung, zum Lehren und Lernen. Das vorliegende Buch: • Vermittelt einen umfassenden Überblick über pädagogisch-psychologische Themen, der weit über das Themenfeld der Schule hinausgeht. • enthält fachlich fundierte Beiträge von ausgewiesenen Experten, die die wissenschaftlichen Erkenntnisse kompetent darstellen, zugleich aber deren praktische Umsetzung im Blick halten.
www.hogrefe.com
• deckt alle Themen ab, die aktuell und in absehbarer Zukunft von hoher gesellschaftlicher und damit auch beruflicher Relevanz sind, wie etwa die Unterrichtsqualität an Schulen (Stichwort: PISA), die Erwachsenenbildung oder das Lernen mit neuen Medien. • richtet sich an die Studierenden der Psychologie und der erziehungswissenschaftlichen Studiengänge. Darüber hinaus können aber auch Personen, die im Bildungsbereich, also in Schule, Hochschule oder Erwachsenenbildung tätig sind von der Lektüre profitieren.
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Bitte nur an- und zupacken, mehr wollen wir nicht! Pflegehistorische Lehr- und Lerninhalte in der Ausbildung von Pflegefachhelfern in Bayern
Schüler / innen in der Pflegefachhilfe zeigen Interesse an Teamarbeit, Selbstreflexion und Meinungsbildung, wenn sie aktiv an pflegehistorischen Themen arbeiten dürfen. Für die Entwicklung einer beruflichen Identität benötigt diese Zielgruppe Unterstützung und darf in den Veränderungsprozessen der Pflege nicht vergessen werden. Anstatt anhaltend kognitiven Wissenserwerbs sind bei diesen Auszubildenden mit häufig negativer Schulbiografie besonders ressourcenstärkende und emotionale Lernprozesse anzustoßen.
Hintergrund und Fragestellung Der „Helferberuf “ wurde in Deutschland zeitweise als Gefahr durch eine Entwicklung hin zu einer „minderwertigen“ Pflege angesehen (Hackmann, 1991). Im Zusammenhang mit einem Skill- und Grademix, sowie aufgrund e ines Mangels an Fachpersonal, wird ein Ausbau des Assistenzberufes im Pflegebereich aktuell verstärkt diskutiert. Für diese Zielgruppe sind pflegehistorische Lehr- und Lerninhalte in Lehrbüchern nur marginal abgehandelt. Sechzig Unterrichtsstunden sind in den Lehrplanrichtlinien in Bayern für „Berufliches Selbstverständnis entwickeln“ (KM, 2007, S. 11) vorgegeben. Die Schüler / innen sollen „in Grundzügen die Entwicklung der pflegerischen Berufe kennen“. Im Schulalltag haben historische Lehr- und Lerninhalte in der Pflegefachhilfe jedoch einen geringen Stellenwert. Michael Bossle weist darauf hin, dass dringender Bedarf besteht, „einen Diskurs zur Identitätsarbeit in Pflegebildungssettings anzustoßen“ (Bossle, 2015, S. 112).
Hier darf die Gruppe der Pflegehelfer / innen nicht vergessen werden und Lehr- und Lerninhalte sind darauf auszurichten. Auch diese Pflegenden müssen sich positionieren, eine eigene Meinung entwickeln und diese kommunizieren können. Im Sinne einer advokatorischen Ethik ist das äußerst bedeutsam, da diese Pflegenden auch in Zukunft diejenigen sein werden, die kontinuierlich in Kontakt mit Patienten stehen. Im Schulalltag wird eine Priorität in der Vermittlung von praktischen Fertigkeiten gesetzt. Dadurch wird als Ziel angestrebt, die Lernenden möglichst schnell auf den Stationen einsetzen zu können. „Die Ausbildung von Helfern darf nicht als Strategie zur Kompensation von Pflegefachkräften dienen“ (Sahmel, 2015, S. 119) und zu einer Verlagerung oder verantwortlichen Übernahme von Handlungen führen, die von den Helfer / innen nicht ausgeführt werden kann. Das Ziel darf nicht sein, durch schnelles „Anlernen“ Zuarbeiter einer „Pflegeindustrie“1 zu gewinnen, um in ausgefeilten und zeitsparenden Arbeitsabläufen funktionierende Arbeiter / innen einsetzen zu können. Nicht zu begrenzen, sondern zu unterstützen, ist die Entwicklung einer multiperspektivischen Denkweise. Sabine Muths und Ingrid Darmann-Finck beschreiben „Schlüsselprobleme in der Selbst- und Fremdeinschätzung im Assistenzberuf “ 2. Es wurde ein Mangel an Selbstbewusstsein, bzw. Geringschätzung des eigenen Vermögens und Erleben von Abwertung durch Andere, z. B. auf Grund einer Zuordnung gering geschätzter Aufgaben, formuliert. Ebenso wurde die Entwicklung von Omnipotenzphantasien und Selbst überschätzung festgestellt. Ein weiteres Ergebnis aus diesem wissenschaftlich begleiteten Modellversuch zeigt auf, dass häufig Aufgaben übertragen werden, die das Leistungsvermögen dieser Schüler / innen übersteigen (Muths, Darmann Finck, 2013, S. 13).
Roland Brühe verwendet am 10.12.2014 in seiner Antrittsvorlesung zum Professor „Crisis der Pflegepädagogik“ am Fachbereich Gesundheitswesen der Katholischen Hochschule NRW diesen Ausdruck: „Mit der Orientierung an einem Kompetenzverständnis, das durch süßen Honig verdeckt die Vermessbarkeit und Verwertbarkeit des Menschen im Rahmen wirtschaftlicher Interessen verfolgt, wird sich die Pflegepädagogik zur Assistentin einer sogenannten Pflegeindustrie machen“ vgl. http://kidoks.bsz-bw.de/frontdoor/index/index/docId/408. Zugriff 01.6.2015 2 Schlüsselproblem: Selbst- und Fremdeinschätzung im Assistenzberuf: Sabine Muths und Ingrid Darmann Finck (2013) begleiteten von 2012 bis 2014 in der Freien und Hansestadt Bremen eine zweijährige Ausbildung in Gesundheits- und Krankenpflegehilfe mit dem Ziel, Aufgaben von Pflegeassistent / innen im Rahmen abgestufter Qualifikationen zu beschreiben. Ergebnisse wurden mittels einer Sektorenanalyse, Fallstudien und Experten-Facharbeiter-Workshops erzielt. 1
©2017 Hogrefe PADUA (2017), 12 (1), 25–31 DOI 10.1024/1861-6186/a000352
Schwerpunkt
von Elisabeth Bauermann
26 Schwerpunkt
Diese Probleme dürfen nicht dazu führen, eine neue „Fragmentierung der Pflege“3 herbeizuführen, indem in der Pflege den Helfer / innen die „Arbeit des Handelns“ und den Fachkräften „die Arbeit des Denkens“ zugeschrieben wird. Vielmehr sind Pädagogen / innen aufgefordert, in diesen Bereichen Lernangebote zu entwickeln und die Auszubildenden in Beobachtungs- und Kommunikationsfähigkeit zu schulen. Die Lehrenden sind aufgerufen, angehende Pflegefachhelfer / innen in ihrem Selbstverständnis und ihrer (Meinungs-)Bildung zu begleiten. Würde in der Pflegegeschichte nicht mit Zahlen, Daten und Fakten, sondern der Genealogie4 der Pflege gearbeitet, würde anstelle einer häufig beobachtbaren kognitiven Überforderung das Interesse der Auszubildenden für Zusammenhänge gefördert und positive Lernerfahrung ermöglicht werden. Lehrende in der Pflege sollten ferner einen D iskurs darüber führen, in wie weit Ansätze im Bereich „Kritischen Denkens“5 in der Pflegeausbildung (Eberhardt, 2015, S. 281) bereits in der Pflegefachhilfe eingeübt werden sollten (Bensch, 2015, S. 304). Im Verantwortungsbereich der Pflegefachhelfer / innen liegt die „Durchführungsverantwortung“ in den ihnen übertragenen Aufgaben. Dafür sollte Urteils fähigkeit gezielt angebahnt werden (Muths, Darmann Finck, 2013, S. 14). Diese Kompetenz ist nötig, um unterscheiden zu können, ob die / der Pflegefachhelfer / in eine Pflegefachkraft in der Patientenversorgung hinzu ziehen muss, um eine fachgerechte Versorgung leisten zu können. Vor diesem Hintergrund stellen sich die Fragen, wie mit pflegehistorischen Lehr- und Lerninhalten in Form eines Projektes im Besonderen an diesen „Schlüsselproblemen in der Selbst- und Fremdeinschätzung“ gearbeitet werden kann und welche Themenbereiche diesbezüglich zu empfehlen sind.
Theoretische Bezüge Folgende Zugänge führten zu der Erkenntnis, dass auch wissenschaftlich fundierte Quellen in der Pflegefachhelfer / innenausbildung zu verwenden sind. Die hier aufgeführten Perspektiven untermauern die Bedeutung der Begleitung der Schüler / innen auf dem Weg zu einer eigenen Positionierung: Bildungstheoretische Perspektive: Nach Wolfgang Klafki sind „Selbstbestimmung, Mitbestimmung und Solidaritätsfähigkeit“ (Klafki, 1996, S. 19) anzustreben. Als Pflegende, die patientennah arbeiten, ist die Beobachtungs- und Kommunikationsfähigkeit der
Pflegefachhelfer / innen für die verantwortlichen Fachkräfte bedeutsam. Lehr- und Lerntheoretische Perspektive: Im Hamburger Modell von Wolfgang Schulz (Schulz, 2011, S. 43) wird die „Erfolgskontrolle“ als wichtiger Punkt dargelegt. Der Schülerevaluation wird ein hoher Stellenwert gegeben, um so auch an den aufgeführten „Schlüsselproblemen“ arbeiten können. Nicht nur „quantitative“ (= kenntnisorientierte), sondern auch „qualitative“ (= erkenntnisorientierte) Wissensvermittlung ist nötig, um erworbenes Wissen in andere Zusammenhänge zu transformieren (Landwehr, 2001, S. 10). Erstere führt häufig in der angebotenen Fülle zu einer Überforderung der Schüler / innen in der Pflegefachhilfe. Um eine Entwicklung und Veränderung des beruflichen Selbstverständnisses zu erreichen, bedarf es einer qualitativen Wissensvermittlung (Eberhardt, 2009, S. 20). Durch einen theatralischen Zugang lernen die Auszubildenden auf emotionale Art. Das mit einer Defiziterfahrung verbundene kognitive Aneignen von Wissen tritt zeitweise in den Hintergrund. Ferner unterstützt diese Herangehensweise die Entwicklung einer Teamfähigkeit, welche nicht vermittelt werden kann, sondern „erlernbar“ ist (Eberhardt, 2005, S. 270). Die Schüler / innen erfahren, dass sie in der Lage sind, die gestellten Aufgaben auszuführen. Diese „Selbstwirksamkeit“ (Bandura, 1997) ist für weitere Lernerfolge von großer Bedeutung. Pflegedidaktische Perspektive: „Meinungsorientierung“ (Darmann-Finck, 2009) ist auch für diese Zielgruppe wichtig. Es bedarf hier einer aufmerksamen Begleitung der Lernenden, um Impulse geben zu können und um eigenes Denken zu fördern (Peschel, 2006, S. 82). Kulturphilosophische Perspektive: Georg Simmel beschreibt ein „Allokationsapriori“ (Witsch, 2008, S. 19 – 24). Jeder Einzelne in seiner Individualität kann, soll und muss einen Beitrag zum gesellschaftlichen Ganzen sein. In diesem Miteinander ist es wichtig, dass diese Lernenden um ihre Ressourcen und ihren Kompetenzbereich wissen, damit eine konstruktive Zusammenarbeit im gemeinsamen Pflegeprozess möglich wird. Geschichts- und Pflegegeschichtsdidaktische Perspektive: Horst Rüller empfiehlt „möglichst immer Anknüpfungspunkte zwischen historischen oder gegenwärtigen Sachverhalten zur Erlebniswelt der Auszubildenden in einem Gegenwartsbezug zu suchen“ (Rüller, 2007, S. 32 – 34). Ein
„Fragmentierung der Pflege. Umbrüche pflegerischen Handelns in den 1960er Jahren: Susanne Kreutzer (2010) zeigt auf, dass vor den 1950er Jahren von einer Einheit in Leibes- und Seelenpflege gesprochen werden konnte und welche tiefgreifenden Folgen in den 1960er Jahren durch eine Fragmentierung der Pflege entstanden. 4 Genealogien sind kritische Anfragen an gegenwärtige Selbstverständnisse auf der Grundlage historischer Gewordenheit (Saar 2007) 5 „Thinking about your thinking while you are thinking, in order to improve your thinking“ (Paul & Heaslip 1995). Dies bedeutet sinngemäß „Denke darüber nach, was Du denkst während du denkst mit dem Ziel, dein Denken zu vervollkommnen”. 3
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wechselnder Zugang von „Geschichtlichkeit“ und „Gesellschaftlichkeit“ (Pandel, 2013, S. 131 – 137) unterstützt die Fähigkeit zu vernetztem Denken. Dies ist eine Grundlage für ein Verständnis der Patientensituation und komplexer Arbeitsabläufe. Mathilde Hackmann beschreibt eine Motivationssteigerung bei den Lernenden, wenn regionale Ereignisse bearbeitet werden (Hackmann, 2010, S. 36). In der durchgeführten Projektarbeit war auch wichtig, den Teilnehmenden wiederholt zu verdeutlichen, dass „Fehler“ nicht zu belächeln sind oder negative Konsequenzen nach sich ziehen. Vielmehr wurden vermeintliche Defizite als Entwicklungschancen aufgegriffen. Die Arbeitsweise sollte nicht auf Reproduktion basieren bzw. Konkurrenz erzeugen (Reusser, 1995, S. 164 – 190). Die individuelle Kreativität ist gefordert und zu fördern.
Methodik Um auch die Frage nach der Notwendigkeit von pflegehistorischen Lehr- und Lerninhalten zu beantworten und vor allem mögliche Lehr- und Lerninhalte zu benennen, wurden in einem ersten Schritt Expertenmeinungen mittels Mailanschreiben (Hartmut Remmes, Margaret Mc Allister, Mathilde Hackmann) eingeholt. Mit Elisabeth Linseisen, Anja Peters, Andrea Thiekötter, Anne Kellner und praktizierenden Schulleitungen in der Pflegefachhilfe (Ulrike Hanke, Christine Kräher) wurden leitfadengestützte Interviews (Flick, 2009; Meuser & Nagel, 2009) durchgeführt. In einem zweiten Schritt waren die Ergebnisse aus diesen Interviews bezüglich sinnhafter Lehr- und Lerninhalte grundlegend für die Entwicklung eines Themenpools (vgl. Abb. 1).
Die oben aufgeführten verschiedenen Perspektiven waren wichtig für den nachfolgenden Arbeitsschritt. Mit 19 Auszubildenden in der Pflegefachhilfe am Berufsbildungszentrum in Ingolstadt wurde das Projekt „Pflege – Gestern – Heute – Morgen“ geplant, durchgeführt und ein Teilergebnis öffentlich vorgestellt. Besuche der Gedenkstätte Schloss Hartheim / Linz und den Geschichtswelten 2013 in Dresden führten zu Erkenntnissen und Erfahrungen, die in diese Projektarbeit einflossen.
Ergebnisse Expertenbefragung Pflegehistorische Themen sind nach Meinung der befragten Experten für die Entwicklung eines Identitätsbewusstseins der Pflegefachhelfer / innen von großer Bedeutung. Es sollten grundlegende pflegehistorische Kenntnisse und die Thematisierung der Pflege als Frauenberuf unterrichtet werden. So hebt Anne Kellner die Wichtigkeit einer Wahrnehmungsschulung von kleinen Verletzungen der Würde des Menschen und einer Entwicklung von sprachlicher Sensibilität hervor. Sie beschreibt die Pflegefach helfer / innen als „Experten für Würde im Alter“ (Kellner, 2014). Nach Meinung der befragten Personen sind die Entwicklungen in Ausbildung, im Beruf, in der Lebensführung, der Technisierung, der caritativen Pflege und die Pflege im 20.Jahrhundert zu thematisieren. Anja Peters beschreibt die Wichtigkeit von „Role Models für die Auxiliary Nurse“ (Peters, 2014). Fächerübergreifende Angebote, sowie eine Reduktion des Inhalts hinsichtlich der Ein-
Aufgaben von Stations- und Hilfsschwestern Pflege männlicher Kranken durch barmherzige Schwestern KH Stettin 1922 (Hähner-Rombach, 2011) 1901 (Hähner-Rombach, 2011) 1. IdentitätsPflegeausbildung in BRD Hauspflegeverein: 1950 bis 1960´. Krankenschwester und Hausfrau (Matron, 2013) bewusstsein & DDR (Thiekötter, 2006) Krankenpflege, Alltag der Gemeindeschwester 1952 (Hähner-Rombach, 2011) Pflege von Sterbenden zu Hause Hospital & KH Arzt und Krankenschwester 1918 (Hähner-Rombach, 2011) (Nolte, 2006) (Seidler, 1966) Ärzte benötigen GeBerufliche Pflege & Stellung des Vorsorge in der ambulanten Pflege – Mehr als Hygiene & hilfinnen (Rüller,2007) Beratung (Hackmann, 2011) Personals (Fürstler, 2013)
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Ordnung Straßburger Spital 1466 (HähnerRombach, 2011)
2. Historische Entwicklungen
Machtstrukturen in der stationären Krankenpflege um 1900 in Regensburg (Blessing, 2006)
3. Pflege ein Frauenberuf!?
Hilfspflegerinnenverband – Ein neuer Frauenberuf (Hähner-Rombach, 2011)
4. Historische Gestalten & Role Models 5. Regionale Pflegegeschichte 6. Ethisches & biografisches Arbeiten
Barmherzige Schwestern (Rüller, 2008)
Kaiserswerther Diakonissen (Atzl & Weidert, 2011)
Frauen in der Krankenpflege (Bischoff, 1997)
Schwester Margarethe Josephson – Eine Hilfsschwester in ihrer beruflichen Karriere (Kolling, 2011)
Agnes Karll (Rüller, 2008)
Schwester Maria Wery (Kolling, 2011)
Soldatenversorgung im 1.Weltkrieg in Ingolstadt - Who Cares Ausstellung (Ruisinger, 2014) Zwangssterilisationen (Angerstorfer & Dengg, 1999)
7. Kriegskrankenpflege & Pflege im Nationalsozialismus
Die westdeutsche „Freiwillige Krankenpflege“ im kalten Krieg (Braselmann, 2014)
Henry Dunant und das rote Kreuz (Wolf & Wolf, 2011)
Beteiligung von Krankenschwestern an den Verbrechen gegen die Menschlichkeit (Steppe, 2013)
Gesetz zur Ordnung der Krankenpflege 1938, Hähner-Rombach, 2011) Gedenkstätte Hartheim & Franz Sitter (Bossle & Zauner-Leitner, 2013)
Abbildung 1. Themenpool ©2017 Hogrefe PADUA (2017), 12 (1), 25–31
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Abbildung 2. Schülerinnen erstellen im Team ein Poster (Quelle: Thiekötter, 2006)
satzgebiete der Auszubildenden sind zu beachten. Für die methodische Arbeit werden Projektunterricht und forschendes Lernen empfohlen. Projekt „Pflege – Gestern – Heute – Morgen“ Gestartet wurde mit einer Führung in der Ausstellung „Who cares?“ (Atzl, 2011) im Medizinisch Historischen Museum in Ingolstadt. Es folgten eine Bilderpräsentation über die Pflegeausbildung im 20.Jahrhundert und ein kurzer Lehrvortrag über Florence Nightingale. Anschließend durften die Schüler / innen ihren Themenbereich auswählen. Nach der Thesis von Jürgen Göndör „Hier lerne ich was ich will!“ (Göndör, 2013) wird auf die Lerninteressen und -bedürfnisse der Auszubildende verstärkt eingegangen.6 In einer ersten Projektphase reduzierte jede / r Schüler / in in Einzelarbeit die vorgelegte kurze Textpassage auf eine DIN A 4 Seite. In einer zweiten Einheit erfolgte ein Austausch im Zweierteam. Die Lernenden einigten sich auf wesentliche Aussagen und fixierten diese auf einem Poster. Sie erarbeiteten ein 3 – 5 minütiges Rollenspiel und stellten dieses ihren Mitschüler / innen vor. Als Lehrende gestaltete ich passend zu den von den Lernenden ausgewählten Themen Kurzvorträge zu folgenden Lehr- und Lerninhalten: „Doppelte Professionalisierung“ (Oevermann, 1996), „Normenfalle & Selbstsorge“ (Kellner, 2011), „Pflegekompetenz“ (Olbrich, 2010), „Professionalisierung“ (Bartholomeyczik, 2010), „Fragmentierung der Pflege“ (Kreutzer, 2010), „Heimatverlust der Pflege“ (Axmacher, 1991) und „Professionelle Beziehungsgestal-
Reflexion der Schüler / innen Die Schüler / innen meldeten persönlich bereichernde Erkenntnisse zurück, wie z. B. „Ich habe festgestellt, dass man im Team besser und schneller arbeiten kann!“ Es wurde die Erfahrung gemacht, dass „eigene Ideen wichtig und zu gebrauchen sind“. Unterstützend haben die Auszubildenden die interessanten Quellen und die vielen Bilder erlebt. Auf die Frage, wie weitere Lernfortschritte möglich sein könnten, antworteten fünf Schüler / innen: „Öfters
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tung“ (Remmers, 2010). Die Kernaussagen dieser wissenschaftlich fundierten Texte, reduziert auf eine Powerpointfolie, wurden jeweils im Anschluss an eine Präsentation der Lernenden in Bezug zu der von ihnen dargestellten Historie gesetzt und im Klassenverband diskutiert. Mit Hilfe von Fragebögen evaluierten die Schüler / innen ihren inhaltlichen und auch methodischen Lernerfolg. Im Einzelgespräch mit der Lehrkraft bildeten diese Reflexionen zusammen mit Fotomaterial aus der Projektphase einen Einstieg in das persönliche Evaluationsgespräch. Auf einem Bewertungsbogen, der vor Beginn der Projektarbeit den Auszubildenden erläutert worden ist, wurde der Leistungsnachweis dokumentiert. Den Projektabschluss bildete der „Tag der offenen Tür“ an der Berufsfachschule. Hier wurden den Besucher / innen die gefilmten Sequenzen der Rollenspiele vorgestellt.
Abbildung 3. Szenische Darstellung einer Informationsweitergabe im Rahmen einer Zwangssterilisation (Quelle: Angerstorfer & Dengg, 1999)
Die von den Schüler / innen ausgewählten Lehr- und Lerninhalten sind in der Abbildung 1 fett gedruckt und punktiert hinterlegt.
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Abbildung 4. Szenische Darstellung: Mutter bringt ihrer Tochter im Krankenhaus Lebensmittel (Quelle: Blessing, 2006)
vor der Klasse etwas vortragen!“ Von Bedeutung war für die Lernenden auch, sich für Patienten einzusetzen, wenn diese Handicaps hätten oder in irgendeiner Weise benachteiligt wären. Der Themenbereich „Pflege zur Zeit des Nationalsozialismus“ sollte nach Schülermeinung noch mehr Raum einnehmen7.
Diskussion Chancen in der Vermittlung Die gemeinsame Ausgestaltung der Unterrichtsinhalte mit den Lernenden motivierte und bestärkte die angehenden Pflegefachhelfer / innen, sich mit ihrer Berufsgruppe auseinander zu setzen oder, wenn möglich, sich weiter als Pflegefachkraft zu qualifizieren. Dieses Projekt zeigte, dass sich mit pädagogischer Begleitung auch Lernende mit eher negativen Schulerfahrungen an komplexe Inhalte heranwagten, Bestätigungen in ihren erbrachten Leistungen erfahren und Neugierde für neues Wissen entwickeln konnten. Weitere Fragen stellten sich den Lernenden im Zusammenhang mit individuellen, biografischen Erlebnissen ihrer Patienten im nationalsozialistischen Regime im Deutschland. Dies kann in der patientennahen Tätigkeit der Pflegefachhelfer / innen positiv zur Beziehungsgestaltung beitragen. Die Auszubildenden erfahren sich e iner Gruppe Pflegender zugehörig, die eine lange Geschichte hat (Margaret Mc Allister, 2013). Die durchwegs positiven Evaluationsergebnisse der Schüler / innen weisen auf eine Ernsthaftigkeit und Zufriedenheit im Lernprozess hin. In einer Studie der DAK / Leuphana Universität Lüneburg „Was hält Lehrer gesund?“ (2011) wurden „unaufmerksame oder wenig motivierte Schüler, Probleme mit der Disziplin und eine zu geringe Lernbereitschaft der
Schülerinnen und Schüler“ (ebd., S. 3) als sehr belastend für Lehrende angeführt. Diese Verhaltensweisen konnten in dem vorgestellten Geschichtsprojekt nicht festgestellt werden. Im Gegenteil: Ein großes Interesse und eine wachsende Fähigkeit zu selbstaktivem Arbeiten der Lernenden waren zu beobachten. Problemstellen Vor Projektstart bedarf es eines erhöhten Zeitaufwand in der Vorbereitung. Nach Möglichkeit sind längere Unterrichtseinheiten für eine Projektdurchführung einzuplanen. Die interessenorientierten Lehr- und Lerninhalte, sowie die ressourcenorientierten Evaluationen führten zu einer entspannten Lernatmosphäre. Bei den Schüler / innen war nun darauf zu achten, die vereinbarten Zeitfenster ernst zu nehmen. Bei mangelndem Zeitmanagement wurden klar formulierte Konsequenzen aufgezeigt.
Handlungsempfehlungen für die Vermittlung pflegehistorischer Lehrund Lerninhalte Ein kontinuierlicher Wechsel von „Geschichtlichkeit“ und „Gesellschaftlichkeit“ (Pandel, 2013), d. h. „Pflege Einst“ und „Pflege Jetzt“ ist zu empfehlen. Eine Variation der Präsentierenden, Lernenden und Lehrenden, wirkt kurzweilig und beziehungsförderlich bei allen Projektmitarbeitenden. Von Bedeutung ist, den Schwerpunkt auf die bereits erwähnte „qualitative Wissensvermittlung“ zu legen. Anstatt die Schüler / innen mit kognitiven, auswendig zu lernendem Wissen zu überfordern, ist ein kreativer und spielerischer Zugang im gemeinsamen Arbeitsprozess anzustreben. Die pädagogische Begleitung des Lehrenden nimmt einen wichtigen Stellenwert ein.
Fazit und Ausblick Auch in Europa sind Zusammenhänge zwischen der Entwicklung einer Berufsidentität Pflegender und der Ausprägung von Resilienz und der Verweildauer im Beruf zu untersuchen (vgl. Mc Allister / Loewe, 2013b). In diesen Forschungen sind PflegefachhelferInnen ebenfalls zu berücksichtigen. Im Zusammenhang mit diesen identitätsstiftenden pflegehistorischen Lehr- und Lerninhalten der Schüler / innen sind konkrete „Tätigkeitskataloge“8 für den Assistenzberuf mit den Einrichtungsleitungen zu erstellen. Gefordert wird dies von der European Federation of Nurses Associations. In einem Positionspapier wird eine „Klare Formulierung der Abgrenzung der Verantwortlichkeiten zwischen Pflege-
Pflege im Nationalsozialismus: Im folgenden Jahr erweiterte ich den Themenpool mit Literatur von Clemens Cording (2000). Dieser regionale Zugang zur Pflegegeschichte wurde von den Auszubildenden sehr gerne aufgegriffen. 8 Bereits 1959 war in einem Bericht der WHO im Rahmen internationaler Diskussionen um Hilfskräfte der Krankenpflege zu lesen: „Für alle Gruppen der Krankenpflege ist es wichtig, daß zuerst einmal die Funktionen (oder Tätigkeitsmerkmale) aufgezeigt werden. Welche Funktionen übt die Schwester aus? Welche Funktionen können auch von Hilfskräften wirksam ausgeübt werden?“ (Elster, 2013, S. 181). 7
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fachperson und einer Health Care Assistent“ (EFN, 2015) beschrieben. In dem hier vorgestellten, pflegehistorischen Geschichtsprojekt beindruckten die Lernenden in ihrer Begeisterungsfähigkeit und Freude an Teamarbeit, sowie mit ihrem Interesse für die geschichtliche Entwicklung ihres gewählten Berufes. Entscheidend ist eine bedürfnisorientierte Themenauswahl der Schüler / innen. Ihr Interesse ist zu nutzen. „Der unersättlichen Neugier, die den Jugendlichen dazu treibt, alles zu verschlingen“ (Rogers, 1974, S. 7) kann hier begegnet werden. So wird das Werk „zum Vermittler zwischen Ich und Du, nicht indem es einen fertigen Gehalt von dem einen auf das andere überträgt, sondern indem sich an der Tätigkeit des einen die des anderen entzündet“ (Cassirer, 1994, S. 111). Diese Arbeit mit pflegehistorischen Lehr- und Lerninhalten mit einem hohen Anteil von Selbsttätigkeit unterstützt die Entwicklung von (beruflicher) Identität und Sozialkompetenz. Durch die erfahrene Selbstwirksamkeit kann eine vertrauensbildende Haltung für die eigene Zukunft entwickelt und den aufgeführten Schlüsselproblemen von Pflegefachhelfer / innen begegnet werden. Den positiven Erfahrungen im Rollenspiel können sich weitere Unterrichtseinheiten mit Szenischem Spiel anschließen, um „an und mit (individuellen) Haltungen einerseits und (gesellschaftlich geprägten) Habitusformen andererseits“ (Oelke, 2009, S. 2) zu arbeiten. Das Berufsbild und der Aufgabenbereich von „Pflegefachhelfer / innen“ müssen konkretisiert werden. Für junge Menschen sollte diese Ausbildung erstrebenswert und eine Verweildauer im Pflegebereich möglich sein.
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Elisabeth Bauermann Krankenschwester, Lehrerin für Pflegeberufe, Pflegepädagogin (B. A.) Dozentin am Berufsbildungswerk Ingolstadt im Bereich Pflege- und Hebammenausbildung. Mitarbeiterin im Projekt „Aus- und Weiterbildung von Pflegekräften und Gesundheitsberufen im bayerisch-tschechischen Grenzraum“ der Technischen Hochschule Deggendorf in Bad Kötzing elisabeth.bauermann@web.de
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Das altruistische Hirn
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Maja Storch Storch
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Machen Sie doch, was Sie wollen!
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Machen Sie doch, was Sie wollen! Wie ein Strudelwurm den Weg zu Zufriedenheit und Freiheit zeigt 2., unveränderte Auflage
Machen Sie doch, was Sie wollen!
Maja Storch, Dr. phil., ist Diplompsychologin, Psychodramatherapeutin und Jungsche Psychoanalytikerin. Sie arbeitet als Projektleiterin von ZRM research an der Universität Zürich. Sie ist Inhaberin des Instituts für Selbstmanagement und Motivation Zürich (ISMZ GmbH), eines Spin-off der Universität Zürich (www.ismz.ch). Sie lebt in Süddeutschland.
Wie ein Strudelwurm den Weg zu Zufriedenheit und Freiheit zeigt 2., unveränd. Aufl. 2016. 136 S., Kt € 17,95 / CHF 24.50 ISBN 978-3-456-85659-9 Auch als eBook erhältlich
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2. A.
Sind wir Menschen aufgrund natürlicher Evolution gute und sozial kompetente Wesen? Welche Rolle spielen Gesetz und Religion für „gutes Verhalten“? Was verleitet einen Menschen zu einer Handlung, deren einziger Zweck darin besteht, „gut“ zu sein?
Michael Rufer / Heike Alsleben / Angela Weiss
Stärker als die Angst
Ein Ratgeber für Menschen mit Angst- und Panikstörungen und deren Angehörige 2., erg. und korr. Aufl. 2016. 160 S., 18 Abb., 5 Tab., Kt € 19,95 / CHF 26.90 ISBN 978-3-456-85610-0 Auch als eBook erhältlich
Durch ihre langjährige Erfahrung in der Beratung und Therapie von Menschen mit Angsterkrankungen und deren Angehörigen sind die Autoren bestens mit deren Problemen vertraut. In diesem Buch haben sie ihr Wissen in allgemein verständlicher Form anschaulich zusammengefasst. Der Ratgeber eignet sich optimal zur Selbsthilfe oder begleitend zu einer laufenden Behandlung.
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Wie Sie mit einem kleinen Wurm herausfinden, was Sie wirklich wollen, und wie Sie mit dieser Fähigkeit frei und zufrieden werden. Machen Sie eigentlich das, was Sie wollen? Wissen Sie überhaupt, was Sie wollen? Falls nicht, sind Sie damit nicht allein.
Peg Dawson / Richard Guare
Schlau, aber ...
Kindern helfen, ihre Fähigkeiten zu entwickeln durch Stärkung der Exekutivfunktionen Mit praktischen Tipps und Übungen 2., unveränd. Aufl. 2016. 376 S., Kt € 29,95 / CHF 39.90 ISBN 978-3-456-85680-3
Ihre Tochter oder Ihr Sohn hat immer wieder Schwierigkeiten mit den alltäglichen Aufgaben wie Zimmer aufräumen oder Hausaufgaben erledigen? Auch Enttäuschungen und Ärger bringen Ihr Kind schneller aus dem Gleichgewicht als andere Kinder? Dann liegt es vielleicht daran, dass seine Exekutivfunktionen nicht genug entwickelt sind.
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Ich sehe was, was Du nicht siehst Ein Theaterprojekt zur ästhetischen Erforschung pflegerischer Wirklichkeiten
Im Sinne gelingender Identitätsentwicklung stehen Pflegelernende vor der Aufgabe, sich die soziale Praxis der Pflege individuell verändernd an zueignen. Nachfolgend wird geschildert, wie Pflegepädagogik-Studierende der TH Deggendorf ästhetisch forschend der Frage nach pflegerischen, kollektiven Praktiken, Denkmustern und Werthaltungen nachgingen, die in diesem identitätsbildenden Wechselspiel zum Tragen kommen. In der dreimonatigen Arbeitsphase entstand die Inszenierung „Ich sehe was, was Du nicht siehst“, die im Rahmen eines Symposiums der Hochschule präsentiert wurde.
Einleitung
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Wer wir sind, was uns ausmacht, wie wir sein wollen / können und was wir werden, ist neben der biografischen Frage auch eine, die sich Professionen und Disziplinen stellen. Auch für die Pflegewissenschaft und die Pflegepädagogik gilt deswegen, dass sich solche Koordinaten aus Herkunft, dem
derzeitigen Zustand der Disziplin / Profession und davon abzuleitenden Zukunftsperspektiven bestimmen lassen müssen (Bossle 2012). Für eine aus traditionell beruflichen Strukturen gewachsene Profession wird aus diesem Grund eine spezifische Analyse notwendig, die in der Lage ist, sich und ihre handelnden Akteure unter die Lupe zu nehmen. Ein konkretes Ziel für die Pflegepädagogik ist damit herauszufinden, wie und unter welchen Bedingungen eine zeitgemäße Justierung und Bildung unter Berücksichtigung der Diversität von Bildungskarrieren gelingen kann. Die Frage nach Identität ist daher eine wesentliche und unverzichtbare. Es geht dabei nicht allein um Nabelschau, sondern darum, unter der Kenntnisnahme der inhomogenen disziplinären Ausgangslage auch interdisziplinäre Zusammenarbeit voran zu bringen und bestenfalls gelingen zu lassen. Dass der beruflichen Bildungssozialisation der Pflegenden in Bezug auf professionelle Identität eine (noch) besonders prominente Bedeutung zukommt, zeigen verschiedene Befunde: • Berufliche Identität und berufliches Engagement hängen eng mit der Entwicklung beruflicher Handlungskompetenz zusammen. Sie sind Voraussetzung für qualitativ hochwertiges, verantwortliches berufliches Handeln und letztlich auch für eine erfolgreiche Ausbildung sowie den langfristigen Verbleib im Beruf (Fischer 2013). • Noch immer sind traditionelle Endpunkte einer beruflichen Sozialisation (Pflegeexamen) bestimmende Faktoren einer beruflichen Identität, pflegewissenschaftliche Bestimmungen sind hierzu noch kaum wirksam (Gerlach 2013). • Weiterhin sind Zusammenhänge zwischen Geschichtsverständnis und Resilienz (und damit tendenziell steigender Berufszufriedenheit) festzuhalten (Mc Allister et al. 2013). Identität ist jedoch nicht unmittelbar gegeben. Sie ist vom Individuum selbst zu konstruieren. Im Zentrum der Identitätskonstruktion steht die kontinuierliche Selbstbefragung. Die Antwort auf die Identitätsfrage wird durch die E inschätzung der Erwartungen an die eigene Person in Auseinandersetzung mit der Einschätzung der eigenen Fähigkeiten, Motive, Einstellungen, Meinungen, kognitiven Stile, emotionalen Verhaltensweisen, Stimmungen usw. gefunden (Oerter & Montada 1998). Identitäten werden also in einem Wechselspiel von bestehenden sozialen
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von Doris Eberhardt, Elisabeth Bauermann, Birgit Krakhofer, Beatrice Landschulze, Carina Loibl, Mirka Rauch, Stefan Schiewietz, Sabine Wurzer und Michael Bossle
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zess verläuft idealtypisch in fünf Phasen (Kämpf-Jansen 2000, Matzke 2012; Leuschner 2012):
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Phase 1: Thema und Frage(n) finden Ästhetische Forschung bedarf einer konkreten – noch besser individuell bedeutsamen – Frage, die als Motivator dient, etwas zu bearbeiten und es für sich selbst und andere sichtbar, erfahrbar und begreifbar zu machen. Dabei kann alles, z. B. Menschen, Dinge, Orte, Gedanken, Befindlichkeiten oder Situationen, zum Gegenstand und Anlass ästhetischen Forschens werden.
Strukturen und verändernder Aneignung gebildet und transportieren sowohl Reaktionen auf Vorgegebenes wie auch selbstgestaltete Definitionen (Liebsch 2016). Allerdings denken wir über vermeintlich Vorgegebenes umso weniger (bewusst) nach, je länger wir Teil dieser Strukturen sind. Demnach spielt das kontinuierliche Hinterfragen von tradierten Gewissheiten und Routinen in der pflegerischen Identitätsarbeit eine wichtige Rolle (vgl. auch Hülsken-Giesler & Böhnke 2007). Die nachfolgende Schilderung zeigt eindrücklich, welchen Beitrag ästhetische Forschungsprozesse hierzu leisten können.
Zum Ansatz der ästhetischen Forschung
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Ästhetische Forschung bezeichnet einen ergebnisoffenen, performativen Prozess, in dem Forschungsfragen mit Hilfe von Alltagswissen bzw. vorwissenschaftlichen Herangehensweisen, wissenschaftlich orientierten Methoden bzw. Forschungsmethoden sowie ästhetischen bzw. künstlerisch-praktischen Mitteln nachgegangen wird (Domkowsky 2013; Matzke 2012; Kämpf-Jansen 2000). Dieser Pro-
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Phase 2: Forschen, Sammeln, Erfahren In dieser Phase geht es darum, mittels Wissenschaft, Alltagserfahrung und ästhetischer Praxis Material, Informationen und Erfahrungen zu sammeln. Charakteristisch für diese Phase ist, dass fortlaufend experimentiert, wieder verworfen, umgedacht und weiterentwickelt wird. Die Produkte, die hierbei entstehen, können, müssen aber nicht (alle) in die Entwicklung und Gestaltung der Präsentation einfließen. Die Wissenschaft stellt Methoden des Recherchierens, Erhebens, Befragens, Analysierens Beobachtens, Dokumentierens usw. zur Verfügung. Im Sinne des explorativen Charakters ästhetisch forschender Prozesse scheinen vor allem offene bzw. unstrukturierte Methoden, ähnlich dem qualitativen Forschungsparadigma, angemessen zu sein, um sich Wissen über den Forschungsgegenstand anzueignen. Auch Alltagserfahrungen und -wissen tragen dazu bei, Antworten auf die Forschungsfrage(n)zu finden. Einen weiteren wichtigen methodischen Rahmen für die Exploration des Untersuchungsgegenstands stellen aktuelle Kunstkonzepte und künstlerische Strategien dar. Wird – wie im hier beschriebenen Projekt – mit den Mitteln der darstellenden Kunst geforscht, sind vor allem performative und experimentelle Theaterformen zu nennen, da sich diese in besonderer Weise für die Entdeckung neuer Blickwinkel im Gegensatz zu unseren gewohnten Denk- und Wahrnehmungsweisen eignen. Auch die produktive Auseinandersetzung des Zuschauers mit einem Thema, wird durch performative Theaterformen gefördert, da die bewusst geschaffenen Lücken Denkräume freisetzen. Auf diese Weise entstehen produktive Irritationsprozesse, wie sie für Differenzerfahrung typisch sind (Grissmer 2006). Phase 3: Material aufbereiten Die gefundenen Antwortmöglichkeiten werden nun ästhetisch-künstlerisch aufbereitet und verdichtet. Dabei gilt es sowohl dem künstlerischem Anspruch als auch der Wertschätzung bzw. Ermöglichung individueller Lernerfolge Rechnung zu tragen. Um für das gesammelte Material innovative Präsentationsformen zu finden, werden unterschiedliche Arrangements erprobt, die Form der Präsentation festgelegt und diese weiter entwickelt und verfeinert. Der Arbeitsprozess in einem solchen ästhetischen „Labor“ bzw. in einer solchen ästhetischen „Werkstatt“ ist performativ und ergebnisoffen, d. h. bis zum Schluss immer wieder Entscheidungen unterworfen. ©2017 Hogrefe
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lektiven, selbstverständlichen Handlungspraktiken, Denkmustern und Werthaltungen in der Pflegepraxis nachgegangen werden. Dieser Forschungsgegenstand wurde mit folgenden Forschungsfragen konkretisiert: • Welche Handlungen oder Vorgehensweisen sind typisch für die Pflege? • Welche ungeschriebenen Gesetze und Regeln herrschen in der Pflegepraxis vor? • Welche Handlungen in der Pflege haben Ritualcharakter? • Wie erleben Auszubildende den Einstieg in diese für sie neue „Lebenswelt“ bzw. „Berufskultur“ und auf welche Art und Weise gehen sie mit der Diskrepanz zwischen den an sie herangetragenen Erwartungen, Normen, Anforderungen und der gelebten Realität um?
Forschen, Sammeln, Erfahren Phase 4: Präsentieren Ziel dieser Phase ist die Gestaltung einer angemessenen Präsentation der Forschungsergebnisse. Neben der entsprechenden Präsentationsform ist hierfür auch ein Präsentationsrahmen erforderlich, der die Wertschätzung der geleisteten Arbeit ermöglicht. Die Präsentation e rhält zudem Bedeutung, da die Akteure hierbei das aus den individuellen Konstrukten entstandene ästhetische Produkt als Ganzes wahrnehmen können. Darüber hinaus kommunizieren sie es nach außen und erleben dessen Wirkung auf den Zuschauer. Gerade diese beiden Aspekte spielen in ästhetischen Bildungsprozessen eine wichtige Rolle für das Erleben von Selbstwirksamkeit (Kraft & Eberhardt 2014). Trotzdem ist der Erfolg des Forschungsprojektes nicht nur von der Präsentation abhängig, sondern gleichermaßen von subjektiven Lernerfahrungen und -erfolgen während des Arbeitsprozesses. Phase 5: Reflektieren Nach der Präsentation erfolgt die Reflexion des gesamten Forschungsprozesses sowie des Ergebnisses. Denn erst im gemeinsamen Austausch wird das Erlebte zur Lernerfahrung, die wiederum in die Ausgestaltung künftiger Forschungsprojekte aber auch in den (Berufs)alltag einfließen kann. Um die subjektive Perspektive der Forschenden zu erweitern, kann der Einbezug des Publikums in die Re flexion erfolgen, z. B. in Form eines Publikumsgesprächs, mit Hilfe von Fragebögen, Kurzinterviews oder einer Wandzeitung, auf der die Zuschauer nach der Präsentation ihre Gedanken, offen gebliebene Fragen o. ä. vermerken können.
Ästhetisches Forschen am Beispiel eines Theaterlabors Thema und Frage(n) finden Ausgehend von den eingangs angestellten Überlegungen sollte mit Hilfe des ästhetischen Forschungsprozesses kol-
Auseinandersetzung mit zeitgenössischen experimentellen Theaterformen Ebenso wie Forschende über Wissen zu Forschungsmethoden verfügen müssen, setzt ästhetisches Forschen die Auseinandersetzung mit Formen und Praktiken gegenwärtiger Kunst voraus (Matzke 2012). So galt es, die Studierenden zu Beginn des Projekts mit zeitgenössischen experimentellen Theaterformen vertraut zu machen, bevor der Einstieg in den ästhetischen Forschungsprozess erfolgte. Mit Hilfe verschiedener Übungen und theoretischen Inputs wurde sie angeleitet, das eigene Theaterverständnis zu hinterfragen und zu erweitern. Zu hören ist ein dumpfer regelmäßiger Ton. Der Raum wird mit einem mechanischen Rhythmus erfüllt – rhythmisch wie der eigene Pulsschlag. Eine Studierende springt Seil. Sonst nichts. Sie springt weiter Seil. Ohne besonderen Gesichtsausdruck, aber ihre Gesichtsmuskeln spannen sich immer mehr an. Wir sind irritiert und neugierig. Die Studierende wird immer schneller und schneller, endet abrupt und lässt die Arme und den Kopf mit einem tiefen Seufzer sinken. Alle warten auf die Auflösung: „Was war das für eine Szene?“ Mit dieser Übung (Pfeiffer & List 2009) wurde beispielsweise erlebbar gemacht, wie sich performative Theaterformen vom klassischen Schauspiel unterscheidet. Der Ausgangspunkt für diese Demonstration war der Auftrag für die Studierende, einfach so lange wie möglich Seil zu springen. Im Gegensatz hierzu erhielt vorher eine andere Studierende den Auftrag, wie ein kleines Mädchen Seil zu springen. Der Rest der Gruppe sollte – ohne die beiden Aufträge zu kennen – beschreiben, was die jeweiligen Szenen der eigenen Meinung nach darstellen sollten. Während bei der ersten Szene sofort die Figur des spielendes Mädchens erkannt wurde, führte die oben beschriebene Szene zu unterschiedlichen Assoziationen: z. B. der Ausdruck von Bedrohung, einer von Rhythmik geprägten Lebenswelt oder einer Leistungsgesellschaft. Auf diese Weise konnte verdeutlicht werden, dass performatives Handeln Wirklichkeit immer erst hervorbringt, d. h. im Handeln selbst Realität geschaffen wird. „Das Performative des künstlerischen Aktes ist das, was durch
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Performance-Kunst und Postdramatisches Theater Performance-Kunst stellt eine Form aus dem riesigen Feld der Aktionskunst dar. Sting (2008) versteht unter Performance „eine Kunstpraxis, die das Reale des Augenblicks dem konventionellen Kunstgedanken von Werk und Illusion entgegen stellt“. In der Schnittstelle mit darstellender Kunst ist performatives Handeln durch das folgende Selbstverständnis gekennzeichnet (Pfeiffer & List 2009, 197 f.): • Handlungen werden real durchgeführt • Performances arbeiten mit Widerständen und Leerstellen • Die Performance geht vom Künstler-Subjekt aus • Handlungen weisen über sich hinaus
Kasten 1: Beispiel für die Exploration des Themas mit Hilfe einer Fragenkette Geben Patienten ihre Würde an der Pforte ab? Warum ist der Medikamentenschrank nach dem Sortieren genauso unsortiert wie vorher? Darf Pflege bunt sein? Wie können wir dem Tag mehr Stunden geben? Was soll ein Schüler können? Warum wird im 7. Stock der Vorhang beim Waschen zugezogen? Ist eine Ganzkörperwaschung wichtiger als ein Gespräch? Steht der Mensch im Mittelpunkt? Ist Krankenpflege anspruchsvoller als Altenpflege? Hast Du Zeit für einen Dementen? Was erfüllt uns im Beruf? Ist Pflege ein Frauenberuf? Pflegst Du nur andere oder auch Dich? Bleiben die Seelen der Toten im Heim? Ist Pflege Geldmacherei mit Bedürftigen? Warum tut Pflege so gut? Welchen Stellenwert haben Schüler? Was kostet ein Gespräch? Sind Prophylaxen effektiv? Ist die Anrede „Schwester“ zeitgemäß? Brauchen wir eine Pflegekammer? Ist der Pflegenotstand schon da? Bist Du berufen für die Pflege? Warum müssen alle Patienten bis 8 Uhr gewaschen sein? Warum heißt das „Hanserl“ „Hanserl“? Wie wirkt sich Pflege auf mein Karma aus? Wieso müssen Schüler Nachtkästchen putzen? Warum muss man im Krankenhaus für den Fernseher zahlen?
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den gemeinsamen Prozess zwischen Performer und Zuschauer entsteht“ (Matzke 2012).
Diese Kunstform bezieht alle Arten künstlerischer Ausdrucksmittel (z. B. Tanz, Bewegung, Musik, Theater, Literatur, neue Medien, Rauminstallation) ein (Grissmer 2006). Als experimentelles „Crossover“ künstlerischer Techniken und Methoden ist performatives Arbeiten aus dem Erscheinungsbild des Gegenwartstheaters nicht mehr wegzudenken (Lange 2006). So fließt das Selbstverständnis von Performance größtenteils auch in das postdramatische Theater ein (Sting 2008). Dies wird deutlich, wenn man dessen markanteste Stilzüge betrachtet (Wenzel 2008; Pfeiffer & List 2009; Lehmann 2011): • Es gibt keine fortlaufende Handlung, sondern Einzelfragmente, Blitzlichter, Facetten, kleine Geschichten werden collagenhaft dargestellt. • Reales tritt gleichberechtigt neben die Illusion, d. h. die Illusion einer fiktiven Welt wird nicht um jeden Preis aufrechterhalten, sondern Alltagshandlungen werden gezeigt bzw. Reales wird inszeniert, wobei bewusst nicht offen gelegt wird, was Realität und was Fiktion ist. • Die Darsteller spielen mit verschiedenen (Selbst-)Entwürfen, Zuständen, Verhaltensweisen, so dass zwar Rollenfragmente durchscheinen, es jedoch keine festen Rollen oder durchgängigen Figuren im traditionellen Sinne gibt. • Szenen oder Aktionen werden nicht nacheinander ins Zentrum gerückt, stattdessen erscheinen Texte, Geräusche, Handlungen usw. gleichzeitig oder überlappend. • Auch werden keine klaren Bedeutungen vorgegeben, sondern durch Multiperspektivität, Widersprüche, Brüche, Verfremdung usw. bewusst Leerstellen gesetzt, die der Zuschauer aktiv mit subjektiver Bedeutung füllen muss. Es ist nachvollziehbar, dass zeitgenössische experimentelle Theaterformen die Sehgewohnheiten vieler Zuschauer irritieren (Thielicke 2014). Der Mensch ist einerseits überfordert, alles gleichzeitig wahrzunehmen und andererseits gefordert, nicht alles sehen und verstehen zu wollen, sich einzulassen auf Mehrdeutigkeit und eigene Interpretationen zu entwickeln. Es erfolgt die Umwandlung des Kunstaktes auf den Betrachter. Anstatt passiven Konsumierens bedeutet Zuschauen in postdramatischen Inszenierungen freies und aktives Konstruie-
Diese Technik stammt aus einem Seminar an der Akademie Remscheid, das von Dr. Peggy Mädler geleitet wurde.
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Kasten 2 : Interviewleitfaden Welche Begriffe bringen Sie mit Pflege in Verbindung? (10 Begriffe aufschreiben lassen) Was (Handlungen, Vorgehensweisen, Ausdrucksweisen, Umgangsweisen) kam Ihnen bei Ihrem ersten Praxiseinsatz befremdlich oder seltsam vor? An was mussten Sie sich erst gewöhnen? Welche ungeschriebenen Gesetze und unausgesprochenen Regeln haben Sie schon nach kurzer Zeit gelernt? Bei welchen Situationen hatten Sie am Anfang Befürchtungen bzw. Bedenken? Wie sind Sie damit umgegangen? Haben Sie ein Vorbild (in der Pflege)? Beschreiben Sie bitte diese Person. Womit sind Sie unzufrieden? Worüber ärgern Sie sich? Was war in Ihren Augen das Unsinnigste / Unverständlichste, das je von Ihnen in der Praxis verlangt wurde? Definieren Sie bitte mit eigenen Worten „Empathie“, „Autonomie“, „professionell“.
ren. Das Theaterereignis entzieht sich somit auch einer objektiven Beschreibung, da es für jeden einzelnen Beteiligten eine Erfahrung darstellt, die nicht mit der Erfahrung anderer deckungsgleich ist. Der Zuschauer erfährt, wie sehr es auch von ihm selbst abhängt, was er erlebt (Lehmann 2011). Selbstredend setzt diese Formen deshalb eine andere Zuschaukunst als das klassische Theater voraus. Insofern sollte bei der Planung der Präsentation bewusst entschieden werden, welches Maß an „produktiver Irritation“ dem Zielpublikum zugemutet werden soll, sprich ob vor der Präsentation eine Einführung in die Theaterform erfolgt oder nicht. Exploration des Forschungsgegenstands mit Hilfe von Alltagswissen und künstlerisch-praktischen Mitteln Vorbereitend auf die Erkundung des Forschungsgegenstands wurden die Studierenden durch verschiedene Übungen, z. B. zu Körperhaltung, Präsenz, Ausdruck, Rhythmus, Zusammenarbeit usw. an die Theaterpraxis herangeführt. Unter Rückgriff auf das persönliche Alltagswissen wurden eigene Deutungen bezüglich des Forschungsgegenstands vorgenommen und auf diese Weise bereits Erfahrungen und Material generiert. Künstlerische Arbeitstechniken und Handlungsanweisungen ermöglichten es, den Pflegealltag aus anderen Perspektiven zu betrachten und auf diese Weise Distanz zu identifizierten Ritualen und Routinen herzustellen. So wurde der Forschungsgegenstand beispielsweise mit Hilfe sogenannter Ketten1 beleuchtet. Hier werden (entweder spontan oder mit kurzer Vorbereitungszeit) Aussagen zu einer bestimmten Thematik oder Fragestellung aneinandergereiht. Es können Ketten aus Fragen, Assoziationen, Be-
hauptungen, Unterstellungen usw. entstehen. Mit dem Material, das im Rahmen dieser Methode entsteht, kann danach weitergearbeitet werden. Im hier beschriebenen Projekt wurden z. B. Fragen zur Pflege, nach dem Motto: „Was sie schon lange über Pflege wissen wollten“, mittels einer Kette erarbeitet (Kasten 1), die dann wiederum als Ausgangspunkt für verschiedene Szenen dienten. In einer anderen Kette wurden für den Aspekt Patientenorientierung „Wir-Behauptungen“ aufgestellt. Jede Behauptung sollte dabei mit „wir“ … oder „uns“ … beginnen. Hieraus entstand später eine Art „Glaubensbekenntnis“, das Teil der Präsentation wurde. Eine weitere Art der künstlerischen Exploration des Themas bildete die Installation verschiedener, von den Studierenden mitgebrachten Gegenständen. Die Gegenstände standen symbolisch für die Pflegekultur und wurden zuerst in der Gruppe vorgestellt. Danach wurden alle Gegenstände auf dem Boden als „Stillleben“ installiert und es wurden verschiedene Titel für dieses Bild gefunden. Die Installation wurde von den Studierenden immer wieder verändert und es wurden immer wieder neue Titel gefunden – so lange, bis sich alle auf eine Konstellation geeinigt hatten (Lange 2006). Auch diese Aufgabe fand in die Präsentation Eingang – in Form einer Videoinstallation. Exploration des Forschungsgegenstands mit Hilfe von Leitfadeninterviews Weiterhin erhielten die Studierenden einen Interviewleitfaden (Kasten 2), mit dem sie teilstrukturierte Interviews mit Pflegelernenden durchführen sollten. Da Auszubildende als „Neulinge“ die in der Praxis verankerten kulturellen Praktiken häufig anders als „Insider“ sehen, ergab sich durch die Interviews die Chance, den Berufsalltag durch die Augen (noch) Außenstehender zu sehen und dadurch das Fremde im Alltäglichen zu entdecken. Nachdem die Interviews transkribiert waren, untersuchten die Studierenden alle Texte auf gemeinsame Orientierungen bzw. fallübergreifende Themen, die Hinweise auf die Berufskultur in der Pflege gaben. Aus den Transskripten wurden Passagen entnommen, die Werte und Normen, Anforderungen, Gefühle, Konflikte, Rituale, Erwartungen oder Strategien widerspiegelten. Die extrahierten Textpassagen wurden unverändert, d. h. als Zitat übernommen, jedoch nach dramaturgischen Kriterien bzw. Prinzipien des szenischen Schreibens interviewübergreifend gemischt und neu angeordnet. Material aufbereiten Charakteristisch für die Explorationsphase ist das Sammeln großer Mengen an Material und Ideen im Bewusstsein darüber, dass nur ein Bruchteil dieser Fülle präsentiert werden kann. Dieses Vorgehen, auch „Überfluss-Prinzip“ (Wenzel 2008) genannt, entspricht einem für die Theaterarbeit charakteristischen Arbeitsprinzip. So musste das gesamte Material gesichtet und eine Auswahl getroffen werden. Danach wurden die ausgewählten Elemente strukturiert, verdichtet und collageartig verknüpft. Dabei ging es nicht darum, die Pflegekultur realitätsgetreu „auf die Bühne“ zu bringen.
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Vielmehr wurde das Material mit theatralen Kompositionsmethoden so z. B. durch Übertreibung, Kontrastierung, Verfremdung, Wiederholung usw. (Pfeiffer & List 2009) bearbeitet. Neben der Auswahl, Verdichtung und Gestaltung der Ergebnisse stand in dieser Phase auch das „Wiederholbarmachen“ der Präsentation im Mittelpunkt. Präsentieren Nachfolgend werden ausgewählte Sequenzen der ca. 20-minütigen Präsentation beschrieben: Mitten im Raum steht eine quadratische Bühne, links und rechts davon Stuhlreihen. Sieben Personen sitzen bewegungslos am linken und rechten Bühnenrand, während die Zuschauer ihre Plätze einnehmen. Das Licht erlischt. Musik. Leise Bewegungen sind zu hören. Als das Licht wieder angeht, haben alle ihre Position verändert und verharren nun bewegungslos. Nur der junge Mann in der Mitte hebt seinen Kopf. Er beschreibt alle Details eines fiktiven Bildes, so dass es vor den Augen der Zuschauer Wirklichkeit zu werden beginnt. Die alte Frau auf dem Bild, so erfährt man schließlich, sei die erste Bewohnerin, die mit ihm über den Tod gesprochen habe. Eine andere Szene: Die Performenden stehen Rücken an Rücken gedrängt im Kreis, den Blick ins Publikum gerichtet, den Körper unter Spannung. Sie sprechen im Chor, bewegen sich dazu synchron, Tempo und Rhythmus verändern sich stetig, sie werden lauter, übertreffen sich gegenseitig, fallen sich ins Wort. Die Zuschauer werden durch direkte Ansprache und Blickkontakt zu Beteiligten und erfahren, wie Pflegende sich selbst sehen und an was sie glauben.
Kasten 3: Aussagen von Lernenden „In so einer Vorstellung war ich noch nie. Ich fand es echt toll. Erschrocken bin ich, als ich direkt angesprochen wurde. Ich konnte gar nichts sagen.“ „Ja, ich bin im ersten Ausbildungsjahr. Es stimmt alles. Ich erlebe es auch so.“ „Die Szene mit dem Hin- und Herschubsen. So fühle ich mich auch oft. Keiner hat Zeit für mich. Bekommst aber von allen irgendwelche Aufträge.“ „Na, weil es genauso ist. Die Schauspieler haben es super dargestellt. Es ist mir so bewusst geworden – wie in der Pflege miteinander umgegangen wird.“ „Die Übergabe – wir müssen immer auf die Glocke gehen. Und wehe du springst nicht gleich auf, wenn es läutet.“ „Gut – war echt gut gemacht. In der Ausbildung läuft schon nicht alles optimal. Aber mir geht es eigentlich nicht schlecht. Ich kann mich nicht beschweren. Die tun was sie können. Manchmal geht halt nicht mehr.“ „Wir fanden es super. Sind noch ganz fertig. Als wir dann auch noch direkt angesprochen wurden – dass war echt krass.“
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„Es ist echt unter die Haut gegangen.“ „Die Art des Theaters – Performance – echt super! So etwas habe ich noch nicht erlebt.“ „Das stimmt alles, und die Szene mit der Übergabe – die trifft absolut zu.“ Als die Schauspielerin so herumgestoßen wurde. So fühle ich mich auch öfter. Keiner ist für einen zuständig.“ „Der erste Einsatz – da fühlt man sich so allein gelassen, auch überfordert in manchen Situationen oder mit manchen Patienten.“
Kasten 4: Aussagen von Lehrenden bzw. Praxisanleitenden „Die Realität wurde dargestellt. Leider ist es so.“ „Leider ist hier die falsche Zielgruppe. So wie ich das überblicke sind es in erster Linie Schüler. Die kennen die Situation allzu gut. Eigentlich müsste diese Performance Pflegedirektoren oder Heimleitern der Altenhilfe gezeigt werden. Das solltet ihr euch mal noch überlegen.“ „Die Texte – ja in den Texten höre ich die Schüler sprechen. Es ist traurig aber es ist so! Es hat mich sehr betroffen gemacht.“
Kasten 5: Aussagen der Performenden „Obwohl von Beginn an klar war, dass das ganze Material niemals im Stück Platz haben wird, waren die Entscheidung, was rein soll und das Loslassen von Inhalten eine echte Herausforderung. Die andauernde Veränderung der Szenen bis zum Schluss erforderte maximale Flexibilität.“ „Die Bereitschaft, sich für Neues und Unbekanntes zu öffnen und an eigene Grenzen zu gehen waren große Herausforderungen.“ „Unser Ziel war es, die Realität in der Ausbildung mit den Worten, der Sprache der Auszubildenden darzustellen. Spannend war, ob wir es schaffen, die Kernaussagen an den Zuschauer zu vermitteln.“ „Es ist schwierig, die Außenwirkung der gesprochenen Texte und performativen Handlungen einzuschätzen. Trotzdem machte es Spaß, mit den gewählten Elementen bewusst zu provozieren, auf die Missstände aufmerksam zu machen und die Reaktionen des Publikums zu beobachten.“ „Nicht nur für die Zuschauer, sondern auch für uns war das performative Format eine große Herausforderung. Auch wir mussten zu Beginn unsere Irritationen überwinden.“ „Man musste nicht nur bereit sein, sich auf Unge-
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wohntes einzulassen, sondern auch, andere Perspektiven einzunehmen. Das führt automatisch zur Auseinandersetzung mit der eigenen Identität“. „Während der Aufführung kam es zur Konfrontation mit dem Publikum. Ich konnte die hervorgerufenen Emotionen beobachten. Die Bandbreite der Zuschauerreaktionen reichte, je nach Szene, von betroffenen Gesichtern, amüsiertem Gesichtsausdruck bis hin zu Tränen in den Augen.“ „Ein Bild sagt mehr als tausend Worte. Diese Aussage trifft es für mich genau.“
Im Verlauf der gesamten Präsentation hindurch stellen verschiedene Performende immer wieder Regeln auf: „Regel Nummer 1: Praxis und Theorie klaffen ganz weit auseinander“. „Regel Nummer 2: Der Schüler zählt nicht bei der Übergabe, weil der Schüler ist der Schüler“ „Regel Nummer 3: Du musst Deinen Bereich selbst erledigen und das möglichst ohne nachzufragen“. „Regel Nummer 4: Man hat viel mehr Möglichkeiten zum Lernen, wenn keine Fachkraft da ist. „Regel Nummer 5: Das schulische Arbeiten muss abgelegt werden. Du musst schnell arbeiten und das geht nicht schulisch!“ In einer anderen Sequenz wird eine Person in der Mitte eines Kreises wie ein Kegel herumgereicht und geschubst. Eine außerhalb des Kreises stehende Performerin lässt die Gedanken der Person in der Mitte laut werden: Ständig müsse man sich neu beweisen. Bei jedem Stationswechsel hoffe man, akzeptiert zu werden. Oft würde man nur auf seine Fertigkeiten reduziert. Es wird wieder dunkel. In der nächsten Sekunde strahlen sechs Taschenlampen auf die Stirn einer Performerin. Wie in einem Verhör wird sie von der Gruppe befragt: Name? Schüler! Ausbildungsjahr? Zwei! Einsatz? Sechs Wochen! Waschen? 45 Selbständig! Infusionen? Gezeigt! Katheter legen? Unter Aufsicht! Die Taschenlampen gehen aus, die Bühne wird hell. Jede Person auf der Bühne führt eine andere Bewegung aus und wiederholt diese immer wieder. Ganz konzentriert. Plötzlich stoppen alle: „Wir sind alle Individuen!“ hallen die Stimmen der ganzen Gruppe chorisch durch den Raum. Abermals wird es dunkel. Musik wird eingeblendet. Eine große Kiste wird auf die Bühne geholt. Nach und nach kommen verschiedene Gegenstände zum Vorschein: Eine Landkarte, ein Farbtopf, eine kleine Gießkanne, ein Pflegelehrbuch, eine Schwestern-Brosche usw. Die Performenden knien auf dem Boden der Bühne und lassen dort mit den Gegenständen ein Stillleben entstehen. Die Aktion wird für die Zuschauer per Video auf eine große Leinwand übertragen. Zur Musik kommen zwei Stimmen:
Ich sehe was. Was siehst Du? Ich sehe das, was ich sehe. Ich sehe, dass es einige gibt, die trotzdem einen anderen Weg gehen, die machen das so, wie ich es auch gerne machen möchte. Warum sehen wir nicht alle das Gleiche? Ich sehe uns in ein paar Jahren. Was werden wir dann sehen? Das möchte ich mal sehen. Die Atmosphäre wandelt sich. Förmlich spürbar im Raum ist so etwas wie Hoffnung, positive Aufbruchsstimmung. Mehrmals und unvermittelt stellt jemand die Frage „Soll ich ehrlich sein?“ Wie auf ein unsichtbares Signal wenden sich alle Performenden bei dieser Frage der fragenden Person zu: „Soll ich ehrlich sein? Ich habe mich in kein Team integriert, denn in was soll ich mich integrieren, für Schüler gibt es ja keins.“ „Soll ich ehrlich sein? Manchmal sagen Sie zu mir, dass sie sich immer auf mich verlassen konnten und sie denken, dass ich eine tolle Pflegekraft werde. Das sind richtig gute Tage! Und wenn Sie dann noch sagen, dass ich ihr Team als Mensch bereichert habe und sie mich am liebsten gleich behalten würden – sind das supergute Tage!“ Das Ende wird zum Anfang. Das Standbild, von dem die Präsentation ihren Ausgang nahm, wird abermals identisch von den Performenden aufgebaut. Der Pflegealltag als unveränderbare Endlosschleife? Es wird dunkel. Reflektieren Sowohl der Prozess als auch das Ergebnis wurden im Anschluss gemeinsam mit den Studierenden reflektiert. Ebenfalls zu diesem Zweck wurden mit Besuchern direkt nach der Präsentation Kurzinterviews geführt. Anstelle einer zusammenfassenden Interpretation der Reflexionsergebnisse sollen Originalzitate von Akteuren und Zuschauern (Kasten 3 – 5) ein lebhaftes Bild von den Eindrücken und Gefühlen der Beteiligten vermitteln.
Fazit Ästhetische Erfahrungen sind gegenüber sogenannten gewöhnlichen Erfahrungen gesteigerte Erfahrungen. Dadurch wird etwas intensiver, bewusster wahrgenommen als sonst. Das Sinnliche selbst wird damit für uns zum Thema (Kern und Sonderegger in Straubenmüller, 2015). Die Annahme, dass ästhetische Forschung zu anderen Formen der Erkenntnis führt und Selbstreflexion und Bewusstseinsprozesse andere Dimensionen erhalten (Kämpf-Jansen 2012), bestätigte sich im eben beschrieben Projekt eindrücklich. Im Ausloten eigener Zugänge und Haltungen zu kollektiven, selbstverständlichen Praktiken, Denk- und Verhaltensweisen in der Pflege erweiterten die Studierenden ihre persönlichen Grenzen und erlernten zudem, Unsicherheiten auszuhalten, Arbeitsergebnisse wieder zu verwerfen, sich erneut zu entscheiden und sich Situationen
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auszusetzen, auf die sie sich im „normalen“ Arbeits- bzw. Unterrichtsalltag nie eingelassen hätte. Die Präsentation führte auch bei den Zuschauern unumgänglich zur aktiven Auseinandersetzung mit sich selbst und wie sie als handelnde Subjekte in ihrer beruflichen Lebenswelt stehen. Die Reaktionen zeigten, dass durch die Inszenierung konjunktive Erfahrungsräume (Bohnsack 2007) in der Pflege berührt wurden. Die Kultur der Pflege war nicht nur sichtbar, sondern auch spürbar. Die Ebene des Ästhetischen brachte die Komplexität und Vulnerabilität des Themas Pflege und Pflege lernen deutlich hervor. Eine rein kognitive, deskriptiv- beschreibende Ebene wäre dazu nicht in der Lage gewesen.
Pfeiffer M., List V. (2009). Kursbuch Darstellendes Spiel. Leipzig: Klett-Verlag. Sting W. (2008). Performance in der kulturellen Bildung. In Landesrat für Stadtteilkultur der Behörde für Kultur, Sport und Medien Hamburg (Hrsg.). 9. Hamburger Ratschlag Stadtteilkultur (23 – 26). http://www.hamburg.de/contentblob/1458884/data/ ratschlag-9.pdf. Straubenmüller V. (2015). Pflege(n) ist ästhetisch. PADUA 10, 1: 13 – 18. Thielicke V. (2014). (Antworten auf Aufführungen. Über den produktiven Umgang mit Fremderfahrungen in Aufführungen zeitgenössischen experimentellen Theaters. Zeitschrift für Theaterpädagogik 30, 64: 33 – 35. Wenzel K.-H. (2008). Theater in B.E.S.T-Form. Plädoyer für ein anderes Jugendtheater. Weinheim: Deutscher Theaterverlag.
Doris Eberhardt Gesundheits- und Pflegewissenschaftlerin M.Sc., Diplom-Pflegepädagogin (FH), Theaterpädagogin BuT, Stabstelle Praxisentwicklung Pflege am Klinikum Neumarkt / Opf.
Literatur Bohnsack R. (2007). Dokumentarische Methode und praxeologische Wissenssoziologie. In: Schützeiche, R. (Hrsg) Handbuch Wissenssoziologie und Wissensforschung (180 – 190). Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft. Bossle M. (2012). Die Zukunftsorientierung der deutschen Pflegewissenschaft an der Schnittstelle von Alter(n) und Pflege. Hungen: HPS – Media. Bossle M. (2015). Kunst als Erfahrung. Ausgewählte Grundgedanken John Deweys als Argumente für ästhetische Pflegebildungsprozesse. PADUA. 1, 15: 8 – 12. Domkowsky R. (2013). Forschen im „ästhetischen Modus“. Zeitschrift für Theaterpädagogik 29, 63: 38 – 39. Fischer R. (2013). Berufliche Identität als Dimension beruflicher Kompetenz. Entwicklungsverlauf und Einflussfaktoren in der Gesundheits- und Krankenpflege. Bielefeld: Bertelsmann Verlag. Gerlach A. (2013). Professionelle Identität in der Pflege. Akademisch Qualifizierte zwischen Tradition und Innovation. Frankfurt / M.: Mabuse Verlag. Grissmer C. (2006). Spielend Möglichkeitsräume eröffnen. Theaterpädagogik mit performativem Schwerpunkt – Ein Unterrichtsexperiment an einer Fachschule für Erzieherinnen. In Lange, M.-L.(Hrsg.). Performativität erfahren. Aktionskunst lehren – Aktionskunst lernen (229 – 243). Berlin: Schibri-Verlag. Hülsken-Giesler M., Böhnke U. (2007). Professionelles Lehrerhandeln in Gesundheit und Pflege – eine Herausforderung für Reformprozesse. In Pflege & Gesellschaft 12, 2: 165 – 187. Kämpf-Jansen H. (2000). Ästhetische Forschung. Wege durch Alltag, Kunst und Wissenschaft. Zu einem innovativem Konzept ästhetischer Bildung. Marburg: Tectum Verlag. Kraft M., Eberhardt D. (2015). Vom Aufbruch ins Ungewohnte. Plastisches Gestalten als ästhetische Bildungsarbeit in der Pflege. PADUA 10, 1: 24 – 29. Lange M.-L. (2006) Über Lebendigkeit oder die Präsenz des (Un-) Sichtbaren. In Lange, M.-L.(Hrsg.). Performativität erfahren. Aktionskunst lehren – Aktionskunst lernen (101 – 140). Berlin: Schibri-Verlag. Lehmann H.-T. (2005). Postdramatisches Theater, 5. Aufl. Frankfurt / M.: Verlag der Autoren. Leuschner C, Knoke A. (2012). Selbst entdecken ist die Kunst: Ästhetische Forschung in der Schule. München: Kopaed-Verlag. Liebsch K. (2006). Identität und Habitus. In Korte H, Schäfers B (Hrsg.) Einführung in Hauptbegriffe der Soziologie (67 – 84) Wiesbaden VS Verlag. Matzke A. (2012). Künstlerische Praktiken als Wissensproduktion und künstlerische Forschung. In: Bockhorst H., Reinwand V.-I., Zacharias W: Handbuch Kulturelle Bildung (939 – 942). München: Kopaed-Verlag. Mc Allister M. et al. (2013). (Hrsg.) Resilienz und Resilienzförderung bei Pflegenden. Bern: Huber Verlag. Oerter R., Montada L. (1998). Entwicklungspsychologie, 4. Aufl. Weinheim: Beltz. PADUA (2017), 12 (1), 33–40
doriseberhardt@web.de
Elisabeth Bauermann Pflegepädagogin B. A., Berufsbildungszentrum Ingolstadt, Mitarbeiterin im Kompetenzzentrum Bad Kötzing Birgit Krakhofer Pflegepädagogin B. A., Berufsfachschule für Krankenpflege und Krankenpflegehilfe am DONAUISAR Klinikum Deggendorf Beatrice Landschulze Pflegepädagogin B. A., Berufsfachschule für Krankenpflege am Klinikum St. Elisabeth Straubing GmbH Carina Loibl
Pflegepädagogin B. A., Berufsfachschule für Krankenpflege Regensburg medbo KU Mirka Rauch
Pflegepädagogin B. A., Kompetenzzentrum für Gesundheitsberufe Vilsbiburg Stefan Schiewietz
Pflegepädagoge B. A., Berufsfachschule für Altenpflege und Altenpflegehilfe i. Parkwohnstift Arnstorf Sabine Wurzer Pflegepädagogin B.A., Berufsfachschule für Altenpflege und Altenpflegehilfe der Caritas in Landshut. Prof. Dr. Michael Bossle MScN, Professor für Pflegepädagogik Dekan der Fakultät Angew. Gesundheitswissenschaften THD – Technische Hochschule Deggendorf michael.bossle@th-deg.de ©2017 Hogrefe
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Die Beurteilung der praktischen Prüfung Transparenz und Objektivität bei der Notenbildung
Der Notenfindungsprozess im Rahmen der prak tischen Abschlussprüfung in der Gesundheitsund Krankenpflege stellt Lehrer / innen und Praxisanleiter / innen immer wieder vor Herausforderungen. Die Leistung der Auszubildenden soll entsprechend der gezeigten Tätigkeiten fachgerecht beurteilt werden. Dabei sehen sich die an der Bewertung beteiligten Personen häufig mit der Frage konfrontiert, auf Basis welchen Vorgehens zu einem objektiven Ergebnis gelangt werden kann.
Praktische Abschlussprüfung Im praktischen Teil der Abschlussprüfung übernimmt der Prüfling nach § 15, Absatz 1, KrPflAPrV eine Gruppe von Pflegeempfängern und führt dabei „alle anfallenden Aufgaben einer prozessorientierten Pflege einschließlich der Dokumentation und Übergabe“ durch. Das der Prüfungssituation folgende Reflexionsgespräch dient dazu, dass das pflegerische Handeln von den Auszubildenden argumentativ dargelegt wird und sie die Gesamtsituation rückblickend darstellen. Damit soll die geprüfte Person aufzeigen, dass sie im Stande ist die relevanten Tätigkeiten der Gesundheits- und Krankenpflege nach § 3, Absatz 1, KrPflG durchzuführen. Der Hergang der Prüfung muss nach § 6 KrPflAPrV dokumentiert werden, um den Sachverhalt und das Resultat der Prüfung nachvollziehen zu können sowie etwaige Abweichungen belegen zu können. Für die Durchführung der praktischen Prüfung sind geringsten falls zwei Fachprüfer / innen erforderlich. Es ist notwendig, dass beide das Prüfungsgeschehen unabhängig voneinander beurteilen und somit jeweils eine Gesamtnote vergeben. Es ist nicht legitim, dass die Prüfenden miteinander die Notenfindung abstimmen (Dielmann, 2013). Im Gegensatz zur mündlichen und schriftlichen Prüfung ist das praktische Examen nicht in Themenbereiche differenziert, welche jeweils extra beurteilt und se parat bestanden werden müssen, sondern zum Bestehen mit mindestens ausreichend bewertet werden muss (Diel-
mann, 2013; § 15, Absatz 3, KrPflAPrV). Wie die Leistungen der praktischen Prüfung laut § 7 Benotung KrPflAPrV bewertet werden, zeigt Tabelle 1. Da bisher keine empirischen Belege bezüglich der Gestaltung von Prüfungsinstrumenten in der Gesundheitsund Krankenpflege vorliegen, wurde im Rahmen eines exploratorisch- instrumentellen Forschungsdesigns unter dem Paradigma der qualitativen Forschung eine Dokumentenanalyse von Prüfungsinstrumenten von Gesundheits- und Krankenpflegeschulen in Baden-Württemberg durchgeführt. Alle existierenden Bildungsstätten wurden angeschrieben und gebeten, ihr derzeit verwendetes Prüfungsinstrument einzureichen. Knapp ein Sechstel der angeschriebenen Einrichtungen beteiligte sich an der Studie. Untersucht wurde neben dem Indikator der zu beobachtenden Performanz auch der aus den Dokumenten abzuleitende Notenfindungsprozess. Im Folgenden wird auf die Erkenntnisse bezüglich des Aspektes der Notenbildung eingegangen.
Tabelle 1. Benotung der praktischen Prüfung. Eigene Darstellung nach KrPflAPrV § 7 (2003). 2016. Note
Entsprechung nach KrPflAPrV § 7 wenn die Leistung den Anforderungen in besonderem Maße entspricht
1
sehr gut
2
gut
wenn die Leistung den Anforderungen voll entspricht
3
befriedigend
wenn die Leistung im Allgemeinen den Anforderungen entspricht
4
ausreichend
wenn die Leistung zwar Mängel aufweist, aber im Ganzen den Anforderungen noch entspricht
5
mangelhaft
wenn die Leistung den Anforderungen nicht entspricht, jedoch erkennen lässt, dass die notwendigen Grundkenntnisse vorhanden sind und die Mängel in absehbarer Zeit behoben werden können
6
ungenügend
wenn die Leistung den Anforderungen nicht entspricht und selbst die Grundkenntnisse so lückenhaft sind, dass die Mängel in absehbarer Zeit nicht behoben werden können
©2017 Hogrefe PADUA (2017), 12 (1), 41–43 DOI 10.1024/1861-6186/a000357
Lehren und Lernen
Von Marius Rebmann
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Notenfindungsprozess Da inhaltliche und formalrechtliche Aspekte vom Gesetzgeber nicht detailliert konkretisiert werden, zeigt sich bei den Ergebnissen eine unterschiedlich akribische Auslegung bezüglich der Notenbildung. Der Notenfindungsprozess in den Prüfungsinstrumenten ist sehr von Individualität geprägt. Unabhängig davon, ob auf den Prüfungsinstrumenten mit Kompetenzdimension gearbeitet wird oder lediglich Performanzelemente ausgewiesen werden – es ist ein von Heterogenität geprägter Bereich. Dies betrifft sowohl die Notenbildung an sich, als auch die Gewichtung der Bewertungskriterien bzw. Kompetenzdimensionen. Eine Gewichtung der Kriterien ist seitens des Gesetzgebers nicht vorgesehen. Dennoch weisen einige Prüfungsinstrumente explizit eine höhere Gewichtung zugunsten der fachlichen Aspekte aus. Der Umfang der Gewichtung sieht teilweise eine Doppelgewichtung vor, in einigen Fällen bis hin zu einer dreifach höheren Gewichtung gegenüber den jeweils anderen, einfach gewichteten Kompetenzdimensionen. Mitunter steht der Dreifachgewichtung eine Doppelgewichtung der methodischen Aspekte gegenüber. Jeder der eingereichten Beurteilungsbögen verfügt über ein eigenes System der Notenbildung. 25 % der Ein richtungen vergeben pro Performanzelement, welches sich in einer Kompetenzdimension befindet, eine Note. Im Anschluss wird das arithmetische Mittel je Kompetenz dimension aus den Noten der Performanzelemente ge bildet. Die Kompetenzdimensionen sind zudem unterschiedlich gewichtet, was bei der Findung der Gesamtnote insofern eine Rolle spielt, als dass beim Bilden des arithmetischen Mittels durch die Anzahl der Gewichtungsfaktoren der Kompetenzdimensionen dividiert wird. In 17 % der untersuchten Prüfungsinstrumente wird pro Performanzelement in einer Kompetenzdimension ein Punktwert vergeben, welcher jeweils mit Notenstufen analog der Punktwerte hinterlegt ist. Auch hier wird das arithmetische Mittel wieder aus der Anzahl der Performanzelemente in der jeweiligen Kompetenzdimension gebildet sowie zur Bildung der Gesamtnote das arithmetische Mittel aus den zugrunde gelegten Kompetenzdimensionen. Im Gegensatz zur ersten Gruppe erfahren die Kompetenzdimensionen jedoch hier keine Gewichtung. Zum Teil wird je Performanzelement eine Dreier-Ratingskala in einer Kombination aus mathematischen Vorzeichen und verbal formulierter Mitte angewendet. Daraus wird für jeden Kompetenzbereich, in dem sich die Performanzelemente befinden, eine Note gebildet. Unklar ist allerdings, welche Wertung für die Dreier-Ratingskala veranschlagt wird, also inwiefern pro Kompetenzbereich daraus eine Note gebildet werden kann oder ob die Skala lediglich als Orientierung dient. Ebenfalls wird wie im vorher beschriebenen Fall wieder zur Bildung der Gesamtnote das arithmetische Mittel aus den errechneten Noten der Kompetenzdimensionen gebildet. Eine weitere Vorgehensweise ist die Notenbildung pro Performanzelement und zur Vergabe der Gesamtnote wiederum das arithmetische Mittel aus der Gesamtanzahl an vergebenen Noten und PerforPADUA (2017), 12 (1), 41–43
Wissen und Forschen
manzelementen. In weiteren Fällen wird abermals eine Note je Performanzelement vergeben. Es wird entweder mit einer verbalen Dreier-Ratingskala gearbeitet, welche jeweils zwei Schulnotenstufen umfasst, alternativ wird ohne die verbale Skalierung beurteilt. Gemeinsamkeit der beiden Varianten ist die fehlende Angabe zur Bildung der Gesamtnote. Bei weiteren 8 % wird pro Performanzelement eine unterschiedliche Anzahl an Noten vergeben, um die Gewichtung herauszustellen. Hier besteht die Möglichkeit, für ein Performanzelement unterschiedliche Noten anzugeben. Zur Bildung der Gesamtnote wird das arithmetische Mittel aus allen vergebenen Noten gebildet. 17 % der Prüfungs instrumente weisen eine Struktur ohne Bewertungsraster auf. Konkret bedeutet dies, dass hier eine Note gebildet wird, ohne Teilbereiche zu bewerten, keine Ratingskalen o. ä. existieren oder Punktwerte für einzelne Perfor manzelemente. Offensichtlich wird auf Grundlage der Beobachtung und Einschätzung der Prüfer eine Gesamtnote vergeben und der Prüfungsbogen lediglich als Dokumentationsinstrument verwendet. Bei der Notenbildung und der Gewichtung der Kriterien ist fraglich, weshalb zugunsten einzelner Teilbereiche anders bewertet wird.
Bewertungsskalen Um im Bewertungsverlauf zu einem objektiven Ergebnis zu gelangen, empfiehlt es sich zunächst mittels eines ordinalen Skalenniveaus zu arbeiten. Im weiteren Verlauf müssen die ermittelten Werte der ordinalen Skala einem intervallskalierten Vorgehen zugeordnet werden, um auf Basis einer Punkteverteilung eine Gesamtnote der Prüfungsleistung zu erhalten. Bortz und Döring empfehlen in ihren Ausführungen (2006) bei der verbalen Kennzeichnung von numerischen Kategorisierungen „dass die verwendeten Begriffe zumindest annähernd äquidistante Ausprägungen des Merkmalskontinuums markieren“. Auf Basis der Untersuchungen von Rohrmann (1978, zit. n. Bortz, 2006) geht hervor, dass bei fünfstufigen Skalen nachfolgende verbale Charakterisierungen bei Bewertungen als prinzipiell äquidistant eingeschätzt wurden: völlig falsch – ziemlich falsch – unentschieden – ziemlich richtig – völlig richtig. Die Frage der Äquidistanz der Kategorien, dass also etwas gleichweit voneinander entfernt ist (Der Brockhaus, 2006), beschreibt Stier (2006) als kritisch, da bei einer numerischen bzw. verbalen Fixierung von Skalen nicht gewährleistet werden kann, ob „Probanden die einzelnen Kategorien als gleichabständig empfinden“. Entgegen der von Bortz und Döring dargestellten Ergebnisse von Rohrmann sollte, um eine Tendenz zur Mitte zu vermeiden, auf eine verbale Vierer-Ratingskala zurückgegriffen werden. Pro Performanzelement sollte eine solche ausgewiesen werden. Die Skala soll mit Punkten hinterlegt werden, um bei der Ermittlung der Prüfungsnote zu einem rasch nachvollziehbaren Ergebnis zu kommen (vgl. Schneider, 2011). Abbildung 1 zeigt ein Beispiel einer verbalen Vierer-Ratingskala. Entsprechend der Anzahl der ©2017 Hogrefe
Wissen und Forschen
Verbales Rating
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Trifft nicht zu
Trifft teilweise zu
Trifft überwiegend zu
Trifft zu
Es wird deutlich, dass sich aus den Ergebnissen weitere Fragestellungen und Aufgaben ergeben, die es zu beantworten und bearbeiten gilt. Eine der Herausforderungen bei der Gestaltung von Prüfungsinstrumenten wird dabei die Umsetzung im Hinblick auf die generalistische Ausbildung sein.
Abbildung 1. Vierer-Ratingskala. Eigene Darstellung orientiert an Schneider (2011), 2016.
Performanzelemente kann zur Bildung der Gesamtnote mit Hilfe der Punktwerte das arithmetische Mittel errechnet werden. Welche Punktwerte je verbalem Rating in den Skalen zu hinterlegen sind, ist Gegenstand weiterer Forschung. Als Endnoten gelten die auf ganze Noten gerundeten Dezimalnoten, wobei in der gängigen Weise gerundet werden soll, das heißt eine Dezimale bis 0,4 wird auf eine ganze Note abgerundet und eine Dezimale von 0,5 oder schlechter ist auf eine ganze Note aufzurunden. Diese Vorgehensweise wird unter anderem auch an öffentlichen beruflichen Schulen in Baden-Württemberg per Verordnung so praktiziert (Berufsschulordnung, 2008). Somit entspräche die Note 3,5 nach der Logik des Rundens und der Vorgabe, nur ganze Noten zu vergeben, der Note 4 ausreichend. So ist dem gesetzlichen Grundsatz folgegeleistet, dass die praktische Prüfung mit mindestens ausreichend bestanden werden muss. Dies bedeutet, dass bei der Ermittlung der Gesamtnote diese nicht schlechter als 4,0 sein darf. Die Gewichtung einzelner Kompetenzdimensionen, wie in einigen untersuchten Prüfungsinstrumenten der Fall, erscheint unbegründet. Zum einen ist dies gesetzlich nicht vorgesehen, zum anderen schmälert dies offensichtlich die erworbenen Kompetenzen in den im Umkehrschluss weniger gewichteten Dimensionen zum Teil um mehr als die Hälfte. Hier gilt es, die Diskussion um die Gewichtung der Kriterien weiter zu intensivieren. Soll herausgestellt werden, dass ein Prüfling in einem Kompetenzbereich bessere Leistungen erbracht hat wie in einem der anderen, so erscheint es an dieser Stelle notwendig, Teilnoten aus entsprechenden Kompetenzdimensionen zu ermitteln und diese explizit auszuweisen.
Literatur Berufsschulordnung (2008) Verordnung des Kultusministeriums über die Ausbildung und Prüfung an den Berufsschulen. Vom 10. Juli 2008 (GBl. S. 258). Geändert durch Artikel 34 des Gesetzes vom 17. Dezember 2015 (GBl. S. 1210). Bortz J., Döring N. (2006) Forschungsmethoden und Evaluation für Human- und Sozialwissenschaftler. 4. Überarb. Aufl. Heidelberg: Springer. Der Brockhaus (2006) Der Brockhaus in drei Bänden. Band 1: A – GN. 4. akt. Aufl. Leipzig: F. A. Brockhaus. Dielmann G. (2013) Krankenpflegegesetz und Ausbildungs- und Prüfungsverordnung für die Berufe in der Krankenpflege. Kommentar für die Praxis. 3. aktualisierte und erweiterte Auflage Frankfurt am Main: Mabuse. KrPflAPrV Ausbildungs- und Prüfungsverordnung für die Berufe in der Krankenpflege (2003). Ausbildungs- und Prüfungsverordnung für die Berufe in der Krankenpflege vom 10. November 2003 (BGBl. I S. 2263), geändert durch Artikel 15 der Verordnung vom 2. August 2013 (BGBl. I S. 3005). KrPflG Gesetz über die Berufe in der Krankenpflege (2003). Krankenpflegegesetz vom 16. Juli 2003 (BGBl. I S. 1442), geändert durch Artikel 35 des Gesetzes vom 6. Dezember 2011 (BGBl. I S. 2515). Schneider, K. (2011). Praktische Prüfungen – Eine Herausforderung für Lehrende und Lernende. Nachweis beruflicher Handlungskompetenz in einer realen Pflegesituation. PADUA, 6(1), 24 – 27. Stier W. (1996) Empirische Forschungsmethoden. Heidelberg: Springer Verlag.
Marius Rebmann Marius Rebmann, M. A. Bildungswissenschaften, B. A. Pflegepädagoge, Gesundheits- und Krankenpfleger marius.rebmann@kabelbw.de
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„Ein wahrhaft phänomenales Werk“
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Arbeiten mit der Akzeptanz- und Commitment-Therapie (ACT)
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curricular geforderten Inhalte der „Fachweiterbildung Psychiatrie“ vollständig ab. Die vierte Auflage wurde aktualisiert, einzelne Pflegekonzepte und Werkzeuge wurden überarbeitet und die Pflegediagnosen, -interventionen und -ergebnisse wurden erweitert.
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Edukation und Patientenberatung in der Berufsprüfung
von Benjamin Kühme und Ralf Ruge
An der Mathias Hochschule Rheine1 wurden im Modellstudiengang Pflege die Wittener Werkzeuge als Prüfungsinstrument im Verfahren der staatlichen Berufsprüfung implementiert.
Beratung in der Pflege: Entwicklungs chancen durch akademische Pflegebildung Mit der Initiierung von Modellstudiengängen in der Pflege, die nach § 4 Abs. 1 KrPflG eine akademische und berufsbe fähigende Primärqualifikation für Pflegende ermöglichen, stehen die Hochschulen und die Pflegepraxis vor Heraus forderungen, in denen deren Vernetzungen für die Pflege bildung zukünftig ausschlaggebend sein werden. Praxis bezug, Praxis – Theorie- Transfer und der verwertbare akademische Mehrwert von Pflegebildung beleben die Dis kussion. Dabei ist insbesondere in der Pflegepraxis immer noch nicht ganz klar, welche Chancen in der akademischen Pflegebildung enthalten sind und wie diese zukünftig zu nutzen wären. Zu den vielfältigen Entwicklungsprozessen der Pflege, die durch die Primärakademisierung ausgelöst werden, gehört auch die inhaltliche Entwicklung von Pfle gethemen. Das bedeutet zukünftig, dass zu diesen Themen und Problemstellungen ein wissenschaftlich geprägter Dis kurs stattfinden wird, den die neue Generation in der Pflege trägt. Mit dem Hintergrund der wissenschaftlich geprägten Berufssozialisation wird es selbstverständlich sein, dass zu künftig in der Pflegepraxis nach Befunden und Ergebnissen aus der eigenen Fachwissenschaft gefragt werden wird, um sie für praktisches Handeln zu bewerten. Beispielhaft ist dies auch für das Pflegethema Patientenberatung zu sehen, für das wir in diesem Beitrag einen Teil unserer Konzeption vorstellen wollen. Obgleich bereits gut begründete Konzepte und theoreti sche Auseinandersetzungen vorgelegt wurden (KochStraube 2001, Emmrich et al. 2006) ist zu verzeichnen,
tenn e i t Pa ation eduk
dass Patientenberatung- und Anleitung im durchaus viel schichtigen und eigenwilligen Pflegealltag immer noch eine kaum beachtete Leistung ist. Zudem kommt, dass den Pflegenden das Selbstverständnis fehlt, die Anerken nung einzufordern bzw. diesen Anteil der Pflegearbeit in den Innenverhältnissen der Gesundheitsinstitutionen transparent zu machen.
Konzeption des Studienprogramms Der zuvor angerissenen Ausgangssituation trug man in der Entwicklung des Modellstudiengangs Pflege didak tisch Rechnung. Gesucht wurde ein pflegedidaktisches Modell, das die Verflechtung von Praxis und Theorie be reits in seiner Grundstruktur berücksichtigte. Die Ent wicklung des Studiengangs Pflege wurde unter Verwen dung des hochschuldidaktischen Strukturgitteransatzes für die Pflege (Greb 2003) vorgenommen. Die didakti sche Analyse, als Kategorialanalyse angelegt (vgl. Greb 2010, S. 124 ff.), basierte in diesem Fall auf einer Befra gung von Pflegeexperten / innen und Pflegedirektionen in der Pflegepraxis (Kühme et al. 2009). In der Studien gangsentwicklung wurden Problemstellungen und Be lange der Pflegepraxis erhoben und mittels Kriteriensatz für die Pflege (Greb 2003 – 2010) pflegedidaktisch transformiert. Themenstellungen der Pflegerealität wur den so Gegenstand der Hochschullehre und weiterfüh rend auch Bestandteil der Berufsprüfungen, wie noch beispielhaft dargestellt wird. Das Vorgehen berücksich tigt für die hochschulische Lehre im Studienprogramm die wissenschaftliche Reflexion von Problemstellungen der Pflegepraxis im direkten Berufsfeld einerseits und die kritische Überprüfung der Berufsrealität, an bil dungstheoretischen Maßstäben angesetzte Reflexion andererseits. Praxis und Theorie stehen in einem wech selseitigen Verhältnis. Die Entwicklung von Bildungsin halten- und Zielen wurde grundlegend mit dem pflegedi
Seit dem 01.01.2016 sind die Studienprogramme der ehemaligen Mathias Hochschule Rheine in Trägerschaft der praxisHochschule Köln.
1
©2017 Hogrefe PADUA (2017), 12 (1), 45–51 DOI 10.1024/1861-6186/a000358
Lehren und Lernen
Die Wittener Werkzeuge als Prüfungsinstrument in der Berufsprüfung für die Berufe in der Krankenund Kinderkrankenpflege
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daktischen Modell (Greb 2003) geleitet. Der Anspruch der integrativen Konzeption (Praxis und Theorie) war es, Praxis und Theorie besser zu vernetzen und die akade mische Pflegebildung als Entwicklungschance für den Pflegeberuf zu nutzen. Neben den vielfältigen Problemstellungen, die sich aus der Realanalyse ergaben und pflegedidaktisch aufgear beitet wurden, kristallisierten sich die Themen Beratung, Anleitung und Orientierung am Patientenfall als beson ders zentrale aber vernachlässigte Themen in der Pflege praxis heraus. Konsequenterweise wurden beide Themen im Studienprogramm nicht nur inhaltlich in der Lehre be rücksichtigt sondern bekamen auch in der Struktur und Organisation der Berufsprüfungen einen besonderen Stellenwert. In der Studiengangskonzeption bestand in je dem Fall der Anspruch, die gesetzlichen Vorgaben nach Krankenpflegegesetz (KrPflG 2003) und dazugehöriger Ausbildungs- und Prüfungsverordnung ernst zu nehmen. Hierbei ging es insbesondere um das Ausbildungsziel in § 3, das nach anerkanntem Stand pflegwissenschaftlicher Erkenntnisse auszurichten ist und den Themenbereich 1 Unterstützung, Beratung und Anleitung in gesundheits- und pflegerelevanten Fragen fachkundig gewährleisten (§ 14 KrPflAPrV). Aus der Realanalyse heraus geleitet galt es, dem Praxisalltag in den Pflegeeinrichtungen Rechnung zu tragen, wie Patientenberatung geleistet werden kann und darum, einen Entwicklungsschub für das Thema auszulö sen. Die Wahl fiel auf die Wittener Werkzeuge, die an der Universität Witten / Herdecke entwickelt wurden.
Lehren und Lernen
Entwicklung der Wittener Werkzeuge an der Universität Witten-Herdecke Beratende Gespräche haben eine hohe Bedeutung für den Heilungsprozess der Erkrankten und sollten demnach ein wichtiger Bestandteil der pflegerischen Arbeit und des pflegerischen Selbstverständnisses sein. Dies wird einer seits durch die curriculare Verankerung von Beratung, Anleitung und Kommunikation in der Ausbildung von Gesund heits- und Krankenpfleger-Innen und andererseits als Bestandteil der mündlichen Berufsprüfung im Themenbe reich 1 nach § 14 (KrPflAPrV) deutlich. Allerdings scheinen die Lehrinhalte zu den Themen Beraten und Anleiten und Gespräche führen, so wie sie z. B. in der Ausbildungsrichtli nie für staatlich anerkannte Kranken- und Kinderkranken pflegeschulen in NRW empfohlen wird, in der Praxis von den Pflegenden kaum umsetzbar. Die Gründe hierfür sind vielschichtig: exemplarisch sind die steigende Arbeitsver dichtung und damit Verknappung zeitlicher Ressourcen und die Verkürzung der Liegezeiten von Patienten im Krankenhaus zu nennen. Aber auch die niedrige Bewer tung von Beratungsgesprächen durch die Pflegenden selbst führt zu einem Schattendasein der Kommunikation zwi schen Pflegenden und Patienten (Zegelin, 2009). Auf der anderen Seite weist Zegelin (2009) darauf hin, dass Kom munikation zwischen Pflegenden und Patienten im Stati onsalltag immerwährend stattfindet: Auch die vermeintli chen Alltagsgespräche erfüllen einen wichtigen Zweck und werden vom Patienten als wohltuend angesehen und die
Abbildung 1. Wittener Werkzeuge PatientCare angelehnt an das Konzept von Univ. Witten / Herdecke. PADUA (2017), 12 (1), 45–51
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Lehren und Lernen
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Abbildung 2. Wittener Werkzeuge SelfCare angelehnt an das Konzept von Univ. Witten / Herdecke.
nen des Weiteren oft als Einstieg zur eigentlichen pflegeri schen Beratung. Es finden viele kleine Gespräche statt, die zu einer Zufriedenheit des Patienten führen und demnach als ein Qualitätsmerkmal guter Beratung angesehen werde kann. Die Herausforderung besteht darin trotz der derzeiti gen Arbeitsbedingungen, sich Räume für kleinere und größere (Beratungs-) Gespräche zu suchen. Auf Initiative von Angelika Zegelin hat sich an der Uni versität Witten / Herdecke eine Arbeitsgruppe gebildet. Ziel der Arbeitsgruppe war es, ein neues Beratungskonzept für die Pflege zu konzipieren, das sich gut in den Pflegealltag integrieren lässt. Darüber hinaus sollte aber auch die inter aktive Seite der Pflegeberatung näher betrachtet werden. Es ging hierbei um Entwicklung von Haltungen und Fertig keiten, die es einer Pflegenden ermöglicht, eine Kommuni kation im positiven Sinne zu führen. Basis für dieses neue Konzept, das als „Wittener Werkzeuge – ein Double Care Beratungsansatz für die Pflege“ bezeichnet wurde, ist ein humanistisches Menschenbild, das den Menschen als ein autonomes und gleichberechtigtes Individuum sieht (Kocks / Segmüller, 2012, S. 61; Bamberger, 2010, S. 03). Die Grundlage für die Entwicklung dieses Konzeptes bildete ein phänomenologischer Ansatz: Die Beobach tung von Pflegenden in Beratungssituationen. Auf der Basis der Beobachtungen wurden fünf Phänomene ge neriert: „sehen“, „hören“, „fühlen“, „sprechen“ und „tun“. Im Folgenden wurde überlegt, wie diese Phäno mene so umgesetzt werden können, dass sich eine för derliche Interaktion zwischen Pflegenden und Patienten
entwickelt. Als Ergebnis wurden fünf „Werkzeuge“ vor gestellt, die sich an den Patienten („PatientCare“) rich ten: „Achtsamkeit“, „Einlassung“, „Empathie“, „Ressour cing“ und „Berührung“. Für jedes Werk-zeug lässt sich eine Beschreibung festlegen und viele unterschiedliche Anwendungsformen finden, die sich je nach Beratungsbe darf und Situation anders darstellen (Kocks / Segmüller, 2012, S. 61; Bamberger, 2010, S. 003). Die Anwendung der Werkzeuge folgt keinem vorgege benen Raster. Jede Pflegende entscheidet situativ, wel ches Werkzeug sie für die Beratung eines Patienten am geeignetsten hält, um einen Beziehungsaufbau herzustel len (Kocks / Segmüller, 2012, S. 61). Bis hierhin könnte man kritisieren, dass die Wittener Werkzeuge nicht wirk lich ein neues Konzept darstellen, da es Beratungsmodel le widerspiegelt, die es bereits in anderen Kontexten gibt. Das Besondere dieses Modells besteht darin, dass der Er folg der Beratung nicht nur von der Wahl eines passenden Werkzeuges, sondern ebenso von der Beratungsperson selbst abhängt. Laut Kocks, Segmüller (2012, S. 61) und Bamberger (2010, S. 003) führt dies zwangsläufig zur Frage, was eine gute Beraterpersönlichkeit ausmacht. Nach dem Postulat von G. Schmid haben Berater „…die Pflicht es sich in jeder Hinsicht gut gehen zu lassen- nur dann sind sie in der Lage, all ihre Potentiale dem Klienten der Klientin zur Verfügung zu stellen“ (Kocks / Segmüller, 2012, S. 61). Auf der Grundlage dieses Postulats wurden ebenfalls fünf Werkzeuge entwickelt, die sich nun an den
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Berater (SelfCare) richten. Auch hier lassen sich diverse Anwendungsbeispiele finden, die jede Beratungsperson für sich festlegt: Generell kann man sagen, dass die Wittener Werkzeuge nicht nur als „Tools“ für die Pflegepraxis stehen, sondern auch als Denkansatz angesehen werden sollten, der je nach Setting weiterentwickelt werden kann. Im Modellstudiengang Pflege wurden mündliche Prü fungselemente an die praktische Prüfung nach KrPflAPrV miteinander gekoppelt, was für die Implementierung der Wittener Werkzeuge als Prüfungsinstrument von Bedeu tung war.
Koppelung von mündlichen Prüfungsteilen an den praktischen Teil der Berufsprüfung im Modellstudiengang Der Modellstudiengang in Rheine ist ausgerichtet an der Modellklausel § 4 Abs. 6 KrPflG und der Verordnung über die Durchführung von Modellvorhaben zur Weiter entwicklung der Berufe in der Alten- und Krankenpflege, für Hebammen, Logopäden, Ergotherapeuten und Phy siotherapeuten vom 25. Februar 2010 des Landes NRW. Der Studiengang schließt mit dem ersten berufsqualifi zierenden akademischen Abschluss Bachelor of Science und auch primärqualifizierend mit dem Berufsabschluss in der Gesundheits- und Krankenpflege ab. Ausgehend vom generalistischen Ansatz der EU Richtlinie 2005/36/ EG Anhang V.2 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 7. September 2005 über die Anerkennung von Berufsqualifikationen orientiert sich der Transferort (praktische Anteile) an den pflegedidaktisch reflektierten Bildungszielen des jeweiligen Moduls. Die staatlich aner kannte Prüfung zur Erlaubnis zum Führen der Berufsbe zeichnung (§ 2 KrPflG) nach der Ausbildungs- und Prü fungsverordnung für die Berufe in der Krankenpflege (KrPflAPrV) kann regelhaft im siebten Semester abgelegt werden. Die inhaltlichen, strukturellen und rechtlichen Rahmenbedingungen zur Durchführung des Studien gangs Pflege werden in Abstimmung mit den zuständi gen Behörden eingehalten. Die mündliche Prüfung soll sich jeweils 10 bis 15 Minu ten auf folgende Themenbereiche der Anlage 1 Buchstabe A der KrPflPrV erstrecken: 1. Unterstützung, Beratung und Anleitung in gesundheitsund pflegerelevanten Fragen fachkundig gewährleisten 2. berufliches Selbstverständnis entwickeln und lernen, um berufliche Anforderungen zu bewältigen 3. bei der medizinischen Diagnostik und Therapie mitwir ken und in Gruppen und Teams zusammenarbeiten.
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Zwei der mündlichen Prüfungsteile (1 und 2) werden im Konzept Rheine mit der praktischen Prüfung nach § 15 verbunden. Als ein Kernproblem der praktischen Ausbildung, so erga ben es Realanalyse und pflegedidaktische Reflexion, stellte sich die sinnvolle Förderung zur Herausbildung eines Fall verstehens in der Pflegepraxis heraus. Während pflegewis senschaftlich und pflegepädagogisch an verschiedenen Stel len die Fähigkeit zum Verstehen des Falles in Anlehnung an Oevermann für die Professionalisierung der Pflege postu liert wird (Bartholomeyczik 2010, Sieger et al. 2010, Walter 2011), stellt sich die Pflegepraxis vielerorts gar nicht als ein Ort dar, an dem dies gefragt ist (Kühme 2014). Gefragt sind vor allem Funktionalität und Einpassung in Einzelprozesse des Systems Krankenhaus (vgl. Balzer 2009, Kühme 2009), was zu Lasten der Gesamtsicht auf den Patienten geht. An diesem Punkt stellte sich also die Aufgabe, die För derung eines Fallverständnisses bereits strukturell anzu legen. Für die Berufsprüfungen im Studiengang Pflege wurden die mündlichen Prüfungen nach § 14 KrPflAPrV (1 und 2) direkt im Anschluss an die praktische Prüfung nach § 15 gekoppelt. Drei Prüfungselemente beziehen sich somit auf eine reale, konkrete Patientengruppe. Hier durch wird das Fall- und Situationsverstehen an der kon kreten beruflichen Situation gefördert sowie die Entwick lung bzw. Umsetzung fallspezifischer Pflegekonzepte und die Gestaltung entsprechender Pflegesettings durch die Prüflinge fokussiert. Das bedeutet, dass sich die Prü fungsgespräche in den mündlichen Prüfungen nach § 14 (1 Unterstützung, Beratung und Anleitung in gesundheitsund pflegerelevanten Fragen fachkundig gewährleisten und 2 berufliches Selbstverständnis entwickeln und lernen, um berufliche Anforderungen zu bewältigen) auf die vorgefundene Fallkonstellation der Patientengruppe in der praktischen Prüfung nach § 15 beziehen. Während der Prüfungs schwerpunkt nach § 14 Teil 2 (berufliches Selbstverständnis entwickeln und lernen, um berufliche Anforderungen zu bewältigen) einer evidenzbasierten Auseinandersetzung in Anlehnung an Behrens/ Langer (2010) folgt (vgl. Zim mermann, Münch 2012), steht im Prüfungsteil 1 (Unterstützung, Beratung und Anleitung in gesundheits- und pflegerelevanten Fragen fachkundig gewährleisten) die Anleitung und Beratung mit Hilfe der Wittener Werkzeuge im Vor dergrund. Generell unterstützt das Prüfungskonzept die Ausrichtung, die Patientengruppe hinsichtlich ihrer indi viduellen Fallgeschichten zu beachten und den Pflegepro zess in den Prüfungsteilen abzubilden. Kennzeichnend ist, dass das Konzept die doppelte Handlungslogik als Merkmal professionellen Handelns (u. a. Oevermann 1996, Helsper 2000, Bartholomeyczik 2010) einfordert. Realer Patientenfall als Praxisanforderung und Wissens
Für das Prüfungskonzept in Rheine ist zu ergänzen, dass der mündliche Prüfungsteil 3 bei der medizinischen Diagnostik und Therapie mitwirken und in Gruppen und Teams zusammenarbeiten nach Abstimmung mit den Behörden an einem separaten Prüfungstag an der Hochschule stattfindet. Hierdurch wird gewährleistet, dass der Prüfungsvorsitzende nach § 4 (3) jeden Prüfling persönlich kennenlernt. Alle Abläufe der Prüfungen im Modellstudiengang Pflege entsprechen den Vorgaben der praktischen und mündlichen Prüfungen nach §§ 14,15 (KrPflAPrV). Aufgrund des besonderen Prüfungskonzeptes erstreckt sich der Prüfungszeitraum über zwei Tage, wobei die jeweils gesetzlich festgelegte Dauer für die praktische und mündliche Prüfung nicht überschritten wird.
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bestände der Wissenschaft werden in der Prüfung in ei nen gewinnbringenden Kontext gebracht. Praktische und mündliche Prüfungen2 bekommen in der Pflegepraxis einen neuen Stellenwert bzw. finden Aufmerksamkeit. Dies trifft somit auch für die Selbstund Fremdwahrnehmung der Pflegenden zum Thema Beratung und Anleitung zu. Edukation und Beratung durch Pflegende wird auf Basis der im Konzept umge setzten gesetzlichen Vorgaben nicht nur ernst genom men sondern auch in der Pflegerealität prominent abge bildet.
Die Wittener Werkzeuge als Prüfungs instrument in der gekoppelten Berufs prüfung Die genaue Prüfung der Ausbildungs- und Prüfungsver ordnung (KrPflAPrV) ergab, dass die Praxisanleitungen mit ihrer klinischen Expertise und Erfahrung nach § 4 (1) nicht zwingend von der mündlichen Prüfung nach § 14 (1 und 2) auszuschließen sind. Eine Beschränkung ergibt sich nur für den Prüfungsteil 3 nach § 14 (3), nach dem die Beteiligung eines Medizinpädagogen oder Mediziners zwingend ist. Diese Chance wurde in Rheine genutzt und Praxisanleitungen generell die Möglichkeit gegeben, ihre klinische Expertise als Prüfer in die Prüfungsteile 1 und 2 einzubringen. Mit Blick auf die schon angeführte doppel ten Handlungslogik für professionelles Handeln, die sich immer sowohl an der Praxisanforderung und wissen schaftlichem Wissen ausrichtet, personifizierten sich die Prüfungssituationen durch Vertreter der Berufspraxis und Lehrende der Hochschule. Da sich das Prüfungskon zept nur mit Hilfe einer größeren Anzahl von Prüfern umsetzen ließ, ergaben sich für die Vielzahl von Prüfern auch unterschiedliche Blickwinkel zur Beurteilung von Beratungssituationen. Aus diesem Grund war die schritt weise Einführung eines einheitlichen pflegerischen Bera tungskonzeptes auf Basis der Wittener Werkzeuge für alle an der Prüfung Beteiligten zwingend notwendig. Zu Vor bereitung auf die gemeinsamen Prüfungen wurden in den kooperierenden Kliniken Weiterbildungsseminare zu den Wittener Werkzeugen durchgeführt, die von Fach lehrern der Fachschulen und den Praxisanleitern besucht wurden.
Der Lehr-Lernprozess im Studienprogramm: Vorbereitung der Studierenden Die Auseinandersetzung mit den Wittener Werkzeugen vollzieht sich zirkulär durch das Studienprogramm vom ersten bis siebten Semester. An eine theoretische Einfüh rung im Vorlesungsseminar zu den Wittener Werkzeugen mit dem Schwerpunkt auf die Elemente PatientCare und SelfCare gekoppelt, gehen die Studierenden mit Hilfe eines Arbeitsauftrages vor und erarbeiten Anwendungsbeispiele aus der Praxis. Hierbei werden klassische Inhalte, wie bei
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spielsweise Grundlagen der Kommunikation und theoretische Beratungskonzepte aufgenommen, die zuvor in anderen Lehrveranstaltungen vermittelt wurden. Traditionelle Ver mittlungsinhalte werden mit den Werkzeugen reflektiert, vernetzt und mit der durch die Studierenden erfahrenen Pflegepraxis in den Zusammenhang gebracht. Die Auswer tung der Arbeitsleistungen erfolgt anschließend im Ple num, wobei die Arbeitsergebnisse protokolliert werden und die Protokolle den Studierenden als Hilfestellung für die Auseinandersetzung im weiteren Studienverlauf mit den Wittener Werkzeugen dienen. In einer weiteren Lehr- Lernsequenz (Seminar) wird das Element „PatientCare“ mit seinen Werkzeugen und An wendungsformen in simulierten Beratungssituationen eingeübt und videogestützt ausgewertet. Die videoge stützten praktischen Anwendungssequenzen werden in Kleingruppen von maximal acht Studierenden durchge führt und bereits als Trockenübung für einen Teil der Be rufsprüfung wahrgenommen. Der Vorteil ist, dass sich ab diesem Zeitpunkt die Lernenden immer wieder im „skill sLab“ erproben und ausprobieren können. Im weiteren Studienverlauf wird die Vernetzung mit der Pflegepraxis angebahnt. Das Konzept in Rheine sieht vor, dass an jedes absol vierte Modul eine Praxiszeit (Transferzeit) angeschlossen wird, in der die Studierenden Praxisaufträge (Transfer aufgaben) bearbeiten und im Folgesemester mit den Leh renden der Hochschule auswerten (vgl. Kühme, Narbei 2016). Im Rahmen der curricularen Umsetzung sind die Wittener Werkzeuge in einer modulgebundenen Transfer aufgabe aufgenommen und werden von den Studieren den im Abgleich mit ihrer praktischen Erfahrungsauf schichtung bearbeitet. Die Transferaufgabe verfolgt nicht nur das Ziel, dass die Studierenden ihr theoretisches Wis sen am Fall orientiert in der Praxis anwenden, sondern ebenso, dass die Pflegepraktiker von diesem Vorgehen partizipieren und Patientenberatung in der Pflegepraxis einen neuen Stellenwert bekommt. Im Rahmen der Transferaufgabe zu den Wittener Werkzeugen wählen die Studierenden an ihrem Praxisort einen authentischen Pa tientenfall aus, bei dem ein Beratungsbedarf vorliegt. Die Patientenfallauswahl erfolgt immer auf Basis der Praxis expertise der zuständigen Praxisanleitung. Rückblickend zeigte sich, dass gerade die Praxisanleiter / innen eine hohe Kompetenz besitzen, die Patienten sensibel und ethisch reflektiert auszuwählen, um Patientenschädigun gen zu vermeiden. Bereits an dieser Stelle bewährt sich das Konzept der Theorie-Praxis-Vernetzung in Rheine. Das Beratungsgespräch der Studierenden wird durch die Praxisanleiterin oder den Fachschullehrer beobachtet und protokolliert. Nach Abschluss der Beratung findet ein gemeinsames Reflexionsgespräch statt, in dem die Stu dierende nicht nur ihre Auswahl und Anwendung der Beratungs-Werkzeuge kritisch beurteilten, sondern auch den Pflegebedarf weiterführend diskutiert, der sich aus der Beratungssituation ergibt. Daran schließen sich erste Vor schläge an, wie dem Pflegebedarf im Pflegeprozess wei terführend begegnet werden sollte.
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Erste Ergebnisse aus der Evaluation Die Gesamtevaluation gilt noch nicht als abgeschlossen. Auszugsweise führen wir an dieser Stelle erste Ergebnisse einer Inhaltsanalyse an (Kohlstädt 2014), die nach May ring (2010) zur Evaluation des Prüfungskonzepts durchge führt wurde. Mit verschiedenen Beteiligten wurden leitfa dengestütze Interviews durchgeführt (n = 7). Bei vier der Personen handelte es sich um Fachlehrer der kooperieren den Berufsfachschulen. Die übrigen drei Personen gehö ren der Gruppe der Studierenden der ersten Studiengrup pe des Modellstudiengangs Pflege an. Für einen ersten Eindruck werden hier einige Kernaussagen dargestellt und mit Zitaten aus dem Untersuchungsmaterial belegt. Das von der Mathias Hochschule Rheine entwickelte Konzept zur praktischen Examensprüfung wird von allen Interviewteilnehmenden als positiv bewertet: Also, dass das Konzept herausgenommen wurde und ein „ Schwerpunkt auf Beratung gelegt wurde, finde ich gut.“ Die Herausstellung der Patientenedukation hat aus Sicht der Befragten den Blick darauf geschärft. Und diese Ein stellung gilt es im weiteren Berufsleben aufrecht zu erhal ten und, wo es möglich ist, auch anderen Pflegenden zu vermitteln. Auf diese Weise ließe sich u. U. der Stellenwert der Patientenedukation in der Pflegepraxis steigern und sichtbar machen. Die Kombination der mündlichen und praktischen Prü fung wurde von den Befragten hervorgehoben: … das Spannende ist ja, dass wir Praxis / dass wir da meh„ rere Prüfungsteile zusammengelegt haben. Wir haben ja Teile der Theorie an den Fall angehängt. Das fand ich auch höchst spannend.“ Es wurden aber auch Verbesserungsvorschläge für zukünf tige Prüfungen unterbreitet. So wurde z. B. die Prüfungsor ganisation auf Station über die drei Prüfungstage hinweg als schwierig empfunden. Weil es drei Tage / ein Drei-Tage-Zeitraum war. Und das „ geht (…) selten oder schwer konform mit der Belegungssituation in den Krankenhäusern. Mittlerweile eine Patientengruppe stabil über drei Tage zu behalten. Also da (…). Entweder hat man den Beratungsfokus gut im Blick gehabt, dann sind aber die Patienten aber schon wieder so mobil am dritten Tag der Prüfung, dass der pflegerische Anteil sehr kurz ist. Oder der Beratungsansatz. Man musste gucken, wie bekommt man es hin.“ Ob sich organisatorisch etwas daran ändern ließe, sei für die Interviewpartner / innen aber fraglich. Aufgrund der zunehmend geringeren Verweildauer von Patienten im Krankenhaus müsse von Fall zu Fall nach neuen Patienten gruppen gesucht werden. Des Weiteren wurde die edukative Prüfungssituation von Fachlehrern auch als künstlich und statisch moniert: PADUA (2017), 12 (1), 45–51
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… wenn man jetzt ein Fazit aus der Gesamtsumme ziehen „ sollte, kann man sagen, dass es oft ein bisschen künstlich erlebt wurde, weil klar war (…). Jetzt zu diesem künstlichen Prüfungszeitraum treffen wir uns zu einer Beratungssituation, die eigentlich losgelöst ist von anderen Dingen.“ Abschließend gab es von allen Interviewteilnehmern / in nen die Rückmeldung, dass sie eine Übertragung des Prü fungskonzeptes auf die allgemeine Ausbildung für sehr sinnvoll halten würden. Mit allen zuvor genannten positi ven Auswirkungen ließe sich so auch in der grundständi gen Ausbildung der Stellenwert der Patientenedukation weiter erhöhen und sichtbar machen. In der Prüfung an sich würde ich mir da auch wünschen, „ natürlich. Wenn ich gucke, wie unsere Prüfungen (dreijährige Ausbildung an der Fachschule. Anm. d. Verf.) aktuell gestaltet sind, dann sind die ganz stark verrichtungsorientiert, also kompensatorisch eher orientiert. Und natürlich würde ich mir wünschen, dass es vielleicht auch bewusst geplant hier auch eine richtig bewertete Beratungssequenz gibt.“
Zusammenfassender Rückblick Zum Vorgehen gab es in der Praxis in erster Linie positive Rückmeldungen, da das Prüfungskonzept die beratende Tätigkeit durch Pflege und die wissenschaftliche Reflexion von Pflegehandlungen hervorhebt. Hinzu kommt, dass die Prüfungssituationen auch seitens der Praktiker auf den Pflegestationen als realistischer wahrgenommen wurden, da sich die mündlichen Prüfungsteile auf die tatsächliche Praxissituation bezogen. Festzuhalten ist, dass Prüfungs prozesse einen statischen Rahmen bilden, der sich negativ auf die situativen Beratungsbedarfe von Patienten aus wirkt und die Prüflinge zu einem inszenierten Verhalten verleitet. Auch wenn der Wunsch besteht, das Thema Be ratung zu stärken, darf die Überlagerung einer staatlichen Prüfung auf die Prüflinge nicht unterschätzt werden. An dieser Stelle ist auch zu betonen, dass es sich trotz wissen schaftlicher Kompetenz um Berufsanfänger handelt, die noch nicht über genügend Erfahrungskompetenz verfügen (vgl. Benner 2000, Fichtmüller, Walter 2007), um sie in die Patienteninformation- und Beratung mit aufnehmen zu können. Generell kann aber festgehalten werden, dass Koppelung der Prüfungen und der Stellenwert von Eduka tion einen Diskussionsanschub auf den beteiligten Prü fungsstationen geleistet haben. Der Pflegealltag und das Thema Beratung werden durch die Pflegenden neu bewer tet. Zwei der kooperierenden Fachschulen prüfen das Vor gehen für die eigenen Institutionen, um es ggf. in die regel hafte Berufsausbildung zu übertragen. Wie die am Prüfungskonzept beteiligten Praxisanleite rinnen ihre neue Rolle bewerten, bleibt abzuwarten und soll noch an anderer Stelle dargestellt werden. Die Befun de aus der qualitativen Untersuchung werden im Koopera tionsverbund thematisiert und für das laufende Prüfungs konzept neu bewertet. ©2017 Hogrefe
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Prof. Dr. phil. Benjamin Kühme Prof. Dr. phil. Benjamin Kühme, Professor für Pflegewissenschaft im primärqualifizierenden Studiengang Pflege dual an der Hochschule Osnabrück b.kuehme@hs-osnabrueck.de Ralf-Georg Ruge Ralf-Georg Ruge, examinierter Krankenpfleger, Medizinpädagoge, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der PraxisHochschule Rheine, Doktorand an der medizinischen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster.
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Kurzlehrbuch zur professionellen Kommunikation im Pflegeprozess
Frau Susanne Stefanoni / Bernadette Alig
Pflegekommunikation Gespräche im Pflegeprozess 2009. 163 S., 2 Abb., 5 Tab., Kt € 34,95 / CHF 48.60 ISBN 978-3-456-84309-4 Auch als eBook erhältlich
Das Praxishandbuch zur Pflegekommunikation beschreibt ein Gesamtkonzept der Gespräche im Pflegeprozess. Die sieben Gespräche orientieren sich an den einzelnen Phasen des Pflegeprozesses, bauen aufeinander auf, sind zielgerichtet und erfüllen eine spezifische Aufgabe. Damit kann der Pflegeprozess gesteuert und als effektives Instrument zur Gestaltung der Pflege genutzt werden.
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Praxisorientiert und interprofessionell Lehre in der Medizinpädagogik
Durch eine subjektive Kompetenzeinschätzung von Studierenden der Medizinpädagogik vor und nach einem praxisorientierten, interprofessionell gestalteten Modul Fachdidaktik wurde der pädagogische Kompetenzerwerb im Bereich „Unterrichten“ ermittelt.
Einleitung Im Zuge aktueller Prozesse und Reformen der Lehrerbildung findet ein Umdenken in der Bildungswissenschaft statt. Empirische Hinweise belegen, dass das Lehramtsstudium nur äußerst geringe Wirkungen auf das spätere professionelle Handeln von Lehrenden hat (Häcker, 2011). Im Alltag orientieren sich Lehrende bei pädagogischen Entscheidungen vor allem an ihren eigenen beruflichen Erfahrungen (ebd.). Verschiedene Institutionen, wie Wissenschafts- und Bildungsorganisationen oder Kultusministerien, haben Expertisen und Leitlinien erarbeitet, die mit Bewertungen, Analysen und Verbesserungsvor schlägen aufwarten, welche die Lehrerbildung vereinheitlichen und verbessern sollen (KMK, 2004). 2004 hat die Kultusministerkonferenz in den „Standards für die Lehrerbildung: Bildungswissenschaften“ (ebd.) pädagogische Kompetenzen beschrieben, die innerhalb eines Lehramtsstudium erworben werden müssen. In diesem Kontext stehen auch Formen und Wirkung von praktischen Lerngelegenheiten der Lehrerbildung auf dem Prüfstand. Praktika gelten zwar als ein zentraler Baustein im Lehrerberuf (Korthagen, 2010), jedoch geben empirische Studien Grund zur Diskussion, ob Praktika einen wirklich positiven Effekt in der Lehrerbildung nach sich ziehen (Gröschner, Schmitt, 2010). Die vorliegende Arbeit thematisiert die Entwicklung und Erfassung von pädagogischen Kompetenzen, die durch praktische Lerngelegenheiten innerhalb eines interprofessionell angelegten Moduls Fachdidaktik im Studienmodell Medizinpädagogik erworben werden. Eine interprofessionelle Zusammenarbeit steht derzeit im Fokus von Gesundheitspolitik und Gesundheitsbildung. Das Miteinander im interprofessionellen Team muss bereits in der Ausbildung beginnen und sollte sich in der Fortbildung und im Studium fortsetzen. Interprofessionelle Ausbildung, Fortbildung und Lehre bedeutet, dass zwei oder
mehr Professionen von und miteinander lernen, mit dem Ziel, die Zusammenarbeit sowie die Qualität der gesundheitlichen Versorgung zu verbessern. Dabei wird ein wechselseitiger Austausch ermöglicht, der das Verständnis und die Zusammenarbeit der Berufsgruppen im Alltag unterstützt. (CAIPE, 2002) Medizinpädagoginnen und -pädagogen studieren berufsbegleitend und haben vorab eine Ausbildung in der Gesundheits- und Krankenpflege, Physiotherapie und anderen Gesundheitsberufen abgeschlossen. Vor dem Hintergrund der unterschiedlichen Berufsbiographien der Studierenden und der zukünftigen Anforderung, Auszubildende interprofessionell zu unterrichten und auf interprofessionelle Zusammenarbeit in der Praxis vorzubereiten, ist die Frage nach den Chancen und Möglichkeiten, Interprofessionalität im Studium praktisch erfahrbar zu machen, bedeutsam. Aus der Sicht der Bildungswissenschaften, erscheint die Frage, wie sich interprofessionelle Lehre gestalten lässt und wie die hierdurch erworbenen Kompetenzen überprüft werden können, äußerst relevant. Die vorliegende Arbeit geht der Frage nach, ob Studierende der Medizinpädagogik in einem praxisorientierten und interprofessionell angelegtem Modul Fachdidaktik einen pädagogischen Kompetenzzuwachs erfahren, indem sie selbst eine interprofessionelle Fortbildung planen, durchführen und reflektieren.
Hintergrund der Untersuchung Wirksamkeit praxisorientierter Lerngelegenheiten in der Lehrerbildung Im Zuge der Diskussion um die Lehrerbildung in Deutschland werden auch die praxisbezogenen Lerngelegenheiten modellhaft erprobt. Die zahlreichen Forderungen nach einer Erhöhung und qualitativen Verbesserung der Praxisanteile des Studiums und nach einer stärkeren Verzahnung von Theorie und Praxis in der Lehrerbildung (Terhart, 2000) hat die Kultusministerienkonferenz in ihren Standards für die Lehrerbildung aufgegriffen (KMK, 2004). Darüber hinaus wurde erörtert, welchen Beitrag Praxisphasen zur Kompetenzentwicklung im Lehramtsstudium leisten (Hascher, 2012). Praktika sind zentrale Bausteine für den Erwerb professioneller Handlungskompetenz im Lehrerberuf (Korthagen, 2010). Für Studierende nehmen die praktischen Anwendungen der eigenen Fähigkeiten eine besondere Rolle ein.
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Wissen und Forschen
von Christina Hemberger und Ulrike Morgenstern
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(Gröschner / Nicklaussen, 2008). Sacher (1988, S. 47) spricht gar von einem „Praxisfetischismus“ bei Studierenden. In seiner Befragung beurteilten die Studierenden ihre Praxiserfahrungen fast ausnahmslos als effizient und sprachen ihnen einen wichtigen Lerneffekt für die spätere Unterrichtspraxis zu (ebd.). Werden Lehramtsstudierende gefragt, welcher Bereich des Studiums aus ihrer Sicht den größten Beitrag zur eigenen Kompetenzentwicklung leistet, fällt die Antwort eindeutig auf das Lernen in der Praxis (Dörr et al., 2009). Jedoch ist das sogenannte „Herzstück“ der Lehrerbildung heftig umstritten (Hascher, 2006). Während Studierende mehr schulpraktische Erfahrungen einfordern, geben empirische Studien Grund zum Zweifel, dass dies einen positiven Effekt in der Lehrerbildung nach sich zieht (Hascher, 2012). Ein erfolgreiches Praktikum ist im besonderen Maße von der Praxisbegleitung und Betreuung der Studierenden abhängig (Hascher, 2006). Praktische Phasen stellen eine große Herausforderung für Studierende dar (Schubarth et al., 2012), da sie hier ihre theoretisch gelernten Kompetenzen anwenden sollen. Es kann zu einer negativen Wirkung des Kompetenzerwerbs kommen, falls Lernprozesse von negativen Emotionen und Erfahrungen überlagert werden (Hascher, Neuweg, 2012). Ohne Reflexion der Erfahrungen komme es zur bloßen Übernahme der erlebten Berufskultur (ebd.). Hascher (2005) beschreibt dieses Problem als „Erfahrungsfalle“. Sie zieht den Schluss, dass eine zusätzliche Praxiserfahrung nicht per se zu besserem Unterricht führt (ebd.). Siebert (2007) wertet dieses Phänomen jedoch als positiv. Neue Erfahrungen müssen bewertet werden und in bisherige Denkschemata erst integriert werden. Eine Irritation ist diesbezüglich als etwas Positives anzusehen, weil nur so neue Denkschemata entwickelt und neue Kompetenzen ausgebildet werden (ebd.). Eine Studie von Gröschner und Seidel (2012) hat gezeigt, dass diese neuen Denkschemata erst durch eine professionelle Bewertung zum positiven Erfolg führen. Die Kompetenzentwicklung in praktischen Phasen der Lehrerbildung ist nicht nur abhängig von der Qualität und Intensität der Praxisbegleitung, sondern hängt auch mit der Struktur bezüglich der Dauer und der Organisation des Praktikums zusammen (Flach et al., 1995). Als besonders ineffizient erwiesen sich Praxiserfahrungen, die wenig in die theoretische Ausbildung eingebettet waren. Selbsteinschätzungen der Kompetenzentwicklung durch praktische Phasen der Lehrerausbildung Nachdem die deutsche Kultusministerienkonferenz „Standards für die Lehrerbildung: Bildungswissenschaften“ verabschiedet hatte (2004), führte Gröschner 2008 eine Untersuchung durch, um die Kompetenzstufen empirisch zu evaluieren. Innerhalb dieser Untersuchung kam Gröschner zu dem Schluss, dass sich das von der KMK entwickelte Instrument zur Erfassung der Kompetenzen von Studierenden eignet (Gröschner, 2008). Seither wurden auf der Basis dieser Skalen mehrere Studien an Universitäten in Deutschland durchgeführt (u. a. Mohr, Ittel, 2011; Schubarth et al., 2012; Gröschner, Müller, 2013).
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Wissen und Forschen
Gröschner und Schmitt verwendeten 2010 im Rahmen des Projektes KLiP die KMK-Kriterien zur Erfassung von Kompetenzentwicklung und Lernerfahrungen im Praktikum. Durch Selbstbeurteilungen der Studierenden, kombiniert mit Fremdeinschätzungen fachbegleitender Lehrender, sollte die Kompetenzentwicklung der Studierenden im Praxissemester erfasst werden (Gröschner, Schmitt, 2010). Die Befunde zeigen, dass anhand der Selbstauskünfte der Studierenden in allen vier Kompetenzbereichen der KMK eine Kompetenzentwicklung im Praktikum stattfand. (ebd.). Nach Mayr (2006) spielen Praxisphasen für die Beurteilung des eigenen Studiums eine wichtige Rolle. Die Ergebnisse seiner Studie zeigen, dass die Einschätzungen über die eigenen Kompetenzen in erster Linie durch intensive Praxiserfahrungen generiert werden, weniger durch die Theorie (ebd.). Das bedeutet, dass Praktika einen großen Einfluss auf die persönliche Einschätzung des Studiums und der eigenen Fortschritte haben (Dieck, 2009). Eine besondere Form der intensiven Praxiserfahrung kann innerhalb der praxisorientierten Lehre gemacht werden. Das Studium der Medizinpädagogik B.A. orientiert sich an der Struktur von Lehramtsstudiengängen und ist praxisorientiert und interprofessionell ausgerichtet. Es befähigt grundsätzlich zur fachwissenschaftlichen und erziehungswissenschaftlichen Ausübung pädagogischer Tätigkeiten an Schulen für Gesundheitsberufen sowie an Fort- und Weiterbildungsstätten. Die Studierenden haben bereits eine Ausbildung in verschiedenen Gesundheitsberufen absolviert und unterscheiden sich hinsichtlich des Alters und der beruflichen (pädagogischen) Vorerfahrungen. In der Lehre wird einerseits die Interprofessionalität der Studiengruppe als Potential genutzt. Andererseits muss eine fachliche Differenzierung erfolgen, um den unterschiedlichen Fachprofessionen gerecht zu werden. Das Studium bereitet auf den Unterricht in verschiedenen Gesundheitsberufen und im Hinblick auf die Generalistik zukünftig auch in interprofessionellen Gruppen vor. Absolventen / innen des Studienganges Medizinpädagogik sollen zukünftig in der Lage sein, berufliche Handlungskompetenzen bei den Auszubildenden in den verschiedenen Gesundheitsberufen differenziert auszubilden. Um interprofessionell und kompetenzorientiert ausbilden zu können, müssen die Medzinpädagoginnen und –pädagogen selbst diese Kompetenzen besitzen. Hier gilt es, die Lehre so zu gestalten, dass „Interprofessionalität“ nicht nur ein theoretisches Konstrukt bleibt, sondern praxisnah umgesetzt und real erfahrbar wird.
Methodik und Material Im Rahmen der praxisorientierten Lehre im Modul Fachdidaktik wurde im Wintersemester 2015/2016 der pädagogische Kompetenzzuwachs von Studierenden der Medizinpädagogik, im Grundberuf Gesundheits- und Krankenpfleger / innen und Physiotherapeut / innen, durch eine subjektive Selbsteinschätzung erfasst.
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Abbildung 1. Medizinpädagogik: interprofessionell studieren
Der praktische Anteil des Moduls umfasste exemplarisch die Planung, Durchführung und Reflexion einer interprofessionellen Fortbildung zum Thema „Aktivierung bei Demenz“ für Pflegende, Physiotherapeuten sowie Betreuungskräfte und Angehörige von Menschen mit Demenz. Vorab wurde die Fortbildung im Rahmen der Lehre gemeinsam von Medizinpädagogen / innen und der Tutorin geplant. Die Studierenden wurden explizit darauf vorbereitet, im Teamteaching ihre pädagogische, pflegerische und physiotherapeutische Expertise einzubringen, indem passende Inhalte und geeignete didaktische Ansätze für die heterogene Gruppe der Fortbildungsteilnehmer / innen ausgewählt und angewendet wurden. Die Studierenden sollten in der Fortbildung die Kommunikation der Fortbildungsteilnehmer / innen untereinander fördern, dadurch eine Perspektivübernahme ermöglichen und Professionelle für die Bedürfnisse von Angehörigen und Betroffenen von Menschen mit Demenz sensibilisieren. Die Gruppe der Fortbildungsteilnehmer / innen bestand jeweils aus 15 – 20 professionell Pflegenden bzw. Therapierenden sowie Angehörigen von Menschen mit Demenz und Betroffenen, im Altersdurchschnitt 41 – 50 Jahre. Die vierstündige Fortbildung wurde zu vier Terminen mit jeweils einer Gruppe Fortbildungsteilnehmer / innen an jeweils einem der Präsenztage im Team von jeweils vier Medizinpädagoginnen und –pädagogen durchgeführt. Die Fortbildung bestand aus einem kurzen theoretischen Teil „Bedeutung und Konzepte von und zur Aktivierung bei Demenz “ und aus einem ausführlichen praktischen Teil,
in dem die Fortbildungsteilnehmer / innen in gemischten Kleingruppen unter Anleitung jeweils eines Medzinpädagogen Bewegungsübungen erprobten. Teilnehmerorientierte Methoden und die intensive Betreuung der Kleingruppen regten den intensiven Erfahrungsaustausch an. Im Anschluss erfolgten eine Reflexion der Erfahrungen und ein ausführliches Feedback durch die Tutorin. Herausforderungen, Probleme und offene Fragen wurden identifiziert und in der weiterführenden Lehre über das problemorientierte Lernen aufgegriffen. Stichprobenbeschreibung An der Untersuchung nahmen 17 Studierende der Medizinpädagogik teil, welche im sechsten Semester das Modul Fachdidaktik besuchten. Die folgende Abbildung zeigt ein Team in Vorbereitung auf die Fortbildung „Bedeutung und Konzepte von und zur Aktivierung bei Demenz “ Material Der Fragebogen zur subjektiven Selbsteinschätzung der pädagogischen Kompetenzen orientierte sich am standardisierten „Beurteilungsbogen für Lehrproben“. Aus diesem Beurteilungsbogen wurden 24 Kriterien zur Beurteilung der Planungs-, Durchführungs-, Steuerungs-, und Reflexionskompetenz in der Dimension „Unterricht“ extrahiert. Als weitere Grundlage für die Erstellung der Kompetenzselbsteinschätzungsbögen diente der bildungswissenschaftliche Ansatz der KMK (2004) zur Beschreibung
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beruflicher Anforderungen im Lehrerberuf. Hiervon wurde der Kompetenzbereich „Unterrichten“ gewählt. Der erste Teil des Fragebogens enthält Items für die soziodemograhischen Daten (Geschlecht, Alter). Des Weiteren erfasst ein Item zu Beginn des Fragebogens die pädagogischen Erfahrungen der Studierenden, die darin bestehenden Berufserfahrungsjahre und die Form der Anstellung (Festanstellung, Dozentenstelle, Praxisanleitung, Leitungsfunktion). Der zweite Teil des Fragebogens enthält acht Items zur Planungskompetenz (z. B. „Ich kann einen Unterricht unter Einhaltung wissenschaftlicher, formaler Kriterien und Vorgaben strukturiert vorbereiten“), acht Items zur Durchführungskompetenz (z. B. „Ich kenne unterschiedliche Unterrichtsmethoden und weiß, wie man sie anforderungs- und situationsgerecht einsetzt“), sechs Items zur Steuerungskompetenz (z. B. „Es gelingt mir, die soziale Interaktion der Gruppe anzuregen“) sowie zwei Items zur Reflexionskompetenz. Die Kompetenzeinschätzungen erfolgen jeweils über eine 7-Stufen Likert-Skala mit einer Distanzmaß-Formulierung (1 = gar nicht kompetent, 7 = voll kompetent). Die Distanzmaß-Formulierung wurde ausgewählt, um eine mögliche Überschätzung zu vermeiden (Hascher, 2006) und um ein Antwortverhalten der sozialen Erwünschtheit zu reduzieren. Ein Pretest wurde vorgeschaltet und entsprechende Änderungen eingepasst.
Ergebnisse Insgesamt wurden n = 17 Studierende im Modul Fachdidaktik zu zwei Zeitpunkten (t1 und t2) zu Beginn und am Ende des Semesters schriftlich befragt. Die Geschlechtsverteilung zeigt eine deutliche Gewichtung zugunsten weiblicher Probanden. Die Stichprobe bestand aus n = 3 männlichen und n = 14 weiblichen Studierenden, mit einem Durchschnittsalter von 31 – 40 Jahren. Drei Studierende waren über 50 Jahre alt. Alle Studierende hatten, mit durchschnittlich ein bis zwei Jahren Tätigkeit in der Lehre, bereits pädagogische Berufserfahrung. Die Hälfte der Studierenden (n = 8) war fest angestellt. Zusammenfassung der pädagogischen Kompetenzeinschätzung der Studierenden Insgesamt zeigte sich ein Zuwachs an pädagogischen Kompetenzen. Die Einschätzung in den Kompetenzkategorien Planungskompetenz, Durchführungskompetenz und Reflexionskompetenz steigerte sich vom Zeitpunkt t1 zu t2 um eine Niveaustufe (Abb. 2). Betrachtet man den Median im Vergleich, ist in diesen drei Bereichen eine deutliche Kompetenzsteigerung der Studierenden zu erkennen. In der „Kompetenz zur Steuerung der Lernaktivität“ hingegen ist anhand des Medianvergleichs keine Steigerung nachzuweisen. Hier hat sich der Median t1 Md = 5,0 gegenüber t2 Md = 5,0 nicht verändert. Betrachtet man jedoch den Mittelwert t1 M = 5,2, t2 M = 5,4 lässt sich eine sehr geringe Kompetenzerweiterung erkennen. PADUA (2017), 12 (1), 53–58
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Studierende mit über zwei Jahren Lehrtätigkeit schätzten sich in der t1 Erfassung deutlich besser ein (Md = 6,0), als Studierende mit unter zwei Jahren Lehrtätigkeit (Md = 5,0). In der t2 Erfassung hingegen zeigte sich nur ein minimaler Unterschied zwischen den Studierenden mit und ohne Lehrtätigkeit. Bei beiden Gruppen war ein minimaler Kompetenzzuwachs zu erkennen. Bei den Studierenden mit über zwei Jahren Lehrtätigkeit betrug der Unterschied der Mittelwerte 0,2 (t1 M = 5,7; t2 M = 5,9) und bei den Studierenden mit unter zwei Jahren Lehrtätigkeit 0,1 (t1 M = 5,1; t2 M = 5,2). Für die Einzelbetrachtung der pädagogischen Kompetenzkategorien wurde mittels eines Wilcoxon-Tests die Signifikanz geprüft. Dieser zeigte, dass der Unterschied in den Mittelwerten zwischen den Zeitpunkten t1 und t2 aufgrund der kleinen Stichprobe nicht signifikant wurde. Die folgende Abbildung verdeutlicht den Kompetenzzuwachs in den einzelnen Kompetenzkategorien (Abb. 2).
Diskussion Zusammenfassung der Ergebnisse des pädagogischen Kompetenzerwerbes der Studierenden Der Vergleich der subjektiv eingeschätzten Kompetenzen zu den Zeitpunkten t1 und t2 zeigte, dass in der Wahrnehmung der Studierenden durch die praxisorientierte interprofessionelle Lehre im Modul Fachdidaktik die Planungsund Durchführungskompetenz verbessert werden konnte, es aber wenig Kompetenzzuwachs in der Reflexion und kein Kompetenzzuwachs zur Steuerung der Lernaktivität gab. Die Kompetenz zur Steuerung der Lernaktivität bezieht sich auf den Umgang, die Motivation und die Steuerung der Lerngruppe. Das bedeutet, dass die Studierenden weder vor noch nach der Lehre im Modul Fachdidaktik sich als kompetent einschätzten, die Gruppe der Fortbildungsteilnehmer zu motivieren und zielorientiert aktiv zu leiten. Vermutlich war die Herausforderung auf die unterschiedlichen Vorkenntnisse und Bedürfnisse einer sehr heterogenen Gruppe spontan zu
Abbildung 2. Pädagogische Kompetenzeinschätzung von Stu dierenden zur Planungskompetenz von Unterrichtseinheiten ©2017 Hogrefe
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regieren, besonders hoch. Die Erwartungen und das Vorwissen der Fortbildungsteilnehmer unterschieden sich deutlich, was die Steuerung und Motivierung der Gruppe erschwerte. Außerdem erfolgte die Moderation und Steuerung der Gruppenaktivitäten im Teamteaching, was zusätzliche und spontane Absprachen der Studierenden untereinander erforderte. In allen Kompetenzbereichen schätzten sich die Studierenden zum ersten Befragungszeitpunkt in ihren pädagogischen Kompetenzen als eher kompetent bis überwiegend kompetent ein. Das liegt vermutlich daran, dass alle Studierenden zum ersten Erfassungszeitpunkt pädagogische Berufserfahrung hatten, im sechsten Semester studierten und im Verlauf des Studiums bereits berufspädagogische Module absolvierten. Außerdem unterrichten alle Studierenden studienbegleitend und konnten ihre pädagogischen Kompetenzen durch praktische Anwendung erweitern, was sich zum Erfassungszeitpunkt t1 in der hohen Kompetenzbeurteilung der Studierenden zeigte. Andererseits war die Stichprobe bezüglich des Alters und der pädagogischen Berufserfahrung sehr heterogen. Drei Studierende waren bereits über 50 Jahre alt und hatten über zehn Jahre Berufserfahrung. Die Inhomogenität der Berufserfahrungen zeigte sich in einer sehr differenzierten Kompetenzeinschätzung der Studierenden. Studierende mit mehr als zwei Jahren Berufserfahrung schätzten sich deutlich besser ein als Studierende mit weniger als zwei Jahren beruflicher Erfahrung. Hier zeigte sich ganz klar, dass Studierende, die mehr Erfahrung in einer Lehrtätigkeit hatten, vorab (t1) annahmen, höhere pädagogische Kompetenzen zu besitzen, als Studierende mit weniger Berufserfahrung, die sich als weniger kompetent einschätzten. Jedoch kam es anschließend (t2) zu einer deutlich kritischeren Kompetenzeinschätzung der Studierenden mit mehr beruflicher Vorerfahrung. In der Durchführungskompetenz im Item „Ich kann den Unterricht auf die Stärkung der Handlungskompetenz ausrichten.“ zeichnete sich hinterher eine negativere Selbsteinschätzung als vorher ab. Dies kann daran liegen, dass sich diese Studierenden in ihrer Durchführungskompetenz im Item „Ich kann den Unterricht auf die Stärkung der Handlungskompetenz ausrichten“, vorher überschätzten. Eine praktische Lerngelegenheit kann auch verunsichern und irritieren und bisherige Annahmen der eigenen Kompetenz in Frage stellen. Möglicherweise waren aber auch die als hoch eingeschätzten Kompetenzen zum ersten Erfassungszeitpunkt dem Effekt der sozialen Erwünschtheit unterzogen, so dass hinterher eine Korrektur und eine realistische Einstellung der eigenen Kompetenzen erfolgte. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass in der Einschätzung der Studierenden sowohl eine Kompetenzsteigerung, aber auch eine Irritation durch die herausfordernde praktische Lerngelegenheit stattgefunden hat. Anspruchsvolle, praktische Lerngelegenheiten innerhalb eines Moduls scheinen sich in der subjektiv wahrgenommenen Verfügbarkeit der beurteilten Kompetenzen abzubilden.
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Interpretation der Ergebnisse mit dem aktuellen Forschungsstand In Anlehnung an die Expertiseforschung und die derzeitigen Diskussionen in der Lehrerbildung wurde davon ausgegangen, dass Praxisphasen in der Lehre bei zukünftigen Lehrkräften zu einem Zuwachs der pädagogischen Kompetenzen führen (vgl. u. a.; Gröschner, Seidel, 2012; Hascher, 2006). Diese Auffassung konnte in der vorliegenden Studie tendenziell für die Durchführungskompetenz und Planungskompetenz, nicht aber für die Steuerung der Lernaktivität und nur geringfügig für die Reflexionskompetenz bestätigt werden. Die vorliegenden Ergebnisse lassen vermuten, dass die Erfahrungen, die in der interprofessionell orientierten praktischen Lerngelegenheit gesammelt wurden, eine überwiegend positive Wahrnehmung des eigenen Kompetenzzuwachses bei den Studierenden zur Folge hatten. Die Chance, im Teamteaching von der Expertise der jeweils anderen Berufsgruppe zu profitieren, könnte zu dieser positiven Einschätzung geführt haben. Allerdings wurden die Unterschiede in den Kompetenzeinschätzungen aufgrund der kleinen Stichprobe nicht signifikant. Außerdem ist die Möglichkeit, einen signifikanten Kompetenzzuwachs zu erzielen, innerhalb eines Moduls und im Zeitraum eines Semesters deutlich begrenzt. Studierende sollten im gesamten Verlauf des Studiums mehr praktische Lerngelegenheiten erhalten, um pädagogische Kompetenzen zu entwickeln. Wie auch Mayr (2006) bereits feststellte, führt nur eine intensive Auseinandersetzung mit der Praxis im Studium zu einer umfangreichen Ausbildung der Kompetenzen. Des Weiteren konnte eine Irritation identifiziert werden, die bereits von Hascher Neuweg 2012 in Verbindung mit Praxisphasen beschrieben wurden. In der Beurteilung des Items „Ich kann den Unterricht auf die Stärkung der Handlungskompetenz ausrichten“ zeichnete sich zum zweiten Erfassungszeitpunkt eine Verminderung der eingeschätzten Kompetenz der berufserfahrenen Studierenden ab. Offensichtlich waren die Studierenden durch die praktische Lerngelegenheit verunsichert und stellten anschließend ihre eigene Kompetenz in Frage. Durch praktische Erfahrungen können Studierende irritiert werden, was sich nachträglich auf ihre Einstellungen und ihre Kompetenzeinschätzung auswirkt. (Hascher, Neuweg, 2012). Die Anforderungen an die Planung und Durchführung einer interprofessionellen Fortbildung sind außerdem deutlich höher als beim Unterricht im eigenen Ausbildungsberuf. Möglicherweise trat hier der von Hascher und Neuweg beschriebene „Praxisschock“ ein und ließ die Studierenden ihre Kompetenzen hinterher realistischer beurteilen als vor der Fortbildung. Dieses Problem beschrieb Hascher (2005) auch als „Erfahrungsfalle“. Sie zieht den Schluss, dass eine zusätzliche Praxiserfahrung nicht immer zu einem Kompetenzzuwachs führt (ebd.). Andererseits wertet Siebert (2007) dieses Phänomen als positiv. Neue Erfahrungen müssen bewertet werden und in bisherige Denkschemata erst integriert werden. Eine Irritation ist diesbezüglich als etwas Positives anzusehen, weil nur so neue Denkschemata entwickelt und neue Kompetenzen ausgebildet werden.
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Darüber hinaus wurde aufgrund des bisherigen Forschungsstandes vermutet, dass Vorerfahrungen in einer Lehrtätigkeit keinen Einfluss auf die Kompetenzeinschätzung haben (Gröschner, Müller, 2013; Oesterhelt et al., 2012). Dies kann durch die eigenen Ergebnisse nicht bestätigt werden. Mehrjährige Erfahrungen im Unterrichten führten zu einer subjektiv besseren Kompetenzeinschätzung. So zeigten auch Ophardt (2006) und Gröschner et al (2012), dass sich Studierende mit mehr als zwei Jahren pädagogischer Vorerfahrung in einer Lehrtätigkeit tendenziell besser ein einschätzten als Studierende, die weniger als zwei Jahre im Lehrerberuf arbeiteten. Inwiefern sich eine grundlegende Einführung von Praxisanteilen im Vergleich zur bisherigen Modulgestaltung qualitativ lohnt, kann an dieser Stelle nicht geklärt werden. Vielmehr sind hierfür weitere Untersuchungen notwendig, die mehrperspektivisch und multikriterial vorgehen. So sollten weiterführende Studien neben der subjektiven Selbsteinschätzung auch Fremdeinschätzungen und zusätzlich Interviews mit Fragen zur Qualität der Zusammenarbeit und gemeinsamen Lernen im interprofessionellen Team sowohl bei den Medzinpädagoginnen und -pädagogen als auch bei den Fortbildungsteilnehmern einsetzten.
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Christina Hemberger Medizinpädagogin B. A. MTRA. christinahemberger@t-online.de
Prof. Dr. Ulrike Morgenstern Professorin für Medizinpädagogik an der Medical School Berlin. Gesundheits- und Krankenpflegerin mit Intensivpflegeausbildung, Pflegepädagogin und Sport Lehramt Sek.II. ulrike.morgenstern@medicalschoolberlin.de
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„Ich wollte doch nur helfen“ Aggressionsmanagement in der Altenpflegeausbildung
War es der überraschende Schlag, oder das Erschrecken darüber, dass nicht sein kann, was nicht sein darf – die Erfahrung mit Gewalt während einer pflegerischen Tätigkeit? Die Erfahrung und Konfrontation von Gewalt und Aggression im Rahmen ihrer Arbeit prägt die Auszubildenden, manchmal ihr ganzes Berufsleben lang. Die Autorin beschäftigte sich in ihrer Bachelorarbeit mit dem Thema Aggressionsmanagement in der Altenpflegeausbildung und der Entwicklung eines zweitägigen Projektes, das erfolgreich umgesetzt wird. Der britische Kriminalitätsbericht aus dem Jahr 2000 besagt, dass Pflegekräfte ein viermal höheres Risiko h aben, mit Gewalt konfrontiert zu werden, als andere Berufsgruppen (Feyerabend,2005). Nau berichtet in seinem Buch zum Thema Aggressionen und Aggressionsmanagement von ähnlichen Zahlen, die sich auf Auszubildende beziehen. Im Jahr 2006 wurde eine Umfrage unter 407 Auszubildenden in Gesundheits- und Krankenpflegeberufen im deutschsprachigen Raum durchgeführt: 44 % der Befragten fühlten sich ein oder mehrmals bedroht, 75 % hatten verbale Angriffe oder Beschimpfungen erlebt und 35 % waren während ihrer beruflichen Tätigkeit schon ein- oder mehrmals tätlich angergriffen worden (Nau, 2012). In der Altenpflegeausbildung berichteten Schüler / innen der Autorin ihre Aggressionserfahrungen. Nachfolgend einige Beispiele: „Die Bewohnerin hat mich an den Haaren gezogen und sogar ein Haarbüschel ausgerissen“, „Er gab mir bei jeder Grundpflege einen Klaps auf den Hintern und niemand reagierte“, „Als der Patient mir bei der Grundpflege mehrmals an die Brust fasste, meinte seine Ehefrau nur, dass er das nicht so meine.“ Eine dunkelhäutige Schülerin berichtete: „Die Bewohnerin beschimpfte mich und meinte, dass ich mich erst einmal waschen solle, bevor ich sie anfasse“. Diese Aussagen sind erschreckend! Sie werfen die Frage auf, wo Gewalt beginnt. Bei einem Wort, einer Aussage? Erst bei körperlicher Gewalt? Kann nonverbal Gewalt ausgeübt werden?
Unterscheidungen der Gewaltformen Die in der Literatur am häufigsten auftretenden Formen von Gewalt werden nachfolgend erläutert. Dabei behin-
dert die Strukturelle Gewalt die Entfaltung von Personen, die in einer Abhängigkeit von anderen Personen stehen (zum Beispiel der Pflegekraft). Diese Strukturen werden von Gesetzen oder wirtschaftlichen Rahmenbedingungen vorgegeben. Grond nennt hierzu die Beispiele des Mangels an Privatfreiheit, Personalmangel, Vorgaben des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen. Opfer von struktureller Gewalt können sowohl Pflegende wie auch Pflegebedürftige werden. Für strukturelle Gewalt gibt es viele Ursachen, einige davon sollen beispielhaft genannt werden (Grond, 2007): • Gefährdung durch mangelnde Privatsphäre der Bewohner / innen • Personalmangel und damit verbunden die Schwierigkeiten, individuelle Lösungen für die älteren Menschen zu finden • rigide Hausordnungen • teilweise sehr kleine Bewohnerzimmer • fehlende Möglichkeiten, sich auseichend zu bewegen, vor allem bei Bewohnern mit erhöhtem Bewegungsdrang • strikte Tagesstrukturen (Zu-Bett-Geh-Zeiten, Essenszeiten etc.) und die fehlende Ressourcen, dies zu ändern • „langweilige“ Tageszeiten, vor allem an Sonn- und Feiertagen oder am Abend Die kulturelle Gewalt bezieht sich auf Traditionen und Sitten, die dazu dienen, strukturelle Gewalt zu rechtfertigen. Grond nennt dazu das Beispiel der abendländischen Kulturen, der Ideologie vom Patriarchat, wonach die Frau dem Manne Untertan sein sollte, oder auch der rein naturwissenschaftlichen Medizin, die sich dadurch zeigt, dass Naturheilmittel von Krankenkassen nicht gezahlt werden. Direkte Gewalt oder personale Gewalt ist ein Ausdruck einer gestörten Beziehung. Sie lässt sich in verschiedene Formen untergliedern (Bauriedel, 1995): • körperliche Gewalt / psychische Gewalt: Bedrohungen, sprachliche Gewalt, freiheitsentziehende Maßnahmen, aktive und passive Vernachlässigung • finanzielle Gewalt: Ausbeutung finanzieller Ressourcen. Indirekte Gewalt ist eine Form der strukturellen Gewalt, die durch Rahmenbedingungen oder kulturelle Gewalt besimmt ist. Oftmals werden die Schüler und Schülerinnen mit ihren Gewalterfahrungen alleine gelassen. Die Auszubildenden schämen sich und /oder geben sich selbst die Schuld. Diese Schuldzuweisungen werden teilweise von Aussagen
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von Sandra Wirth
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durch Kollegen und Kolleginnen unterstützt. „Stell dich nicht so an.“ „So schlimm wird es nicht gewesen sein“, „Das gehört mit zum Beruf “, „Er / Sie meinte es bestimmt nicht so“ - solche und ähnliche Aussagen wurden während der ersten Projekttage der Dozentin berichtet.
Scham als Tabuemotion „Scham bestimmt unsere seelische Gestimmtheit mehr als Sex oder Aggressionen. Scham ist überall“ (Lewis, 1993). Der Psychologe Michael Lewis bringt es mit nur einem Satz auf den Punkt, was die Scham für den Menschen bedeutet. Wie nachhaltig Beschämung sein kann, sieht man am Beispiel der Inuit im Umgang mit ihren Kindern. Nähern sich die kleinen Kinder der Inuit zu sehr der gefährlichen Eiskante, kommt die ganze Gruppe der Erwachsenen in sicherem Abstand zusammen, um das Kind auszulachen. Die Inuit setzten Häme gezielt als pädagogisches Mittel ein, um ihre Kinder von der gefährlichen Eiskante und dem eiskalten Wasser fernzuhalten (Bleckwedel, 2008). Die Emotion Scham ist dabei ein subjektives Gefühl, das in ganz unterschiedlicher Intensität vorkommen kann. Die Gefühle reichen von Verlegenheit, Gehemmt sein, Schüchternheit oder Peinlichkeitsempfinden über quälenden Selbstzweifel (Marks, 2011). Dabei können die Schamgefühle kurzfristig auftauchen, ausgelöst durch eine bestimmte Situation oder aber chronisch auftreten. In seinem Buch: „Scham – die tabuisierte Emotion“ listet Marks dabei sechs verschiedene Arten der Scham auf. Vor allem die „Anpassungs-Scham“ kann die Auszubildenden belasten. Diese Variante der Scham bezieht sich dabei auf die eigene Person. Ausgelöst wird diese Scham dadurch, dass die Person den herrschenden Erwartungen und Normen nicht entspricht. Dabei kann sich diese Scham laut Marks auf den eigenen Körper oder aber persönliche Eigenschaften beziehen (Marks, 2011). „Weil nicht sein kann, was nicht sein darf “ und den Auszubildenden oftmals Hintergrundwissen fehlt, wieso es zu einer aggressiven Handlung kam, schämen sie sich. Dabei kann auch eine Rolle spielen, dass viele Auszubildende einen Beruf im Gesundheitswesen ergreifen, um anderen Menschen zu helfen. Die Motivation „anderen Menschen helfen zu wollen“ wurde in einer Umfrage deutlich, die das Norddeutsche Zentrum der Pflege (NDZ) 2009 in Auftrag gegeben hatte. Insgesamt wurden 848 Personen befragt, darunter Schulabsolventen und Auszubildende in der Pflege am Ende des ersten Ausbildungsjahres. Auf Rang drei der Motive fand sich mit 93,2 % die Motivation, anderen helfen zu wollen bei den Auszubildenden. Wird diese hohe Prozentzahl mit den Aussagen von Schulabgängern verglichen, die eventuell einen Pflegeberuf in Erwägung ziehen, findet sich die Motivation, anderen helfen zu wollen, nicht unter den ersten fünf Plätzen (Bögemann-Großheim,2011) Zum Umgang mit Gewalt bedarf es einer Selbsterfahrung mit Aggression, so Grond in seinem Buch Gewalt gegen Pflegende (Grond, 2007). Pflegende müssen sich zunächst klarmachen, dass jeder Mensch fähig ist, aggressiv PADUA (2017), 12 (1), 59–64
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zu handeln. Darüber zu sprechen ermöglicht den Pflegekräften, sich und den Gegenüber besser zu verstehen. Wer aggressive Gefühle hat, ist kein schlechter Mensch, wem Aggressionen im Pflegealltag widerfahren ist, ist keine schlechte Pflegekraft und hat vor allem nicht versagt. Aus diesem Grund ist es einer der wichtigsten Ansätze zur Verarbeitung von Gewalterfahrungen, die Problematik Aggression aus der Tabuzone zu holen und zu thematisieren. Ein guter Grundstein sollte hierfür bereits in der Ausbildung gelegt werden um die zukünftigen Fachkräfte für das Thema zu sensibilisieren.
Die Emotion Schuld Wie auch Scham ist Schuld eine Emotion, die negativ belastet ist. Der Sozialpsychologe Rees definiert Schuld als unangenehme Emotion, die in der Regel in direkter Reaktion auf spezifisches Fehlverhalten erlebt und daher oft mit Verantwortlichkeit und einer Tendenz zur Wiedergutmachung (zum Beispiel in Form einer „Ent“-Schuldigung) assoziiert wird (Rees, 2013). Wieso aber fühlen sich Pflegekräfte nach Gewalterfahrung schuldig? Ist es das Gefühl, versagt zu haben? Vielleich sogar eine schlechte Pflegekraft zu sein, die nicht in der Lage ist, sich an die vier Grundelemente des ICN Ehrenkodex zu halten? Im besagten Ehrenkodex heißt es schon in der Präambel: „Pflegende haben vier grundlegende Aufgaben: Gesundheit zu fördern, Krankheit zu verhüten, Gesundheit wiederherzustellen, Leiden zu lindern. Es besteht ein universeller Bedarf an Pflege. Untrennbar von Pflege ist die Achtung der Menschenrechte, einschließlich des Rechts auf Leben, auf Würde und auf respektvolle Behandlung. Pflege wird mit Respekt und ohne Wertung des Alters, der Hautfarbe, des Glaubens, der Kultur, einer Behinderung oder Krankheit, des Geschlechts, der sexuellen Orientierung, der Nationalität, der politischen Einstellung, der ethnischen Zugehörigkeit oder des sozialen Status ausgeübt. Die Pflegende oder der Pflegende übt ihre beziehungsweise seine berufliche Tätigkeit zum Wohle des Einzelnen, der Familie und der sozialen Gemeinschaft aus; sie koordiniert ihre Dienstleistungen mit denen anderer beteiligter Gruppen“ (DBfK, 2010). Hat sich die Pflegekraft zu aufreizend angezogen oder aber in ihrem Verhalten eine aggressive Gegenreaktion provoziert? Das sind Fragen, die nach Auffassung der Autorin an Schuldzuweisungen erheblich mitwirken können. Dass sich Auszubildende selbst die Schuld an erfahrener Gewalt geben, zeigte sich während der Projekttage. Erschwerend kommt hinzu, dass, wie bereits berichtet, auch Kollegen und Vorgesetze falsch handeln können, wenn ihnen von einer Gewalterfahrung berichtet wird. Schuldzuschreibungen von Außenstehenden ermutigen nicht, offenzulegen, was der betroffenen Pflegekraft widerfahren ist. Dieses Offenlegen ist aber notwendig, um das Thema Aggression gegenüber Pflegekräften aus der Tabuzone zu holen. Wer sich selbst die Schuld an der erfahrenen Aggression gibt, schämt sich dafür. Wer sich schämt, geht nicht an die Öffentlichkeit. ©2017 Hogrefe
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Auswirkungen von erlebter Aggression im Pflegealltag Hat sich die Medizin lange Zeit nur mit der Behandlung der körperlichen, sichtbaren Verletzungen von gewalttätigen Übergriffen befasst, werden heutzutage auch die psychischen Folgen mitberücksichtigt. Die seelischen Verletzungen heilen wesentlich langsamer als die körperlichen Verletzungen. Werden psychische Verletzungen nicht rechtzeitig erkannt, können lebenslange seelische Narben entstehen, die bis zur Berufsunfähigkeit führen können. Zu den typischen Zeichen nach einem traumatischen Erlebnis zählt, dass das Erlebte ungewollt in Träumen oder Gedanken auftaucht. Alles, was an die erlebte Situation erinnert, kann ein Gedankenkarussell auslösen, ein ähnliches Gebäude oder Zimmer, eine Ähnlichkeit einer Person, Geräusche, etc. Wird eine solche Angststörung nicht erkannt und behandelt, entsteht eine Abwärtsspirale aus Rückzugs-und Vermeidungsverhalten, Depression bis hin zur möglichen Suchterkrankung (Schambortski, 2008). Die häufigsten Symptome nach traumatischen Erlebnissen sind: • Schlafstörungen • Reizbarkeit • Ängste • Appetitlosigkeit • Antriebslosigkeit Zu den manifesten Störungsbildern gehören: • Depressionen • Angststörungen wie Phobien, Panikattacken oder posttraumatische Belastungsstörungen • Amnesien ohne Hirnschädigung: die Erinnerung an das traumatische Erlebnis fehlt völlig • andauernde Schmerzen ohne organische Ursachen • Suchtmittelmissbrauch Posttraumatische Belastungsstörungen definiert Schambortski in ihrem Buch wie folgt: „Wenn traumatische Erlebnisse nicht angemessen bewältigt werden, können körperliche und seelische Symptome auftreten. Körperliche zeigen sich in Übelkeit, Muskelzittern, Schwindel, Schüttelfrost, Schweißausbrüche, einem erhöhterm Puls und Blutdruck oder einer veränderten Atmung. Rasche Ermüdbarkeit, übertriebene Schreckreaktion, Albträume, Unruhe, Schlafstörungen, Gedächtnis- und Konzentrationsstörungen gehören zu den seelischen Reaktionen. Dazu kommen Schuldgefühle, Hoffnungslosigkeit und Angst. Besonders quälend können „Flashbacks“ sein, die den Betroffenen erneut in das traumatische Erlebnis stürzen. Ausgelöst durch Impulse, die an die traumatische Situation erinnern, läuft diese wie ein Film immer wieder in den Gedanken des Opfers ab“. (Schambortski, 2008) Die Gewerkschaft Verdi weist zum Thema Folgen von Gewalt in ihrem Artikel „Gewalt in der Pflege“ darauf hin, dass die Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege im Bezirk Delmenhorst 15 Monate lang Übergriffe erfasst und ausgewertet hat, dabei waren schwere körperliche Angriffe eher selten, aber immerhin ein Drittel
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der Betroffenen waren länger als drei Tage arbeitsunfähig (Feyerabend, 2005).
Aggressionsmanagement Aggressionsmanagement kann verschieden interpretiert und definiert werden. Für die Autorin ist der Begriff mit zwei Settings verknüpft. Einmal die Prävention von aggressiven Handlungen, zum anderen aber auch das angemessene Verhalten in der vorhandenen Aggressionsaktion. Für Letzteres soll beispielhaft die Situation genannt werden, welche Lösungsansätze es gibt, wenn ein Patient / Bewohner gegenüber einer Pflegekraft gewalttätig wird. Zum Beispiel beide Hände der Pflegekraft fest umklammert, oder die Pflegekraft an der Arbeitskleidung zu sich zieht.
Deeskalierende Verhaltensweisen In der Literatur sind dazu verschiedene Definitionen zu finden. So beschreibt Duden (Duden online 2014) Deeskalation mit der Bedeutung der stufenweisen Verringerung oder Abschwächung eingesetzter Mittel. Aus diesem Grund wird die Verfasserin besonders auf die Bereiche eingehen, bei denen präventiv gearbeitet werden kann. Nau et al. hingegen formulieren Deeskalation als eine Interaktion zur Anwendung in einem spezifischen Ausschnitt des Eskalati llem auf die Beruhigung onsprozesses: „Deeskalation ist vor a und das Begreifen-Wollen der aggressiven / emotionalen Person ausgerichtet, mit der Zielsetzung, die normale Kommunikation wieder zu ermöglichen, wobei das Hauptziel immer ist: Vermeidung jeder (weiteren) Eskalation. Die Deeskalation ist deshalb nicht auf die Lösung des vorhandenen Problems ausgelegt und eine entsprechende Argumentation zur Sache muss deshalb auch unterbleiben. In eskalierenden Situationen muss deshalb deeskalierend gearbeitet werden (weil der Erhalt des Kontaktes mit der Gegenseite und die Vermeidung einer Eskalation eindeutig Vorrang haben)“ (Nau et al, 2012). Diese Auslegung der Autoren ist Grundlage für die Projekttage. Zum einen haben die Auszubildenden wenig Einfluss auf strukturelle Gegebenheiten, zum andern ist es wichtig, in der akuten Situation deeskalierend zu reagieren.
Bisherige Lehrinhalte In der Berufsausbildung geht es in erster Linie darum, aus Pflegenovizen Pflegeexperten zu machen, freilich können die Auszubildenden keine Pflegeexperten mit dem Tag des Examens sein. Dennoch werden entscheidende Grundsteine für das Expertentum während der Ausbildung gelegt. Dazu gehört auch der Umgang mit Aggressionen in verschiedenen Settings der Altenpflege. Wie die Zahlen im vorausgegangenen Text zeigen, ist es dringend notwendig, das Thema nicht mehr zu verschweigen, sondern bereits in der Ausbildung zu thematisieren. In den verschiedenen Lernbereichen wird das Thema aufgegriffen, aber nicht ver-
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Tabelle 1. Übersicht der Ziele und die thematische Einordnung Übergeordnete Ziele der beruflichen Handlungskompetenz
Die Auszubildenden kennen die professionelle Haltung bei Gewalt und Aggression und erweitern ihre Kompetenzen in diesem Bereich
Spezielle Lernziele (kompetenzorientierte Formulierung)
Die Auszubildenden: • können Gewalt und Aggression unterscheiden und kennen die verschiedenen Formen von Gewalt und Aggression • wissen um die Entstehung von Aggression und Gewalt und kennen die verschiedenen Theorien • wissen um die Bedeutung der Emotion Scham und die Auswirkungen dieser Emotion • wissen um die Auswirkungen von Gewalt • kennen verschiedene Ansätze von Deeskalation • kennen deeskalierende Verhaltensweisen und können diese Verhaltensweisen anwenden
Übersicht über die notwendigen Lern- und Leistungsvoraussetzungen für die Bearbeitung des ausgewählten Themas
Die Auszubildenden kennen: • Grundkenntnisse der Begriffe Aggression und Gewalt • die Grundlagen der verschiedenen Kommunikationstechniken • Rollenverhalten in verschiedenen Gesprächssituationen, Ich-Du-Botschaften • Grundlagen des professionellen Berührens • Privatsphäre, Intimsphäre, Intimzonen und die kulturellen Unterschiede im Umgang damit
knüpft oder fächerübergreifend behandelt. So werden im ersten Lehrjahr Basiswissen zu psychiatrischen Erkrankungen und die Grundlagen der Rechtskunde vermittelt. Im zweiten Jahr die Milieugestaltung, im dritten Ausbildungsjahr erst die Entstehung von Aggression. Der Umgang mit erfahrener Gewalt wird nicht speziell erwähnt, sondern könnte wenn, dann im Ermessen des Dozenten untergebracht werden. Im Lehrplan ist hierfür das Thema „Umgang mit belastenden Situationen“ hinterlegt (Lehrplan für die Berufsfachschule für Altenpflege, 2009).
oder auch Etappenziele erreicht werden. Dabei ist an bereits vorhandene Lehrinhalte der Altenpflegeausbildung anzuknüpfen und ein vernetztes Unterrichten erforderlich. So muss der Lehrinhalt der Kommunikation nicht noch einmal unterrichtet und vermittelt werden, sondern vielmehr wird auf das vorhandene Wissen zurückgegriffen. Die wichtigsten Etappenziele (Nau, 2012): • Erlernen von Bleibe-,Schutz-, Befreiungs-, und Fluchttechniken • Vermittlung einer interaktionistischen, situationsausgerichteten Betrachtungsweise
Ziele für die Auszubildenden
Zusätzlich wichtig: • Der professionelle Umgang mit Scham bei Aggressionserfahrung • Rechtliche Aspekte im Hinblick auf Erfahrungen mit Gewalt und Aggression kennen
Als Hauptziel lässt sich die professionelle Haltung bei Erfahrungen mit Gewalt und Aggression nennen. Dieses große Lernziel kann aber nur durch kleinere Lernziele Tabelle 2. Curriculare Einordung Lernbereiche:
1 2 3 4
Aufgaben und Konzepte in der Altenpflege Unterstützung bei der Lebensgestaltung Rechtliche und institutionelle Rahmenbedingungen Altenpflege als Beruf Religionsgeragogik Evangelische und katholische Religionslehre
Lernfelder:
1.3 2.2
Alte Menschen personen- und situationsbezogen pflegen Alte Menschen bei der Wohnraum- und Wohnumfeldgestaltung unterstützen
3.3
Institutionelle und rechtliche Rahmenbedingungen beim altenpflegerischen Handeln berücksichtigen
4.1 4.3 4.4
Berufliches Selbstverständnis entwickeln Mit Krisen und schwierigen sozialen Situationen umgehen Die eigene Gesundheit erhalten und fördern
1.3 2.2
Pflege von Menschen mit psychiatrischen Erkrankungen Wohnbedürfnisse und Wohnprobleme alter Menschen Körperverletzung, Gewalt in der Pflege Ethische Herausforderungen in der Pflege Gewalt in der Pflege Belastungen am Arbeitsplatz Religionsgeragogik Konfliktfelder: Gewalt in der Pflege
Teillernfeld
3.1 4.1 4.3 4.4 Lernsituationen
Selbsterfahrungen, Frontalunterricht, Gruppenarbeit
Zeitlicher Umfang
Insgesamt zwölf UE, aufgegliedert in zwei Tage à sechs UE
Vorschlag für die zeitliche Verortung
Mitte des zweiten Ausbildungsjahres
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Tabelle 3. Zeitplan Projekttag 1 Lernfeld
Zeit
Lernziele
1.3
2 UE
Die Schüler kennen den Unterschied von Aggression und Gewalt und kennen die wichtigsten Theorien zur Entstehung von Aggression (Wiederholung und Vertiefung von Ausbildungsjahr eins).
4.3
Mit Krisen und schwierigen sozialen Situationen umgehen - Gewalt in der Pflege
2 UE
Die Schüler erkennen die Formen von Gewalt und berichten von evtl. eigener Betroffenheit.
4.4
Die eigene Gesundheit erhalten und fördern - Belastungen am Arbeitsplatz
1 UE
Die Schüler erkennen die Belastung, wissen um die Auswirkungen von nicht thematisierten Gewalterfahrungen, kennen die psychischen Folgen
3.1
Institutionelle und rechtliche Rahmenbedingungen beim altenpflegerischen Handeln berücksichtigen
1 UE
Die Schüler kennen die Begriffe Notwehr, Notstand (Wiederholung Ausbildungsjahr eins) wissen um die rechtlichen Reaktionsmöglichkeiten
Religion 4.1
Religionsgeragogik Konfliktfelder: Gewalt in der Pflege Ethische Herausforderungen in der Pflege
2 UE
Die Schüler erkennen ethische Problemfelder im Zusammenhang mit Gewalt (Berufsethik, etc.)
4.3
Mit Krisen und schwierigen sozialen Situationen umgehen - Gewalt in der Pflege
3 UE
Die Schüler kennen Deeskalationsmöglichkeiten und können diese anwenden
1 UE
Die Schüler geben Feedback zum Projekt und können offene Fragen klären
Projekttag 2
Thematische Einordung Da ein lernbereichs- und lernfeldübergreifendes Lernen stattfinden soll, wird eine mögliche Zuordnung aufgelistet. Grundlage für die Zuordnung ist der Lehrplan für Berufsfachschulen für Altenpflege des Ministeriums für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg (Lehrplan für die Berufsfachschule für Altenpflege, 2009).
Implementierung des Projektes Das Projekt wird mit Auszubildenden am Ende des zweiten Ausbildungsjahres umgesetzt. Somit ist gewährleistet, dass diese bereits über Basiswissen und auch Erfahrungswissen verfügen. Vor der Durchführung der zwei Projekttage lernen die Schüler / innen die Grundlagen zur Entstehung von Aggression. Die zwei Projekttage umfassen jeweils sechs Unterrichtseinheiten. Es ist sinnvoll, im Anschluss an die jeweils sechs Unterrichtseinheiten nochmals zwei Unterrichtseinheiten Ethik anzuhängen. Somit können die Auszubildenden das Erlernte noch einmal aus ethischer Perspektive aufarbeiten. Der erste Projekttag befasst sich vor allem mit den folgenden Themen: Definition Gewalt und Aggression, Formen der Gewalt, Entstehung von Gewalt und den Folgen von Gewalterfahrungen. Auch werden rechtliche Reaktionsmöglichkeiten bei Gewalterfahrung aufgezeigt. Da es bereits in den ersten Unterrichtseinheiten des ersten Projekttages zu Selbsterfahrungen der Schüler / innen in Zusammenhang mit Gewalt kommt und den Auszubildenden die Möglichkeit gegeben wird, über eigene Gewalterfahrungen im Pflegealltag zu berichten, ist es di-
daktisch sinnvoll, zwischen dem ersten und zweiten Block gewisse Zeit verstreichen zu lassen. Angedacht ist hier eine Zeitspanne von wenigen Tagen bis maximal einer Woche. Der zweite Projekttag hat den Schwerpunkt Deeskalation und deeskalierende Verhaltensweisen. Als Einstieg werden die Emotionen Scham und Schuld näher betrachtet. Anschließend werden Formen der Deeskalation aufgezeigt. Die Schüler und Schülerinnen haben im letzten Teil des Projektes die Möglichkeit, deeskalierende Verhaltensweisen praktisch auszutesten. Die Auszubildenden werden an beiden Tagen mit Selbsterfahrungen konfrontiert werden. Dazu erfolgt die Arbeit zu Anfang in Kleingruppen und einem geschützten Umfeld. Anschließend können die Schüler / innen in der Klasse von ihren Erfahrungen berichten. Kein Auszubildender, keine Auszubildende muss sich äußern, jeder kann sich aber äußern, in welcher Form auch immer.
Fazit Das Projekt „Aggressionsmanagement“ wird von den Auszubildenden der DAA Berufsfachschule für Altenpflege sehr positiv reflektiert. Eine große Anzahl der Schüler / innen zeigte sich erleichtert, dass sie mit ihren Gewalt erfahrungen nicht alleine sind, nicht selbst schuld sind am Erlebten. „Ich bin froh zu wissen, dass es meinen Mitschüler / innen genauso ergeht“, war eine treffende Aussage zu der Erleichterung. Aber auch das Erschrecken darüber, wie oft Gewalt im Pflegealltag vorkommt, wo Gewalt beginnt und nicht nur körperliche Gewalt vorkommt, ist für die Auszubildenden eine wichtige Lernerfahrung. Das
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Thema Aggression im Pflegealltag muss thematisiert werden. Dabei ist es wichtig, auch auf die Entstehung von Gewalt einzugehen, die biographischen Hintergründe der Bewohner / innen zu berücksichtigen. Das Wissen darüber, wieso beispielsweise pflegeabhängige Personen sich nicht gerne duschen möchten, oder wieso bestimmte Rituale für die Bewohner / innen wichtig sind, gilt es zu erkunden. Ziel sollte sein, diese bedeutenden biographischen Themen der Bewohner / innen im hektischen Pflegealltag zu beachten, um Gewalt zu vermeiden. Aber auch das Wissen um die Befreiungstechniken und deeskalierende Verhaltensweisen sind wichtige Lerninhalte für die Auszubildenden.
Literatur Bauriedel T. (1995). Wege aus der Gewalt. Analyse von Beziehungen. Freiburg: Herder. Deutscher Berufsverband für Pflegberufe (2010) ICN Ethikodex für Pflegende. Berlin: DBfK. Duden (2014). Deutsches Wörterbuch. http://www.duden.de/ rechtschreibung/Deeskalation [Zugriff: 20.06.2014] Feyerabend E. (2005). Schwarzes Brett vom 16. Dezember 2005. http//www.drei./verdi.de [Zugriff: 20.06.2014]. Grond E. (2007). Gewalt gegen Pflegende. Altenpflegende als Opfer und Täter. Bern: Huber. Hax-Schappenhorst T., Kusserow A. (2014). Das Angst Buch für Pflege- und Gesundheitsberufe. Bern: Huber. Lewis M. (1993). Scham. Annäherung an ein Tabu. Hamburg: Kabel. Lorenz K. (1998). Das sogenannte Böse. Zur Naturgeschichte der Aggression. München: Deutscher Taschenbuch Verlag. Marks S. (2011). Scham – die tabuisierte Emotion. Ostfildern: Patmos. Ministerium für Kultus, Jugend, Sport Baden- Württemberg(2009). Schulversuch Lehrplan für die Berufsfachschule für Altenpflege
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Nau J.(2011). Bewältigung von Krisensituationen im Kontext chronischer Erkrankungen Studienbrief 3 Gewalt in der Pflege. Studienbrief der HFH Hamburger Fern-Hochschule Nau J., Oud N., Walter G. (2012). Aggression und Aggressionsmanagement. Praxishandbuch für Gesundheits- und Sozialberufe. Bern: Huber. Nolting H.-P. (2005). Lernfall Aggression. Wie sie entsteht. Wie sie zu vermeiden ist. Hamburg: Rowohlt. Pulvermüller W., Willig T. Ebel M., Erben G. (1998) Psychologie, Soziologie, Gesprächsführung in der Altenpflege. Balingen: Selbstverlag Willig. Rees J. (2013). Deutsche Emotionen: Soziale Identität, gruppenbasierte Scham und Erinnerungskultur in Deutschland. The Inquisitive Mind 1 http://de.in-mind.org/article/deutsche-emotionen-soziale-identitaet-gruppenbasierte-scham-und-erinnerungskultur-in?page = 3 [Zugriff: 20.06.2014]. Riemann F. (1999). Grundformen der Angst. München: Ernst Reinhardt. Rost W. (2001). Emotionen Elixiere des Lebens. Heidelberg: Springer. Schambortski H.(2008) Mitarbeitergesundheit und Arbeitsschutz. München: Elsevier. Selg H., Mees U., Berg D. (1997). Psychologie der Aggressivität. Göttingen: Hogrefe. Zimbardo P. G. (1995). Psychologie. 6., neu bearb. und erw. Aufl. Berlin: Springer.
Sandra Wirth, B.sc Health Care Studies Stellvertretende Schulleitung und Dozentin an der Berufsfachschule für Altenpflege in Aalen aggressionsmanagement@web.de
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Lernen aus Fehlern Strukturierte Reflexion von Sturzereignissen mit dem „Learning from Defects-Tool“
Das „Learning from Defects Tool“ (LFD-Tool) ermöglicht systematische Analysen unerwünschter Ereignisse basierend auf dem Modell der organisationalen Unfallentstehung (Reason, 1997). Im Universitätsspital Basel setzen Pflegeexpert / innen1 dieses Tool nach Sturzereignissen mit schweren Verletzungen ein, um mit Pflegeteams Risiken, Fehler aber auch Verbesserungsmöglichkeiten zu reflektieren.
Einleitung Pflegende leisten einen wichtigen Beitrag zum Aufbau der Sicherheitskultur im Spital und damit auch zur Patientensicherheit (Brennan et al., 2013; Rochefort et al., 2015). Durch das gemeinsame Lernen aus unerwünschten und kritischen Ereignissen tragen sie zu einer proaktiven Sicherheitskultur bei. Unerwünschte Ereignisse (UEs) sind Vorkommnisse bzw. Ereignisse während eines Spitalaufenthaltes, die möglicherweise, aber nicht zwangsläufig zu einem Schaden für den Patienten führen (Thomeczek et al., 2004). Die alleinige Implementierung von Fehlermeldesystemen reicht für das Lernen aus unerwünschten Ereignissen jedoch nicht aus. Ergänzend sollten Strukturen und Prozesse implementiert werden, die neben einer systematischen Analyse von unerwünschten Ereignissen und Risiken auch das gemeinsame Lernen und Verändern der Praxis unterstützen (Pfeiffer / Wehner, 2012). Im folgenden Beitrag wird das Analyseinstrument „LFD-Tool“ (engl. LFD: Learning from defects = sinngemäss „Lernen aus Fehlern“) vorgestellt (AHRQ , 2012). Es unterstützt eine strukturierte Reflexion von unerwünschten Ereignissen und fördert das gemeinsame Lernen im interprofessionellen Behandlungsteam (Pronovost et al., 2006). Die Methode wird Studierenden am Institut für Pflegewissenschaften der Universität Basel vermittelt und ist daher einer zunehmenden Anzahl von Pflegeexperten / innen in seiner englischen Originalversion bekannt. Für den Einsatz im Universitätsspital Basel (USB) wurde das Tool übersetzt und an den deutschschweizerischen Sprachgebrauch und Kontext angepasst. Erste Erfahrun-
gen in der Einführung und Anwendung der Methode durch Pflegende werden geschildert. Es folgt eine kritische Diskussion zum Schulungsaufwand und zur Anwendung dieser Methode im interprofessionellen Behandlungsteam.
Theoretischer Hintergrund: Sicherheitskultur Eine positive, proaktive Sicherheitskultur ist durch ein gemeinsames Verständnis zu Fragen der Patientensicherheit im lokalen Kontext, z. B. innerhalb des interprofessionellen Behandlungsteams auf einer Station, gekennzeichnet. Sie basiert auf einem gemeinsamen, geteilten Bewusstsein und Verständnis für vermeidbare Ereignisse und klinische Risiken. Sie zeigt sich im klinischen Alltag in einem gemeinsamen, sicherheitsförderlichen Verhalten aller Teammitglieder (Pfaff et al., 2009). Die Entwicklung einer positiven, proaktiven Sicherheitskultur kann von Kliniken durch die Schaffung entsprechender Strukturen und Prozesse gefördert werden ( Fleming / Wentzell, 2008). In der Literatur werden dazu verschiedene Ansatzpunkte diskutiert. Eine der wichtigsten Empfehlungen lautet, anhand der Analyseergebnisse der lokalen Sicherheitskultur geeignete Strategien und Massnahmen abzuleiten (Fleming / Wentzell, 2008; Halligan / Zecevic, 2011). Für das USB liegen Angaben zur Sicherheitskultur aus der Schweizer RN4CAST-Studie vor (Ausserhofer et al., 2012). Im Rahmen dieser Studie wurde 2010 bei Pflegenden die Wahrnehmung der Sicherheitskultur in Spitälern erhoben und von ihnen lediglich als moderat eingestuft (ebd.). Sowohl die nationalen als auch die lokalen Studienergebnisse am USB zeigten: Das gemeinsame Lernen aus unerwünschten Ereignissen, die kritische Reflexion des pflegerischen Alltags sowie das proaktive Engagement im Umgang mit Risiken waren eher gering ausgeprägt. Diese Ergebnisse bestätigt auch die internationale Fachliteratur: Das Lernen im Kontext von klassischen Fehlermeldesystemen, z. B. CIRS, erfolgt eher unsystematisch (Pfeiffer / Wehner, 2012) und Verfahren bzw. Methoden zur Analyse von UEs werden nur unvollständig oder inkorrekt angewendet (National Patient Safety Foundation, 2015; Wu et al., 2008).
Im Sinne besserer Lesbarkeit wird im Text die weibliche Form verwendet. Selbstverständlich sind auch männliche Pflegeexperten angesprochen.
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Informiert sein und Handeln
von Susanne Hoffmann, Dorothea Helberg, Irena Anna Frei
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Informiert sein und Handeln
Verbesserung der Sicherheitskultur am USB
Analyse von unerwünschten Ereignissen
Diese Studienergebnisse und Hinweise aus der Fach literatur boten ideale Ansatzpunkte für ein pflegege leitetes Programm zur Verbesserung der Patientensicherheit im USB, welches seit 2012 aufgebaut wurde. Zur pflegegeleiteten Weiterentwicklung der Sicherheitskultur wurden zwei Ansatzpunkte identifiziert: 1) pfle gerisch relevante, unerwünschte Ereignisse durch eine Fehlerberichterstattung offen legen sowie analysieren und 2) Gefahren für Patienten durch die Identifikation und Steuerung von Risiken frühzeitig antizipieren sowie die pflegerische Tätigkeit entsprechend planen und umsetzen. Das Programm ist in der strategischen Zielsetzung der Pflege verankert und wurde im Rahmen der im USB etablierten Kultur der Praxisentwicklung implementiert. Praxisentwicklung fokussiert weniger die Implementierung einzelner Interventionen sondern setzt vielmehr auf die reflexive Pflegepraxis und die Transformation von Kultur und Kontext (Frei et al., 2012; McCormack et al. 2013). Als handlungsleitende Werte werden Partizipation und das kontinuierliche Lernen anhand konkreter Fälle und Fragestellungen aus der Praxis in den Vordergrund gestellt, um vor allem die Nachhaltigkeit bei der Implementierung von evidenzbasierter Praxis zu gewährleisten (RNAO, 2012). Obwohl die Bausteine des Patientensicherheitsprogramms spitalweit einheitlich angeboten werden, ermöglicht dieses Vorgehen die Berücksichtigung lokal unterschiedlicher Sicherheitskulturen sowie stationsspezifische Lösungsansätze für sicherheitsrelevante Problemstellungen.
Zur Analyse von Mechanismen der Fehlerentstehung wurde in einem Konsensverfahren das englische Instrument „Learning from defects“-Tool (LFD-Tool) als g eeignet erachtet. Bei diesem Tool handelt es sich um eine adaptierte Version der Root-Cause-Analyse nach London-Protokoll (Taylor-Adams / Vincent, 2007). Es basiert auf dem Modell der organisationalen Unfallentstehung nach James Reason (1997) und ermöglicht eine systemische Perspektive auf die Entstehung unerwünschter Ereignisse (AHRQ , 2012; Pronovost et al., 2006). Das heisst, mögliche Ursachen der unerwünschten Ereignisse werden auf verschiedenen Ebenen innerhalb und ausserhalb der Organisation gesucht, wobei vor allem auch die wenig offensichtlichen (latenten) Ursachen e ntdeckt werden sollen. Die Methode r ichtet sich an das g esamte Behandlungsteam. Das L FD-Tool eignet sich besonders für die Analyse von unerwünschten Ereignissen mit hoher Wiederauftretenswahrscheinlichkeit oder von Ereignissen mit hohem Schadenspotenzial für den Patienten, z. B. Medikationsfehler, Sturzereignisse, nosokomialer Dekubitus (Schwendimann / Ausserhofer, 2016). Der Einsatz der Methode umfasst drei Phasen (vgl. Abb. 1). Für jede Phase und die dazugehörigen Arbeitsschritte werden Arbeitsaufträge bzw. Fragen formuliert, die eine stützende Struktur und Wegleitung für die Analyse von unerwünschten Ereignissen bieten. Phase 1: Was ist passiert? Das unerwünschte Ereignis wird im Dialog mit den betroffenen und beteiligten Personen in seinem Ablauf rekonstruiert und so weit wie möglich objektiv beschrieben.
Abbildung 1. Vorgehen bei einer vertieften Fallanalyse mit dem LFD-Tool (Darstellung nach AHRQ, 2012; Pronovost et al., 2006) PADUA (2017), 12 (1), 65–69
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Informiert sein und Handeln
Phase 2: Warum ist es passiert? Alle Faktoren, die positiv oder negativ zum UE beigetragen haben, werden identifiziert und hinsichtlich ihrer Relevanz für das aktuelle und für zukünftige Ereignisse klassifiziert. Phase 3: Wie können wir dieses Ereignis zukünftig vermeiden? Das Instrument forciert die Ableitung und Planung von Massnahmen für jeden relevanten Faktor und unterstützt bei der Priorisierung.
Analyse von Sturzereignisse mit dem LFD-Tool Am USB wurde das Instrument vorrangig im Rahmen des ebenfalls pflegegeleiteten Sturzpräventionsprogramms getestet und eingesetzt. Zwischen Februar und Juli 2015 führte die Leiterin des Sturzpräventionsprogramms auf drei Bettenstationen gemeinsam mit den Pflegeexpertinnen der Stationen sechs Analysen von Sturzereignissen durch. Es handelte sich um Sturzereignisse mit schweren Verletzungsfolgen für die Patientinnen. Fünf Fallanalysen wurden mit dem Pflegeteam, eine lediglich mit der Pflegeexpertin durchgeführt. In Phase 1 erfolgte die Rekonstruktion des Sturzhergangs. Dazu führten die Programmleitung und die jeweilige Pflegeexpertin zeitnahe Gespräche mit den zustän digen Pflegefachpersonen – Stunden beziehungsweise wenige Tage nach dem Sturz. Die Patientendokumentation wurde eingesehen und es erfolgte eine Begehung des Sturzortes mit der Pflegeexpertin und den zuständigen Pflegefachpersonen. Die Begehung diente dazu, Erinnerungen an relevante Details zu triggern und dadurch weitere mögliche Interventionen zu identifizieren. Der Ablauf des Sturzereignisses, soweit dieses rekonstruiert werden konnte, wurde dann anhand eines Zeitstrahls dargestellt. Phase 2 wurde von der Programmleitung und der jeweiligen Pflegeexpertin vorbereitet und anschliessend in einer 30- bis 45-minütigen Sitzung gemeinsam mit dem Pflegeteam durchgeführt. Eine durch die Pflegeexperten vorab erstellte Auflistung der Einflussfaktoren wurde vom Pflegeteam ergänzt und ggf. korrigiert. Alle Faktoren wurden einzeln hinsichtlich ihrer Relevanz für das aktuelle UE aber auch für zukünftige Patientensituationen gewichtet. Auf diese Weise wurden die relevantesten beitragenden Faktoren identifiziert. Dieses Vorgehen verhin-
Beispiele: Ein Patient wurde nachmittags von der Intensivstation aufgenommen. Die übergebende Pflegefachperson erwähnte nicht, dass der Patient am Vorabend noch delirant und unruhig gewesen war. Als der Patient abends auf der Bettenstation erneut delirant wurde, konnte keine 1:1 Betreuung mehr organisiert werden. Nach der Analyse legte das Pflegeteam fest,
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dass zukünftig bei jeder Verlegung von der Intensivstation wieder aktiv nach Delir gefragt wird. Bei unklarem Zustand des Patienten wird dieser vor Übernahme auf der Intensivstation besucht, um gemeinsam den Pflegebedarf auf der peripheren Bettenstation besser einschätzen zu können. Dies war in der Vergangenheit bereits einmal beschlossen worden, wurde aber aufgrund des Zeitaufwands nicht mehr gemacht. In einem anderen Fall war eine Patientin mit Gangun sicherheit auf dem Weg zu ihrem Rollator gestürzt. Dieser stand zur Sturzzeit am Tisch und nicht am Bett. Das Pflegeteam legte fest, wieder vermehrt darauf zu achten, dass Mobilitätshilfen in Reichweite der Patienten sind.
dert voreilige Schlüsse auf vermeintliche Ursachen des Ereignisses und ermöglicht das Erkennen von wiederkehrenden Ursachen und Mustern für das Entstehen von unerwünschten Ereignissen. Das gesamte Behandlungsund Pflegeteam kann in dieser Phase praxisnah, am konkreten Fall lernen. In Phase 3 wurden Interventionen zur Vermeidung beziehungsweise zur Minimierung der identifizierten Einflussfaktoren erarbeitet. Nach sechs Fallanalysen von Sturzereignissen evaluierten die Leiterinnen der Programme Patientensicherheit und Sturzprävention den Einsatz des LFD mit einer SWOT-Analyse. Deren Ergebnisse werden in diesem Artikel nur exemplarisch und in ihrem praktischen Bezug zu den Sturzereignissen aufgezeigt. Eine erneute Evaluation ist angedacht. Die bislang wenigen aber intensiven Erfahrungen mit dem LFD-Tool zeigen bereits einen positiven Effekt. Ausgewählte Ergebnisse der Analyse der Sturzereignisse Während der Fallanalysen war die Atmosphäre in den Pflegeteams durch Offenheit geprägt. In allen Pflegeteams konnte dadurch eine Sensibilisierung für das Vorliegen beeinflussbarer Sturzrisiken erreicht werden. Dadurch erkannten die Pflegenden Handlungsmöglichkeiten, die sie vorher nicht für möglich gehalten hatten. Dieser Aspekt ist im Zusammenhang mit Sturzprävention besonders bedeutsam, da sich in allen Sturzereignis-Analysen eine Kombination mehrerer Patientenfaktoren zeigte, wie z. B. Gangunsicherheit zusammen mit Unruhe- und Verwirrtheitszuständen bei Delir. Diese patientenbezogenen Risikofaktoren können während der kurzen Dauer eines Akutspitalaufenthaltes oft nicht (z. B. vorbestehende Gangunsicherheiten) oder zumindest nicht kurzfristig (z. B. Delir) beeinflusst werden, tragen aber erheblich zum Sturzrisiko bei. Zu Beginn einer Fallanalyse standen diese Patientenfaktoren deshalb für die Pflegeteams oft im Vordergrund. Dies erschwerte es ihnen, Handlungsmöglichkeiten zu erkennen: „Unsere Patienten sind eben so komplex, da kann man Stürze nicht verhindern“ (Aussage einer Pflegefachperson). Durch die systematische Identifikation aller zum Sturz beitragenden Faktoren erkannten die Pflegenden, dass ne-
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ben Patientenfaktoren auch weitere Faktoren beteiligt waren, wie z. B. Kommunikation oder Arbeitsabläufe. Auf Ebene dieser Faktoren konnten die Teams oft Handlungsmöglichkeiten erkennen. Dies waren sowohl neue Handlungsmöglichkeiten, als auch Erinnerungen an solche, die im Alltag „vergessen gegangen“ waren (Aussagen von Teilnehmenden einer Fallanalyse). Durch das Aufzeigen von Einflussfaktoren auf den unterschiedlichen Ebenen gelang es, Schuldzuweisungen zu vermeiden. Erwartungsgemäß wurden in den Sturzanalysen auch organisationale bzw. systembedingte Ein flussfaktoren erkannt, auf die Pflegende nur begrenzten Einfluss haben. Dazu gehören u. a. Prozesse, die die Zusammenarbeit und Kooperation der ärztlichen und therapeutischen Berufspersonen bedingen. An diesen Beispielen zeigte sich, der Einfluss der lokalen (Sicherheits-) Kultur besonders deutlich und es mussten Abstriche beim konsequenten Einsatz des LFD-Tools vorgenommen werden. Zu diesen Faktoren konnten bislang keine nennenswerten Verbesserungsmassnahmen initiiert werden. Dies führte in den Pflegeteams teilweise zu Unzufriedenheit.
Kritische Reflexion des LFD-Tools Um die Sicherheitskultur positiv zu beeinflussen, ist die Auseinandersetzung mit einer systematischen Vorgehensweise zur Analyse und Reflexion von unerwünschten Ereignissen unabdingbar. Das LFD-Tool bietet diese Systematik. Gleichzeitig ermöglicht das Instrument eine partizipative Vorgehensweise und berücksichtigt dabei die Prinzipien der Praxisentwicklung (McCormack et al., 2013). Das Instrument kann arbeitsplatznah von Pflege experten angewendet werden, um im Pflegeteam vorhandenes Wissen über Risiken, tatsächliche und potentielle unerwünschte Ereignisse bzw. Fehler, aber auch Verbesserungsmöglichkeiten systematisch zu reflektieren. Es ist jedoch notwendig, den Einsatzbereich des LFD-Tools spitalintern zu definieren, um bei einer Häufung von unerwünschten Ereignissen, Prioritäten bei der Auswahl der zu analysierenden Ereignisse vornehmen zu können (National Patient Safety Foundation, 2015). Insbesondere zum hier vorgestellten Thema Sturz erfolgte ein problembezogener Sensibilisierungseffekt (Bezzola / Hochreutener, 2008). Dieser wurde durch die offene Arbeitsatmosphäre in den Sitzungen gefördert. Nach einem zu analysierenden unerwünschten Ereignis sind zeitnahe Gespräche mit den Beteiligten innerhalb von Stunden ideal. So können zum einen alle relevanten Informationen sichergestellt werden, zum anderen erhalten die Beteiligten die Möglichkeit sich frühzeitig mitzuteilen. In Einzelfällen bestätigte sich der in der Fachliteratur beschriebene Effekt, dass die aktive Verarbeitung der Ereignisse eine emotionale Entlastung ermöglicht (Bezzola / Hochreutener, 2008). Die Arbeit mit dem LFD-Tool ist zeitintensiv und verlangt zeitliche Flexibilität von den Durchführenden. Damit der Personenkreis, der das LFD-Tool einsetzen kann, grösser wird, wurden die Pflegeexperten im USB in seiner AnwenPADUA (2017), 12 (1), 65–69
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dung befähigt. Es empfiehlt sich, den Einsatz des LFD-Tools mit der Analyse minder schwerer UEs zu üben und zunächst unter Anleitung von erfahrenen PflegeexpertInnen durchzuführen. Durch die Einbettung des LFD-Tools in das Patientensicherheits- und das Sturzprogramm waren am USB entsprechende zeitliche und personelle Ressourcen vorhanden. Der Einsatz des LFD-Tools erfolgt im USB unter dem Namen „Vertiefte Fallanalyse“ und ausdrücklich nicht unter seiner ursprünglichen Bezeichnung. Dies hat zwei Gründe: Zum einen sind Anglizismen unter den Pflegenden am USB unbeliebt. Zum anderen erlaubt der Einsatz des LFD-Tools nicht nur das Lernen aus Fehlern, so wie der Originaltitel vermuten lässt. Es ermöglicht den Pflegenden auch das proaktive Reflektieren der pflegerischen Praxis. Dies entspricht der am USB bekannten Vorgehensweise der Praxisentwicklung. Insbesondere das Involviert sein, das gemeinsame Lernen und die aktive Mitgestaltung von Veränderungsprozessen in den Pflegeteams (Phase III) bieten Schnittstellen zu reflexiven Methoden der Praxisentwicklung (McCormack et al., 2013) und gewährleisten eine nachhaltige Implementierung von Veränderungen in Richtung evidenzbasierter Praxis (RNAO, 2012). In jeder einzelnen vertieften Fallanalyse können die beiden Ansätze Praxisentwicklung und Sicherheitskultur entsprechend der lokalen Stationskultur unterschiedlich miteinander verbunden werden. Die übergeordnete (Meta-) Analyse aller Sturzanalysen bietet die Möglichkeit, sicherheitsrelevante Muster und lokale Aspekte der Sicherheitskultur zu erkennen. Hieraus ergaben sich bereits weitere Impulse für die Gestaltung der beiden Programme.
Fazit und Ausblick Innerhalb der Pflegeteams wurden Patientenstürze unter Zuhilfenahme des LFD-Tools offen und strukturiert analysiert. Durch den systemischen Ansatz der Fehleranalyse konnten sowohl latente Fehlerursachen als auch Gefahren und Risiken aufgedeckt und deren Auftretenswahrscheinlichkeit minimiert werden. Die Autoren sind überzeugt, dass diese Erfahrungen den Einsatz dieser umfassenden Methode zur Analyse von unerwünschten Ereignissen rechtfertigen. Wie von Pfeiffer und Wehner (2012) gefordert, erfolgt das arbeitsplatznahe und kontextabhängige Lernen durch Partizipation und Reflexion des betroffenen Pflegeteams bei der Planung und Umsetzung der Verbesserungsmassnahmen. Dies ist ein entscheidender Faktor, um Lernen aus UEs nicht nur auf individueller sondern auch auf organisationaler Ebene zu forcieren. Ein kritischer Punkt in der konsequenten Anwendung des LFDTools bleibt der Einbezug des gesamten, interprofessionellen Behandlungsteams. In allen drei Phasen der Fallanalysen wurden andere Professionen nur vereinzelt einbezogen. Eine interprofessionelle Zusammenarbeit wäre jedoch wichtig, um die berufsgruppentypischen Erklärungsmuster für das Entstehen von UEs aufzubrechen und den Handlungsspielraum bei der Initiierung von Verbesserungsmassnahmen zu erweitern (Pfeiffer / Carrol 2012). Hier sehen wir weiterhin grosses Potenzial im USB. ©2017 Hogrefe
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Studierende und Absolventen des Masterprogramms des Instituts für Pflegewissenschaft, die im USB arbeiten, sollen zukünftig gezielt in die Arbeit mit dem LFD-Tool eingebunden werden. Dies ist eine ideale Möglichkeit des Wissenstransfers in die Pflegepraxis und entspricht den Zielen einer Akademie-Praxis-Partnerschaft, wie sie zwischen dem Institut für Pflegewissenschaften und dem USB besteht. Während der Schulungen zum LFD-Tool erkannten die Pflegeexperten auch, welche Informationen für ergiebige Fehleranalysen notwendig sind und wie sie das Meldeverhalten in ihren Teams weiterhin fördern müssten, so dass auch aus anderen unerwünschten Ereignissen, z. B. Medikationsfehler, zukünftig gemeinsames Lernen möglich sein wird. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass der Einsatz des LFD-Tools im Rahmen der Analyse von Sturzereignissen einen wertvollen und wichtigen Beitrag zur Sicherheitskultur im USB leistet. Uns ist es daher ein Anliegen, die Methode bereits in diesem frühen Anwendungsstadium zu verbreiten, damit diese auch in anderen Kontexten angewendet und getestet werden kann. Die übersetzte Version des LFDTools kann bei den Autorinnen bezogen werden.
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Pfeiffer Y., Wehner T. (2012). Incident Reporting Systems in Hospitals: How does Learning Occur Using this Organisational Instrument? In: Bauer J., Harteis C. (Hrsg.) Professional and practicebased learning: Human fallibility. The ambiguity of errors for work and learning (233 – 252). Dordrecht: Springer. Pronovost P. J., Holzmueller C. G., Martinez E., Cafeo C. L., Hunt D., Dickson C., Makary M. A. (2006). A practical tool to learn from defects in patient care. Joint Commission journal on quality and patient safety / Joint Commission Resources, 32, 2: 102 – 108. Reason J. (1997). Managing the risks of organisational accidents. Aldershot: Ashgate. Rochefort C. M., Buckeridge D. L., Abrahamowicz M. (2015). Improving patient safety by optimizing the use of nursing human resources. Implementation Science: IS, 10: 89. Registered Nurses Association of Ontario (RNAO) (2012). Toolkit: Implementation of best practice guidelines (2 ed.). Toronto, ON: Registered Nurses‘ Association of Ontario. Schwendimann R., Ausserhofer D. (2016). Pflege- und Behandlungsfehler – aus pflegewissenschaftlicher Sicht. Pflegerecht – Pflegewissenschaft. 01: 12 – 23. Taylor-Adams S., Vincent C., (2007). Stiftung Patientensicherheit: Systemanalyse klinischer Zwischenfälle. Das London-Protokoll. https://www1.imperial.ac.uk/resources/3AD8B321–0916– 47D2-A196–1A993E36D0B5/londonprotocoldeutsch.pdf [Zugriff 15.05.2016]. Thomeczek C., Bock W., Conen D., Ekkernkamp A., Everz D., Fischer G., Ollenschlager G. (2004). Glossary on patient safety – A contribution to on-target-definition and to appreciate the subjects of “patient safety”. GESUNDHEITSWESEN, 66, 12: 833 – 840. Wu A. W., Lipshutz A. K. M., Pronovost P. J. (2008). Effectiveness and efficiency of root cause analysis in medicine. JAMA, 299, 6: 685 – 687.
Dr. Susanne Hoffmann Dr. Susanne Hoffmann, arbeitet am Institut für Patientensicherheit, Universitätsklinikum Bonn. Sie leitete von 2012 – 2015 das Programm Patientensicherheit Pflege / MTT am Universitätsspital Basel und war Dozentin am Institut für Pflegewissenschaft der Universität Basel. susanne.hoffmann@ukb.uni-bonn.de Dorothea Helberg Dorothea Helberg, Diplom-Pflegepädagogin, Pflegeexpertin in der Abteilung Praxisentwicklung Pflege am Universitätsspital Basel, leitet seit 2014 das Sturzpräventionsprogramm. dorothea.helberg@usb.ch
Dr. Irena Anna Frei Dr. Irena Anna Frei leitet die Abteilung Praxisentwicklung Pflege am Universitätsspital Basel und ist Lehrbeauftragte am Institut für Pflegewissenschaft der Universität Basel. irenaanna.frei@usb.ch
©2017 Hogrefe PADUA (2017), 12 (1), 65–69
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Meldungen · Neuheiten · Termine
2. Aktualisierung des Expertenstandards „Dekubitusprophylaxe in der Pflege“ Das Deutsche Netzwerk für Qualitätsentwicklung in der Pflege (DNQP) hat Anfang 2016 mit der zweiten Aktualisierung des Expertenstandards „Dekubitusprophylaxe in der Pflege“ begonnen. Unter der wissenschaftlichen Leitung von Privatdozent Dr. Jan Kottner hat sich eine 14-köpfige Expertenarbeitsgruppe mit dem aktuellen Stand des Wissens aus den letzten sechs Jahren befasst und den vorliegenden Entwurf zum Expertenstandard in der Gruppe konsentiert. Mit der Konsultationsfassung wird nun interessierten Personen aus Pflegepraxis und -wissenschaft sowie anderen Gesundheitsberufen die Möglichkeit gegeben, sich zur Aktualisierung zu äußern. Die Konsultationsphase zur Einbindung der Fachöffentlichkeit findet vom 04.01.2017 bis zum 15.02.2017 statt. In dieser Zeit werden auf der Homepage des DNQP (www.dnqp.de) der Entwurf des aktualisierten Expertenstandards zusammen mit der Präambel, den Kommentierungen der Standardkriterien sowie der aktuellen Literaturstudie einsehbar sein. Rückmeldungen bzw. Stellungnahmen können bis zum 15.02.2017 schriftlich (auch per E-Mail oder Fax) an die Geschäftsstelle des DNQP geschickt werden. Die eingegangenen Hinweise werden vom wis senschaftlichen Team des DNQP und den Mitgliedern der Expertenarbeitsgruppe ausgewertet und für die abschließende Bearbeitung des aktualisierten Expertenstandards berücksichtigt. Mit der Veröffentlichung ist im Frühjahr 2017 zu rechnen. Ein Workshop zum Expertenstandard findet am 02. März 2018 in Berlin statt.
Zentrale Aspekte der Ethikkompetenz in der Pflege Die Sektion Lehrende im Bereich der Pflegeausbildung und der Pflegestudiengänge in der Akademie für Ethik in der Medizin e.V. hat Empfehlungen zur Ethikkompetenz in der Pflege formuliert und diese Ende Oktober 2016 publiziert.
Relevanz der Ethikkompetenz in der Pflege In allen pflegeberuflichen Handlungsfeldern prägen ethische Fragestellungen und Konflikte den Alltag. Zukünftige PADUA (2017), 12 (1), 70–71 DOI 10.1024/1861-6186/a000359
Pflegende und Studierende der Pflege müssen darauf vorbereitet werden und die entsprechenden Handlungskompetenzen müssen im Rahmen von Ausbildung und Studium vermittelt werden. Angesichts dieser (An-)Forderungen hat die Sektion Lehrende im Bereich der Pflegeausbildung und der Pflegestudiengänge in der Akademie für Ethik in der Medizin e. V. im Auftrag des Vorstandes der AEM zentrale Aspekte der Ethikkompetenz konkretisiert und die wesentlichen Konturen einer professionellen Ethik dargelegt. Das Papier der Sektion konkretisiert die Bedeutung und den Gegenstand der pflegeethischen Kompetenzen und formuliert abschließend und zusammenfassend sechs zentrale Bildungsziele wie zum Beispiel die Sensibilität für ethische Konfliktsituationen im pflegeberuflichen Handeln aber auch die Empathiefähigkeit und die Fähigkeit zum interdisziplinären Perspektivenwechsel. Ziel des Papieres ist es, eine übergreifende Orientierung für die Ausgestaltung und Entwicklung von Curricula und zukünftigen (Rahmen-)Lehrplänen zu bieten. Das Papier ermöglicht es, die geforderten Ethikkompetenzen zu erfassen und für die jeweilige Qualifizierungsmaßnahmen entsprechend zu konkretisieren. Für Rückfragen: annette.riedel@hs.esslingen.de
Kommunikative Kompetenzen von Pflegenden bereits in der Ausbildung stärken Im Rahmen des Nationalen Krebsplans hat das Bundesgesundheitsministerium das Institut für Public Health und Pflegeforschung (IPP) im Fachbereich Human- und Gesundheitsforschung der Universität Bremen beauftragt, ein Mustercurriculum zur Förderung der kommunikativen Kompetenz in der Pflegeausbildung zu erarbeiten. Durch empathische und an die individuelle Situation der zu pflegenden Menschen angepassten Kommunikation können Pflegende Patientinnen und Patienten begleiten und dabei unterstützen, bei auf ihre Gesundheit bezogenen Entscheidungen mitzubestimmen. Pflegende kommunizieren dabei nicht nur mit Sprache und Körpersprache, sondern auch durch Berührung oder gemeinsame Bewegung. Durch Studien ist nachgewiesen, dass Pflegende durch Kommunikation, Information, Beratung und Schulung wesentlich zur Verbesserung von Behandlungsergebnissen beitragen. Eine gute pflegerische Kommunikation befördert beispielsweise die Einhaltung der gemeinsam vereinbarten Therapieziele sowie das Wohlbefinden und die Lebensqualität der zu pflegenden Menschen. ©2017 Hogrefe
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Die Förderung kommunikativer Kompetenzen ist bereits in den Curricula der Pflegeausbildung verankert. Da Umfang, Inhalte und Methoden aber sehr stark variieren und es mangelt an einheitlichen Standards hinsichtlich der Vermittlung und Überprüfung von kommunikativen Kompetenzen mangelt, wurde Professorin Ingrid DarmannFinck und ihr Team vom Institut für Public Health und Pflegeforschung der Universität Bremen damit beauftragt,
ein bundeseinheitliches Mustercurriculum „Kommunikation“ für die Pflegeausbildung zu entwickeln, an drei ausgewählten Pflegeschulen umzusetzen und zu evaluieren. Weitere Informationen: Universität Bremen Fachbereich Human- und Gesundheitswissenschaften (ipp) Institut für Public Health und Pflegeforschung Prof. Dr. Ingrid Darmann-Finck E-Mail: darmann©uni-bremen.de
Termine 2017 24. Februar 2017
19. Netzwerk-Workshop des DNQP 1. Aktualisierung des Expertenstandards „Ernährungsmanagement …“
Osnabrück
www.dnqp.de
2.bis 3. März 2017
Forschungswelten 2017
Trier
http://www.forschungswelten.info/
4. bis 5. März
Kongress Interprofessionalität – Realität oder Mythos?
Bern
www.insel.ch
17. März 2017
Tagung Patientenedukation 2017
Berlin
http://www.uni-wh.de/uploads/media/Flyer_Kongress_ Gesundheitskompetenz_f%C3%BCr_alle_-_das_kann_ Pflege_leisten-1.pdf
17. März 2017
6. Fachtagung der DGP Deutsche Gesellschaft Pflegewissenschaft
Witten / Herdecke
info@dg-pflegewissenschaft.de www.dg-pflegewissenschaft.de
23. März 2016
19. Schweizer Onkologiepflege Kongress
Bern
www.onkologiepflege.ch info@onkologiepflege.ch
22. bis 25. März 2017
Deutscher Pflegetag
Berlin
https://deutscher-pflegetag.de/
31. März 2017
7. Pflegepädagogik im Diskurs
Düsseldorf
https://www.dbfk.de/de/expertengruppen/pflege bildung/
25. bis 27. April 2017
Altenpflege- die Leitmesse
Nürnberg
http://altenpflege-messe.de / ap_home_de
4. Mai 2017
Junger-Pflege Kongress
Bochum
http://junge-pflege.de/index.php?option=com_content &view=article&id=146&Itemid=67
10. bis 12. Mai 2017
Deutscher Wundkongress Bremer Pflegekongress
Bremen
http://www.deutscher-wundkongress.de/
17.bis 19. Mai 2017
SBK Kongress 2017
Bern
http://www.sbk-asi-congress.ch/
27. Mai bis 01. Juni 2017
ICN-Congress
Barcelona
http://www.icnbarcelona2017.com/en/
20. bis 22. Juni 2017
Hauptstadtkongress
Berlin
http://www.hauptstadtkongress.de/deutscher-pflegekongress.html
©2017 Hogrefe PADUA (2017), 12 (1), 70–71
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PADUA 2 / 2017 Erscheint im April 2017
Schwerpunkt Forschendes Lernen
© Jacob Ammentorp Lund | Fotolia.com
Vorschau
Weitere Themen: Bundesländerspezifische Regelungen für die hauptberufliche Lehrtätigkeit an Gesundheits- und Krankenpflegeschulen in Deutschland – eine Ist-Analyse Das UKE Kompetenzmodell Die Integration akademisch qualifizierter Pflegefachkräfte im Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf Patienteninformations-Broschüren in Leichter Sprache Für Menschen mit Leseschwierigkeiten und Problemen beim Verstehen
PADUA (2017), 12 (1), 72
©2017 Hogrefe
Kurzlehrbuch Psychologie/Psychiatrie für Pflegende
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Psychologie und Psychiatrie kompakt Basiswissen für Pflege- und Gesundheitsberufe 2016. 400 S., ca. 48 farbige Abb., ca. 18 farbige Tab., Kt Etwa € 34,95 / CHF 45.50 ISBN 978-3-456-85576-9 Auch als eBook erhältlich
Warum tun Menschen das, was sie tun, und was geht dabei in ihnen vor? Zur Beantwortung dieser Frage wird grundlegendes psychologisches Wissen ebenso fundiert wie allgemeinverständlich dargestellt und angewandt auf täglich wiederkehrende Situationen in der Pflege, aber auch im Alltagsleben. Die wichtigsten psychiatrischen Krankheitsbilder werden in eindrücklichen Fällen geschildert
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und Wissen über Symptome, Verlauf, Ursachen und Behandlungsmöglichkeiten kompakt zusammengefasst. Besonderheiten von Verhalten und Erleben und von psychischen Störungen im Alter werden behandelt, ebenso Belastungen und Chancen in Pflegeberufen.
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Für die dritte Auflage wurden alle Kapitel überarbeitet und adaptiert. Das Kapitel „Pflegewissen“ und die Angaben zur Entwicklung von Pflegeklassifikationen wurden erweitert bzw. aktualisiert. Ferner wurden alle Studienaufgaben, Literaturund Internethinweise erneuert, sowie der Serviceteil und das Glossar erweitert. Aus dem Inhalt: • Pflegewissenschaft – Versuch einer Grundlegung • Wissenschaft – Wissenschaftstheorie – Wissenschaftsentwicklung • Wissensquellen; Definitionen, Entwicklung der Pflegewissenschaft • Pflegewissenschaft und Pflegeforschung • Pflegewissenschaft und Ethik