Herausgeberinnen und Herausgeber Michael Bossle Doris Eberhardt Petra Metzenthin Katrin S. Rohde Kordula Schneider Angelika Zegelin Assoziierte Herausgeberin Tanja Segmüller
PADUA
Jahrgang 17 / Heft 1 / 2022
Fachzeitschrift für Pflegepädagogik, Patientenedukation und -bildung Pflegeprozess und pflegerische Entscheidungsfindung Lehren und Lernen Prüfen am Lernort Praxis Wissen und Forschen Distanzunterricht und E-Learning in der beruflichen Fort- und Weiterbildung Informiert sein und Handeln Gesundheit pflegender Mütter
Umfassendes Fachbuch zur Pflegevisite
Christian Heering (Hrsg.)
Das Pflegevisiten-Buch 4., unveränd. Aufl. 2018. 352 S., 32 Abb., 17 Tab., Kt € 34,95 / CHF 45.50 ISBN 978-3-456-85862-3 Auch als eBook erhältlich
04.01.18 10:32
www.hogrefe.com
Die Pflegevisite ist ein regelmäßiger Besuch und ein Gespräch mit dem Patienten über seinen Pflegeprozess. Die Pflegevisite dient dazu, Pflegediagnosen und Ressourcen zu benennen, Pflegeziele zu vereinbaren, Pflegeinterventionen auszuwählen und Pflegeergebnisse zu evaluieren. Das Pflegevisiten-Buch bietet das umfassendste Fachbuch zum Thema. Herausgegeben wird es vom Hauptentwickler der Pflegevisite: Christian Heering.
Der Grundlagenteil des erfolgreichen Fachbuchs stellt Pflegeverständnis, Pflegeprozess, -diagnostik, -dokumentation, -konzepte und verschiedene Formen der Pflegevisite vor. Im zweiten und dritten Teil werden die praktische Umsetzung der Pflegevisite in der Akut- und Langzeitpflege sowie begleitende Instrumente und Methoden wie Fallbesprechung und reflektierte Pflegepraxis dargestellt.
PADUA
Fachzeitschrift für Pflegepädagogik, Patientenedukation und -bildung
Jahrgang 17 / Heft 1 / 2022
Schwerpunkt Pflegeprozess und pflegerische Entscheidungsfindung Herausgeberinnen und Herausgeber Michael Bossle Doris Eberhardt Petra Metzenthin Katrin S. Rohde Kordula Schneider Angelika Zegelin Assoziierte Herausgeberin Tanja Segmüller
Herausgeberinnen und Herausgeber
Prof. Dr. Michael Bossle, Deggendorf Prof. Dr. rer. medic. Doris Eberhardt, Deggendorf Dr. Petra Metzenthin, Bern Katrin S. Rohde, Berlin Prof. Dr. phil. Kordula Schneider, Münster Prof. Dr. rer. medic. Angelika Zegelin, Dortmund (Verantwortliche Patientenedukation)
Assoziierte Herausgeberin
Prof. Dr. rer. medic. Tanja Segmüller, Bochum
Redaktorin
Edith Meyer, BScN, MScN, Nürnberg padua@hogrefe.ch
Verlag
Hogrefe AG, Länggass-Str. 76, 3012 Bern, Schweiz, Tel. +41 (0) 31 300 45 00, zeitschriften@hogrefe.ch, www.hogrefe.com/ch/
Anzeigenleitung
Josef Nietlispach, Tel. +41 (0) 31 300 45 69, inserate@hogrefe.ch
Abonnemente
Zeitschriftenvertrieb, Tel. +41 (0) 31 300 45 13, zeitschriften@hogrefe.ch
Herstellung
Beatrix Marthaler, Tel. +41 (0) 31 300 45 38, beatrix.marthaler@hogrefe.ch
Satz und Druck
AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten im Allgäu
Titelbild
gettyimages / andresr
ISSN
1861-6186
Elektronische Version
econtent.hogrefe.com/loi/pad
Preise
Jahresabonnementspreise: Institute: CHF 402.– / € 306.– (print only; Informationen zu den Online-Abonnements finden Sie im Zeitschriftenkatalog unter www.hgf.io/zftkatalog) Private: CHF 119.– / € 90.– Private e-only: CHF 107.– / € 81.– Vorzugspreis für Studierende und Teilnehmende an Weiterbildungen im Pflegebereich (nur gegen Nachweis): CHF 69.– / € 52.– Porto und Versandgebühren: Schweiz: CHF 16.– Europa: € 17.– Übrige Länder: CHF 26.– Der Zugang zu den Ausgaben ab 2006 ist im Abonnement inbegriffen und kann online aktiviert werden. Einzelheft: CHF 29.– / € 20.– (+ Porto und Versandgebühren)
Hinweise für Autoren
PADUA (2022), 17 (1)
Für die Einreichung Ihres Beitrags und für jegliche redaktionelle Fragen wenden Sie sich bitte an die Redaktion unter padua@hogrefe.ch. Mit der Einreichung Ihres Beitrags willigen Sie einer allfälligen redaktionellen Bearbeitung ein und bestätigen, dass das Manuskript weder im Inland noch im Ausland publiziert, und dass es nicht gleichzeitig bei anderen Publikationsorganen eingereicht wurde. Weiter bestätigen Sie, dass sämtliche Abdruckgenehmigungen von allfälligen Abbildungen vorliegen. Bitte befolgen Sie die Hinweise zur Manuskriptgestaltung, die auf http://www.hgf.io/pad downloadbar sind. Sonderdrucke können gegen Rechnung bestellt werden. Eine diesbezügliche Bestellung muss spätestens mit der Rücksendung der Korrekturfahnen an den Verlag erfolgen. Die Verantwortung für den redaktionellen Inhalt der einzelnen Beiträge liegt bei den Autoren.
©2022 Hogrefe
Inhalt Editorial
Pflegeprozess, Pflegewissen und klinische Entscheidungsfindung Jürgen Georg
1
Schwerpunkt
Advanced Care Planning
3
Jürgen Georg 9
Diagnostischer Prozess und klinische Entscheidungsfindung Ein Praxisbeispiel Jürgen Georg
15
Pflegediagnosen News Jürgen Georg Lehren und Lernen
17
Prüfen am Lernort Praxis Instrumentenentwicklung für die Prüfungsleistungen in der Pflegepraxis in primärqualifizierenden Pflegestudiengängen Christiane Gödecke, Katrin Bader, Astrid Elsbernd und Cornelia Mahler Nonverbale Kommunikation kompetenzorientiert digital unterrichten?
23
Entwicklung eines Online-Kurses mit Lern-Tandems für die Pflegeausbildung Astrid Steinmetz Wissen und Forschen
Kollegiale Beratung in der Gesundheits- und Krankenpflegeausbildung
31
Eine wirksame Methode seinen Gefühlen Ausdruck zu verleihen Sandra Seitz und Christine Brendebach 37
„Warum soll ich das lernen?“ Lerngründe und Lernwiderstände in der theoretischen Pflegeausbildung Katharina Bußmann und Sebastian Schünemann Distanzunterricht und E-Learning in der beruflichen Fort- und Weiterbildung
43
Wie verändert der Distanzunterricht durch Corona die Erwartungen der Teilnehmer_innen? Claus Heislbetz und Vanadis Götz Die Gesichtsmaske verbirgt die Gefühlslage
49
Wie der Mund-Nasenschutz die Rollentrainings mit Simulationspatientinnen und -patienten beeinflusst Ruth Hodler, Isabelle Galliker und Claudia Schlegel
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PADUA (2022), 17 (1)
Informiert sein und Handeln
53
Gesundheit pflegender Mütter Edukative Unterstützung durch die professionelle Pflege Christa Büker, Bianca Streicher und Laura Scheerbaum
59
Service Meldungen, Neuheiten, Termine Vorschau
60
Schon abonniert? Bestellen Sie jetzt die Zeitschrift PADUA: • keine Ausgabe verpassen • print und online verfügbar • vollständiges Online-Archiv www.hgf.io/pad
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1
Die Pflege litt lange an ihrer Unsichtbarkeit. Der Pflegeprozess ähnelte lange dem Kölner Dom. Er hatte zwar mit seinen 4 – 6 Schritten eine prächtige Prozesshülle, blieb aber innen hohl. Jahrzehnte blieb unklar, warum Pflege notwendig ist, was Pflegende tun und wozu, mit welchem Ziel sie arbeiten. Auf Ebene der Pflegeprobleme und -diagnosen war unklar, wie das zu benennen sei, was Klienten an Problemen, Risiken und Entwicklungspotenzialen mitbringen, warum sie diese Probleme plagen, diese Risiken drohen und wohin sie sich entwickeln möchten und wie diese Probleme sich beobachten, erfragen und untersuchen liessen. Die Probleme der Unsichtbarkeit der Pflege und Fachsprachenentwicklung wurden in den letzten drei Dekaden gelöst. Der International Council of Nurses (ICN, 2002) legte bereits im Jahr 2022 seine Internationale Klassifikation für die Pflegepraxis (ICNP) in deutscher Sprache vor. Deutschsprachige Fachbuchpublikationen über Pflegediagnosen kursieren seit den 1990-er Jahren, wie Doenges et al. (2019) sowie die Pflegediagnosenklassifikation der NANDA-I seit 2005. Die Pflegeergebnisklassifikation (NOC) erschien 2004 (Moorhead et al., 2013) und die Pflegeinterventionsklassifikation (NIC) kam 2016 (Bulechek et al., 2016) hinzu. Mit diesen fachsprachlichen Klassifikationen wurde das Wissen über Pflegediagnosen, -ergebnisse und -interventionen systematisiert und bereitgestellt. Darauf können Pflegende in der klinischen Entscheidungsfindung zurückgreifen, wenn sie darüber entscheiden, wohin gehend sie Individuen und Familien beobachten, befragen und untersuchen. Für welche Pflegediagnose sie sich nach Analyse der Pflegeassessmentdaten entscheiden und welche Gründe und Merkmale sie für ihr Vorliegen anführen. Das Wissen aus Klassifikationen für Pflegeinterventionen und -ergebnisse hilft ihnen, wenn sie über die passenden Interventionen zur Erreichung von Pflegezielen entscheiden. Mit dieser Entwicklung erweiterten sich die pflegerischen Kompetenzen um eine kognitive Komponente, die klinische Entscheidungsfindung und kritisches Denken stärker betonte und die neue Rollen wie „Abklärungsverantwortliche“, „Fallführende“, „Pflegebegutachtende“ und auch „ANP-Pflegeexpertise“ möglich machte. Zahlreiche Pflegelehrende und -dozierende haben sich in den letzten Jahren aufgemacht, um dieses Wissen an neue Generationen von Pflegeauszubildenden, -studierenden und Weiterbildungsteilnehmende zu vermitteln. Haben mit ihren Studierenden unzählige Assessments geübt, Fallanalysen vorgenommen, Concept Maps gezeich-
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net, Ziele vereinbart, Interventionen verordnet und Skills geübt. Ihnen danke ich herzlich für ihren Einsatz. Während die ersten mittlerweile dieses Wissen und die Rollen in ihrer Praxis anwenden und ausfüllen, wissen viele noch gar nicht um diesen Wissensfundus, bestehend aus 267 Pflegediagnosen, 540 Pflegeergebnissen, 565 Pflegeinterventionen und über 10 400 Pflegeaktivitäten. Da bleibt noch viel Entdeckungs- und Vermittlungsarbeit sowie Rollenklärung zu leisten. Für Pflegende, die Denken schon immer als Überschreiten verstanden haben, bleibt mit dem „Outcome-PresentState-Testing-Modell“ von Kuiper et al. (2022) eine große kognitive Work-out-Station, um sich im neuen Vierklang der klinischen Entscheidungsfindung, bestehend aus „Listening, Mapping, Framing and Testing“ zu üben. Den Geschichten von Klienten zuzuhören (listening), ein Bild ihrer Situation zu zeichnen (mapping) und diese besser zu verstehen, diese Geschichten zu rahmen (framing) und mit Theorien mittlerer Reichweite zu erklären und auszutesten (testing), welche Interventionen vom Status quo hin zu besseren Pflegeergebnissen führen, ist das neue kognitive Abenteuerland des Pflegeprozesses und der klinischen Entscheidungsfindung. Wer mehr Lust auf Loopings statt Regelkreisen hat, sei herzlich eingeladen dieses Neuland zu betreten. Wohlwissend, dass beim „the hill we climb“ alles, was wir entdecken werden sein wird, neben grandiosen Aussichten, dass es noch andere Berge zu besteigen gibt. Jürgen Georg
Literatur Bulechek, G., Butcher, H. K., Dochterman, J. M. & Wagner, C. M. (2016). Pflegeinterventionsklassifikation (NIC). Bern: Hogrefe. Doenges, M. E., Moorhouse, M. F. & Murr, A. C. (2019). Pflegediagnosen und Pflegemaßnahmen (6. Aufl.). Bern: Hogrefe. ICN – International Council of Nurses (2002). Internationale Klassifikation für die Pflegepraxis (ICNP). Bern: Huber. Kuiper, R., O'Donnel, S., Pesut, D. & Turrise, S. (2022). Das OPTPflegeprozess-Modell. Essentials der klinischen Entscheidungsfindung und reflektierten Pflegepraxis für Pflegefachpersonen und -studierende. Bern: Hogrefe. NANDA-I (2005). Pflegediagnosenklassifikation 2006 – 2006. Bern: Huber. Moorhead, S., Johnson, M., Maas, M. & Swanson, E. (2013). Pflegeergebnisklassifikation (NOC). Bern: Verlag Hans Huber.
PADUA (2022), 17 (1), 1 https://doi.org/10.1024/1861-6186/a000652
Editorial
Pflegeprozess, Pflegewissen und klinische Entscheidungsfindung
Fangen Sie mit uns was Neues an! Arbeit macht Spaß, wenn alle an einem Strang ziehen. Bei uns finden Sie das kollegiale Arbeitsumfeld, das Sie suchen! Zum nächstmöglichen Zeitpunkt suchen wir Sie in Voll- oder Teilzeit als
Pflegepädagoge generalisierte Ausbildung (m/w/d) für unsere Pflegeschulen an unseren Bildungszentren in Wiesbaden (150 Ausbildungsplätze) und in Bad Schwalbach (60 Ausbildungsplätze) sowie einer Kooperation mit der kath. Hochschule Mainz im Rahmen des ausbildungsbegleitenden Studiengangs – Bachelor of Science „Gesundheit und Pflege“. Das erwartet Sie • eigenverantwortliche Planung der theoretischen und praktischen Ausbildung der Auszubildenden in der generalistischen Pflegeausbildung • eigenverantwortliche Leitung des Kurses, fachliche und didaktische Gestaltung praxisnaher Unterrichtseinheiten • Abnahme von Leistungskontrollen und Prüfungen, die Praxisbegleitung und Beratung der Auszubildenden und Praxisanleiter:innen • aktive Mitgestaltung bei der Weiterentwicklung und Umsetzung einer zukunftsorientierten Ausbildung • aktive Unterstützung in der Einarbeitung durch Ihre Kolleg:innen der Pflegeschule
• Qualifikation als Dipl. Pflegepädagoge (m/w/d) oder Pflegepädagogen BA / MA (m/w/d) oder Lehrer für Pflegeberufe (m/w/d) • Selbständige, strukturierte Arbeitsweise • Bereitschaft Veränderungsprozesse aktiv zu gestalten
Freuen Sie sich auf • Vergütung nach TVÖD (VKA) mit Übernahme der Entwicklungsstufen • Altersvorsorge über die Zusatzversorgungskasse, Entgeltumwandlung, Zuschuss zu vermögenswirksamen Leistungen • eine abwechslungsreiche Tätigkeit mit der Möglichkeit zu Ihrer persönlichen Weiterentwicklung • Helios PlusCard (Zweibettzimmer und Chef- bzw. Das bringen Sie mit Wahlarzt/-ärztin) auch für die Familie • Erfahrung in der Förderung von Kompetenzen junger • Zentralbibliothek / 18.000 E-Books und über 1.000 Erwachsener E-Journals – auch von zu Hause verfügbar • Dauerhafte Parkmöglichkeit für nur 12 € monatlich – Job• Freude bei der Leitung eines Ausbildungskurses und ticket – öffentliche Verkehrsmittel direkt vor der Klinik Einbezug Ihrer Unterrichtserfahrung in der Pflege von • corporate benefits – Sonderkonditionen bei mehr als Menschen aller Altersgruppen 250 Anbietern (z. B. McFit) • Freude an der Arbeit mit neuen digitalen Medien, • Eine betriebliche Kinderbetreuung ist über eine Kodie Sie mit Engagement und Interesse im Unterricht operation in Wiesbaden möglich einsetzen Jetzt liegt es nur noch an Ihnen! Bewerben Sie sich über www.helios-karriere.de Bei Fragen wenden Sie sich gerne an Frau Regina Ludy, Leitung der Schule für Gesundheitsberufe, unter der Telefonnummer 0611-43-2844 oder per E-Mail: regina.ludy@helios-gesundheit.de Helios ist der führende Klinikträger in Europa. Die kollegiale und fachübergreifende Zusammenarbeit und die schnelle Umsetzung von Innovationen garantieren unseren Patient:innen eine bestmögliche Versorgung. Auf diese Weise entsteht ein einzigartiger Raum für Ihre Kenntnisse, Talente, Ideen und Zukunftspläne.
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Advanced Care Planning Während mancherorten der Pflegeprozess dem Artensterben anheim zu fallen scheint, gibt es hier und da in der Pflegeszene noch einige gallische Dörfer, die all dem widerstehen und sogar noch einen nächsten Schritt gehen. – Als „Denken heißt überschreiten“ hat Ernst Bloch einmal die zentrale unserer kognitiven Fähigkeiten skizziert. Wo wir bezüglich des Pflegeprozesses stehen und um welche Elemente wir diesen erweitern könnten, um Bestehendes zu überschreiten, skizziert dieser aktualisierte Beitrag von Georg (2017).
Pflegeprozess Der Pflegeprozess ist und kann zukünftig in der Gesundheits- und Krankenpflege, wie von Wilkinson (2012) beschrieben, ein logischer, klientenzentrierter, zielgerichteter, universell anwendbarer und systematischer Denkund Handlungsansatz sein, den Pflegefachpersonen und -expert_innen während ihrer Arbeit nutzen. Im Rahmen dieses Prozesses werden aktuelle und potenzielle Gesundheitsprobleme, komplexe Pflegesituationen, Entwicklungspotenziale, Fähigkeiten, Ressourcen und Schutzfaktoren eingeschätzt und diagnostiziert sowie gezielte Interventionen geplant, ausgeführt und bewertet, um Fähigkeiten, Ressourcen und Schutzfaktoren zur Förderung der Gesundheit zu nutzen, zu entwickeln und potenziellen Gesundheitsrisiken vorzubeugen sowie aktuelle Gesundheitsprobleme und Krisen zu lösen, zu lindern, Symptome zu managen oder kranke Menschen und ihren Bezugspersonen bei deren Bewältigung zu unterstützen. Eine Pflegediagnose wird nach einem Pflegeassessment erstellt. Dabei schätzen Pflegende systematisch Klient_innen ein, indem sie diese in ihrem Lebenskontext beobachten, ihrer subjektiven Sicht und Geschichte ihres Lebens und ihrer Biografie zuhören, sie befragen und sie körperlich untersuchen. Das Pflegeassessment klärt den aktuellen Gesundheitszustand und Pflegebedarf, identifiziert pflegerische Kernthemen, zeichnet mittels Concept Mapping ein Bild der Klientensituation und klärt, ob pflegerische Interventionen hilfreich wären, um Gesundheitsergebnisse zu stabilisieren oder zu verbessern. Je nach dem verwendeten pflegetheoretischen Bezugsrahmen kann ein Pflegebedarf bestehen, weil z. B. Aktivitäten, Beziehungen und existenzielle Erfahrungen des Lebens ©2022 Hogrefe
(ABEDL) nach Krohwinkel (2013) nicht mehr unabhängig ausgeführt, gestaltet und bewältigt oder Gesundheitsverhaltensmuster (Gordon, 2013; Gordon & Georg 2020) nicht mehr funktionell ausgeführt werden können. Die Pflegefachperson wählt situativ den passenden konzeptionellen Pflegebezugsrahmen, um die Assessmentdaten kontextuell angemessen zu strukturieren. Die Pflegediagnose bildet den Ausgangspunkt, um mit Klienten und Bezugspersonen festzulegen, wie sie prioritär betreut und beraten werden möchten und um gemeinsame Pflegeziele und Kriterien für die Bewertung und Testung der Ergebnisse und der Pflegeinterventionen zu vereinbaren. Ausgehend von den Einfluss-, Risiko- und Schutzfaktoren der Pflegediagnosen wird ein Pflegeplan zur pflegerischen Betreuung entwickelt, der geeignete, effektive und wenn möglich evidenzbasierte Pflegeinterventionen auswählt und festlegt. Diese Festlegung erfolgt, um den aktuellen Gesundheitszustand zu stabilisieren oder in Richtung des erwünschten und vereinbarten Ergebniszustandes zu verändern. Pflegeinterventionen dienen ferner dazu, aktuelle (komplexe) Gesundheitsprobleme zu lösen, zu lindern oder zu bewältigen, um potenziellen Gesundheitsrisiken vorzubeugen und um dem Wunsch nach Gesundheitsförderung nachzukommen. Im Rahmen der Pflegeinterventionen werden Fähigkeiten, Ressourcen und Schutzfaktoren genutzt, effektive und evidenzbasierte Pflegeaktivitäten oder -maßnahmen ausgeführt und der Gesundheitszustand sowie die erreichten Gesundheitsergebnisse von Klienten und Angehörigen kontinuierlich und simultan eingeschätzt und abgeglichen. Abschließend wird mittels Pflegeevaluation bewertet, ob die angestrebten Ziele – gemessen an den Ergebnisindikatoren – erreicht wurden, das Assessment ein umfassendes Bild (engl. map) der Pflegesituation ergab, die Diagnosen akkurat und die geplanten und ausgewählten Pflegeinterventionen und Pflegeaktivitäten effektiv waren. Parallel und simultan zum Pflegeprozess laufen Beratungs-, Entscheidungs-, Entlassungs- und Reflexionsprozesse. Während des Beratungsprozesses werden die Lernfähigkeit und -motivation eingeschätzt, der Lernbedarf wird benannt, Lernziele werden vereinbart und ein Informations-, Schulungs- und Beratungsplan wird entwickelt, durchgeführt und bewertet. Im Verlauf des Entscheidungsprozesses (engl. clinical reasoning) wird eingeschätzt, unterschieden, erkannt, benannt, vorhergesagt, entschieden und gehandelt, um zu klären, warum Pflegende was, wie, wozu mit welchem Ziel tun sollten. Pflegende nutzen für diese Auswahlentscheidungen klinisch-empirisches und klassifiziertes Pflegewissen aus Pflegefachsprachen für PADUA (2022), 17 (1), 3–7 https://doi.org/10.1024/1861-6186/a000653
Schwerpunkt
Jürgen Georg
4
Schwerpunkt
Pflegediagnosen (z. B. NANDA), Pflegeinterventionen (z. B. NIC) und Pflegeergebnisse (z. B. NOC) (Müller Staub et al., 2016). Ferner nutzen sie für diese Entscheidungen ästhetisches, ethisch-werteorientiertes, personbezogenes und emanzipatorisches Pflegewissen (Chinn & Kramer, 2015; Sellman, 2017). Im Rahmen des Entlassungsprozesses wird prognostiziert, ob der Klient oder Angehörige nach der Entlassung noch von einer Pflegenden betreut oder beraten werden muss und ob die gemeinsam vereinbarten Pflegeergebnisse bis zur Entlassung erreicht wurden. Während des Entlassungsprozesses werden mögliche pflegerische Kernthemen, Entlassungsprobleme oder -risiken erkannt und benannt, Entlassungsziele gemeinsam formuliert, ein Entlassungsplan entwickelt, ausgeführt und bewertet. Im Lauf des Reflexionsprozesses durchdenken, hinterfragen, bestätigen, revidieren und adaptieren Pflegende ihre Entscheidungen und Handlungen mittels kritischen Denkens (Alfaro-LeFevre, 2013, Wilkinson, 2012) und kollegialer Beratung (Georg, 2018). Die hier beschriebenen Pflegeprozesselemente und -schritte sowie die Beratungs- und Entlassungsprozesse werden in Abbildung 1 visualisiert.
Pflegeevaluation (PE) Bewerten/Reflektieren von: • Pflegeergebnissen • Pflegeassessment • Pflegediagnosen, Kernthemen • Pflegeplan, -interventionen Testen/Vergleichen von aktuellem/n Zustand/Reaktionen (NANDA-I-PD) und Ergebniszustand (NOC-PZ) ¡ Lernergebnisse evaluieren } Entlassungsergebnisse evaluieren
Der Pflegeentscheidungsprozess lässt sich konkreter wie folgt beschreiben und veranschaulichen. Im pflegediagnostischen Prozess wird das Kernthema des Klienten erkannt und sein Pflegebedarf und -zustand mit Pflegediagnosen genau beschrieben. In den folgenden Pflegeprozessschritten kann mit dem Klienten geklärt und abgestimmt werden, • … ob die Pflegediagnosen und Concept Maps ein angemessenes Bild der subjektiven Erzählungen des Klienten zeichnen und seinen Zustand, seine Gefährdungen und Entwicklungspotenziale zutreffend beschreiben. Das Wissen über die Definitionen, Problemtitel, Einfluss- / Risikofaktoren und Symptome sind in der NANDA-IKlassifikation der Pflegediagnosen von NANDA-I (Herdman et al., 2022) gespeichert und abrufbar (→ Pflegediagnosen → NANDA). • … was Pflegende tun können, um einem pflegebedürftigen, gefährdeten, beeinträchtigten oder entwicklungsfähigen Klienten zu helfen. Das Wissen und die Aktivitäten für die dazu erforderlichen Pflegeinterventionen sind in der Pflegeinterventionsklassifikation (NIC) von
Pflegeassessment (PA) • Beziehung aufbauen, Vertrauen bilden, Kontext verstehen • Beobachten, Befragen, Zuhören, körperlich untersuchen • Gesundheitszustand, -risiken einschätzen • Fähigkeiten, Entwicklungspotenziale, Ressourcen, Schutzfaktoren bestimmen ¡ Lernmotivation und -bedarf einschätzen } Entlassungsbedarf einschätzen
Pflegediagnose (PD)
Kriterien
Pflegeintervention (PI) • Pflegeaktivitäten, -maßnahmen ausführen • Pflegezustand kontinuierlich einschätzen und mit Pflegeergebnis abgleichen/ testen • Ressourcen nutzen, Gesundheit fördern NIC-Pflegeinterventionen/ -aktivitäten ausführen ¡ Informieren, schulen und beraten } Entlassung vorbereiten, koordinieren und kommunizieren
Pflegeentscheidungen
Problembezogene PD Risiko-PD GesundheitsProblem Problem förderungs-PD Einflussfaktor(en) Risikofaktor(en) Symptome Symptome/Merkmale NANDA-I-Pflegediagnosen Syndrom-PD erkennen und unterscheiden Problembündel Kernthemen identifizieren u. in theoret. Bezugsrahmen einordnen ¡ Lernbedarf erkennen u. benennen } Entlassungsproblem erkennen u. benennen Testen
Pflegeplanung (PP) • Pflegeinterventionen, -aktivitäten auswählen und festlegen NIC-Pflegeinterventionen/ -aktivitäten wählen • Pflege dokumentieren ¡ Information, Schulung u. Beratung planen } Entlassung planen
Pflegeziele, -outcomes (PZ) • Pflegeergebnis prognostizieren • Pflegeziele vereinbaren, Prioritäten setzen • Ergebniszustand und -kriterien festlegen NOC-Pflegeergebnisse wählen ¡ Lernziele vereinbaren } Entlassungsziele abstimmen
Pflegeprozess (•) Beratungsprozess (¡) Entlassungsprozess (})
Abbildung 1. Pflege-, Beratungs-, Entlassungs- und Entscheidungsprozess. © Jürgen Georg. PADUA (2022), 17 (1), 3–7
©2022 Hogrefe
Schwerpunkt
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Bulechek et al. (2016) und Butcher et al. (2022) gespeichert und abrufbar (→ Pflegeinterventionen → NIC). • … wie das Ziel und die gewünschten Ergebnisse lauten, auf die Pflegende und Klienten hinarbeiten. Das Wissen und die Ergebniskriterien und -messinstrumente für die dazu erforderlichen Pflegeergebnisse sind in der Pflegeergebnisklassifikation (NOC) von Moorhead et al. (2013) gespeichert und abrufbar (→ Pflegeziele → NOC). Mit Hilfe des in Abbildung 2 dargestellten pflegerischen Entscheidungsprozesses können systematische klinische Entscheidungen hinsichtlich folgender Fragen getroffen werden: • Welches sind die richtigen aus dem Pflegeassessment abzuleitenden Pflegediagnosen? • Welche Pflegeinterventionen lösen die aktuellen Probleme des pflegebedürftigen Klienten am besten, verhüten Gesundheitsgefahren oder helfen, Entwicklungspotenziale zu entfalten? • Welche Ziele sind mit dem Klienten anzustreben, wie können wir erkennen, dass wir ein Ergebnis erreicht haben und sich ein Gesundheitszustand verändert hat? Bei diesen professionellen Entscheidungen im Pflegeprozess können Pflegende auf geordnetes und strukturiertes Wissen zurückgreifen, das in Klassifikationen für Pflegediagnosen (NANDA-I), Pflegeinterventionen (NIC) und Pflegeergebnisse (NOC) zusammengefasst wurde. Das Modell veranschaulicht diese Zusammenhänge und erleichtert es Pflegenden, im Pflegeprozess die richtigen Entscheidungen zu fällen, warum sie was, wozu, mit welchem Ziel tun.
OPT-Entscheidungsfindungsmodell Ein erweitertes Modell der klinischen Entscheidungsfindung stellt das OPT-Modell dar (Kuiper, 2022). Das
Outcome-Present-State-Test-Modell (OPT) misst der klinischen Entscheidungsfindung (clinical reasoning), der Geschichte oder subjektiven Erzählung des Klienten und deren Kontext sowie dem kritischen Denken und dem pflegetheoretischen Bezugsrahmen eine größere Bedeutung bei. Klinische Entscheidungsfindungen oder Schlussfolgerungen werden im Rahmen des Modells definiert als „der effektive Einsatz von Wissen unter Anwendung reflexiver, kreativer, nicht-sequenzieller und kritischer Denkprozesse, um gewünschte Patientenergebnisse zu erreichen“ (Bulechek et al. 2016, S. 103). Im Gegensatz zu traditionellen Pflegeprozessmodellen, die nicht explizit auf Pflegeergebnisse ausgerichtet sind, lineares schrittweises Denken fördern, reflexivem, nichtsequenziellem und vernetztem Denken weniger Beachtung schenken, stärker tätigkeitsorientiert sind und pflegetheoretisch weniger stark verankert sind, ist das OPT-Modell stärker ergebnisorientiert, reflexiver, kritischer, theoretisch fundierter, klienten- und kontextorientierter, komplexer und vernetzter denkend. Bulechek et al. (2016, S. 104) beschreiben es wie folgt: „Im OPT-Modell der klinischen Entscheidungsfindung konzentriert sich die Pflegeperson auf Probleme und Ergebnisse zugleich, und zwar durch Nebeneinanderstellung der beiden zur gleichen Zeit. Das Modell fordert, dass Pflegende unter Beachtung des Belegmaterials [Merkmale, Kennzeichen, Symptome] Beziehungen zwischen Diagnosen, Interventionen und Ergebnissen simultan betrachten. Statt jeweils nur ein Problem zu betrachten, fordert das OPT-Modell, mehrere ermittelte Probleme simultan zu betrachten und genau zu erkennen, welches Problem oder Thema in Beziehung zu allen übrigen Problemen im Mittelpunkt steht und am wichtigsten ist. Der Schwerpunkt des Modells liegt auf der Geschichte des Patienten, dem Verorten der Geschichte in einen fachspezifischen konzeptionellen Bezugsrahmen, dem Einsatz kritisch reflexiven Denkens, dem Betonen von Ergebnissen, dem Mapping des Beziehungsnetzes zwischen den Diagnosen (Concept-Mapping,
Pflegeassessment (Bsp.: ABEDL, BESA, FGVM, RAI)
Pflegewissen
Pflegediagnosenklassifikation (NANDA-I)
Pflegeinterventionsklassifikation (NIC)
Pflegeergebnisklassifikation (NOC)
Pflegerische Entscheidung
Auswahl
Auswahl
Auswahl
Pflegediagnosen
Pflegeinterventionen
Pflegeergebnisse
Warum? …
tun Pflegende Was? …
Wozu? Mit welchem Ziel?
Pflegedokumentation
Abk.: ABEDL = Aktivitäten, Beziehungen und Existenzielle Erfahrungen des Lebens; FGVM = Funktionelle Gesundheitsverhaltensmuster, RAI = Resident Assessment Instrument)
Abbildung 2. Pflegewissens- und Entscheidungsfindungsmodell (adaptiert nach Bulechek et al. 2016, S.93). ©2022 Hogrefe
PADUA (2022), 17 (1), 3–7
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Schwerpunkt
Concept-Webs) sowie dem Ermitteln des zentralen Themas und bietet einen eindeutigen Vorteil gegenüber dem traditionellen Pflegeprozess“. Übertragen auf verschiedene Pflegephänomene beginnen Pflegende unter Nutzung des OPT-Modells damit, der Geschichte des Klienten in seinem Kontext zuzuhören, um wichtige Informationen über den Kontext, wichtige Fragen sowie Einblicke in die Situation des Klienten zu sammeln. Dazu können Arbeitsblätter mit Concept-Maps oder Concept-Webs, wie in Doenges et al. (2019, S. 86 – 87) dargestellt und beschrieben, genutzt werden, um die funktionellen Beziehungen zwischen Diagnosen, die den aktuellen Zustand beschreiben, zu veranschaulichen. Ziel dieses Prozesses ist es, sich ein Bild (engl. map) von der Situation des Klienten zu machen und ein Kernthema bzw. ein diagnostisches Kernkonzept (z. B. Mobilität, Schmerz, Selbstversorgung oder Wissen) zu ermitteln, das im Mittelpunkt der Erzählung des Patienten steht und die meisten der anderen Diagnosen unterstützt oder mit ihnen verwoben ist. Um dieses Kernthema gilt es sich prioritär zu kümmern. Das Kernthema wird dann in einen theoretischen Bezugsrahmen gestellt, der sich einer Pflegetheorie großer oder mittlerer Reichweite bedient. Der Bezugsrahmen erlaubt es einen pflegerischen Blick auf die Situation zu werfen. Gleich dem Objektiv einer Kamera ermöglicht der Bezugsrahmen die Situation zu betrachten, zu fokussieren und zu interpretieren. Der aktuelle Zustand in Abbildung 3 meint die Beschreibung des aktuellen Pflegebedarfs mit Hilfe von Pflegediagnosen, strukturiert nach dem PES / PRSchema, welches das Problem benennt, Einfluss- / Risikofaktoren erkennt und Symptome / Merkmale beobachtet. Das gemeinsam mit dem Klienten vereinbarte Pflegeziel kann mithilfe der Outcomes aus der Pflegeergebnisklassifikation (NOC) operationalisiert werden und erlaubt einen
Abgleich von aktuellem und gewünschtem Zustand, wie in Bulechek et al. (2016, S. 105 – 106) beschrieben. Das in Abbildung 3 beschriebene Testen wird wie folgt beschrieben: „Testen bedeutet das Nachdenken darüber, wie sich die Lücken zwischen dem aktuellen Zustand (NANDA-Diagnosen) und dem gewünschten Zustand (NOC-Ergebnisse) schließen ließen. Beim Testen stellt die Pflegeperson den aktuellen Zustand und den Ergebniszustand nebeneinander, während sie überlegt, welche NIC-Pflegeinterventionen dazu dienen können, um die Lücke zu überbrücken“ (Bulechek et al. 2016, S. 106). So würde im konkreten Fall z. B. einer Körperbildstörung die NIC-Pflegeintervention „Körperbildverbesserung“ die zentralen Pflegeaktivitäten bieten, um auf das Körperbild einer Person einzuwirken. Entscheidungsfindung beinhaltet das Auswählen und Implementieren der spezifischen Pflegeinterventionen, die das Problem lösen oder lindern können. Die Beurteilung am Ende dieses Weges ist der Prozess des Schlussfolgerns auf der Grundlage ergriffener Maßnahmen. Parallel zu diesem Prozess setzt die Pflegeperson Reflexion und kritisches Denken ein, indem sie sich selbst beobachtet, ihr Handeln hinterfragt und gleichzeitig über die Klientensituation nachdenkt (Bulechek et al. 2016).
Pflegekompetenzen und Advanced Care Planning Das OPT-Entscheidungsfindungsmodell skizziert eine Blaupause, auf deren Basis anspruchsvolle Kompetenzen von Pflegenden entwickelt werden können mit den Zie-
Reflexion Rahmenwerk (konzeptioneller Pflegebezugsrahmen)
Beurteilung (NOC-Indikatioren)
Ergebniszustand (NOC)
Aktueller Zustand (NANDA-I)
Ende Testen
Datenstrukturierung
Kontextbezogene Angaben zum Klienten
Entscheidungsfindung Pflegeinterventionsklassifikation (NIC)
Abbildung 3. Das OPT-Entscheidungsfindungsmodell (Outcome-Present-State-Test-Modell nach Pesut und Herman (1999). Quelle: Bulechek et al. 2016, S.105). PADUA (2022), 17 (1), 3–7
©2022 Hogrefe
Schwerpunkt
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len, dass eine Pflegeexpert_in in der Gesundheits- und Krankenpflege • Pflegesituationen je nach Kontext (z. B. Akutklinik, Heim, häusliche Pflege) einschätzen kann. • situativ angemessen und variabel ein passendes Basisassessment (ABEDL, RAI, BESA, FGVM, NNN) oder eine Pflegetheorie mittlerer Reichweite auswählen und die gesammelten Klienteninformationen danach strukturieren kann. • Kernthemen oder allgemeine Probleme identifizieren und mit Concept-Maps oder Concept-Webs Beziehungen der Konzepte untereinander visualisieren und strukturieren kann. • aktuelle Klientensituationen und potenzielle Gefährdungen im pflegediagnostischen Prozess erkennen und benennen kann. • erwünschte Pflegeergebnisse / Outcomes zu Kernthemen / -situationen aus der Pflegeergebnisklassifikation (NOC) auswählen und mit Outcome-Kriterien überprüfbar machen und evaluieren kann. • gleichzeitig (simultan) die Entwicklung von Klientensituation und Ergebniserreichung im Auge behalten kann. • entscheidet, welche Pflegeinterventionen und -aktivitäten helfen, die aktuelle Situation in Richtung gewünschte Pflegeergebnisse und Outcomes zu drehen. • kritisch, selbstreflexiv und vernetzt denken kann.
Chinn, P. L., Kramer, M. K. (2015). Knowledge Development in Nursing. Theory and Process (9th ed.). St. Louis: Elsevier. Doenges, M. E., Moorhouse, M. F. & Murr, A. C. (2019). Pflegediagnosen und Pflegemaßnahmen (6. Aufl.). Bern: Hogrefe. Georg, J. (2018). Pflegeprozessmanagement. In M. Haubrock (Hrsg.). Betriebswirtschaft und Management in der Gesundheitswirtschaft (S.708 – 732). Bern: Hogrefe. Georg, J. (2017). Advanced Care Planning. NOVAcura, 48(10), 9 – 13. Gordon, M. & Georg, J. (2020). Handbuch Pflegediagnosen (6. Aufl.). Bern: Hogrefe. Gordon, M. (2013). Pflegeassessment Notes. Bern: Verlag Hans Huber. Herdman, H., T., Kamitsuru, S. & Takào Lopes, C. (2022). Pflegediagnosen. Definition und Klassifikation 2021 – 2023. Kassel: Recom. Krohwinkel, M. (2013). Fördernde Prozesspflege mit ABEDLs. Bern: Verlag Hans Huber. Kuiper, R., O'Donnel, S., Pesut, D. & Turrise, S. (2022). Das OPTPflegeprozess-Modell. Essentials der klinischen Entscheidungsfindung und reflektierten Pflegepraxis für Pflegefachpersonen und -studierende. Bern: Hogrefe. (in Vorb.) Müller Staub, M., Schalek, K., König, P. (Hrsg.) (2016). Pflegeklassifikationen. Anwendung in der Praxis, Bildung und elektronischer Pflegedokumentation. Bern: Hogrefe. Moorhead, S., Johnson, M., Maas, M. & Swanson, E. (2013). Pflegeergebnisklassifikation (NOC). Bern: Verlag Hans Huber. Pesut, D., Herman, J. (1999). Clinical Reasoning: The art and science of critical and creative thinking: Albany: Delmar. Sellman, D. (2017). Werteorientierte Pflege. Bern: Hogrefe Wilkinson, J. W. (2012). Das Pflegeprozess-Lehrbuch. Bern: Verlag Hans Huber.
Literatur Alfaro-LeFevre, R. (2013). Pflegeprozess und kritisches Denken. Bern: Verlag Hans Huber. Bulechek, G., Butcher, H. K., Dochterman, J. M. & Wagner, C. M. (2016). Pflegeinterventionsklassifikation (NIC). Bern: Hogrefe. Butcher, H. K., Bulechek, G., Dochterman, J. M. & Wagner, C. M. (2022). Pflegeinterventionsklassifikation (NIC) (2. Aufl.). Bern: Hogrefe. (in Vorb.)
Jürgen Georg Pflegefachmann, -lehrer und Pflegewissenschaftler (MScN) und Dozent sowie Programmleiter Pflege beim Hogrefe Verlag in Bern. juergen.georg@hogrefe.ch
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Begegnung in der Ausbildung der Gesundheitsberufe Das Thema des Lernweltenkongresses 2022 „Bildung durch Begegnung“ verweist über Landesgrenzen hinaus auf gesellschaftliche Herausforderungen der letzten Jahre. Der Lernweltenkongress hat es sich zur Aufgabe gemacht, als ein wichtiger Akteur der Pädagogik der Gesundheitsberufe, eine reflektierende Position einzunehmen. Das Thema „Bildung durch Begegnung“ ist sehr bewusst gewählt und soll verschiedene miteinander verschränkte Dimensionen abbilden: personale, institutionelle, gesellschaftlich-normative und professionstheoretische Dimensionen. Spannungsreiche Begegnungen in der beruflichen Bildung der Gesundheitsberufe finden sich im Kontakt ▪ zwischen den Lernorten – Stichwort Lernwelten und Arbeitswelten, ▪ zwischen dem schulischen und betrieblichen Bildungspersonal – Stichwort Lernortkooperation, ▪ zwischen den verschiedenen Wissensformen – Stichwort Theorie-Praxis-Wissenstransfer, ▪ in Präsenz- und Distanzunterricht – Stichwort analoges und digitales Lehren und Lernen, ▪ in Politik und Bildung – Stichwort Neuordnung der Gesundheitsberufe in Hochschule/Fortund Weiterbildung – Stichwort Ausbildung und Professionalisierung des schulischen und betrieblichen Bildungspersonals und ▪ in Wissenschaft und Gesellschaft – z. B. als Wissensentwicklung, -explosion, -zugänglichkeit insbesondere im Gesundheits- und Bildungsbereich.
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Unter dem Thema „Bildung durch Begegnung“ können Erfahrungen, Projekte, Herausforderungen und Lösungsansätze auf dem Lernweltenkongress eingebracht und diskutiert werden, beispielsweise: ▪ Wie begegnen sich die Personen an den Lernorten aktuell? Wie zeigen sich Spannungsfelder zwischen den Lern- und Arbeitswelten und wie werden sie gestaltet? ▪ Welche Bildungsmomente bedürfen der realen Begegnung? Was ist das Alleinstellungsmerkmal und die Relevanz von Präsenzunterricht im Vergleich zur Online-Lehre? Welche Herausforderungen ergeben sich für Lehrpersonen? Welche Herausforderungen ergeben sich für Lernende? Was können wir digital lehren, wann braucht Pflegelehre Begegnung? ▪ Wie begegnen sich die Angehörigen der Gesundheitsberufe aktuell? Was genau kennzeichnet das Neue? ▪ Inwiefern hat die Corona-Pandemie die strukturelle Erwartungshaltung an Bildung verändert? ▪ Welche (wissenschafts-)politischen Fragestellungen stehen im Vordergrund? Wie lässt sich „Bildung durch Begegnung“ in Professionstheorie und Bildungspraxis konzipieren? Lernwelten wird als „Flipped Congress“ durch eine Online-Preconference sowie eine begleitende Hybridveranstaltung durchgeführt. Workshops am Kongressort dienen der Vernetzung, dem Diskurs und enthalten kollaborative Arbeitsformen. Beiträge können im Rahmen des Call for Abstracts in folgenden Formaten eingereicht werden: a. als Präsenzworkshop (evtl. mit vor- oder nachbereitendem Onlinevortrag) im Umfang von 90 Minuten b. als Kurzbeitrag im Markt der Möglichkeiten c. als Hybridvortrag über die Online-Lernplattform d. als Poster im Rahmen der Posterausstellung und Begehung (inkl. 5-minütigem Kurzvortrag) Andere neue Formate sind nach Rücksprache sehr erwünscht und willkommen! Beiträge können bis 30.03.2022 ausschließlich online über die Website www.lernwelten.info/abstracts eingereicht werden. Dort finden Sie weitere Informationen zu den Beteiligungsformen. Der wissenschaftliche Vorstand des Kongresses entscheidet über die Annahme des Beitrags. Das Kongressprogramm erscheint am 02.05.2022.
www.lernwelten.info/abstracts
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Diagnostischer Prozess und klinische Entscheidungsfindung Ein Praxisbeispiel
Das folgende Praxisbeispiel beschreibt, wie der Begriff des diagnostischen Prozesses geklärt und dessen Schritte an einem Fallbeispiel geübt werden können. Ferner zeigt es, wie die Genauigkeit von Pflegediagnosen geprüft, die Notwendigkeit der Fachsprachenentwicklung begründet und die Dringlichkeit einzelner Pflegediagnosen priorisiert werden können.
Der diagnostische Prozess Der diagnostische Prozess beschreibt den Weg vom Pflegeassessment zur Pflegediagnose. Das Pflegeassess-
ment als erster Schritt des Pflegeprozesses schafft eine Informationsbasis, aus der sich mögliche Pflegediagnosen, Ressourcen und potenzielle Komplikationen ableiten lassen. Ohne ein systematisches Pflegeassessment ist es nach Einschätzung von Lunney (2007) und Wilkinson (2012) nicht möglich, akkurate bzw. genaue Pflegediagnosen zu stellen. Im Rahmen des diagnostischen Prozesses werden, wie in Abbildung 1 dargestellt, nach dem Beziehungsaufbau und Vertrauensbildungsprozess, Informationen über den Gesundheitszustand einer Person gesammelt, geprüft, geordnet, Muster erkannt, erste Eindrücke getestet und Informationen berichtet und dokumentiert, um über das Deuten und Erklären der Informationen zu einer Pflegediagnose zu gelangen (Alfaro-LeFevre, 2013), (Georg & Abderhalden, 2019). Einen leichteren Zugang zum Thema des diagnostischen Prozesses bietet der folgende Cartoon. Marjory
Beziehungsaufbau Vertrauen bilden Beziehung aufbauen
Assessment (einschätzendes Beurteilen) Informationen sammeln Informationen prüfen Informationen ordnen Erkennen von Mustern/Testen erster Eindrücke Informationen berichten/dokumentieren
Informationen deuten und klären (Analyse und Synthese)
Diagnose (unterscheidendes Beurteilen) Probleme und Einflussfaktoren erkennen/benennen Risikofaktoren erkennen/benennen Potenzielle Probleme/Komplikationen vorhersagen Komplexe Pflegeprobleme bündeln Gesundheitliche Entwicklungspotenziale und Fähigkeiten erkennen/benennen Fähigkeiten, Ressourcen und Stärken identifizieren
Abbildung 1. Der diagnostische Prozess. Quellen: Alfaro-LeFevre, 2013, S.95 und Doenges et al., 2019, S.91. ©2022 Hogrefe
PADUA (2022), 17 (1), 9–13 https://doi.org/10.1024/1861-6186/a000654
Schwerpunkt
Jürgen Georg
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Schwerpunkt
Fallbeispiel: Herr Huber
Abbildung 2. Der diagnostische Prozess im Cartoon. Idee: Marjory Gordon, Cartoon: Jürgen Georg. In Sauter et al. (2011).
Gordon (2013), gefragt danach was ein diagnostischer Prozess sei, verwies auf eine Postkarte, ähnlich dem Cartoon in Abbildung 2, bei dem zwei Beobachter auf einen weit entfernten Punkt blicken, der näher kommend sich allmählich als Vogel, Fledermaus und schließlich als Batman entpuppt. Um diese Annäherung und die allmählich detaillierter werdenden Merkmale (engl. cues) des Objektes für Teilnehmer_innen zu simulieren, empfiehlt es sich, dass der / die Dozierende erst an einer Flipchart einen Punkt zeichnet und die Teilnehmenden fragt, was das sein könnte. Nach den ersten Angaben von Ball, Stein bis UFO zeichnet der / die Dozierende einen Vogel und fragt wieder, was das sein könnte, nach ersten Vermutungen von Hügel bis Vogel zeichnet der / die Dozierende eine Fledermaus und fragt wieder die Teilnehmenden. Nach Angaben von Paraglider bis Fledermaus zeichnet der / die Dozierende „Batman“ und hofft, dass die Figur durch zahlreiche Wiederholungen im Fernsehen noch bekannt ist. Um die Ähnlichkeit des Cartoons mit Pflegesituationen zu erläutern, kann der / die Dozierende eine der Vermutungen über den ersten Gegenstand des runden Objektes als „UFO“ aufgreifen und erläutern, dass je mehr Merkmale eines Objektes erkannt werden, umso genauere Schlüsse kann man über dessen Gegenstand ziehen. In pflegerischen Situationen haben es die Pflegenden jedoch nicht mit UFOs, sondern mit „UPOs“ zu tun, mit „unbekannten Patienten-Objekten“. Patienten sind Pflegenden bei ersten Begegnungen unbekannt, erst allmählich lernen sie einander besser kennen und nach dem Beobachten, Befragen und Untersuchen des Patienten ergibt sich für den oder die Pflegende allmählich ein Bild des Patienten bzgl. seiner pflegerischen Probleme und Risiken. Aufbauend auf diesen Cartoon wird der eingangs in Abbildung 1 beschriebene (abstrakte) diagnostische Prozess verständlicher. Noch greifbarer wird dieser durch den Einsatz des folgenden Fallbeispiels: PADUA (2022), 17 (1), 9–13
Herr Huber ist 82 Jahre und liegt auf der akutgeriatrischen Station eines Krankenhauses. Seine Frau berichtet, er habe zuhause 4 Tage Durchfall gehabt. Über seinem Bett hängt ein Bild von van Gogh. Die Bezugspflegeperson stellt bei Herrn Huber fest, dass er eine trockene Haut hat, die in Falten abhebbar ist. Seine Mundschleimhäute sind trocken. Bei der Körperpflege stellen die Pflegenden fest, dass seine Haut im Analbereich gereizt und gerötet ist und er am Steiß eine 2-Euro-Stück große anhaltende Rötung aufweist. Herr Hubers Frau und eines seiner Kinder besuchen ihn täglich. Die Familie kümmert sich rührend um ihn. Die Nachtwache berichtete, dass Herr Huber in der Nacht öfter gerufen habe: „Es sind Einbrecher im Haus“, er sei sehr aufgekratzt gewesen und sei unruhig im Bett auf und ab gerutscht. Er habe seine Infusion 2-mal in der Nacht gezogen und habe Kot an Decken und Wände geschmiert. Am Morgen sei er gegen 4:00 h erschöpft eingeschlafen und habe „wie ein Stein“ im Bett gelegen. Die Nachtwache hat am Morgen eine Urinausscheidung von 800 ml / 24 h protokolliert, der Urin sei dunkel und konzentriert gewesen. Herr Hubers Vitalzeichen ergeben Werte von RR 105 / 70 mmHg, er hat einen regelmäßigen Puls von 96 / min, der Puls ist weich und schlecht gefüllt. Er hat eine Körpertemperatur von 38.2 °C. Seine Atmung hat eine Frequenz von 20 / min, er atmet flach und schnell. Seine Lippen sind bläulich, er hat ein karchelndes Atemgeräusch. Herr Huber gibt an „zu schwach zum Abhusten zu sein“, atmet jedoch nach Aufforderung tief ein und aus.
Praxisbeispiel Das Beispiel sollte Auszubildenden oder Studierenden jedoch nicht als ganzer Text, sondern verteilt auf einzelne Karteikarten auf einem Tisch unsortiert verteilt oder mit A5-Karten an eine Pinn- oder Magnetwand unsortiert geheftet werden. Damit wird auf den diagnostischen Prozess verwiesen, dass es sich mit der Kartensammlung um gesammelte und geprüfte Informationen handelt, die jedoch noch nicht geordnet sind. Die Informationen zu ordnen und zu gruppieren ist nun Aufgabe der Auszubildenden oder Studierenden. Erfahrungsgemäß ergeben sich z. B. Cluster, wie in Abbildung 3 dargestellt, die auf Nachfragen von den Teilnehmenden meist als Merkmale zu den Themen: Haut, Ausscheidung, Vitalzeichen und Verwirrtheit überschrieben werden. Bittet man die teilnehmenden Auszubildenden oder Studierenden, in diesem Cluster nach einem Muster zu suchen und Zusammenhänge der Merkmale zu benennen, ©2022 Hogrefe
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bzw. die Daten zu deuten und zu analysieren, dann fallen meist Hypothesen, wie „Flüssigkeitsmangel“, „Dehydratation“ oder „Flüssigkeitsdefizit“ sowie „Delir“ und „akute Verwirrtheit“. Bittet man die Teilnehmenden durch Projektion der Pflegediagnose „Flüssigkeitsdefizit“ oder neu „defizitäres Flüssigkeitsvolumen“ (Herdman et al., 2019, S. 229) die Merkmale ihres Falles mit denen der NANDA-IPflegediagnosen zu vergleichen, dann fällt eine hohe Übereinstimmung der Fall-Merkmale mit den DiagnoseMerkmalen auf. Durch Projektion der Kriterien zur Prüfung
Der diagnostische Prozess: diagnostische Cluster • • • •
Gerötete, gereizte Haut im Analbereich Trockene Mundschleimhaut Haut in Falten abhebbar Trockene Haut
• Urinausscheidung: 800 ml /24h • Urin: dunkel und konzentriert • RR: 105/70 mmHg • Puls: weich, schlecht gefüllt • P: 96r • T: 38.2 °C • Ruft nachts „es sind Einbrecher im Haus“ • Hat 2-mal DK und Infusion gezogen
Haut
Ausscheidung
Vitalfunktionen
„Verwirrtheit“
• Schmiert Kot an Decken und Wände
Abbildung 3. Übung zum diagnostischen Prozess (Cluster: 1). Quelle: Jürgen Georg, 2021.
der Genauigkeit von Pflegediagnosen, die von Lunney (2007) entwickelt wurden, kann die Genauigkeit (engl. accuracy) der Diagnose bestimmt werden. Mit Hinweis auf das Symptom „Veränderung des mentalen Zustands“ der Pflegediagnose „defizitäres Flüssigkeitsvolumen“ kann die Möglichkeit aufgezeigt werden, den Symptomkomplex „hat 2-mal DK und Infusion gezogen“, „schmiert Kot an Decken und Wände“ sowie „ruft nachts: „Es sind Einbrecher im Haus“ der Pflegediagnose „defizitäres Flüssigkeitsvolumen“ unterzuordnen. Beim zweiten Symptomkomplex in Abbildung 5 und Cluster 2 wird sehr rasch die Pflegediagnose „Dekubitus“ oder „Risiko eines Dekubitus“ vermutet. Hier gilt es von Seiten der / des Dozierenden nur noch mit den Teilnehmenden zu klären, ob es sich um eine problembezogene Pflegediagnose (Dekubitus) oder eine Risikopflegediagnose (Risiko eines Dekubitus) handelt, was sich mit Hinweis auf die Dekubitusstadien rasch klärt. Mögliche andere hautbezogene Pflegediagnosen, wie Hautschädigung / beeinträchtigte Integrität der Haut, Intertrigo und Pruritus können noch diskutiert und ausgeschlossen werden. Beim dritten Symptomkomplex in Abbildung 6 sind sich die Teilnehmenden rasch einig, dass es sich hierbei um ein Atmungsproblem handelt. Es fällt jedoch sehr vielen schwer, die diagnostische Hypothese mit einem passenden Begriff zu bezeichnen, der über „Pneumoniegefahr“ hinausweist, welche rasch verworfen werden kann mit Hinweis auf die faktisch vorliegenden Merkmale und die Akuität des Problems. Je nach verfügbarer Zeit können die Teilnehmenden aufgefordert werden, alle atmungsbezogenen Pflegediagnosen (s. Kasten) zu sammeln und deren Definitionen und Merkmale mit dem vorliegenden Fall zu vergleichen.
Der diagnostische Prozess (Bsp.) P • Flüssigkeitsdefizit, b/d E
• Gerötete, gereizte Haut im Analbereich • Trockene Mundschleimhaut • Haut in Falten abhebbar
• „hat drei Tage Durchfall gehabt“ (Flüssigkeitsverlust), a/d S
• Trockene Haut
• • • •
• Urinausscheidung: 800 ml /24h • Urin: dunkel und konzentriert
Gerötete, gereizte Haut im Analbereich Trockene Mundschleimhaut Haut in Falten abhebbar Trockene Haut
• Urin: dunkel und konzentriert
• • • •
• • • •
• Ruft nachts: „Es sind Einbrecher im Haus“ • Hat 2-mal DK und Infusion gezogen • Schmiert Kot an Decken und Wände
• Urinausscheidung: 800 ml /24h
RR: 105/70 mmHg Puls: weich, schlecht gefüllt P: 96r T: 38.2 °C
• Ruft nachts „es sind Einbrecher im Haus“ • Hat 2-mal DK und Infusion gezogen • Schmiert Kot an Decken und Wände
RR: 105/70 mmHg Puls: weich, schlecht gefüllt P: 96r T: 38.2 °C
• DD: akute Verwirrtheit vs Flüssigkeitsdefizit
Abbildung 4. Übung zum diagnostischen Prozess, Diagnose von Cluster 1. Quelle: Jürgen Georg, 2021. ©2022 Hogrefe
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Atmungsbezogene Pflegediagnosen • • • • • • •
Aktivitätsintoleranz Risiko einer Aspiration Ineffektives Atemmuster Ineffektive Atemwegsclearance Risiko einer ineffektiven Atemwegsclearance Beeinträchtigte Spontanatmung Dysfunktionales Weaning
Oder der / die Dozierende kann den Kreis der Diagnosen eingrenzen und die zugrundliegenden physiologischen Prozesse der ciliären und tussiven Atemwegsclearance erläutern, um so mit den Teilnehmenden zur folgenden Pflegediagnose zu gelangen: P • Unwirksame Atemwegsclearance, b / d E • „Ich bin zu schwach zum Abhusten“ (zu schwache tussive Clearance), (a / d) S • bläuliche Lippen, karchelndes Atemgeräusch, atmet flach und schnell, Dyspnoe
Unter Hinweis auf die oft fehlenden Begrifflichkeiten zur Benennung von pflegerisch beeinflussbaren Atmungsproblemen kann noch einmal erläutert werden, warum eine Fachsprachenentwicklung bezüglich pflegerischer Diagnosen notwendig ist. Darüber hinaus können am Beispiel der Pflegediagnose „ineffektive Atemwegsclearance“ die vielfältigen pflegerischen Einflussmöglichkeiten aufgezeigt werden, mit denen Pflegende die Atemsituation von Patienten verbessern können, wie Atemübungen, Abhustenförderung, Einsatz ätherischer Öle, Einreibungen, Inhalation, Lagerung, orale Rehydration und Wickel.
Der diagnostische Prozess (Bsp.) • Rutscht im Bett auf und ab, wenn er wach ist • Liegt im Bett, wie ein Stein • Anhaltende Rötung am Steiss: 2.– Fr/€ gross P • E • • S •
Dekubitus I° Rutscht im Bett auf und ab, wenn er wach ist (Scherkräfte) Liegt im Bett, wie ein Stein (Druck) Anhaltende Rötung am Steiss: 2.– Fr/€ gross
Priorisierung von Pflegediagnosen Nach Vorliegen aller Pflegediagnosen, können diese nach Dringlichkeit priorisiert werden. Dazu können die von Marjory Gordon in Gordon und Bartolomeyczik (2001) formulierten folgenden Kriterien genutzt werden. 1. lebensbedrohliche oder behindernde Zustände 2. Schweregrad des Zustandes und vorhersehbare Konsequenzen 3. Prioritäten des Patienten, d. h. welche Probleme möchte der Patient vorrangig behandelt wissen 4. Ressourcen. Am Beispiel des Flüssigkeitsdefizits kann diskutiert werden, wie lebensbedrohlich ein Zustand sein kann und am Beispiel des Dekubitus wird klarer, was behindernde Zustände, Schweregrade und vorhersehbare Konsequenzen sein können.
Pflegediagnosen, -ziele und -interventionen Die Pflegediagnosen bilden den Ausgangspunkt zur Ableitung von Pflegezielen und -interventionen. Diesen Zusammenhang zwischen den Pflegediagnosen mit ihren PESElementen und den Pflegezielen und Pflegeinterventionen veranschaulicht die Abbildung 7 und Tabelle 1. Demnach setzen Pflegeziele in idealtypischer Weise an dem Status der Symptome (S) und Merkmalen einer Pflegediagnose an und beschreiben ein zukünftiges Ergebnis, bei dem der Status positiv verändert oder zumindest stabilisiert wurde. Pflegeinterventionen setzen an den Einflussfaktoren (E)
Der diagnostische Prozess (Bsp.) • bläuliche Lippen • karchelndes Atemgeräusch • atmet flach und schnell • Dyspnoe • atmet nach Aufforderung tief ein und aus • „Ich bin zu schwach zum Abhusten“ P • Unwirksame Atemwegsclearance, b/d E • Ich bin zu schwach zum Abhusten (zu schwache tussive Clearance) (a/d) S • • • •
bläuliche Lippen karchelndes Atemgeräusch atmet flach und schnell Dyspnoe
Abbildung 5. Übung zum diagnostischen Prozess (Cluster 2).
Abbildung 6. Übung zum diagnostischen Prozess (Cluster 3).
Quelle: Jürgen Georg, 2021.
Quelle: Jürgen Georg, 2021.
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Tabelle 1. Zusammenhang zwischen Pflegediagnose (P), Einflussfaktoren (E) und Symptomen (S) mit Pflegezielen und Pflegeinterventionen (Quellen: modifiziert nach Wilkinson, J. M., 2012 und Alfaro-LeFevre, R., 2013) Problemfokussierte Pflegediagnose
Pflegemaßnahme Pflegeziel
Problemtitel
Bsp.: Pflegediagnose
Bsp.: Pflegemaßnahme Pflegeziel
Dekubitus I°, b / d
Einflussfaktor →
Pflegemaßnahme
Druckeinwirkung, a / d
Druckentlastung des Os sacrum durch re / li Seitenlagerung
Symptom, Merkmal →
Pflegeziel
anhaltende, 2-Euro-Stück große Rötung am Os sacrum
anhaltende Rötung wird nach 24 h abklingen
ment für die diagnoseorientierte, gezielte Auswahl von Pflegeintervention, um den Pflegebedarf von Klienten zu reduzieren.
Problem (P)
Symptome (S), Merkmale
Einflussfaktoren (E)
Fokus für
Fokus für
Pflegeziel, angestrebtes Ergebnis
Pflegeintervention
Abbildung 7. Zusammenhang zwischen Pflegediagnosen mit ihren Einflussfaktoren (E) und Symptomen (S) sowie den Pflegeinterventionen und Pflegezielen. Quelle: Gordon & Georg (2020, S.39).
Literatur Alfaro-LeFevre, R. (2013): Pflegeprozess und kritisches Denken. Bern: Verlag Hans Huber. Doenges, M. E., Moorhouse, M. F. & Murr, A. C. (2019). Pflegediagnosen und Pflegemaßnahmen (6. Aufl.). Bern: Hogrefe. Georg, J. & Abderhalden, C. (2019). Pflegediagnosen – Gegenstand und Hintergründe. In M. E. Doenges, M. F. Moorhouse & A. C. Murr, Pflegediagnosen und Pflegemaßnahmen (6. Aufl.) (S.89). Bern: Hogrefe. Georg, J. (2021). Patientenedukation und Pflegeprozess. In M. Schieron, C. Büker & A. Zegelin (Hrsg.), Patientenedukation und Familienedukation in der Pflege (S.301). Bern: Hogrefe. Gordon, M. (2013). Pflegeassessment Notes. Bern: Verlag Hans Huber. Gordon, M. & Bartolomeyczik, S. (2001). Pflegediagnosen – Theoretische Grundlagen. München: Elsevier. Gordon, M. & Georg J. (2020). Handbuch Pflegediagnosen. Bern: Hogrefe. Herdman, H., T. & Kamitsuru, S. (2019). Pflegediagnosen. Definition und Klassifikation 2018 – 2020. Kassel: Recom. Lunney, M. (2007). Arbeitsbuch Pflegediagnostik: Pflegerische Entscheidungsfindung, kritisches Denken und diagnostischer Prozess. Bern: Huber. Sauter, D., Abderhalden, C., Needham, I., Wolff, S. (Hrsg.) (2011). Lehrbuch Psychiatrische Pflege. Bern: Verlag Hans Huber. Wilkinson, J. W. (2012). Das Pflegeprozess-Lehrbuch. Bern: Verlag Hans Huber.
an und versuchen diese so zu beeinflussen, dass das Pflegeziel und -ergebnis erreicht wird und der Status sich in Richtung des Ziels verschiebt.
Zusammenfassung Pflegelehrenden, denen es gelingt, die einzelnen Schritte des diagnostischen Prozesses in exemplarischen Pflegesituationen nachzuvollziehen, verbessern mit jedem dieser Beispiele die diagnostischen Fähigkeiten ihrer Auszubildenden und Studierenden und erhöhen die Genauigkeit ihrer diagnostischen Aussagen. Sie legen damit ein Funda-
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Jürgen Georg Pflegefachmann, -lehrer und Pflegewissenschaftler (MScN) und Dozent sowie Programmleiter Pflege beim Hogrefe Verlag in Bern. juergen.georg@hogrefe.ch
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Grundlagen einer Pflege- und Therapietheorie
Johann Behrens
Theorie der Pflege und der Therapie Grundlagen für Pflege- und Therapieberufe 2019. 264 S., 8 Abb., Kt € 26,95 / CHF 35.90 ISBN 978-3-456-85916-3 Auch als eBook erhältlich
10.12.18 08:24
Die erste Pflege- und Therapietheorie, die auf phänomenologisch- und neurowissenschaftlich-systemtheoretischer Grundlage bei der Selbstpflege und Selbsttherapie ansetzt, und welche die antiken Wurzeln der Pflege- und Therapietheorien weiterentwickelt für die Gegenwart. In seinem Fachbuch zur Pflegeund Therapietheorie stellt Johann Behrens übersichtlich eine histo-
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risch-anthropologische Theorie gewaltreduzierter Pflege und Therapie vor, differenziert eine Theorie der Selbstpflege und der Selbsttherapie, fragt, ob man Erfahrungen anderer für sich verallgemeinern kann, zeigt die Unterschiede einer Professionspflege und Professionstherapie auf und er klärt, welche entscheidenden Beiträge die Pflege- und Therapiewissenschaften zur Gesellschaftstheorie liefern.
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Pflegediagnosen News Pflegediagnosen dienen dazu, den Pflegebedarf von Menschen bezüglich gesundheitlicher Probleme, Risiken, Entwicklungspotenzialen und komplexer Gesundheitsproblemen oder Syndromen zu differenzieren. Der folgende Beitrag skizziert Neuerungen und Veränderungen der NANDA-I-Pflegeklassifikation der Perioden 2015 – 2017, 2018 – 2020 sowie 2021 – 2023.
Allgemeine Entwicklungen In den zurückliegenden Perioden wurde neuere Phänomene beziehungsweise menschliche Reaktionsmuster rund um die Themen Drogenentzug (engl. substance withdrawal), emotionale Kontrolle (engl. emotional control), Flucht und Fluchtrisiken (engl. elopement), Gesundheitskompetenz (engl. health literacy), Migrationstransition (engl. migration transition) sowie das metabolische Syndrom (engl. metabolic syndrome) und Saug- und Schluckreaktionen (suck-swallowing) von Neugeborenen beschrieben. Darüber hinaus wurden viele Pflegediagnosen überarbeitet und differenziert. Im Bereich der Patientenedukation wurde die Pflegediagnose Non-Compliance gestrichen. An ihre Stelle traten Pflegediagnosen, welche die Fähigkeit beschrieben, neues Wissen in den Alltag zu integrieren, wie Gesundheitsmanagement sowie die Fähigkeit und die Gesundheitskompetenz, sich evidenzbasiertes Wissen zur Gesundheit anzueignen. Ergänzt wird diese Entwicklung mit Diagnosen zur gemeinsamen gesundheitsbezogenen Entscheidungsfindung (engl. shared decision making). Auf der Ebene der Gesundheitsförderung wurden Pflegediagnosen zur Gesunderhaltung (engl. health maintainance) sowie zum Gesundheitsverhalten (health behavior) und Gesundheitsselbstmanagement (engl. health self-management) ergänzt und bezüglich des Selbstmanagements bei Lymphödemen und Augentrockenheit differenziert und spezifiziert. Im Bereich Ausscheidung wurden Defäkationsstörungen bezüglich Obstipation erweitert um das Konzept der funktionellen Obstipation. Bei den Miktionsstörungen wurde die Harninkontinenz hinsichtlich Mischformen (engl. mixed urinary incontinence) und mit Behinderungen assoziierten Formen (engl. disability associated incontinence) unterschieden. ©2022 Hogrefe
Stoffwechselbezogene Phänomene, wie Adipositas, Übergewicht und Risiken eines metabolischen Syndroms wurden im Bereich Ernährung aufgegriffen und weiter vertieft. Damit rückten diese global weit verbreiteten Phänomene und Risiken stärker in den präventiven und rehabilitativen Fokus der Pflege. Mobilitätsbezogene Pflegediagnosen wurden im Hinblick auf Sitzen, Stehen und Bewegungsförderung weiter differenziert. Die Risiken für Stürze werden zukünftig in Risiken für Kinder und Erwachsene unterschieden. Das wichtige Pflegekonzept der Hautintegrität wurde bezüglich der Themen Dekubitus oder Druckgeschwüre (engl. pressure ulcer) über die Lebensspanne unterschieden in pressure ulcers von Frühgeborenen, Neugeboren, Kindern und Erwachsenen. Risiken der Hautintegrität, wie die Risiken einer Hornhautverletzung oder Mundtrockenheit, wurden neu aufgenommen. Neben diesen Risiken für die Hautintegrität wurden unter den sicherheitsbezogenen Pflegediagnosen Risiken für berufsbedingte Verletzungen, weibliche Genitalverstümmelungen, suizidales Verhalten, ineffektive Thermoregulation und Hypothermie neu beschrieben oder überarbeitet. Hinsichtlich vitaler Funktionen wurden veränderte kardiovaskuläre Funktionen, Risiken verminderter Herzleistung und eines instabilen Blutdrucks detaillierter beschrieben und vaskuläre Risiken einer Thrombose oder Thromboembolie wurden neu aufgenommen. Die Pflegediagnose Energiefeldstörung, die energetische Störungen des Menschen fokussiert, wurde bezüglich ihrer Merkmale und Einflussfaktoren überarbeitet. Die Gruppe der bereits bestehenden familienbezogenen Pflegediagnosen wurde um Diagnosen zur familiären Identität (engl. family identity syndrome) erweitert. Die in der häuslichen Pflege wichtige Pflegediagnose zur Haushaltsführung (engl. home mantainance) wurde gründlich überarbeitet; instrumentelle Selbstversorgungsdefizite (IADL) sind jedoch weiterhin nicht Bestandteil der offiziellen NANDA-I-Pflegediagnosen. Für Pflegende, die mit hochaltrigen, gebrechlichen Menschen arbeiten ist die Diagnose des Frailty-Syndroms im Alter sicher eine der wichtigsten Entwicklungen. Diese Diagnose bündelt und ergänzt die Friedschen Frailty-Kriterien des Empfindens von Energielosigkeit und Erschöpfung sowie ungewolltem Gewichtsverlust, muskulärer Schwäche, langsamer Gehgeschwindigkeit und niedrigem Aktivitätslevel um Beeinträchtigungen der Aktivitätstoleranz, Ernährung, Gehfähigkeit, Herzleistung, Hoffnung, Mobilität und Selbstversorgung sowie der Phänomene von Fatigue und sozialer Isolation. Die Pflegediagnosen zum Thema Schmerz wurden um das chronische Schmerzsyndrom erweitert, das auch funkPADUA (2022), 17 (1), 15–16 https://doi.org/10.1024/1861-6186/a000655
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tionelle und emotionale Beeinträchtigungen bündelt, wie Angst und Furcht, Fatigue, Schlaf, Stimmung, Stress und soziale Isolation. Das Phänomen der Trauer wurde konzeptionell überarbeitet, wobei die englische Bezeichnung „maladaptive grieving“, die Trauerprozesse als Störung und Fehlanpassung beschreibt, sicher zu Diskussionen Anlass geben wird. Zu den bestehenden kognitionsbezogenen Pflegediagnosen bezüglich Gedächtnisleistung, Impulskontrolle, Verwirrtheit und Wissen ist die Diagnose labile emotionale Kontrolle hinzugekommen und die Pflegediagnose gestörte Denkprozesse (engl. disturbed thought process) wurde in überarbeiteter Form präsentiert. Diese Skizze bezüglich neuer und überarbeiteter Pflegediagnosen bietet nur einen kurzen Überblick über Entwicklungen der Pflegediagnosen über einen Zeitraum von sechs Jahren. Zum detaillierteren Studium seien die von Herdman et al. (2016, 2019, 2021) herausgegebenen Werke sowie die Handbücher von Gordon und Georg (2020) sowie Doenges et al. (2019) empfohlen.
Literatur Doenges, M. E., Moorhouse, M. F. & Murr, A. C. (2019). Pflegediagnosen und Pflegemaßnahmen (6. Aufl.). Bern: Hogrefe. Gordon, M. & Georg, J. (2020). Handbuch Pflegediagnosen (6. Aufl.). Bern: Hogrefe. Herdman, H. T. & Kamitsuru, S. (2016). Pflegediagnosen – Definition und Klassifikation (2015 – 2017). Kassel: Recom. Herdman, H. T. & Kamitsuru, S. (2019). Pflegediagnosen – Definition und Klassifikation (2018 – 2020). Kassel: Recom. Herdman, H., T., Kamitsuru, S. & Takào Lopes, C. (2021). Nursing Diagnoses. Definitions and Classification 2021 – 2023. New York / Stuttgart: Thieme.
Jürgen Georg Pflegefachmann, -lehrer und Pflegewissenschaftler (MScN) und Dozent sowie Programmleiter Pflege beim Hogrefe Verlag in Bern. juergen.georg@hogrefe.ch
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Prüfen am Lernort Praxis Instrumentenentwicklung für die Prüfungsleistungen in der Pflegepraxis in primärqualifizierenden Pflegestudiengängen
Die Praxisbegleitung in primärqualifizierenden Pflegestudiengängen wird von Hochschullehrenden durchgeführt und dient dem Theorie-PraxisTransfer. Gleichzeitig besteht die Herausforderung, dass die Praxisbegleitung eine Prüfungsleistung darstellt. Daher ist die Frage, wie die Praxisbegleitung im Pflegestudium aus didaktischer Sicht gestaltet werden kann. Am Campus für Gesundheitswissenschaften Tübingen-Esslingen wurde ein Instrument entwickelt, das in diesem Beitrag zur Diskussion gestellt wird.
Theoretischer Hintergrund / Rahmenbedingungen Der Begriff „Praxisbegleitung“ ist in den Berufszulassungsgesetzen der Pflege gesetzlich erstmals 2003 / 2004 verankert und zeichnet sich dadurch aus, dass die Lehrenden des Lernorts Hochschule bzw. Pflegefachschule durch regelmäßige Besuche die Lernenden im Lernort Praxis fachlich betreuen und beurteilen sowie die Praxisanleitenden in den Institutionen des Gesundheitswesens hinsichtlich ihres betrieblichen Bildungsauftrags beraten (§ 2 Abs. 3 AltPflAPrV; § 2 Abs. 3 KrPflAPrV; § 5, § 31 Abs. 2 PflAPrV). In Baden-Württemberg wurden die Aufgabenbereiche zur Praxisbegleitung präzisiert als Festlegen von Inhalten und Anforderungen der Praxiseinsätze, Mitverantwortung für die Auswahl und Qualifizierung der Praxisanleitenden, Beratung und Unterstützung der Praxisanleitenden auch in regelmäßigen Treffen, Generierung von Gruppen- oder Einzelunterricht gemeinsam mit dem zu pflegenden Menschen, Unterstützung und Förderung der Lernenden für das Erreichen der Ausbildungsziele, Definition von Standards für die Begleitung der Lernenden im Praxiseinsatz, Organisation und Durchführung von Prüfungen in Kooperation mit den Praxisanleitenden, Überwachung der Ausbildungsqualität, Rückmeldungen an alle an der Ausbildung Beteiligten und Pflegen eines engen Kontaktes zur ©2022 Hogrefe
Praxis (Sozialministerium Baden-Württemberg, 2003 in Bohrer, 2014). Im Rahmen des Hochschulstudiums verbindet sich die Praxisbegleitung mit Prüfungen, die curricular verankert sind. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage der Gestaltung von Prüfungen in der Praxis, die dazu dienen sollen, den Lernerfolg der Studierenden abzusichern und transparent zu machen und darüber hinaus weitere Lernfelder zu identifizieren. Damit wird die Praxisbegleitung zu einer überaus anspruchsvollen und vielgestaltigen Aufgabe, die einen zentralen Baustein des Theorie-Praxis-Transfers für die Studierenden konstelliert. Auch vor dem Hintergrund, dass Prüfungsleistungen bewertet werden, müssen die Anforderungen für die Studierenden vorab bekannt sein. Aus empirischer Sicht liegen für die Praxisbegleitung in Deutschland wenig Befunde vor und es bestehen zur Praxisbegleitung vielfältige Forschungsbedarfe (Arens, 2013a; Arens, 2013b). Unabhängig vom pflegeberuflichen Qualifikationsniveau der Lernenden richtet sich der Blick auf die qualitativen, quantitativen und strukturellen Dimensionen der Praxisbegleitung. Die qualitative Dimension der Praxisbegleitung bedeutet die methodisch-konzeptionelle Ausgestaltung, welche auf dem Curriculum basiert. Für die quantitative Dimension der Praxisbegleitung ist ein Lehrdeputat festzulegen, da für die Praxisbegleitung personelle, zeitliche und finanzielle Ressourcen erforderlich sind. Die strukturelle Dimension der Praxisbegleitung erfordert die Entwicklung eines Konzeptes als orientierungsgebenden Rahmen, der für die Lehrenden und Praxisanleitenden handlungsleitend ist (Huber, 2006).
Qualifikation für die Praxisbegleitung Anknüpfend an diese Dimensionen ist in die konzeptionellen Überlegungen zur Praxisbegleitung auch die Expertise der Lehrenden einzubeziehen. Um Praxisbegleitungen in Pflegestudiengängen oder Pflegeausbildungen erfolgreich durchzuführen, benötigen Lehrende eine fachwissenschaftliche, pflegedidaktische, berufspädagogische und pflegeberufliche Expertise (Arens, 2017). Die konkreten Kompetenzen auf mikro-, meso- und makrodidaktischer Ebene zeigt der FachqualifikationsPADUA (2022), 17 (1), 17–22 https://doi.org/10.1024/1861-6186/a000656
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Christiane Gödecke, Katrin Bader, Astrid Elsbernd und Cornelia Mahler
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rahmen Pflegedidaktik der Deutschen Gesellschaft für Pflegewissenschaft (Walter & Dütthorn, 2018). Erfahrungen aus dem Schulversuch zur generalistischen Pflegeausbildung in Bayern zufolge tragen jährliche Hospitationen von Lehrenden in der Pflegepraxis für eine qualitätsvolle Lehre sinnvoll bei (Ammende, 2016). Dies könnte mit Emotionen und Widerständen der Lehrenden einhergehen, so dass in der Lehrendenbildung für eine berufsbiografisch reflektierte Identität mit der Pflege als Berufsfeld gesorgt werden sollte (Arens, 2017). Auf die Praxisbegleitung als wesentliche Aufgabe können die Studierenden der Pflegepädagogik auch durch simulationsbasiertes Lernen im Skills-Lab vorbereitet werden, wie das an der Katholischen Hochschule München der Fall ist (Kerres et al., 2019).
Umfang der Praxisbegleitung Der Umfang für die Praxisbegleitung durch die Lehrenden während der Praxiseinsätze variiert in den Bundesländern deutlich (Rüller, 2010; Arens, 2012; Arens, 2015; DBR, 2018). Mit der Pflegebildungsreform 2020 ist dies für die berufliche Pflegeausbildung bundeseinheitlich geregelt, so dass jede / jeder Auszubildende mindestens eine Praxisbegleitung je Orientierungs-, Pflicht- und Vertiefungseinsatz hat (§ 5 PflAPrV), die unter Einbezug von Pflegeempfänger_innen in exemplarischen Pflegesituationen von den Lehrenden der Pflegefachschule durchgeführt werden (BT-Drs. 19/2707 in Igl, 2019). Dadurch werden in der beruflichen Pflegeausbildung mindestens sieben Praxisbegleitungen während der drei Ausbildungsjahre durchgeführt (Jürgens & Dauer, 2021). Für die hochschulische Pflegeausbildung ist im Gesetzestext die Rede von einem angemessenen Umfang für die Praxisbegleitung der Studierenden durch die Hochschullehrenden während der Praxiseinsätze (§ 31 Abs. 2 PflAPrV). Aus den Forschungsergebnissen der Delphi-Befragungen im Projekt „QUAHOPP“ wurden Qualitätskriterien zu formalen, organisatorischen, infrastrukturellen, personellen und didaktischen Aspekten zum hochschulischen Praxislernen in der Pflege abgeleitet. Demnach ergeben sich für praxisbegleitende Personen folgende Qualitätskriterien: Hochschullehrende betreuen die Studierenden in den praktischen Studienphasen unter Berücksichtigung von haftungsrechtlichen Rahmenbedingungen, Praxisbegleitungen erfolgen durch Lehrende oder Professor_innen der Hochschule mit pflegepraktischer Expertise, die Praxisbegleitung der Hochschullehrenden ist deputatsrelevant, die Hochschule bindet Personen aus den kooperierenden Einrichtungen in Prozesse der Hochschule ein. Für Prüfungen in praktischen Studienphasen gelten die folgenden Qualitätskriterien: Handlungspraktische Prüfungen sind kompetenzorientiert gestaltet, an handlungspraktischen Prüfungen sind Praxisanleitende und Praxisbegleitende gemeinsam beteiligt. Diese Qualitätskriterien sind als Anregungen für die kontinuierliche Qualitätsverbesserung der praktischen Studienphasen in primärqualiPADUA (2022), 17 (1), 17–22
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fizierenden Pflegestudiengängen zu verstehen (Reuschenbach et al., 2020; Nick et al., 2020). Auf Grundlage dieser Vorüberlegungen und Rahmenbedingungen stellt sich die Frage, wie Prüfungen in primärqualifizierenden Studiengängen gestaltet werden können und sollen.
Methodisches Vorgehen – Entwicklung eines Instrumentariums für die Praxiseinsätze Im curricularen Konzept für einen primärqualifizierenden Pflegestudiengang wurde zwar auf die quantitativen, strukturellen und qualitativen Dimensionen zur Praxisbegleitung Bezug genommen, allerdings auch darauf verwiesen, dass im Anschluss an die Klärung des rechtlichnormativen Rahmens durch das PflBG diesbezüglich ein Konzept zu entwickeln ist (Elsbernd & Bader, 2017). Dazu wurde für den gemeinsam an der Universität Tübingen und Hochschule Esslingen seit 2018 eingerichteten Studiengang Pflege B.Sc. ein Steuerungskreis Praxis etabliert. In diesem Steuerungskreis entwickeln, diskutieren und konsentieren Professor_innen, Wissenschaftliche Mitarbeiter_innen, Studiengangkoordinator_innen und Akademische Praxisanleiter_innen ein Instrumentarium, das für die Praxiseinsätze im Studiengang handlungsleitend ist (Elsbernd et al., 2020). Für die Studierenden ab 2020 nach dem Pflegeberufegesetz (PflBG) und der Pflegeberufeausbildungs- und Prüfungsverordnung (PflAPrV) existiert ein Instrument für die Praxisbegleitung, um den Theorie-Praxis-Transfer instrumentengestützt zu gestalten. Für die Praxisbegleitung sind die im Modulhandbuch verankerten didaktischen Grund- und Transferfunktionen der Lernorte Hochschule und Praxis (Landwehr, 2002) und die Formen des arbeitsbezogenen Lernens (Dehnbostel, 2015) für die wissenschaftsbasierte, pflegepraktische und kritisch-reflexive Kompetenzentwicklung handlungsleitend (CfG, 2018; CfG 2020a). Ebenso von Bedeutung im praktischen Studienanteil ist die Kompetenzförderung auf individueller und kollektiver Ebene (Friedrich & Mandl, 2006) in physischen, digitalen und hybriden Lernräumen (Arnold et al., 2015 in Dehnbostel, 2020). Zunächst wird das zu Grunde liegende Verständnis von Instrumenten (Elsbernd et al., 2020) dargestellt: „Die in Studiengangkonzeptionen curricular verankerten Instrumente sollen insbesondere das didaktische Handeln in Praxiseinrichtungen unterstützen. Damit wird für Bildungskonzepte in der Pflege dem Verständnis von Instrumenten als konstitutives Element von praxisorientierten Konzepten gefolgt (vgl. Elsbernd 2008 & 2013), so dass ‚ein Instrument (…) ein Gerät oder Werkzeug [ist], das sicherstellt, dass zielgerichtet und systematisch bei allen (…) (für die das Instrument entwickelt wurde) die im Instrument verankerten Aspekte eindeutig ermittelt oder umgesetzt werden‘ (Elsbernd 2007, S. 2). (…) Die Instrumente ©2022 Hogrefe
Lehren und Lernen
dienen zudem der Transparenz für alle Beteiligten (Studierende, Lernort Praxis, Lernort Hochschule) und geben Sicherheit in der Anleitung und Begleitung der Studierenden während der Praxiseinsätze.“ (Elsbernd et al., 2020, S. 61) Grundlage für die Instrumentenentwicklung für die Prüfungsleistungen in der Pflegepraxis war eine Sichtung der deutschsprachigen Fachliteratur bezüglich der Übertragbarkeit von der Ausbildung auf das Studium (Reuschenbach, 2020). Beispielsweise sind Konzepte für die Praxisbegleitung im Projekt „CurriPrax“ der Berufsfachschule für Krankenpflege am Krankenhaus Martha-Maria Nürnberg (Löffler, 2010) und im Studiengang Bachelor of Nursing an der Evangelischen Hochschule Berlin (Bohrer, 2015) veröffentlicht. Für die Beobachtung und Beurteilung von praktischen Prüfungen wurden grundlegende Aspekte wie Kompetenzkriterien, Operationalisierungsgrad, Dimensionsbeschreibung, Skalierung, Multiplikator, Notenschlüssel und Zusatzspalte herangezogen (Schneider, 2011; Rebmann, 2017). Weiter wurden publizierte Instrumente insbesondere die Auswertungsbögen der Integrativen Pflegeausbildung des Stuttgarter Modells® (Kerngruppe Curriculum, 2006), den kombinierten Beobachtungs- und Beurteilungsbögen für die praktische Abschlussprüfung (Scherpe & Schneider, 2008), die Handreichung zur Durchführung der praktischen Prüfung in der Altenpflege (Staatsinstitut für Schulqualität und Bildungsforschung, 2010), die Richtlinien zu den Prüfungen in der Gesundheits- und Krankenpflege sowie Gesundheits- und Kinderkrankenpflege (Ministerium für Soziales, Arbeit, Gesundheit und Demografie Rheinland-Pfalz, 2015) und die Empfehlungen der Prüfungsgestaltung an Berufsfachschulen für Altenpflege (Landesamt für Schule und Bildung, 2018) gesichtet. Das Instrument „Durchführung von Prüfungsleistungen in den Praxiseinsätzen“ für den Studiengang Pflege B. Sc. gemäß PflBG & PflAPrV (CfG, 2021a) wurde anhand deduktivem Vorgehen nach Bühner (2011) entwickelt. Zentral dabei waren einerseits die deutschsprachige Fachliteratur zu Praxisbegleitungen und praktischen Prüfungen und andererseits die prototypischen Vorstellungen durch Erfahrungen als Pflegepädagogin an Pflegefachschulen. Ergänzt wurde dies nach einer Pilotierung durch Gespräche mit Expert_innen aus der Pflegeausbildung insbesondere zum pädiatrischen und geriatrischen Versorgungsbereich. Auch fanden die seit 2018 gesammelten Erfahrungen mit der Praxisbegleitung am Campus für Gesundheitswissenschaften Tübingen-Esslingen (CfG) Berücksichtigung. Im Entwicklungsprozess des Instrumentes spielten insbesondere Handhabbarkeit, Augenscheinvalidität, Relevanz und Akzeptanz als Gütekriterien eine Rolle (Reuschenbach, 2020). Der Aufbau des Instrumentes orientiert sich an dem im Steuerungskreis Praxis am CfG konsentierten und einheitlichen Aufbau mit den vier Bestandteilen: Curriculare Einbettung, Inhalt, Dokumentation und Verfahrensanweisung. Alle am praktischen Studienanteil beteiligten Personengruppen wie Studierende, Pflegende, Praxisanleitende und Lehrende werden in die ©2022 Hogrefe
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Inhalte und Anwendung der Instrumente eingeführt und zielgruppenspezifisch geschult (Elsbernd et al., 2020).
Instrument für die Prüfungsleistungen in der Pflegepraxis Die Grundlage des konzipierten Instrumentes für die Praxisbegleitung bilden die curricular verankerten Prüfungsleistungen in der Pflegepraxis im Studiengang Pflege B.Sc.. Die Studierenden mit Studienbeginn ab 2020 haben über die gesamte Studienzeit hinweg sechs Prüfungsleistungen (siehe Abbildung 1), d. h. drei theoriegeleitete Reflexionen von realen Pflegesituationen (wovon zwei inklusive Praxisbegleitung erfolgen), drei praktische Modulprüfungen mit realen Pflegeempfänger_innen (wobei die dritte die praktische Prüfung zur Berufszulassung darstellt). Wann welche Form der Prüfungsleistung als Praxisbegleitung erfolgt, ist in den Modulbeschreibungen angegeben. Da im 7. Semester ausschließlich Nachtdienst erfolgt, findet hier keine Prüfungsleistung als Praxisbegleitung durch Hochschullehrende statt. Die Prüfungsleistungen in den Modulen „Handlungskompetenzen in der Pflegepraxis“ (1. bis 6. Semester) erfolgen in dem zu diesem Zeitpunkt geplanten Praxiseinsatz (CfG, 2021a). Unabhängig von der Art der Prüfungsleistung werden die Studierenden über die Aufgabenstellung, Ablauf der Prüfung und den Bewertungsbogen vorab in der Lehrveranstaltung „Pflegepraktische Gruppenanleitung“ im Modul „Handlungskompetenzen in der Pflegepraxis“ informiert (CfG, 2020b; CfG, 2021a). Vor jeder Prüfungsleistung als Praxisbegleitung durch Hochschullehrende erhalten die Studierenden eine Einzelanleitung im Praxiseinsatz, die auf die Prüfungsleistung vorbereitet wie auch ein Beratungsgespräch zur semesterbezogenen Prüfungsleistung (CfG, 2021a; CfG, 2021b). Die für die Prüfungsleistung (Praxisbegleitung) ausgewählten Pflegeempfänger_innen bzw. ihre gesetzlichen Vertreter_innen müssen dazu ihr Einverständnis geben. Die Studierenden erhalten hierfür eine semesterbezogene, konkrete Aufgabenstellung. Die Prüfungsleistung wird von der / dem Hochschullehrenden anhand des jeweiligen Bewertungsbogens beurteilt. Abschließend besteht für die Studierenden die Möglichkeit einer Nachbesprechung der Prüfungsleistung mit der / dem Hochschullehrenden (CfG, 2020b, CfG, 2021a). Thematisch sind die Prüfungsleistungen in der Pflegepraxis auf einen stufenweisen Kompetenzaufbau abgestimmt und fokussieren das Ausbildungsziel. In der hochschulischen Pflegeausbildung sind fachliche und personale Kompetenzen auf wissenschaftlicher Grundlage und Methodik anzubahnen, um die Studierenden für die selbstständige, umfassende und prozessorientierte Pflege von Menschen aller Altersgruppen für (hoch-)komplexe Pflegesituationen in akut und dauerhaft stationären sowie ambulanten Pflegesettings zu befähigen (§ 37 Abs. 2 PflBG; PADUA (2022), 17 (1), 17–22
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§ 32 Abs. 1 PflAPrV). Für jedes Semester wurde aus den curricular verankerten Zielen und Inhalten (CfG, 2018; CfG, 2021a) ein Themenschwerpunkt der Prüfungsleistung abgeleitet und jeweils eine Aufgabenstellung für die Studierenden entwickelt. Fokussiert werden dabei beispielsweise Pflegeprozessplanung und Pflegeinterventionen, Beratung und Anleitung, Prävention und Gesundheitsförderung, Expertenstandards und Pflegekonzepte. In aller Regel eignen sich die Themenschwerpunkte sowohl für eine praktische Prüfung mit realen Pflegeempfänger_innen als auch für eine theoriegeleitete Reflexion einer realen Pflegesituation Setting- und altersunabhängig. Hinsichtlich der Kompetenzentwicklung der Studierenden nehmen die Anforderungen im Verlauf der Studienzeit in ihrer Komplexität zu und sind in Form von Kriterien zur Situation der Pflegeempfänger_innen in Anlehnung an Ammende et al. (2019) festgelegt. Für praktische Prüfungen ist im kompetenzorientierten Bewertungsbogen anhand der Kompetenzstruktur des Deutschen Qualifikationsrahmens für lebenslanges Lernen zudem das zu erwartende Kompetenzniveau in Anlehnung an Schmidt-Richter (2012) beschrieben (CfG, 2020b; CfG, 2021a). Aus dem am CfG entwickelten Instrument werden hier folgende Prüfungsleistungen als Praxisbegleitung durch Hochschullehrende exemplarisch vorgestellt: 1. die Aufgabenstellung einer theoriegeleiteten Reflexion einer realen Pflegesituation und 2. der Bewertungsbogen zum Fachund Reflexionsgespräch für praktische Prüfungen in komprimierter Form. Weiter werden erste Erfahrungen und ausblickende Gedanken vorgestellt.
Theoriegeleitete Reflexion einer realen Pflegesituation Die hier vorgestellte theoriegeleitete Reflexion wird von den Studierenden im Praxisblock des 3. Semesters bearbeitet. Zu diesem Zeitpunkt sind die Studierenden im Anschluss an die Vorlesungs- und Prüfungszeit in einem mehrwöchigen Blockeinsatz in den Feldern Psychiatrie, Akutklinik, ambulante Pflege oder stationäre Altenhilfe eingesetzt. Die Aufgabenstellung der theoriegeleiteten Reflexion sieht vor, dass ein / e Pflegeempfänger_in unter Zuhilfenahme einer Pflegetheorie vertieft betrachtet wird. Im ersten Schritt ist eine Informationssammlung zu dem / der Pflegeempfänger_in zu erstellen. Die Informationssammlung umfasst sozio-demographische Daten, die Biografie, Haupt- und Nebendiagnosen, den aktuellen Gesundheits-Pflegezustand, die aktuelle Therapie und die Medikation. Mit eingebunden sind ferner spezielle Beobachtungen zum aktuellen Gesundheits- Krankheitszustand. Hier liegt der Fokus auf der spezifischen Beobachtung von beispielsweise der Atmung, dem Bewusstsein oder der Ausscheidung. In der Beobachtung können auch involvierte Assessmentinstrumente zur Sprache kommen. PADUA (2022), 17 (1), 17–22
Lehren und Lernen
Die spezielle Beobachtung auf theoretischer Ebene ist Inhalt eines Moduls im 2. Semester (CfG, 2020b; CfG, 2021a). Im zweiten Schritt soll der / die Pflegeempfänger_in in der aktuellen Pflegesituation mit Hilfe einer Pflegetheorie vorgestellt werden. Besonders hingewiesen wird mittels Unterfragen auf mögliche Vertreterinnen wie Dorothea Orem, Hildegard Peplau oder Marie-Luise Friedemann. Die Wahl der Pflegetheorie ist den Studierenden überlassen. Eine Leitfrage in Bezug auf Dorothea Orem ist beispielsweise „Welche allgemeinen, entwicklungsbedingten und gesundheitsbedingten Selbstpflegeerfordernisse werden in der ausgewählten Pflegesituation deutlich?“. Da in der ersten theoriegeleiteten Reflexion im 1. Semester das Pflegemodell von Nancy Roper, Winifred Logan und Alison Tierney eingebunden ist, sollen in dieser theoriegeleiteten Reflexion weitere Pflegetheorien zur Sprache kommen. Die Studierenden sind aufgefordert ihre Theorieauswahl zu begründen (CfG, 2020b; CfG, 2021a). Im dritten Schritt sollen aktuelle therapeutische und diagnostische Maßnahmen in dieser Pflegeempfänger_innen-Situation begründet sowie deren Zielsetzung dargestellt werden. Die Theorie zu Pflegeinterventionen im Zusammenhang mit therapeutischen und diagnostischen Maßnahmen ist Lehrinhalt im 3. Semester. Eingebunden ist die ganze Aufgabenstellung in eine schriftliche Ausarbeitung, die den formalen Kriterien des wissenschaftlichen Arbeitens an einer Hochschule entspricht (CfG, 2020b; CfG, 2021a). Erste Erfahrungen liegen aus der Pilotierung der theoriegeleiteten Reflexion im Blockeinsatz der Psychiatrie vor. In den dazugehörigen schriftlichen Ausarbeitungen der Studierenden wurden die Vorgeschichte und der aktuelle Zustand der Pflegeempfänger_innen umfangreich beschrieben. Eine besondere Gewichtung lag auch in den Ausführungen zu den involvierten therapeutischen Maßnahmen in der Psychiatrie. Positiven Einfluss hatte hier vermutlich, dass die psychiatrischen Krankheitsbilder sowie deren fachpflegerische Interventionen Lehrinhalt im 3. Semester sind. Beim Fokus der speziellen Beobachtung standen bei den Studierenden die Kommunikation sowie affektive Komponenten im Mittelpunkt. Die Studierenden haben sich alle in ihrer Ausarbeitung an der Pflegetheorie von Hildegard Peplau orientiert, wobei die Inhalte sich sehr verschieden gestaltet haben. Während einige Studierende vor allem die Rolle der Pflegenden in der Pflegesituation analysiert haben, wurden bei anderen Studierenden die Beziehungsphasen der Pflegeempfänger_innen in den Mittelpunkt gestellt. Insgesamt lässt sich sagen, dass die schriftliche Bearbeitung und Reflexion von Pflegesituationen dazu beitragen, die analytische Dimension von Pflegetheorien in den Vordergrund zu rücken. Die Aufgabenstellung der theoriegeleiteten Reflexion wurde nach der Pilotierung hinsichtlich weniger formaler Aspekte überarbeitet. Es wird sich zeigen, inwieweit durch den Einsatz in anderen Einsatzgebiete möglicherweise andere Pflegetheorien von den Studierenden zur Reflexion der Pflegesituation herangezogen werden. ©2022 Hogrefe
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Praktische Prüfungen mit realen Pflegeempfänger_innen Die praktische Prüfung mit realen Pflegeempfänger_innen erfolgt jeweils als Praxisbesuch. Darauf bereiten sich die / der Studierende im Praxiseinsatzort nach der Auswahl der Pflegeempfänger_innen für die Prüfungsleistung am Vortag des Praxisbesuches im Rahmen ihrer / seiner Dienstzeit vor. Am Tag des Praxisbesuches werden die Studierenden die jeweilige Aufgabenstellung durchführen. Dabei werden die Studierenden von einer / einem Professor_in und i. d. R. einer / einem Akademischen Praxisanleiter_in beobachtet. Abschließend findet ein Fach- und Reflexionsgespräch statt, bei dem die Studierenden ihre Selbstreflexion mündlich mitteilen und das pflegerische Handeln fachlich begründen. Im Anschluss daran erhalten die Studierenden eine mündliche Rückmeldung anhand der schriftlichen Beobachtungsmitschrift durch die beiden beobachtenden Personen (CfG, 2020b; CfG, 2021a). Der Bewertungsbogen für die praktischen Prüfungen mit realen Pflegeempfänger_innen besteht aus drei Teilbereichen und gliedert sich in: • Planung des Pflegebedarfs oder / und Planung des Edukationsbedarfs, • Pflegeinterventionen gestalten, Prüfling:
• Fach- und Reflexionsgespräch (Staatsinstitut für Schulqualität und Bildungsforschung, 2010). Die Bewertung der praktischen Prüfungen orientiert sich ebenso wie das Modulhandbuch (CfG, 2018; CfG, 2021a) an der Kompetenzstruktur des Deutschen Qualifikationsrahmens für lebenslanges Lernen mit Wissen und Fertigkeiten in der Fachkompetenz und Sozialkompetenz und Selbstständigkeit in der Personalen Kompetenz (DQR, 2011; DQR, 2013). Der kompetenzorientierte Bewertungsbogen des Studiengangs Pflege B.Sc. am CfG enthält literaturbasierte Kriterien zur Bewertung von Teilkompetenzen einer praktischen Prüfung mit realen Pflegeempfänger_innen. Jedes dieser Kriterien wird mit den Noten 1 bis 5 benotet. Falls ein Kriterium in der Prüfungssituation nicht vorkommt, wird dies vermerkt. Am Ende wird aus den Teilergebnissen die Gesamtnote errechnet. Die / Der Prüfer_in bewertet die Leistung der / des Studierenden und dokumentiert die Teilkompetenzen, den Gesamteindruck und das Prüfungsergebnis auf diesem Formular. Hinsichtlich der Notengebung ist die am CfG geltende Studien- und Prüfungsordnung des Studiengangs Pflege B. Sc. handlungsleitend (CfG, 2020b; CfG, 2021a). Die Abbildung 1 zeigt exemplarisch zum Fach- und Reflexionsgespräch unseren entwickelten Bewertungsbogen für die praktischen Prüfungen.
Prüfer*in:
Note
Vermerke
Fachkompetenz – Wissen
Personale Kompetenz – Selbstständigkeit
Bewertungsbogen zur praktischen Prüfung mit realen Pflegeempfänger*innen Teil 3: Fach- und Reflexionsgespräch Teilkompetenz Kriterien Studierende Studierende reflektiert die • erkennt vordergründige Probleme. Pflegehandlung und • begründet den Ablauf der Pflegehandlungen. die Gesamtsituation. • reflektiert und bewertet beispielhaft. • nennt mögliche Handlungsalternativen. • hinterfragt und begründet den eigenen Standpunkt. • reflektiert Stärken und Schwächen. Studierende Studierende reflektiert die • erkennt (un)sicheres Pflegehandeln. Prüfungssituation • schätzt die eigene Handlungssicherheit adäquat ein. hinsichtlich sicherem • schätzt den Sicherheitsaspekt von Pflegeempfänger*innen Pflegehandeln. adäquat ein. Studierende Studierende reflektiert über die • reflektiert die Rahmenbedingungen der Pflegesituation Rahmenbedingungen und Station/Pflegedienst/Wohnbereich. der Pflege. • reflektiert rechtliche, politische und betriebswirtschaftliche Rahmenbedingungen der Pflege. Studierende Studierende reflektiert über die • reflektiert eine rückenschonende Arbeitsweise in eigene Gesundheit im Pflegesituationen. pflegeberuflichen • reflektiert hinsichtlich des Eigenschutzes das hygienische Handeln. Arbeiten in der Prüfungssituation. Studierende Studierende begründet die • begründet Auswahl der Pflegetheorie. Prüfungssituation • begründet Pflegehandeln mit pflegewissenschaftlichen anhand Erkenntnissen. wissenschaftlicher • begründet Diagnostik und Therapie mit medizinischen und Erkenntnisse. pharmakologischen Erkenntnissen. • begründet Interaktion und Kooperation mit psychologischen und soziologischen Erkenntnissen. Studierende Studierende begründet • begründet Pflegesituationen anhand ethischer Prinzipien Pflegehandeln unter und Leitlinien sowie interkultureller Aspekte. ethischen • begründet eine nachhaltige Arbeitsweise mit ökologischen Gesichtspunkten. Erkenntnissen. Berechnung der Teilnote: Summe der einzelnen Noten durch die Anzahl der Teilkompetenzen teilen (gerundet mit einer Stelle nach dem Komma)
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Abbildung 1. Auszug aus dem Bewertungsbogen. Teil Σ:
Teilnote:
3: Fach- und Reflexionsgespräch (CfG, 2020b, 19, 29, 39, 63; CfG, 2021a, 20, 28). PADUA (2022), 17 (1), 17–22
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Mit dem in unterschiedlichen Semestern angewendeten Bewertungsbogen haben die Prüfer_innen der praktischen Prüfungen positive Erfahrungen gemacht, so dass er auch bei der praktischen Modulabschlussprüfung zur Berufszulassung Anwendung findet. Da im 2. Semester die Planung des Pflegebedarfs und im 4. Semester die Planung des Edukationsbedarfs im Vordergrund stehen, wurden bei der Überarbeitung hinsichtlich der Pflegebildungsreform 2020 die Teilkompetenzen und Kriterien dahingehend angepasst, um insbesondere die Handhabbarkeit des Bewertungsbogens zu verbessern.
Schlussbetrachtung In diesem Beitrag haben wir einen Einblick in das am CfG für den Studiengang Pflege B. Sc. entwickelte Instrument für die Gestaltung von Prüfungsleistungen in der Pflegepraxis gegeben. Hiermit war die Herausforderung verbunden, einerseits die Prüfungsleistung in der Pflegepraxis abzubilden, andererseits das Lernen im Rahmen der Praxisbegleitung in den Fokus zu rücken. Kritisch ist an dieser Stelle zu betrachten, dass jegliche Reflexion im Rahmen der Praxisbegleitung auch gleichzeitig Teil der Notengebung ist. Das Instrument für die Prüfungsleistungen wird nach einer Pilotphase nun für die Durchführung der Prüfungen im Studiengang Pflege B. Sc. eingesetzt. In einem weiteren Schritt ist das am CfG entwickelte Instrument zu den Prüfungsleistungen in der Pflegepraxis systematisch zu evaluieren und auf Basis dieser Erkenntnisse dahingehend anzupassen und weiterzuentwickeln. Die intentionale Ausrichtung der Praxisbegleitung in der Pflege sollte trotz der meist erforderlichen Notengebung den Lernprozess und die Kompetenzentwicklung der Lernenden nachhaltig unterstützen. Vor dem Hintergrund der Anforderungen an die Lehrenden im Zusammenhang mit der Praxisbegleitung sind die angehenden Lehrenden während ihres Studiums in der Pflegepädagogik auf diese Aufgabe entsprechend vorzubereiten. Darüber hinaus sollte die Beratung der Praxisanleitenden durch die Lehrenden als weiterer Aspekt der Praxisbegleitung kontinuierlich stattfinden und kann zur Sicherstellung des Qualitätsniveaus auch instrumentenbasiert eingeführt werden. Auf diese Weise ist es auch möglich, dass die praktische Ausbildung der Studierenden in den Gesundheits- und Pflegeeinrichtungen transparent wird. Dies geht einher unter der besonderen Herausforderung der bislang ungeklärten Finanzierung des praktischen Studienanteils in der hochschulischen Pflegeausbildung, die auf Bundesebene dringend zu klären ist. Für die Weiterentwicklung der Praxisbegleitung sind mit dem Fokus auf die beteiligten Personengruppen wie Lernende, Pflegeempfänger_innen, Lehrende und Praxisanleitende vielfältige Forschungs- und Entwicklungsprojekte durchzuführen. Beispielsweise sind die Aufgabenstellungen für die Prüfungsleistungen hinsichtlich eines systematischen Kompetenzaufbaus und vergleichend zu den unterPADUA (2022), 17 (1), 17–22
Lehren und Lernen
schiedlichen pflegeberuflichen Qualifikationsniveaus im Sinne von Fallvignetten zu entwickeln. Vor dem Hintergrund eines vergleichbaren Bewertungsmaßstabes für praktische Prüfungen sollte je ein Bewertungsinstrument für komplexe und hochkomplexe Pflegesituationen induktiv konstruiert und validiert werden. Die Bildungsbedarfe von Praxisanleitenden und Lehrenden im Zusammenhang mit praktischen Prüfungen sind zu analysieren und in die Curricula der berufspädagogischen Weiterbildung und pflegepädagogischen Studiengänge zu integrieren. Wird die Pflegebildungsforschung zur Praxisbegleitung intensiviert, wird es zukünftig möglich sein, auf Grundlage empirischer Erkenntnisse für die unterschiedlichen pflegeberuflichen Qualifikationsniveaus die Praxisbegleitung im Sinne evidenzbasierter Lehre zu gestalten.
Literatur Das Literaturverzeichnis wird bei Interesse gerne von den Autorinnen versendet.
Prof. Dr. Christiane Gödecke M.Sc. Professorin für Pflegewissenschaft Hochschule Esslingen christiane.goedecke@hs-esslingen.de
Katrin Bader Pflegewissenschaftlerin M.A., Pflegepädagogin B.A. Hochschule Esslingen katrin.bader@hs-esslingen.de
Prof. Dr. Astrid Elsbernd Professorin für Pflegewissenschaft Hochschule Esslingen astrid.elsbernd@hs-esslingen.de
Prof. Dr. Cornelia Mahler M.A. RbP Professorin für Pflegewissenschaft Universität Tübingen cornelia.mahler@med. uni-tuebingen.de
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Nonverbale Kommunikation kompetenzorientiert digital unterrichten? Entwicklung eines Online-Kurses mit Lern-Tandems für die Pflegeausbildung
Lässt sich nonverbale Kommunikation kompetenzorientiert digital unterrichten? Welches sind die Hauptkomponenten nonverbaler Kompetenz? Was bedeuten sie für die pflegerische Interaktion mit kommunikativ eingeschränkten Menschen? Welche Lehrmethoden sind effektiv und digital umsetzbar?
Komponenten von Kommunikationskompetenz Kommunikationskompetenz ist eine hochkomplexe Fähigkeit, welche verschiedene Komponenten und deren sinnvolles Zusammenwirken beinhaltet. Für die Situations- und Patienteneinschätzung ist es erforderlich, Informationen, darunter auch nonverbale Mikroverhaltensweisen, zu dekodieren, also zu erkennen und zutreffend einzuschätzen (Riggio, 2006). Um Informationen so darzubieten, dass sie verstanden werden können, ist neben der Sprache auch unerlässlich, die Körpersprache zu enkodieren, also stimmig zu verwenden. Sich auf die Situation und das Gegenüber einzustellen bedeutet, auch die eigenen nonverbalen Reaktionen zu regulieren und abzustimmen (Riggio, 2006). All dies mündet bestenfalls im Dialog. Dieser findet dann statt, wenn die ausgesprochenen oder auch unausgesprochenen Äußerungen des angewiesenen Menschen aufgenommen werden und in den Gesprächs- bzw. Interaktionsprozess einfließen (Steinmetz, 2018).
Krankheitsbedingte Einschränkungen von Kommunikationsfähigkeit Diverse Krankheitsbilder können Kommunikationsfähigkeiten stark verändern und einschränken. Der erkrankte Mensch kann dann weniger aktiv kommunizieren oder in©2022 Hogrefe
teragieren. Eine Beziehungsebene aufzubauen ist dann ungleich schwieriger. Wenn es nicht gelingt, kann dies unwillkürlich zu einer Versachlichung der Person führen (Schwerdt, 1998), diese wird dann als „die schwierige Patientin“ oder „der Verwirrte“ oder „der, der nichts mehr mitbekommt“ angesehen (Steinmetz, 2019). Fehlt verstehende Resonanz im Kontakt, erfährt der eingeschränkte Mensch die psychologischen Effekte von emotionaler Isolation, zudem kommt es zu einer massiven Hochregulation der Stress-Gene (Bauer, 2006). Spätestens jetzt tritt die Bedeutung der nonverbalen Kommunikationsmöglichkeiten in den Vordergrund, denn diese sind entscheidend dafür, ob ein Vertrauensverhältnis entstehen kann (Ambady & Skowronski, 2008)
Nonverbale Kommunikation: Beziehungserfahrungen Interaktionsmuster sind als Beziehungserfahrungen früh erworben (Fuchs, 2003) und dadurch sensorisch, motorisch und emotional gespeichert. Sie sind somit weitgehend unbewusst wirksam (Stern, 1998), tief in Gewohnheiten verwurzelt und automatisiert (Schore & Schore, 2008). Des Weiteren sind sie nicht durch Berufserfahrung allein entwickelbar (Healy & Noonan Walsh, 2007), obwohl dies oft angenommen wird (Alsawy et al., 2017). Die für nonverbale Interaktionen mit einem kommunikativ und kognitiv veränderten Menschen erforderlichen Fertigkeiten sind außerdem sehr komplex (Steinmetz, 2016) und unterscheiden sich von den im Alltag erworbenen, da sie primär expressions- und erlebnisorientiert sind (Gutknecht, 2010).
Effektive Lehrmethoden für kompetenzorientieres Kommunikationslernen Die Veränderung und Erweiterung von kommunikativen Fertigkeiten gilt als permanenter Prozess mit komplexen PADUA (2022), 17 (1), 23–29 https://doi.org/10.1024/1861-6186/a000657
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Astrid Steinmetz
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Lernvorgängen (Merckaert et al., 2005), in welchen habitualisierte Routinen umstrukturiert werden. In diversen Metaanalysen wurde der Frage nachgegangen, welche Methoden zu Kompetenzzuwachs geführt haben. Grundsätzlich als effektiv haben sich die Kombination von theoretischem Wissen mit praktischem Üben und konstruktivem Feedback erwiesen. Erst die Verhaltenskomponenten führen zu Veränderungen in der klinischen Praxis (Merckaert et al., 2005). Daher müssen die Lehrmethoden neben Wissensaneignung Selbsterfahrung, Erfahrungslernen auch Erwerb von Fertigkeiten beinhalten (Lepschy, 2002). Experimentelle Methoden wie das Rollenspiel haben positive Ergebnisse erzielt (Stiefel et al., 2010). Die Kombination von kognitiven, erfahrungsbzw. verhaltensorientierten und emotionsbezogenen Elementen (Barnes et al., 2012; Moore et al., 2018; Schofield et al., 2008) kann erst zu nachhaltigen Veränderungen führen.
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bezüglich verschiedener Kommunikationskanäle: Stimmklang oder Gestik sind vor dem Bildschirm gut zu vermitteln und zu üben. Dagegen wirkt der Bildschirm begrenzend auf alle nonverbalen Kanäle, welche mit Blick, Raum oder nur taktil ausgedrückt werden können.
Methodische Überlegungen zur Entwicklung des Online-Kurses Aufgrund dieser Überlegungen wurde eine Kombination aus virtuellem und nicht-virtuellem Lernsetting gewählt. Beiden Settings werden hinsichtlich der effektiven Elemente von Kommunikationslernen (kognitive, erfahrungsbzw. verhaltensorientierte und emotionsbezogene) und der verwendeten Lernmethoden dargestellt.
Virtuelles Setting
Das Trainingsprogramm für Kommunikation ohne Worte Da nonverbale Fertigkeiten nach wie vor nur in äußerst wenigen Programmen fokussiert werden, wurde über 12 Jahre mit > 2000 Teilnehmern ein Konzept praxisorientiert entwickelt und in seiner Wirksamkeit überprüft (Steinmetz, 2016). Dessen Ziel ist, nonverbale dialogische Interaktionen im Kontakt mit dem verbal schwer erreichbaren Menschen zu fördern. Die genannten Kommunikationskompetenzen wurden integriert. Die Orientierung liegt auf der Gegenseitigkeit in Dialog und Interaktion. Daher werden keine festgelegten Kommunikationsweisen vermittelt, sondern vielmehr Prinzipien, die situativ anzuwenden sind. Es handelt sich dabei um grundlegende Kompetenzen für eine person-zentrierte und beziehungsgestaltende Pflege und integriert somit verschiedene Altersgruppen und Krankheitsbilder. Die dargelegten effektiven Trainingsmethoden finden Anwendung. Die Wirksamkeit des Trainingsprogramms wurde in einer Studie überprüft und hinsichtlich der Zunahme relevanter Kommunikationskompetenzen für die Interaktion mit der kommunikativ eingeschränkten Person bestätigt (ebd.).
Ist die Vermittlung nonverbaler Kompetenzen digital möglich? Bei den Überlegungen zur Entwicklung eines Online-Kurses wurden die Möglichkeiten sowie Grenzen digitalen Lehrens und Lernens hinsichtlich der vier Kompetenzbereiche sehr bald deutlich: Dekodieren von nonverbalem Ausdruck ist anhand von Videomaterial und Demos leicht vermittelbar, sogar durch Pausen und Slow-Motion-Einstellungen nochmals effektiver als in der reinen Life-Demo. Beim Enkodieren zeigen sich bereits gravierende Unterschiede PADUA (2022), 17 (1), 23–29
Im virtuellen Selbstlernen werden die kognitiven Lernelemente methodisch über Videopräsentationen und Skripte vermittelt. Dort können Situationen im Patientenkontakt visuell oder verbal veranschaulicht werden. Dadurch kann der Effekt von verschiedenen Herangehensweisen in der Kontaktaufnahme aufgezeigt, deren Hintergründe erläutert sowie die Auswirkungen auf Patienten und Fachpersonal deutlich gemacht werden. So wird eine evidenzbasierte Grundlage für die Vermittlung der kommunikativen Fertigkeiten gelegt. Beispiele für förderliches Verhalten können gezeigt und über Beobachtungsaufgaben analysiert werden, so dass auch Modelling als Lehrmethode Eingang findet (Merckaert et al., 2005). In den verhaltensorientierten Lernelemente werden neu erworbene Kommunikationsfertigkeiten ausprobiert und geübt. Im Format des virtuellen Selbstlernen kann das Dekodieren von Patientenverhalten, selbst von Mikro-Ausdruck, methodisch über Videomaterial mit Beobachtungsaufgaben vermittelt und damit eine wichtige pflegerische Kommunikationskompetenz trainiert werden. Des Weiteren können einige Elemente des Enkodierens nonverbaler Kommunikation über Videomaterial geübt werden, so z. B. relevante Gesten für die visualisierende Begleitung von sprachlichen Informationen in Pflegeprozessen. Die affektiven Lernelemente haben zum Ziel, die Empathie der Teilnehmenden (Ratka, 2018) und ihre Fertigkeiten zur Beziehungsgestaltung zu fördern. Im Selbstlern-Format des virtuellen Settings kann dies durch Aufgabenstellungen zur Erfahrungs- und Selbstreflektion gefördert werden.
Nicht-Virtuelles Setting Aufgrund der dargelegten Begrenzungen für die kompetenzorientierte Vermittlung nonverbaler Kommunikation ©2022 Hogrefe
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wurde der Online-Kurs um ein nicht-virtuelles Lern-Setting ergänzt. Dafür arbeiten die Auszubildenden in Präsenz-Tandems zusammen. In den kognitiven Lernelementen wird das erworbene Wissen anhand von Übungs- und Diskussionsaufgaben im Tandem angewendet und abgeleitet bzw. vertieft. Die verhaltensorientierten Lernelemente haben im nicht-virtuellen Lernsetting des Tandems einen hohen Stellenwert. Die Kompetenzen werden anhand von vorgegebenen Situationen trainiert und basieren auf Sequenzen aus realen Interaktionen mit Patient_innen. Da es sich als ineffektiv erwiesen hat, komplexe Kommunikationsfertigkeiten in zu kurzer Zeit zu trainieren (Haberstroh et al., 2009), werden diese in ihre Komponenten aufgegliedert und als Mikro-Fertigkeiten geübt (Wilkinson et al., 1999), als Teilaspekte des kommunikativen Geschehens. Dadurch können die Teilnehmer_innen schnell Teilerfolge erzielen, die sich motivierend auf das Lernen auswirken. Die Mikro-Fertigkeiten werden dann schrittweise in komplexeren, praxisnahen Aufgaben zusammengefügt. Reflexionsfragen unterstützen das Erfahrungslernen, strukturieren das Verhaltensfeedback und helfen, die erlernten Strategien in die täglichen Aktivitäten einzubetten (Vasse et al., 2010). Die Auszubildenden lernen dadurch, das kommunikative Kompetenzniveau eines Patienten bzw. einer Patientin zutreffend einzuschätzen und ihre kommunikativen Strategien darauf abstimmen. Im sog. Persönlichen Entwicklungsplan (Alke, 2008) formulieren die Teilnehmenden ihre selbstgesetzten Entwicklungsaufgaben, wodurch der Transfer in die Praxisphase gefördert wird. Mit den affektiven Lernelemente werden die Anliegen der Teilnehmenden berücksichtigt, ihre Erfahrungen fließen in die Auswertungen ein. Indem sie in den Übungen die Perspektive der Patienten einzunehmen (Merckaert et al., 2005), gewinnen sie auch einen affektiven Zugang anderen Lebenswelten. Dieser wird durch Reflexionsfragen zu Selbst- und Übungserfahrungen vertieft.
Welche nonverbalen Kommunikationskompetenzen werden vermittelt? 1. Dekodieren: Körpersprache wahrnehmen und Bedeutungen erkennen Die subtilen körpersprachlichen Signale eines erkrankten Menschen sollen wahrgenommen und zutreffend einschätzt werden können. Zu erkennen, wo dieser gerade mit seiner Aufmerksamkeit ist und dort anzuknüpfen, ist Voraussetzung für eine gelingende Kontaktaufnahme. Veränderte Wahrnehmung einschätzen zu können gibt Hinweise darauf, welche Sinneskanäle im Kontakt Vorrang haben. Stresssignale als Reaktionen auf ein Kontaktangebot oder eine Pflegehandlung zu berücksichtigen hilft, auf beiden ©2022 Hogrefe
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Seiten Überforderung zu reduzieren. Signale der nonverbalen Zuwendung als Handlungsbestätigungen zu erkennen, gibt Orientierung im Tun. Der dialogischen und damit patientenorientierten Haltung liegt präzises Dekodieren zugrunde (Steinmetz, 2018). Durch genaue Beobachtung von Patientenverhalten und -reaktionen kann das kommunikative Kompetenzniveau eingeschätzt werden. Dies ist Voraussetzung dafür, kommunikative Strategien situativ anzupassen, also sinnvoll zu enkodieren. Wird darüber hinaus auch der emotionale Zustand erkannt, kann auf diesen eingegangen werden, und er blockiert nicht den Kontakt. Praxisbeispiel A: Die Patientin sitzt mit geweiteten Augen und ängstlichem Gesicht auf der Bettkannte. Wenn dies nicht erkannt und berücksichtigt wird, wird sie sich möglicherweise gegen Angebote oder Aufforderungen wehren. Praxisbeispiel B: Der demenziell veränderte Patient sitzt im Bett, ist in sich zusammengesunken, schaut ins Leere. Er wird gut hörbar und aus 1 – 2 Metern Entfernung angesprochen, um ihn zum Transfer in den Sessel zu motivieren, zeigt jedoch keine Reaktion. Das Erkennen der Patientenreaktionen kann Aufschluss darüber geben, wie die kommunikative Kompetenzebene des Patienten gestaltet ist: In diesem Falle scheinen die gewählten Strategien von Abstand, Körperhaltung, Erklärungen und Lautstärke diese nicht erreicht zu haben. Praxisbeispiel C: Das 8-jährige Kind ist schwerhörig und liegt eingerollt und zur Wand gedreht in seinem Bett. Bei der Kontaktaufnahme berührt die Pflegefachkraft es vorsichtig am Rücken. Daraufhin zieht sich das Kind noch mehr zusammen: Hätte diese Reaktion im Kontaktaufbau vermieden werden können? Ein Signal der Distanzierung zutreffend einzuschätzen, ist die Voraussetzung, beziehungserhaltend damit umzugehen.
2. Enkodieren: eindeutig kommunizieren und für das Gegenüber verständlich sein Erst wenn nonverbale Signale eindeutig sind, können viele der genannten Patient_innen erkennen, dass sie angesprochen werden und Informationen verarbeiten. Im Alltagsverhalten nonverbaler Kommunikation ist diese Eindeutigkeit nicht erforderlich und demzufolge nicht ohne Training abrufbar. Es sind die scheinbar kleinen Aspekte, die darüber entscheiden, ob eine Begegnung gelingen kann: Wann wird in der Kontaktaufnahme gesprochen? Aus welcher Richtung erfolgt die Annäherung? Wie kann man damit umgehen, wenn der Patient den Blick auf Ansprache nicht zuwendet? In welchem Moment ist es sinnvoll, Informationen zu vermitteln? An welcher Stelle ist eine Berührung unterstützend, wann kann sie stressauslösend sein? Erst, wenn präzise dekodiert wurde, können die erlernten Strategien des Enkodierens situativ passend Einsatz PADUA (2022), 17 (1), 23–29
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finden. Denn es geht nicht um genormte Kommunikation, sondern spezifische, am Gegenüber orientierte. Ziel ist, diesen zu befähigen, an Dialog und Handlung weitestgehend teilzuhaben. Kompetenzorientiert zu kommunizieren meint daher, sowohl Einschränkungen zu berücksichtigen als auch Ressourcen zu nutzen. Praxisbeispiel A: Die auf der Bettkante sitzende Patientin ist wahrscheinlich durch ihre Angst in der Aufmerksamkeit eingeschränkt. Sie könnte visuell erreicht werden, indem die Pflegende sich in ihr Blickfeld begibt. Die Pflegende würde wenig sprechen, da ein emotional angespannter Mensch Sprachinhalte nur erschwert erfassen kann. Mit einer eventuellen Berührung könnte sie, wenn sie ruhend und haltgebend ist, schnell das Gefühl von Sicherheit vermitteln. Praxisbeispiel B: Der Patient scheint aus der Entfernung die Ansprache nicht wahrzunehmen, Lautstärke ändert daran nichts. Er benötigt höchstwahrscheinlich eine Kontaktaufnahme in seinem Blickfeld. Sinnvoll wäre es, in der Hinbewegung begleitend zu sprechen, damit es nicht zu einer Schreckreaktion kommt. Eine Zuwendungsreaktion kann als positive Antwort gewertet werden. Erst dann kann sprachlich das Anliegen formuliert werden. Wenn der Patient hierauf keine Reaktion zeigt, können die Inhalte gestisch unterlegt werden, beispielsweise mit einem Zeigen auf den Sessel. Praxisbeispiel C: Das Kind liegt abgewandt, hat also nicht die Möglichkeit, aus der Entfernung die Annäherung der Pflegefachkraft wahrzunehmen. Die unvermittelte Berührung am Rücken scheint zu einer weiteren Abwendung zu führen. Wie hätte dies vermieden werden können? Grundsätzlich spricht ein fester Schritt das Vibrationsempfinden des höreingeschränkten Kindes an. Sind die Augen geschlossen, könnte auf der taktilen Ebene dennoch eine graduelle Kontaktaufnahme vorgenommen werden: zuerst das Bett, dann die Decke, dann der Arm oder die Hand, da das Kind darüber handlungsfähig ist.
3. Regulieren: sich selbst wahrnehmen und abstimmen Die Selbstwahrnehmung des eigenen körpersprachlichen Ausdrucks ist Voraussetzung dafür, ein erlebtes Gefühl nicht unbeabsichtigt nonverbal zum Ausdruck zu bringen (Riggio, 2006). Manche Gewohnheiten im nonverbalen Umgang mit dem kranken Menschen resultieren weniger aus bewussten Wertvorstellungen als dem Habitus einer Berufsgruppe (Sahmel, 2018). Durch die Interaktionsübungen wird erfahrbar gemacht, wie eine Verhaltensweise wirkt, dadurch kann diese bewusstwerden. In der Reflexion des eigenen Verhaltens hinsichtlich seiner Wirkung und seiner Absichten können Diskrepanzen deutlich werden. Dadurch entsteht eine wichtige Motivation für PADUA (2022), 17 (1), 23–29
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Veränderung (Pappas & Pappas, 2015) und Verhaltensgewohnheiten können reguliert werden (Steinmetz, 2019).
4. Dialogisieren: wechselseitige Momente eröffnen durch nonverbales Antworten Die bisher genannten Fertigkeiten sind Grundlage für Wechselseitigkeit im Miteinander. Indem auf die nonverbalen Signale des kommunikativ eingeschränkten Menschen geantwortet wird, öffnet sich ein Zwischenraum, den beide Seiten gestalten. So lässt sich zum einen das Kompetenzniveau leicht herausfinden, zum anderen eröffnet der Umgang mit Zuwendungs- bzw. Abwendungssignalen einen gemeinsamen Handlungsraum.
Praxisbeispiel A: Der Dialograum mit der ängstlichen Patientin entsteht bereits dadurch, dass ihre Blickrichtung erwidert wird. Wenn der eigene Gesichtsausdruck die Ernsthaftigkeit der Situation der Patienten aufgreift (natürlich ohne zusätzlich zu verängstigen), erlebt sie, dass jemand sie wahrnimmt und auf sie eingeht. Die Körperspannung der Patientin könnte beispielsweise mit einem haltenden Druck der Hände erwidert werden. Dies würde die Möglichkeit in sich bergen, ihr darüber Sicherheit zu spenden, allerdings nur, wenn sie es positiv aufnimmt. Praxisbeispiel B: Wenn der demenziell veränderte Patient erkennt, dass er angesprochen wird, wird er dies durch Zuwendungssignale deutlich machen, das könnte bereits ein erwiderter Blick sein. Jetzt erst kann prozesshaft deutlich werden, wie sein Willensausdruck ist: Reagiert er beispielsweise bei dem sprachlichen Vorschlag eines Transfers nicht, kann dies ein Hinweis darauf sein, dass er den Vorschlag noch nicht verstanden hat. Reagiert er auf ein gestisches Zeigen zum Sessel mit einem der Hand folgenden Blick, erkennt er dann den Sessel und schüttelt daraufhin den Kopf, wird deutlich, dass er zu etwas Nein sagt. Möglicherweise fühlt er sich nur überfordert von dem weiten Weg. Werden ihm nun zur Unterstützung die Hände hingehalten und er steht mit dieser Hilfe auf, signalisiert er die Bereitschaft zur gemeinsamen Bewegung. Praxisbeispiel C: Der Moment der körperlichen Abwendung des Kindes muss nicht bedeuten, dass der Kontakt misslungen ist und abgebrochen werden muss. Denn das Signal der Distanzierung kann zuallererst situativ als Antwort auf die Berührung am Rücken verstanden werden. Darauf dialogisch zu antworten würde bedeuten, das Verhalten nicht zu wiederholen, sondern nach Alternativen zu suchen, z.B. ans Fußende treten oder sich so über das Bett beugen, dass das Kind die Pflegefachkraft leicht erkennen könnte. Treffen sich die Augen, kann dies wiederum als nonverbale Zustimmung für die Kontaktaufnahme gewertet werden.
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Struktur und Materialien des OnlineKurses mit Präsenz-Tandems Selbstlernkurs für 8 Unterrichtsstunden für die generalistische Pflegeausbildung • Lektion 1: Kommunikationsbarrieren erkennen • Lektion 2: Nonverbale Möglichkeiten nutzen und entwickeln • Lektion 3: Körpersprachliche Patientenreaktionen erkennen und einschätzen • Lektion 4: Schlüsselprinzipien gelingender nonverbaler Kommunikation • Lektion 5: Die Sinne bei der Kontaktaufnahme 1: Tore zum Gegenüber • Lektion 6: Die Sinne bei der Kontaktaufnahme 2: Tore zum Gegenüber • Lektion 7: Die Stimme im Dialogaufbau • Lektion 8: Kompetenzebene anpassen: Inhaltliche Vermittlung durch Gestik Materialien • Videos: Lernsituationen, Demos für die praktische Anwendung, Präsentationen • Foliensatz und Text zum Video • Arbeitsblätter • Übungsaufgaben • Reflexions- und Diskussionsfragen • Persönlicher Entwicklungsplan • Weiterführende Texte • Transferaufgaben für den Praxiseinsatz • Multiple-Choice-Prüfungsaufgaben mit Zertifikat Voraussetzung für die Durchführung ist eine technische Infrastruktur mit Computern oder anderen Endgeräten sowie Kopfhörern. Des Weiteren sind ein stabiles W-LAN und Software zum Lesen eines PDF erforderlich. Zeitliche Struktur • Der Kurs kann am Stück durchgeführt oder in 90 min.Einheiten à 2 Lektionen gegliedert werden. • Die Teilnehmenden erhalten den Zugang zum Kurs für ein ganzes Jahr. So können sie beliebig oft Präsentationen und Demos anschauen. • Die Empfehlung zur zeitlichen Verordnung im Curriculum ist nach dem ersten Praxiseinsatz der Auszubildenden
Flexible Nutzung des Online-Kurses Drei Varianten der Nutzung des Online-Kurses mit Präsenz-Tandems sind denkbar. 1. Selbstlernen mit frei gewählter Intensität der OnlinePräsenz der Lehrperson: Die Auszubildenden arbeiten in Tandems unabhängig von der Lerngruppe. Die Lehr©2022 Hogrefe
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personen kann mehr oder weniger aktiv präsent für Fragen und Reflektionen sein, benötigt dafür einen entsprechenden Online-Dienst. In den ersten vier Lektionen können die Teilnehmenden in virtuellen Tandems arbeiten. 2. Selbstlerneinheiten im Präsenz-Unterricht mit frei gewählter Intensität der Präsenz der Lehrperson: Die Lerngruppe wird in Tandems aufgegliedert, welche von der Lehrperson betreut werden können. Reflexionseinheiten aus dem Online-Kurs können in angeleitete Gruppenreflexionen münden oder im Tandem verbleiben. Das Maß von Selbstlernen und Gruppenarbeit bleibt der Lehrpersonen überlassen. 3. Präsenz-Unterricht unter Verwendung der OnlineMaterialien: Die Lehrpersonen wählt für den Präsenzunterricht aus den angebotenen Inhalten und Methoden aus, um diesen selbstverantwortlich zu gestalten.
Kritische Bewertung Die Wirksamkeit des Präsenz-Trainings auf den Kompetenzerwerb wurde wissenschaftlich bestätigt, ebenso die Relevanz der Kompetenzen für die angemessene Interaktion mit verbal eingeschränkten Menschen (Steinmetz, 2016). Neu ist die Anwendung in Ausbildungseinrichtungen für Pflegeberufe im digitalen Misch-Format. Bei der Adaption wurde großen Wert auf die Integration effektiver Trainingsmethoden gelegt, da diese als wichtige Komponente für den Kompetenzerwerb gelten. Allerdings waren für das vorliegende Format Abstriche zu machen: So können die Übungen nicht unmittelbar durch direktes Feedback der Seminarleitungen begleitet werden, einem wichtigen Aspekt für den Kompetenzerwerb. Dies wurde versucht zu kompensieren, indem die Aufgabenstellungen für die praktischen Übungen sich auf Mikro-Fertigkeiten begrenzen, die Vorgaben dafür sehr klar sind und für das Feedback im Tandem Regeln zur präzisen Verhaltensbeschreibung geübt werden. In Varianten 2 und 3 der flexiblen Nutzung ließe sich das Feedback von der Lehrperson anleiten und durchführen. Neben den strukturell bedingten Einschränkungen des Selbstlern-Kurses hinsichtlich Feedbacks und Fragen besteht eine weitere darin, dass die Seminarleitung nicht direkt mit potentiellen blockierenden Verhaltensweisen umgehen kann. Insgesamt ist in der Variante 1 eine höhere Selbständigkeit und Motivation der Lernenden notwendig, zudem sie in ihren Übungen auch keiner sozialen Kontrolle unterliegen. Die Entscheidung für ein Mischsetting von virtuellen und nicht–virtuellen Komponenten hat Folgen für die Einsatzmöglichkeiten des Kurses. Es muss daher die Möglichkeit gegeben sein, dass sich die Teilnehmenden zum Lernen im Tandem finden können. Dieses Setting ist den dargelegten einschränkenden Bedingungen digitaler Medien für das Erlernen nonverbaler Kompetenzen geschulPADUA (2022), 17 (1), 23–29
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det. Das Lernsetting in Tandems begünstigt jedoch andererseits kooperatives Lernen. Ein Vorteil der Variante 1 als Selbstlernkurs liegt darin, unabhängig zu sein von der Präsenz einer Lehrperson. Die Teilnehmenden können ihn selbstorganisiert durchführen, haben dadurch auch mehr Zeitautonomie. Da die Inhalte für ein Jahr zugängig sind, können sie Inhalte und Übungen bei Bedarf wiederholen. Wird der Kurs in den Präsenz-Unterricht integriert, öffnen sich viele Möglichkeiten des individuellen Einsatzes durch die Lehrperson. Die Lektionen können zudem am Stück oder partiell in das Curriculum integriert werden. Hinsichtlich der Lernerfolgsbewertung ist anzumerken, dass eine Wissensüberprüfung den Kompetenzerwerb nicht erkennbar machen kann. Dafür wären Aufgabenstellungen notwendig, in denen Situationen simuliert werden, möglicherweise durch Auszubildende in der Patientenrolle. Diese Aufgaben praktisch zu lösen und die eigene Handlung zu reflektieren, könnte ein sinnvoller Weg für die Leistungsüberprüfung sein. Bisher bleibt diese der Initiative der Lehrpersonen überlassen. Weiterhin stellt sich die Frage nach dem Transfer der erlernten Kompetenzen in die Praxis. Um diesen zu begünstigen, wurde der persönliche Entwicklungsplan gewählt, mit welchem die individuellen Verhaltensabsichten in die Praxis projiziert werden und diese dann in der Praxisphase komprimiert vor Augen stehen. Hier wird es die Initiative von Lehrpersonen beziehungsweise Praxisanleitenden erfordern, um die Anwendung der Kompetenzen zu reflektieren. Sehr interessant wäre, über eine begleitende Untersuchung mit einem Prä-Post-Design herauszuarbeiten, ob und inwieweit auch durch den Online-Kurs praxisrelevante Kompetenzen beziehungsorientierter nonverbaler Kommunikation vermittelt werden. Abschließend kann trotz der dargelegten Einschränkungen bemerkt werden, dass der Online-Kurs einen gut begründeten Ansatz darstellt, um eine sehr spezifische Expertise einer breiten Zahl von Auszubildenden und Lehrenden zugänglich zu machen. Ziel des Kurses ist, Fertigkeiten zu vermitteln, mit denen gezielt und leicht auch mit dem verbal schwer zu erreichenden Menschen ein gelingender Kontakt aufgebaut werden kann.
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Dr. phil. Astrid Steinmetz Dipl. Musiktherapeutin, Dipl. Sozialpädagogin (FH) steinmetz@kow.eu
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Kollegiale Beratung in der Gesundheits- und Krankenpflegeausbildung Eine wirksame Methode seinen Gefühlen Ausdruck zu verleihen
In einer Begleitstudie an einer Berufsfachschule für Gesundheits- und Krankenpflege wurde untersucht, wie sich die Kollegiale Beratung nach dem sechs Phasen Modell von Tietze (2018) auf Auszubildende auswirkt und ob sich die Effekte durch eine wiederholte Teilnahme verstärken. Ziel war es, eine wirksame Methode in die Ausbildung zu implementieren, die die Schüler _ innen im fachlichen Diskurs, sowie bei der Bewältigung von Heraus-
„Mobbing auf Station“, „als Schüler die Waschstraße machen“ und „als Schüler auf Station nur ausgenutzt werden“ (Lehrer et al., 2015, S. 330 – 331). Im „Ausbildungsreport Pflegeberufe 2015“ gibt rund ein Drittel (30,5 %) der Befragten an, sich durch die Umstände in der Ausbildung „immer“ oder „häufig“ belastet zu fühlen. Dabei wird das „Arbeiten unter Zeitdruck“ als größter Belastungsfaktor angegeben. Ebenso werden u. a. „Probleme im Team“, „fehlende Pausen“ sowie die „fehlende Vereinbarkeit von Familie und Beruf “ als belastend empfunden (Ver.di, 2015, S. 12).
forderungen aus der Pflegepraxis unterstützt.
Schüler_innen in der Gesundheits- und Krankenpflege unterliegen im Laufe ihrer dreijährigen Ausbildung physischen sowie psychischen Beanspruchungen. Dabei sind in der Regel die psychischen Belastungen tiefgreifender als die physischen (Barion, 2017). In der praktischen Pflegeausbildung werden die Auszubildenden häufig erstmals mit Leid und Krankheit konfrontiert. Gefühle wie Verzweiflung und Angst können ausgelöst werden, wodurch die Praxiseinsätze zu einer emotionalen Herausforderung für die Auszubildenden werden (Winter, 2019). In der aktuellen Pflegepraxis findet allerdings nicht immer eine ausreichende Begleitung statt, um mit diesen Herausforderungen umgehen zu können, weshalb Schüler_innen kaum über professionell implementierte Möglichkeiten zur emotionalen Entlastung verfügen. Sie sind frustriert und enttäuscht von der Ausbildung. Einige ziehen sogar einen Ausbildungsabbruch in Betracht (Winter, 2019). In einer Studie zum Absentismus in der Pflegeausbildung gibt nahezu ein Drittel der Auszubildenden an, im letzten halben Jahr nicht krankheitsbedingt gefehlt zu haben. Auffällig ist hierbei die deutliche Differenz der Fehlzeiten während der Schulblöcke (19,7 %) und während der praktischen Einsätze (33,4 %). Ursachen können u. a. stationsbedingt begründet werden, aufgrund von Aussagen wie ©2022 Hogrefe
Kollegiale Beratung in der Ausbildung Physische sowie psychische Belastungen führen also dazu, dass Pflegende und bereits Auszubildende in der Gesundheits- und Krankenpflege an die Grenzen ihrer Belastbarkeit stoßen (Roddewig, 2016). Roddewig zeigt in ihrem „Anleitungs- und Trainingsprogramm zum Erlernen der Kollegialen Beratung“ auf, wie diese Methode erfolgreich eingesetzt werden kann, um ausbildungsbedingte Belastungen aufzuarbeiten (2014, S. 338). Ihr Anleitungsprogramm trägt dazu bei, die Stressbelastung während der Ausbildungszeit zu minimieren, die Handlungs- und Problemlösekompetenz zu entwickeln und das (Wohl-) Befinden der Teilnehmer_innen zu steigern. Negativen Effekten ausbildungsbedingter Beanspruchungen wird somit entgegengewirkt (Roddewig, 2016, S. 42 – 43). Auch ist die Kollegiale Beratung Bestandteil des von Winter entwickelten persönlichkeitsstärkenden Praxisbegleitungskonzepts. Unterstützt durch Lehrende haben die Auszubildenden die Möglichkeit, sich in einem geschützten Rahmen über emotionale Grenzsituationen aus der Pflegepraxis auszutauschen und zu reflektieren (Winter, 2019). In dem Pflegeberufegesetz, das seit 01.01.2020 Geltung für die generalistische Pflegeausbildung hat, wird in den verPADUA (2022), 17 (1), 31–36 https://doi.org/10.1024/1861-6186/a000658
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schiedenen Kompetenzbereichen1 u. a. gefordert, die Kollegiale Beratung zu nutzen, einzufordern und anzunehmen (PflAPrV Anlage 1, II.1.f, III.1.b; PflAPrV Anlage 2, III.1.c). Dieser Forderung ist nach § 53 PflBG die Fachkommission zur Erarbeitung der Rahmenpläne nachgekommen und hat Kollegiale Beratung als verpflichtenden Bestandteil in die Ausbildung integriert (Bundesinstitut für Berufsbildung, 2020). Die gesetzliche Forderung muss daher bei der Entwicklung von schulinternen Curricula berücksichtigt werden.
Kollegiale Beratung nach Kim-Oliver Tietze Nach Tietze ist die Kollegiale Beratung: „(…) ein strukturiertes Beratungsgespräch in einer Gruppe, in dem ein Teilnehmer von den übrigen Teilnehmern nach einem feststehenden Ablauf mit verteilten Rollen beraten wird mit dem Ziel, Lösungen für eine konkrete berufliche Schlüsselfrage zu entwickeln.“ (Tietze, 2018, S. 11). Hinter diesem Konzept steckt der Gedanke, dass sich ebenbürtige Personen aus vergleichbaren Arbeitsfeldern zu beruflichen Problemen qualifiziert beraten. In Organisationen nimmt Kollegiale Beratung die Position von personenorientierten Beratungen ein und kann als eine Form des selbständigen und selbsttätigen Lernens angesehen werden (Tietze, 2010; Roddewig, 2014). Neben einem standardisierten Vorgehen in Ablauf und Rollenverteilung nimmt das Prinzip der Kollegialität einen hohen Stellenwert ein (Tietze, 2018). Die Wirkprozesse der Kollegialen Beratung zielen auf drei Ebenen ab: • Kollegiale Beratung trägt zur Lösung berufsbezogener Probleme bei • Kollegiale Beratung trägt zur Entwicklung von beruflich relevanten Kompetenzen bei • Kollegiale Beratung trägt zur Reduzierung von beruflicher Beanspruchung bei • (Tietze, 2010, 2016). Demzufolge lassen sich durch die Kollegiale Beratung „… drei miteinander verbundene Ziele erreichen: 1. Praxisberatung near-the-job: Lösungen für konkrete Praxisprobleme, 2. die Reflexion der beruflichen Tätigkeit und der Berufsrolle sowie 3. Qualifizierung durch den Ausbau von praktischen Beratungskompetenzen.“ 4. (Tietze, 2018, S. 19) Die Kollegiale Beratung kann umso erfolgreicher sein, je sicherer alle Gruppenmitglieder die Aspekte Vertraulichkeit, Respekt und Wertschätzung, Verbindlichkeit der 1
Teilnahme, Autonomie des Fallerzählers bzw. der Fallerzählerin, Selbstverantwortung, aktive Beteiligung und Offenheit umsetzen (Tietze, 2018). Dazu bedarf es einer theoretischen Einführung und Anleitung im Rahmen der Ausbildung.
Ziele der Begleitstudie und methodisches Vorgehen In der vorliegenden Begleitstudie wurde der Frage nachgegangen, wie sich die Kollegiale Beratung im theoretischen Unterricht auf Auszubildende im 1. Ausbildungsjahr der Gesundheits- und Krankenpflege nach dem Modell von Tietze auswirkt. Weiter wurde untersucht, ob sich durch eine Wiederholung der Kollegialen Beratung die Effekte signifikant verstärken. Ziel war es, emotionaler Belastung im Rahmen der Ausbildung entgegenzuwirken. Durch die Ergebnisse der Begleitstudie kann das pädagogische Handeln angepasst werden und Schlussfolgerungen für die schulinterne Curriculumentwicklung der generalistischen Pflegeausbildung gezogen werden. Aufbauend auf die positiven Effekte, die Roddewig (2016) durch ihr Anleitungsprogramm beobachtet hat und die von Tietze postulierten Ziele, die sich durch die Kollegiale Beratung erreichen lassen, wurden folgende Hypothesen aufgestellt: 1. Durch die Wiederholung der Kollegialen Beratung können die Auszubildenden berufsbezogene Praxisprobleme besser lösen. 2. Durch die Wiederholung der Kollegialen Beratung verbessert sich bei den Auszubildenden der Umgang mit ausbildungsbedingten Belastungen. 3. Durch die Wiederholung der Kollegialen Beratung verbessert sich bei den Auszubildenden die interaktionale Kompetenz. 4. Durch die Wiederholung der Kollegialen Beratung verbessert sich bei den Auszubildenden die Reflexionsfähigkeit. Es wurde eine Längsschnittstudie im Paneldesign durchgeführt. Mittels Online-Fragebogen wurden die Daten an zwei definierten Zeitpunkten erhoben und quantitativ ausgewertet. Die statistische Auswertung erfolgte mit dem Datenverarbeitungsprogramm „SPSS StatisticsVersion 26“.
Stichprobe Die Stichprobe umfasste insgesamt 29 Auszubildende aus der dreijährigen Gesundheits- und Krankenpflegeausbildung einer ausgewählten Berufsfachschule für Krankenpflege in Bayern (s. Tabelle 1). Mit 24 weiblichen und fünf
Verweis vom § 56 PflBG zur PflAPrV.
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Tabelle 1. Soziodemografische Daten Soziodemografische Daten der Stichprobe Geschlechterverteilung Weiblich Männlich Altersverteilung 17 Jahre und jünger 18 bis 24 Jahre 25 bis 34 Jahre Sprachvermögen sehr gut gut
24 Auszubildende 5 Auszubildende 14 Auszubildende 13 Auszubildende 2 Auszubildende 27 Auszubildende 2 Auszubildende
männlichen Auszubildenden entsprach die Stichprobe der allgemeinen Geschlechterverteilung an Berufsfachschulen des Gesundheitswesens in Deutschland (Statistisches Bundesamt, 2019, S. 92). Knapp die Hälfte der Teilnehmer_innen war 17 Jahre und jünger. Das Vermögen, einem Gespräch in deutscher Sprache folgen zu können, stellt einen zentralen Aspekt für das Gelingen einer Beratung in Deutsch dar (Schlee, 2019, S. 150). Dies war bei allen Befragten der Fall.
Datenerhebung Die erste Datenerhebung (t1) erfolgte vor dem ersten praktischen Stationseinsatz. Es wurden fünf Unterrichtseinheiten (à 45 Min.) zum Thema „Kollegiale Beratung“ nach dem Modell von Tietze durchgeführt. Unterrichtet wurden die theoretischen Grundlagen, die Definition, die Phasen und die Methoden dieses Modells. Darauffolgend wurde eine Beratung mit der gesamten Klasse nach dem sechs Phasen Modell von Tietze (2018) exemplarisch durchgeführt. Anschließend fand sich die Klasse in freiwilligen Gruppen von sechs bis acht Personen pro Gruppe zusammen, um eine Kollegiale Beratung selbständig umzusetzen. Die Themenfindung wurde dabei seitens der Lehrkraft nicht eingegrenzt. Den Auszubildenden stand ein Zeitbudget von max. 60 Minuten zur Verfügung. Nachdem diese Einheit beendet war, füllten alle beteiligten Personen den OnlineFragebogen in Einzelarbeit aus. Nach sieben Monaten mit weiteren praktischen Einsätzen erfolgte eine zweite Datenerhebung (t2 2). Das Vorgehen und der Unterricht glich methodisch-didaktisch, inhaltlich und formal dem des ersten Erhebungszeitpunktes (s. Tabelle 2). Die Bewertungen wurden erneut mit dem Online-Fragebogen eingefangen.
Der Fragebogen wurde mit Hilfe des Programms „Umfrage Online“ adressatengerecht entwickelt und im Rahmen eines Pretests mit Praxisanleiter_innen nachjustiert. Insgesamt setzt sich der Fragebogen aus fünf geschlossenen Fragen mit Einfach- oder Mehrfachantwortvorgaben, vier geschlossenen Fragen mit Ratingskala und einer geschlossenen Frage mit visueller Analogskala zusammen. Zudem wurde eine offene Frage integriert. Die Befragten wurden über das weitere Vorgehen der gesammelten Daten aufgeklärt. Durch eine verschlüsselte und anonyme Datenauswertung, war ein Rückschluss auf einzelne Personen ausgeschlossen. Zum Schutz von Einzelpersonen wurden die Schüler_innen zur Vor- und Nachbereitung der Kollegialen Beratung umfassend betreut, sodass eventuelle psychisch belastende Situationen individuell aufgegriffen werden konnten.
Ergebnisse Die Ergebnisse zeigen, dass sich die große Mehrheit der Auszubildenden zu beiden Messzeitpunkten durch die Kollegiale Beratung persönlich gestärkt fühlt, da sie dadurch ausbildungsbedingte Belastungen kompensieren können (s. Abb. 1). Auffallend ist das Merkmal „Die Teamarbeit wird gestärkt“, welches nach einer Wiederholung der Kollegialen Beratung deutlich prominenter wird (nt1 = 10; nt2 = 23).
H1: Durch die Wiederholung der Kollegialen Beratung können die Auszubildenden berufsbezogene Praxisprobleme besser lösen In dieser Kategorie ist zum zweiten Messzeitpunkt in allen Bereichen eine Steigerung der absoluten Zahlen zu beobachten. Hierbei fühlen sich die meisten Auszubildenden persönlich gestärkt, da sich ihr Blickwinkel für neue Lösungswege erweitert (nt1 = 16; nt2 = 23), wenngleich die Zunahme statistisch nicht signifikant ist. Eine Steigerung von acht Nennungen und damit der größte Wirkbereich – gemessen an den absoluten Häufigkeiten und statistisch signifikant – ist in dieser Kategorie bei der verbesserten Arbeitsqualität zu beobachten (nt1 = 7; nt2 = 15; p = 0,039, McNemar). H1 wird daher lediglich für das zuletzt genannte Item bestätigt.
Tabelle 2. Zeitplan der Datenerhebung
Intervention
2
Messzeitpunkt t1
Vier Praxiseinsätze
Messzeitpunkt t2
1. Einführung in die Kollegiale Beratung 2. Erste Durchführung 3. Fragebogen t1
Keine Intervention
1. Wiederholung der Kollegialen Beratung 2. Zweite Durchführung 3. Fragebogen t2
t2 verschob sich um vier Monate, da aufgrund der Corona-Pandemie zum geplanten Zeitpunkt alle Unterrichts- und Schulveranstaltungen untersagt waren (Bayerische Staatskanzlei, 2020).
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H2: Durch die Wiederholung der Kollegialen Beratung verbessert sich bei den Auszubildenden der Umgang mit ausbildungsbedingten Belastungen Die meisten Auszubildenden fühlen sich in den Bereichen „Ein Austausch über emotional belastende Situationen wird ermöglicht“ (nt1 = 21; nt2 = 27) und „In der Praxis (auf Station, Außeneinsatz) erlebte Geschehnisse können aufgearbeitet werden“ (nt1 = 19; nt2 = 24) persönlich gestärkt (s. Abb. 1). Die Aspekte zeigen sich zu beiden Messzeitpunkten prominent, gleichwohl der Anstieg nicht signifikant ist. Die Hypothese bestätigt sich aber dahingehend, dass die Auszubildenden beim zweiten Durchgang die Methode „Kollegiale Beratung“ als hilfreicher empfinden, um emotional belastende Situationen besser aufarbeiten zu können (p = 0,033, WilcoxonTest). Zum zweiten Messzeitpunkt sind es bereits alle Schüler_innen, die sie als hilfreich oder sehr hilfreich einstufen (nt1 = 27; nt2 = 29). Für das Item „Ich kann besser mit der Spannung zwischen Theorie und Praxis umgehen“ wird H2 nicht bestätigt. Zwar schätzen annähernd alle die Methode als hilfreich oder sehr hilfreich ein, um mit dieser häufig postulierten Spannung umzugehen, allerdings ist hier keine signifikante Verbesserung zu beobachten (nt1 = 25; nt2 = 25).
H3: Durch die Wiederholung der Kollegialen Beratung verbessert sich bei den Auszubildenden die interaktionale Kompetenz Mit dieser Hypothese wird untersucht, ob sich die Methode positiv auf die Sozialkompetenz, die Gesprächskultur und die Teamarbeit auswirkt. Es zeigt sich, dass sich alle Bereiche der interaktionalen Kompetenz im Längsschnitt – gemessen an der Anzahl der Nennungen – verbessern (s. Abb. 1). Das Item „Die Teamarbeit wird gestärkt“ zeigt eine signifikante Steigerung in der Befürwortung zum zweiten Messzeitpunkt (p = 0,002, McNemar).
H4: Durch die Wiederholung der Kollegialen Beratung verbessert sich bei den Auszubildenden die Reflexionsfähigkeit Ob sich die Variable Reflexionsfähigkeit bei den Auszubildenden verbessert, wird anhand der Merkmale Eigenreflexion, Reflexionsfähigkeit bezüglich des Umgangs mit Anderen, und Reflexion der Arbeitsweise untersucht. Die Ergebnisse bestätigen, dass eine Wiederholung der Kollegialen Beratung zu einer signifikant verbesserten Eigenreflexion (p = 0,048, Wilcoxon-Test) und Reflexionsfähigkeit bezogen auf den Umgang mit Anderen (p = 0,028, Wilcoxon-
t1
t2 30
25
21
20
19
18
16
15
13 10 10
10
9
7
Anzahl der Nennungen
Anzahl der Nennungen
30
0
24
25
23 23
22
20
17
15
15
13
12
10 5
5
Rang
27
1
2
3
4
5
6
7
8
9
Mein Blickwinkel für neue Lösungswege wird erweitert Ein qualifizierter Austausch mit Mitschülern wird ermöglicht Neue Inspirationen für Tätigkeiten werden geweckt Die Qualität meiner Arbeit wird verbessert Ein Austausch über emotional belastende Situationen wird ermöglicht In der Praxis (auf Station, Außeneinsatz) erlebte Geschehnisse können aufgearbeitet werden Meine Sozialkompetenz wird gestärkt Eine offene Gesprächskultur in der Schule/Klasse wird gefördert Die Teamarbeit wird gestärkt
Rang
0
1
2
3
4
5
6
7
8
9
H1: Anregung für berufsbezogene Praxisprobleme
H2: Umgang mit ausbildungsbedingten Belastungen H3: Verbesserung der interaktionalen Kompetenz
Abbildung 1. Persönliche Stärkung durch die Kollegiale Beratung. PADUA (2022), 17 (1), 31–36
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Test) führt. Die Annahme über eine verbesserte Reflexion der Arbeitsweise kann nicht empirisch bestätigt werden. Ferner ergab die Auswertung der offenen Fragen, welche Schlüsselprobleme in jeder Gruppe beraten wurden, dass tendenziell Themen, die die Auszubildenden psychisch / emotional bewegten, gewählt wurden (s. Tabelle 3).
deutender, dass sich die Kollegiale Beratung in der vorliegenden Untersuchung positiv auf die Reflexionsfähigkeit auswirkte. Werden in den Beratungen von den Auszubildenden Themen aufgegriffen, die den Widerspruch in den Anforderungen aufdecken, so kann das im besten Fall zu einer mündigen Kritik führen, zum berufspolitischen Engagement und zur Einsicht, dass der normative Anspruch in Wirklichkeit nicht erfüllt werden kann (Kersting, 2016).
Diskussion Die Begleitstudie hat gezeigt, dass die Auszubildenden das Instrument Kollegiale Beratung primär dafür nutzen, um sich über emotional belastende Situationen auszutauschen und erlebte Geschehnisse aus der Praxis damit aufarbeiten. Des Weiteren gaben die Ergebnisse Hinweise auf positive Veränderungen bei der Lösung von berufsbezogenen Praxisproblemen, einer verbesserten Reflexionsfähigkeit und einer Stärkung der interaktionalen Kompetenz. Signifikant hat sich die Arbeitsqualität, die Teamarbeit und die Eigensowie Fremdreflexion verbessert. Hervorzuheben sind die Schlüsselthemen der Beratungen, in denen sich überwiegend emotionale Themen wiederfinden. Die Auszubildenden sind beim selbstgesteuerten Lernen erfolgreich, wenn die Themen eine Betroffenheit auslösen und sie die „mitlaufenden“ Emotionen wahrnehmen und evaluieren (Siebert, 2013, S. 29 – 30). Die Schüler_innen konnten sich mit den selbst gewählten Themen identifizieren, was den Erfolg des Instrumentes in dieser Untersuchung erklärt. Weiter sind Pflegende in einem System tätig, das aufgrund von strukturellen Bedingungen eine patientenorientierte Pflege verhindert. Um nicht zu resignieren, machen sich Pflegende sowie Auszubildende gleichermaßen kalt, um handlungsfähig zu bleiben (Kersting, 2016, S. 41). Es ist daher umso be-
Fazit 1. Schulpraxis Die große Mehrheit der Befragten präferiert es, Kollegiale Beratung in festen Gruppen, bestehend aus Schüler_innen des eigenen Kurses durchzuführen. Dieses Bedürfnis ermöglicht ein konstantes Fortführen der Gruppenbildungen über alle Ausbildungsdrittel hinweg, was bei einer schulübergreifenden Gruppenbildung durch den jährlichen Examenskurs nachteilig wäre. Dabei ist den Schüler_ innen die „Vertraulichkeit gegenüber anderen Auszubildenden“ und „Vertraulichkeit gegenüber Lehrkräften“ zu beiden Messzeitpunkten sehr wichtig. Diese Teilnehmerprinzipien sollten daher im Unterricht deutlich kommuniziert werden. Zudem kann nach den Empfehlungen von Tietze ein Interventionsvertrag gruppenspezifisch angefertigt werden, indem die wichtigsten Vereinbarungen der Teilnehmer_innen schriftlich und somit verbindlich festgehalten werden (2018). Bezüglich der Beratungsstruktur fällt es den Auszubildenden eher schwer, den festen Ablauf einzuhalten. Mögliche Ursachen können die fehlende Übung in der Methode und die wenig gefestigte Gruppenkonstella-
Tabelle 3. Schlüsselprobleme Kategorie
Ankerbeispiele / t1 (N = 29)
Klassengemeinschaft / Gruppendynamik
„Gemeinschaft, Vertrauen“ „Falsche Klassengemeinschaft“
8
Sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz
„Sexuelle Belästigung durch einen Kollegen“ „anzügliches Benehmen von Klinikum-Mitarbeitern“
6
Überforderung in Pflegesituationen
„Überforderung mit Patient“ „Wie gehe ich mit dieser Situation um?“
8
Umgang mit Arbeitskolleg_innen / Patient_innen
„Umgang mit anderen Kollegen bei Problemen“ „Probleme im Umgang mit anderen Angestellten“
7
Kategorie
Ankerbeispiele / t2 (N = 29)
Notfallsituationen
„Reanimation“ „Reanimation eines Patienten“
6
Tod und Trauer
„Tod eines Patienten, den die Schülerin persönlich kannte“; „Umgang mit einer Nachbarin wo der Mann im Krankenhaus gestorben ist“
8
Unfaire Praxisbewertung / -anleitung
„Unfaire Bewertung durch Praxisanleiter“ „Nicht wahrgenommen werden von Vollkräften“
7
Im Pflegeteam zurechtfinden
„Mitarbeiter“ „Probleme mit Kollegen“
8
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Anzahl der Nennungen
Anzahl der Nennungen
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tion sein. Es wird daher empfohlen, ein mehrtägiges Einführungsseminar im Einführungsblock des ersten Ausbildungsdrittels durchzuführen. Zu beachten ist, dass jede / r Teilnehmer_in praktische Erfahrungen in unterschiedlichen Rollen erfährt und ein tieferes Verständnis für rollenspezifische Aufgaben und Funktionen entwickelt (Tietze, 2018). Wird die Methode regelmäßig zu Beginn eines neuen Schulblocks implementiert, lassen sich Themen aus der praktischen Ausbildung direkt auffangen und bearbeiten.
2. Umsetzung anhand der Rahmenlehrpläne (nach § 53 PflBG; Bundesinstitut für Berufsbildung, 2020, S. 29 ff.): Eine Verortung der Kollegialen Beratung im Einführungsblock der Ausbildung lässt sich mit der Curricularen Einheit 03 (CE 03) verknüpfen: „mit belastenden / fordernden Erfahrungen umgehen, kollegiale Beratung in Anspruch nehmen“ (ebd., S. 47). Der Zeitpunkt im Einführungsblock wäre außerdem naheliegend, da die CE's 01 – 03 innerhalb des ersten Ausbildungsdrittels abschließend unterrichtet werden müssen (ebd., S. 15). Es wird daher empfohlen, nach der Einführung in die theoretischen Grundlagen der Kollegialen Beratung mehrere Beratungsdurchläufe in der Klasse anhand einer Lernsituation durchzuführen. Durch einen vorgegebenen Fall unterliegen die Auszubildenden nicht dem Druck, eigene Themen einbringen und sich persönlich öffnen zu müssen. Sie konzentrieren sich dadurch primär auf die Beratungsstruktur und ihre Rolle. Nach den Einführungsseminaren kann die Kollegiale Beratung neben dem CE 03 in weiteren CE's spiralförmig über die drei Ausbildungsdrittel hinweg praktiziert werden (ebd., S. 16). Lerngegenstände können in diesen Beratungen Lernsituationen oder selbst erlebte Situationen sein, die im jeweiligen CE behandelt werden.
3. Umsetzung anhand der Rahmenausbildungspläne (nach § 53 PflBG; Bundesinstitut für Berufsbildung, 2020, S. 199 ff.): Des Weiteren ist die Kollegiale Beratung nach den Rahmenausbildungsplänen auch Bestandteil der praktischen Ausbildung (ebd., S. 18). Praxisanleiter_innen können auf die theoretischen Grundlagen der Lernenden zurückgreifen und kollegiale Beratungen im Rahmen der Praxiseinsätze zu Themen, die die Schüler_innen bewegen, durchführen. Die methodisch-didaktischen Überlegungen sowie die gesetzlichen Vorgaben sprechen in vielerlei Hinsicht für ein solches Vorgehen. Dadurch können der Theorie-Praxis-Transfer sowie soziale und personale Kompetenzen direkt im Praxiseinsatz gestärkt werden.
Literatur Barion, S. (2017). Überlastung in der Gesundheits- und Krankenpflegeausbildung: Unterstützungsmöglichkeiten durch Lehrende. Hamburg: Diplomica Verlag GmbH. PADUA (2022), 17 (1), 31–36
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Sandra Seitz, B.A. Pflegepädagogin am Schulund Studienzentrum Neumarkt vi.d.Opf., Gesundheitsund Kinderkrankenpflegerin sandy@eichelburg.de
Prof. Dr.phil. Christine Brendebach Dipl-Psychologin, Dipl.-Psychogerontologin, Supervisorin, Prof. an der Evangelischen Hochschule Nürnberg christine.brendebach@evhn.de
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„Warum soll ich das lernen?“ Lerngründe und Lernwiderstände in der theoretischen Pflegeausbildung
Lernwiderstände sind Folge von unangemessener Lernanforderungen, die Lehrende an Schüler_innen richten. Vor allem Leistungsüberprüfungen und Leistungsdruck können Widerstände beim Lernen hervorrufen. Das kann zu negativen Emotionen wie Frustration und Hilflosigkeit beim Lernen führen. Außerdem erleben die Auszubildenden das Lernen als Zwang. Um diesen Problemen beizukommen ist es wichtig, sich die Relevanz von Lernbegründungen bewusst zu machen, damit Lernen als etwas positives wahrgenommen wird.
Grundsätzlich sind Lerngründe und Lernwiderstände in der Erwachsenenbildung eine ausführlich diskutierte Angelegenheit. Insbesondere für Handwerks- oder Handelsberufe liegen hierzu bereits fundierte Untersuchungen vor (Grell, 2006). Anhand der bisherigen Literatur ist jedoch festzustellen, dass sowohl für das Berufsfeld der Pflege als auch speziell für die Pflegeausbildung kaum empirische Arbeiten zur Untersuchung von Lerngründen und Lernwiderständen vorliegen. Aus diesem Grund haben sich die Autoren dazu entschlossen, im Rahmen ihrer Masterarbeit Lerngründe und Lernwiderstände in der theoretischen Pflegeausbildung empirisch zu identifizieren und deren Auswirkungen auf den Lernprozess aufzuzeigen.
Theoretischer Hintergrund Nach der subjektwissenschaftlichen Lerntheorie von Holzkamp nach (1995) sind menschliche Handlungen stets mit einem Grund zu handeln verknüpft. Jeder Mensch hat Intentionen und Ziele, die er erreichen möchte. Die Intentionen sind die Gründe, aus denen Menschen handeln. Holzkamp versteht auch Lernen als eine besondere Art von Handlung. Wenn ein Mensch davon ausgeht, dass Lernhandlungen dazu beitragen die persönlichen Ziele zu erreichen, besteht ein guter Grund zu lernen. Lerngründe entstehen, wenn Menschen mit widersprüchlichen Erfahrungen konfrontiert werden. Sie erkennen, dass sie in be©2022 Hogrefe
stimmten Situationen nicht handlungsfähig sind. Durch die Erkenntnis, mit dem vorhandenen Wissen nicht weiterzukommen, ergibt sich der Grund, die eigene Handlungsfähigkeit zu erweitern. Sofern die Handlungsfähigkeit für das Subjekt bedeutsam ist, wird in der Folge gelernt. Werden Lernanforderungen allerdings von außen an eine Person herangetragen, ohne dass Diskrepanzen erlebt und der Bezug zu persönlichen Interessen ersichtlich ist, entstehen Lernwiderstände. An dieser Stelle ist hervorzuheben, dass Lernwiderstände aus der subjektiven Perspektive als gut begründet zu betrachten sind, da sie keinen Beitrag zur Realisierung der persönlichen Intentionen leisten. Eine wesentliche Erkenntnis der subjektwissenschaftlichen Theorie ist, dass Lernen aus einer externen Perspektive nicht erklärbar, sondern nur durch die dem Subjekt immanenten Gründe zu verstehen ist. Aus diesem Grund ist für eine Sensibilisierung des sogenannten Lehr-Lern-Kurzschluss zu plädieren: Der Lehr-LernKurzschluss beschreibt die Annahme, dass Lernende automatisch lernen, sobald sie unterrichtet werden. Nach Holzkamp (1996) handelt es sich hierbei um eine Fiktion. Wird der subjektwissenschaftlichen Theorie gefolgt, werden Inhalte und Lernsituationen von Schüler_innen nur dann angenommen, wenn der Lerninhalt für sie von Bedeutung ist und dementsprechend ein Grund besteht, ihre Handlungsfähigkeit auf dem thematischen Gebiet zu erweitern. Die Verbindung zwischen einem Lerninhalt und der Lebenswelt der Lernenden hat aufgrund der Bedeutungszuschreibung einen besonderen Stellenwert. Dennoch scheint ein Einwand berechtigt zu sein: Auch wenn die Schüler_innen manchmal wenig motiviert erscheinen, lernen sie trotzdem für eine Klausur. Dieser Einwand macht auf zwei relevante theoretische Unterscheidungen aufmerksam – er hebt unterschiedliche Intentionsstrukturen beim Lernen hervor: Lernen, so wie Holzkamp es beschreibt, wird als expansives Lernen bezeichnet. Hierbei ist das Lernen durch ein „lernen wollen“ charakterisiert. Man lernt, um seine persönlichen Interessen zu realisieren. Das was einer Person wichtig ist im Leben, soll verwirklicht werden, indem die Fähigkeiten zur Umsetzung durch Lernen erworben werden. Typisch für diese Intentionsstruktur ist eine Suchbewegung – der Lernende entwickelt hierbei Fragen an den Lerngegenstand, um ihn besser verstehen zu können. Durch Erzeugen einer reflexiven Lernschleife wird hierbei die Lernproblematik von der eigentlichen Handlungsproblematik ausgegliePADUA (2022), 17 (1), 37–42 https://doi.org/10.1024/1861-6186/a000659
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Katharina Bußmann und Sebastian Schünemann
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dert. Dadurch findet die inhaltliche Auseinandersetzung abgekoppelt von der Diskrepanzerfahrung statt. Das Handlungsproblem wird somit zum Lernproblem. Gegensätzlich hierzu verhält sich das defensive Lernen: In diesem Fall ist das Lernen durch ein „lernen müssen“ charakterisiert. Der Lernende geht davon aus, dass er mit negativen Konsequenzen zu rechnen hat, wenn er das Lernen verweigert. Beispielsweise müssen Schüler_innen mit schlechten Noten rechnen, wenn sie für eine Klausur nicht lernen. Somit ist das Lernen unter diesen Umständen auch als begründete Handlung zu verstehen, aber eher im Sinne einer Schadensregulierung. Man lernt nicht, weil man es möchte, sondern weil man einer externen Lernanforderung ausgesetzt ist, die bei Nichterfüllung durch Sanktionen bestraft wird. Diese Lernanforderungen werden von den Lernenden als sinnlos resp. bedeutungslos bewertet. Häufig ergeben sich dann Fragen wie beispielsweise: „Warum muss ich das lernen?“.
Studiendesign Um Lerngründe und Lernwiderstände in der theoretischen Pflegeausbildung empirisch zu erforschen, wurden an zwei Pflegeschulen in Nordrhein-Westfalen 12 leitfadengestützte Telefoninterviews mit zehn Lernenden und zwei Lehrenden durchgeführt. Diese wurden mit Hilfe der qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring (2016) ausgewertet. Die Ergebnisse sind in Abbildung 1 zusammenfassend dargestellt.
Ergebnisdarstellung Lerngründe wirken in der theoretischen Pflegeausbildung handlungsleitend Anhand der gewonnenen Ergebnisse aus den Interviews lassen sich eine Reihe von expansiven Lerngründen identifizieren, die im Rahmen der theoretischen Pflegeausbildung handlungsleitend sind. Hierzu zählen in erster Linie die Aussagen der Lernenden, in denen sie ihren Subjektstandpunkt darlegen und infolgedessen ihre personenbezogenen Interessen und Gründe des Lernens offenbaren (Faulstich, 2005). Insbesondere die enge Theorie-PraxisVerknüpfung im Pflegeunterricht empfinden die Lernenden als nachhaltiges (tiefenorientiertes) Lernen. Hierzu zählt sowohl theoretisches Wissen im Hinterkopf zu haben als auch praktische Übungen (Demonstrationen) in den Unterricht zu integrieren. Diese helfen, den Unterrichtsstoff zu vertiefen. Grundsätzlich wird das Lernen bei praktischem Nutzen als sinnvoll erlebt, theoretisches Wissen scheint nur dann einen Mehrwert zu besitzen, wenn es dem praktischen Handlungsvollzug dient. Bei der Nennung der Interessenbereiche zwischen pflegespezifischen und nicht-pflegespezifischen Unterrichtsinhalten lassen sich empirisch quantitative Unterschiede feststellen. Bei PADUA (2022), 17 (1), 37–42
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den pflegespezifischen Inhalten wurden lediglich zwei Interessengebiete genannt, wohingegen das Interesse für nicht-pflegspezifische (medizinische) Unterrichtsinhalte mit acht Ausprägungen deutlich höher ausfällt. Daraus ergibt sich die Frage: Warum ist das so, wenn es sich doch um eine pflegerische Ausbildung handelt?
Auswirkungen von Lernbegründungen auf den Lernprozess Auch im theoretischen Pflegeunterricht wirken sich expansive Lernbegründungen auf den Lernprozess aus. Leider werden seitens der Lernenden Lernaufgaben im Unterricht als wenig herausfordernd oder anregend erlebt, auch weil die Wichtigkeit der Thematik noch nicht erfasst wurde. Diskrepanzerfahrungen als Ausgangspunkt expansiven Lernens führen die Lernenden lediglich beim praktischen Handeln in konkreten Situationen an, nicht jedoch im theoretischen Pflegeunterricht. Für die Auszubildenden stellt praktisches Handeln den intrinsischen / selbstgesteuerten Anreiz für die thematische Zuwendung dar. Trotzdem ließen sich einige Aspekte der Wissenserweiterung zum begründeten (Lern)Handeln auch für den theoretischen Unterricht empirisch erheben. Zu den in Abbildung 1 aufgezeigten Aussagen der Lernenden wurden von Seiten der Lehrenden weitere Lernhandlungen bestätigt. Hierzu zählen: das Stellen von interessanten Fragen, eine gute Arbeitsatmosphäre und eine höhere Unterstützungsbereitschaft gegenüber Mitschüler_innen. Infolge expansiven Lernens geben die Lernenden weiterhin an, ein inneres Bestreben zum Lernen zu verspüren, was auf das emotional-motivationale Verfolgen der subjektiven Lebensinteressen schließen lässt. Auch Lust und Spaß am Lernen wurden als positive Indikatoren für expansive Lerngründe genannt. Zu guter Letzt ist das Gelingen des Lernens auch von der Leidenschaft und Motivation der Lehrenden, deren Fachwissen und der angewandten Präsentationsmethoden abhängig.
Empirisch identifizierte Lernwiderstände in der theoretischen Pflegeausbildung Lernwiderstände entstehen, wenn die Auszubildenden kein Potenzial zur Realisierung der persönlichen Lebensinteressen sehen. Der Zusammenhang zwischen den von außen an die Lernenden herangetragenen Aufgaben und dem Ziel, die Ausbildung zu bestehen resp. eine gute Pflegefachkraft zu werden, ist in diesem Fall nicht ersichtlich. In der Folge treten Lernwiderstände auf. Es ist darauf zu verweisen, dass die Bewältigung von Lernaufgaben / Leistungsüberprüfungen losgelöst von der eigentlichen Intention – eine gute Pflegekraft sein – zu betrachten ist. Hierbei handelt es sich eher um Zwischenziele. Sofern keine eindeutige Korrelation zum Primärziel ersichtlich ist, werden Abwehrreaktionen strategisch eingesetzt, um den Lernprozess zu umgehen und das Primärziel den©2022 Hogrefe
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Darstellung, 2020).
tentionsstrukturen des Lernens (Eigene
Abbildung 1. Empirische Ergebnisse In-
Wissen und Forschen 39
PADUA (2022), 17 (1), 37–42
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noch zu erreichen. Die Abwehrreaktionen werden dann in Form von Lernwiderstandsphänomene im Rahmen des defensiven Lernens manifest (Holzkamp, 1995). Die Auszubildenden nannten in der empirischen Untersuchung unterschiedliche Formen von Lernwiderständen, die in Abbildung 1 aufgeführt sind. Das Aufschieben des Lernprozesses sowie ein geringer Lernaufwand weisen darauf hin, dass gelernt wird, allerdings ohne tatsächliches Interesse an der Sache zu haben. Es zeigt sich eine Vermeidungsstrategie: Das Nötigste wird gelernt, um den Anforderungen der Lehrenden gerecht zu werden und Sanktionen wie schlechte Noten zu vermeiden. Die Aspekte „Bulimie-Lernen“ und „Auswendiglernen“ verdeutlichen, dass ein Lernprozess ohne Sinnverstehen stattfindet. Auch hier bezieht sich die Lernintention auf die Erfüllung externer Anforderungen. Ähnlich dem Vergessen von Lerninhalten wird deutlich, dass die Relevanz der Inhalte für die Bewältigung von Handlungen im beruflichen Alltag für die Lernenden nicht ersichtlich ist. Überdies sind die Auszubildenden gedanklich anderweitig beschäftigt und nicht auf die Lernsituation fokussiert. Die Verlagerung der Konzentration auf andere Angelegenheiten zeigt, dass sich die Auszubildenden der Lernsituation gedanklich entziehen. Das Ziel des begründeten Handels verweist schätzungsweise auf die Intention, durch das angeeignete Wissen fundiert und mit Gewissheit handeln zu können. Die Lernenden müssten als Konsequenz bei Unterlassen der Lernhandlung damit rechnen, dass ihre Möglichkeiten zur gesellschaftlichen Teilhabe (berufliche Anerkennung, begründetes Handeln etc.) durch das Nicht-Bestehen der Ausbildung eingeschränkt werden. Die vorhandenen Absichten zur Verfügungserweiterung durch die Ausbildung können nur realisiert werden, wenn gute Prüfungsergebnisse erzielt und so die Bedrohung einer Restriktion gesellschaftlicher Verfügbarkeit abgewendet werden kann (vgl. Holzkamp, 1995). Aus diesem Grund setzten die Lernenden – bei unangemessenen Lernanforderungen – Lernwiderstandsstrategien ein, um die Gefährdung der Ausbildung abzuwehren. Das Lernen für gute Noten in Leistungsabfragen unterstützt überdies die Annahme des defensiven Lernens, da Lernhandlungen deshalb in Kauf genommen werden, um externen Anforderungen wie Prüfungen und Klausuren gerecht zu werden. Wird die Lernsituation von den Auszubildenden als Lernzumutung erlebt (Grell, 2006), in der keine expansive Lernbegründung gesehen wird, treten die Lernwiderstände (Auswendiglernen; Bulimie-Lernen) in Erscheinung, die dann zur Prüfungsbewältigung angewandt werden (Ludwig & Grell, 2017). Zusammenfassend ist davon auszugehen, dass die Auszubildenden teilweise keine Sinnzusammenhänge bezogen auf den Lerngegenstand durch fehlende praktische Anwendbarkeit von Lernhandlungen erkennen und somit anteilig entweder keine Lernbegründungen vorliegen oder sogar gute Gründe bestehen, etwas nicht zu lernen. Deutlich ersichtlich wird das Fehlen von Lernbegründungen durch Fragen wie beispielsweise: „Warum muss ich das lernen?“ PADUA (2022), 17 (1), 37–42
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Auswirkungen des Erlebens von Lernwiderständen auf den Lernprozess Die Zwangssituation des „lernen müssens“ geht mit negativen Emotionen einher und ist häufig an Prüfungsanforderungen gekoppelt. Der Lernprozess ist somit durch unvorteilhafte affektive Zustände konnotiert. Hierbei handelt es sich um Emotionen wie Frustration, Hilflosigkeit und Unsicherheit. Überdies können Ängste ein Gefühl der Wehrlosigkeit gegenüber der Situation hervorrufen und das Verhalten beeinflussen. Auszubildende in der Pflege haben möglicherweise Angst davor, Beeinträchtigungen der gesellschaftlichen Teilhabe zu erleiden, sofern sie nicht lernen. Weitere Auswirkungen von Lernwiderständen sind körperliche Erschöpfung in Form von Müdigkeit und Kraftlosigkeit, Stress und beeinträchtigte Konzentrationsfähigkeit. Zwischen den in dieser Arbeit empirisch identifizierten und den von Grell (2006) beschriebenen Erscheinungsformen von Lernwiderständen können Übereinstimmungen festgestellt werden: Theoretisch wird der Aspekt „Müdigkeit (der Lernsituation ausweichen)“ als Lernwiderstandsphänomen angeführt. Ferner konnten die von Grell (2006) als kontaminierte Lernverhältnisse beschriebenen ungünstigen institutionellen Rahmenbedingungen (z. B. Haltung des Lehrenden u. a. auch Zeitdruck, strikte Verfahrensanweisungen und Kontrollmechanismen) durch die Untersuchung bestätigt werden.
„Gute“ Gründe nicht zu Lernen Ein potenzieller Grund nicht zu lernen, liegt nach Ludwig & Grell (2017, S. 131) dann vor, wenn ein Lerngegenstand als „irrelevant oder autonomiegefährdent“ wahrgenommen wird oder „das Verhältnis von erwarteter Lernanstrengung und subjektivem Entfaltungsgewinn unangemessen erscheint.“ Grundsätzlich sollten zwei Zielsetzungen unterschieden werden: Das Primärziel, welches durch die Auszubildenden verfolgt wird, eine gute Pflegefachkraft zu werden. Eher sekundär und unabhängig von dem eigentlichen Ziel, ist das Bestehen der Prüfungsanforderungen zu betrachten. Gelingt es nicht, einen Zusammenhang zwischen Primär- und Sekundärziel herzustellen, handelt es sich um differente Aspekte. Diese scheinbare Diskrepanz verdeutlicht zum einen die Relevanz der Verknüpfung zwischen theoretischen und praktischen Aspekten der Ausbildung; zum anderen zeigt es, dass ein Nicht-Lernen in der Ausbildung durchaus gut begründet sein kann, sofern das Lernen für die Zielerreichung als sinnlos erlebt wird. Dementsprechend wird verständlich, dass nicht prüfungsrelevante Inhalte als irrelevant eingestuft werden, die einen guten Grund darstellen nicht zu lernen. Gleiches gilt für Aufgaben, die nicht überprüft werden. Überdies geben die Auszubildenden bei den Gründen nicht zu lernen Zusatzwissen an, bei dem kein Situationsbezug ersichtlich ist. ©2022 Hogrefe
Wissen und Forschen
Problemorientiertes Lernen
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Zugrundeliegendes Konzept der Fachhochschule Münster
Erfahrungsorientiertes Lernen
Phase I Erfahrungsphase Auf Grundlage vorhandener Erfahrungen werden Szenen- und Rollenbeschreibungen ausgearbeitet, praktisch durchgeführt und gefilmt. Schritt 1-3: Klärung unklarer Begriffe, Problemdefinition und -analyse
Phase II Reflexionsphase Debriefing: Schlüsselstellen und kritische Momente werden identifiziert mit dem Ziel, konkrete Fragestellung für das PBL zu gewinnen. Phase III Erarbeitungsphase
Schritt 4-6: Informationen systematisieren, Ziele formulieren und bearbeiten
Schritt 7: Synthese der neuen Informationen
Schritt 1: Aneignung von Erfahrung
Literatur- und theoriebasierte, systematische Suche nach Lösungsansätzen.
Schritt 2: Verarbeitung von Erfahrung
Phase IV Anwendungsphase Auf Grundlage des erarbeiteten Wissens werden optimierte Szenen- und Rollenbeschreibung ausgearbeitet, praktisch durchgeführt und gefilmt. Phase V Reflexionsphase Erneutes Debriefing Reflexion des Lernprozesses.
Schritt 3: Veröffentlichung von Erfahrung
Phase VI Präsentationsprüfung
Abbildung 2. Münsteraner Modell der Skills Lab Projekte (Schwermann et al., 2015, S.455)
„Zusatzwissen“ kann nur als solches deklariert werden, wenn es in dem Sinne überflüssig ist, dass es den (externen) Erwartungshorizont übersteigt. Beim expansiven Lernen ist der Begriff „Zusatzlernen“ unzutreffend: Man lernt, weil die Informationen eine besondere Relevanz haben und interessant sind und nicht, weil man das Minimum der Anforderungen erfüllen möchte. Doch da das Zusatzwissen über die geforderten Erwartungen hinausgeht, ist es aus subjektiver Perspektive irrelevant und wird herausgefiltert. Dann handelt es sich um einen guten Grund, nicht zu lernen. Ferner besteht ein guter Grund nicht zu lernen, wenn die Lernenden keine Beziehung zum Thema haben. Damit wird ausgedrückt, dass sie keine Bezugspunkte zur persönlichen Lebenswelt sehen. Genauer: die Thematik kann kontextuell nicht in das berufliche Feld der Pflege und die Aufgaben einer Pflegekraft eingeordnet werden. Fehlendes Interesse wird bei nicht vorhandenem Anwendungskontext angegeben. Uninteressante Themen werden dabei als solche beschrieben, die die Entwicklung der pflegerischen Handlungskompetenz aus der Perspektive der Lernenden nicht unterstützen. Gleiches gilt für Themen, die in der Praxis nicht angewandt werden. Häufig wurde in den Interviews auf Themen verwiesen, wie beispielsweise Geschichte der Pflege oder Wohlfahrtspflege. Die Auszubildenden geben weiterhin an, dass praktische Erfahrungen das theoretische Lernen ersetzt. Dabei ©2022 Hogrefe
sind die theoretischen Inhalte als guter Grund des NichtLernens zu betrachten. In den Interviews wurde vielfach erklärt, dass expansives Lernen durch Diskrepanzerfahrungen in der Praxis stattfindet. Diese wertvollen Erfahrungen und das gehaltvolle Lernen führen bei den Lernenden dann zu der Annahme, dass der als weniger profitabel wahrgenommene Theorieunterricht irrelevant ist.
Graphische Darstellung der Ergebnisse In Abbildung 1 sind die von Holzkamp (1995) beschriebenen Intentionsstrukturen des Lernens mit den zugewiesenen empirischen Ergebnissen stichpunktartig dargestellt. Grundsätzlich wird zwischen Gründen zu Lernen und Gründen nicht zu Lernen unterschieden. Die Gründe zu Lernen unterteilen sich wiederum in expansive und defensive Lernbegründungen. Expansive Lernbegründungen entstehen durch Diskrepanzerfahrungen im Handlungsvollzug und defensive Lernbegründungen infolge externer Lernanforderungen. Während expansives Lernen durch eine reflexive Lernschleife eingeleitet wird, zeigt sich defensives Lernen in Form von Lernwiderstandsphänomenen. Diese haben negative Auswirkungen auf den Lernprozess. Die Gründe, nicht zu Lernen stellen im Rahmen der Untersuchung sekundäre Outcomes dar, sollten aber für die Unterrichtsplanung mitberücksichtigt werden. PADUA (2022), 17 (1), 37–42
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Praktische Implikationen
Literatur
Da insbesondere Diskrepanzerfahrungen zu expansivem Lernen führen, gilt es auch im theoretischen Unterricht Lernsituationen zu schaffen, in denen die Inkonsistenz bestehender und benötigter Handlungsfähigkeit ersichtlich wird. Ferner wird es für sinnvoll gehalten, Diskrepanzen nicht lediglich zu erklären, sondern tatsächlich zu erleben. In diesem Sinne scheint die Arbeit im Skills-Lab auf konzeptioneller Basis eine vielversprechende Lernvariante zu sein. Das Schaubild (Abbildung 2) des Münsteraner Modells (Schwermann et al., 2015) verdeutlicht, wie sich das Problemorientierte Lernen (POL) oder wahlweise das Erfahrungsorientierte Lernen (EOL) im Skills-Lab umsetzen lassen. Die Vorteile der Skills-Lab Arbeit sind zum einen, dass die Auszubildenden ihre Handlungsgrenzen erleben und dementsprechend einen Lernbedarf erkennen können. Der Lerngegenstand wird somit nicht weiterhin von außen auferlegt, sondern als realer Bedarf zur Kompensation und gleichzeitig Erweiterung des eigenen Limits erfahrbar. Zum anderen wird durch die konzeptionelle Arbeit des POL oder EOL ein selbstgesteuerter Lernprozess initiiert, der eine Suchbewegung fördert. Genauer: Die Auszubildenden erschließen sich den Lerngegenstand eigenständig; sie müssen Fragen stellen und sich Informationen aneignen, um weiterzukommen. Außerdem wird durch die simulierte Pflegesituation automatisch ein beruflicher Bezugspunkt hergestellt, welcher die Theorie-PraxisVerknüpfung fördert und eine Verbindung zum Primärziel – eine gute Pflegefachkraft werden – erzeugt.
Faulstich, P. (2005). Lernen Erwachsener in kritisch-pragmatischer Perspektive. Zeitschrift für Pädagogik, 51 (4), 528 – 542. Grell, P. (2006). Forschende Lernwerkstatt. Eine qualitative Untersuchung zu Lernwiderständen in der Weiterbildung. Münster: Waxmann. Holzkamp, K. (1995). Lernen. Subjektwissenschaftliche Grundlegung. Frankfurt: Campus. Holzkamp, K. (1996). Wider den Lehr-Lern-Kurzschluß. In: R. Arnold (Hrsg.), Lebendiges Lernen (S.29 – 38). Hohengehren: Schneider. Ludwig, J. & Grell, P. (2017). Lerngründe und Lernwiderstände. Verfügbar unter https://www.uni-potsdam.de/fileadmin/projects/ erwachsenenbildung/Literatur/Grell-Ludwig _2017_Lern gruende-und-Lernwiderstaende.pdf Mayring, P. (2016). Einführung in die qualitative Sozialforschung (6. Aufl.). Weinheim: Belz. Schwermann, M., Schlosser, D., Wiening, D., Fiori, A. & Kurpat, R. (2015). Lernen im geschützten Raum. Pflegezeitschrift, 68 (8), 454 – 458.
Katharina Bußmann, M.A. Berufspädagogin im Gesundheitswesen, Pflegeschule der Caritas Münster katharina.bussmann@ googlemail.com
Sebastian Schünemann, M.A. Berufspädagoge im Gesundheitswesen, wissenschaftlicher Mitarbeiter und Lehrkraft für besondere Aufgaben am Fachbereich Gesundheit der FH Münster sebastian.schuenemann@ fh-muenster.de
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Distanzunterricht und E-Learning in der beruflichen Fort- und Weiterbildung Wie verändert der Distanzunterricht durch Corona die Erwartungen der Teilnehmer_innen?
Die Prognose, dass die Digitalisierung die Praxis in der beruflichen Fort- und Weiterbildung verändern wird, ist nicht neu. Dennoch gibt es bislang wenig Erkenntnis zu den Erwartungen der Teilnehmer_innen nach digital unterstützten Lernformen. Auf Grundlage von Erhebungen zu zwei Zeitpunkten vergleicht dieser Beitrag, wie sich die diesbezüglichen Erwartungen in der beruflichen Fort- und Weiterbildung im Sozial- und Gesundheitswesen vor und während des Ausbruchs der Corona-Pandemie verändert haben.
„Digitale Medien bieten vielfältige inhaltliche und technische Einsatzmöglichkeiten. Sie erlauben eine qualitativ hochwertige, zielgruppenspezifische, kostengünstige und zeitgemäße Qualifizierung. Sie sind die Grundlage innovativer Lern- und Wissensbildungsprozesse und ermöglichen neue Formen der Kommunikation, Kooperation und Vernetzung. Mit digitalen Medien kann sich jeder Einzelne kontinuierlich dynamisches Wissen aneignen. Damit sichern sie die individuelle Beschäftigungsfähigkeit und tragen zur berufsbegleitenden lebenslangen Qualifizierung bei“ (Schavan, 2010). Mit diesen Worten fasste die damalige Bundesbildungsministerin vor über zehn Jahren ihre Erwartungen an die künftigen Einsatzmöglichkeiten digitalen Lernens zusammen. In dieser und anderen, vergleichbaren Veröffentlichungen1 wurden als Treiber der vorhergesehenen Ände1
2
rungen in der Praxis von Lehren und Lernen technische Innovationen ausgemacht. Die Annahme: sobald die ITBranche beginnen würde, in digitale unterstützte E-Learning-Angebote zu investieren, werden sich diese auf den Markt etablieren. Damit würden die herkömmlichen Lehrund Lernformen zumindest teilweise verdrängt. Obwohl die technischen Möglichkeiten und Anwendungen in den letzten Jahren kontinuierlich weiterentwickelt wurden, ist der erwartete Wandel bisher nicht eingetreten.2 Woran liegt das? Haben die Bildungsinstitute das digitale Innovationspotential noch nicht erkannt und / oder noch nicht in entsprechende Angebote umsetzen können? Oder gibt es für derartige Produkte aktuell nur einen kleinen Markt, da sie in der Breite nicht nachgefragt werden?
Forschungsstand Das Wissen zu den Erwartungen von Teilnehmer_innen beruflicher Fort- und Weiterbildungen hinsichtlich digital unterstützter Lernformen ist bemerkenswert gering. Für den Zeitraum seit 2015 finden sich sechs deutschsprachige Veröffentlichungen zur beruflichen Fort- und Weiterbildung, die sich diesem Thema widmen: Ein Forschungsbericht des DIW aus dem Jahr 2015 spricht den digitalen Lernmedien ein hohes Potential in der beruflichen Weiterbildung zu. Es wird ebenfalls erwähnt, dass es bislang „wenig fundiertes oder verallgemeinerungsfähiges Wissen“ dazu gäbe, wie erfolgreich der Einsatz digitaler Medien in der Praxis bereits vorangeschritten ist (Poschmann, 2015).
https://www.qualifizierungdigital.de/qualifizierungdigital/de/veranstaltungen/equalification/fachtagung-equalification-lernen-und-berufdigital-verbinden Deutlich wird dies beispielsweise anhand einer Datenbank-Abfrage im „Kursnet“ der Bundesagentur für Arbeit, dem „Portal für die berufliche Aus- und Weiterbildung“ (https://kursnet-finden.arbeitsagentur.de/kurs/portal/bildungssuchende/beruflichWeiterbilden.do. In der Datenbank waren am 08.01.2021 unter der Rubrik „Beruflich weiterbilden“ 1 048 903 Veranstaltungen mit der Angebotsform „Vor-Ort-Vollzeit“ gelistet und weitere 370 425 Veranstaltungen mit der Angebotsform „Berufsbegleitend“, jedoch nur 56 766 Veranstaltungen mit der Angebotsform „E-Learning, Blended Learning, Virtuelles Klassenzimmer“.
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PADUA (2022), 17 (1), 43–48 https://doi.org/10.1024/1861-6186/a000660
Wissen und Forschen
Claus Heislbetz und Vanadis Götz
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Die Bertelsmann Stiftung führte im Jahr 2018 eine repräsentative Untersuchung zum digitalen Lernen in den unterschiedlichen Bildungssektoren durch. Die Untersuchung kommt zu dem Ergebnis, dass die Digitalisierung der traditionellen Weiterbildungsformate gerade erst begonnen hat. Sie erfolgt bislang hauptsächlich informell, selbstorganisiert zuhause mit dem Computer oder einem mobilen Endgerät und seltener im Rahmen von Kursen oder Schulungen (Schmid et al., 2018). In einer Studie der Vodafone Stiftung Deutschland geben fast drei Viertel der Befragten an, in digitalen Lernangeboten eine Bereicherung zu sehen. Gut ein Drittel befürwortet den weiteren Ausbau solcher Angebote. Zugleich äußert mehr als die Hälfte der Befragten, dass für sie der persönliche Austausch ein wichtiger Bestandteil im Lernprozess ist (Vodafone Stiftung Deutschland, 2016). Erkenntnisse zum Status-Quo des Einsatzes digitaler Medien in der beruflichen Weiterbildung liefert eine Umfrage des Instituts der deutschen Wissenschaft: Hier wurden Unternehmen befragt, welche digitalen Lernangebote sie selbst anbieten. Am häufigsten ist die Nutzung von Bedienungsanleitungen und Literatur im PDF-Format genannt worden (80 % „Ja“) (Seyda et al., 2018). Aufschluss über Trends geben die jährlichen Veröffentlichungen des mmb Trendmonitors. Laut E-Learning-Expert_innen werden Lernvideos und Blended Learning- Angebote eine hohe Bedeutung im E-Learning zugewiesen. Ein neuer Trend wird im Einsatz von Virtual und Augmented Learning erkannt (mmb Institut – Gesellschaft für Medien- und Kompetenzforschung mbH, 2017).
Erhebung zu Wünschen und Erwartungen in Bezug auf E-Learning und Digitalisierung Vor Hintergrund des geringen Wissens zu den Erwartungen ihrer Teilnehmer_innen planten die im Bundesnetzwerk kooperierenden Institute der beruflichen Fort- und Weiterbildung der Arbeiterwohlfahrt 2019 eine Erhebung. In dieser Erhebung wurden Teilnehmer_innen zu Wünschen und Erwartungen in Bezug auf E-Learning und Digitalisierung im Rahmen der Fort- und Weiterbildung befragt. Die Erhebung erfolgte der Kundenstruktur entsprechend vor allem unter Teilnehmer_innen beruflicher Fort- und Weiterbildungen aus den Bereichen Pflege und Erziehung. Gegenstand der Erhebung waren der Stellenwert, der dem (digital unterstützten) Selbstlernen, dem Lernen in der Gruppe und dem Distanz- / Präsenzunterricht beigemessen werden. Die Datenerhebung erfolgte ab Mitte Februar 2020, wurde mit dem ersten Corona-Lockdown Mitte März unterbrochen und erst nach dem Wiederbeginn von Präsenzunterricht ab Mai 2020 fortgesetzt. Die Erfahrungen, die die Teilnehmer_innen in der Zwischenzeit in Bezug auf ihre berufliche Weiterqualifizierung machten, waren höchst unterschiedlich: In den WeiPADUA (2022), 17 (1), 43–48
Wissen und Forschen
terbildungen wurde Präsenzlehre verschoben und häufig durch Distanzunterricht ersetzt, in dem sich die Teilnehmer_innen Inhalte mit Hilfe von Selbststudienmaterial erarbeiteten. Unter Selbststudienmaterial versteht man beispielsweise Lehrbriefe oder Lernvideos, die per E-Mail oder auf Lernplattformen bereitgestellt werden. Dabei wurden sie durch die Dozent_innen aus der Distanz per Telefon, per Mail oder (häufig zum ersten Mal) in Videokonferenzen begleitet. Im Vordergrund standen dabei allerdings eher Ad-hoc-Lösungen und seltener ausgereifte digitale Unterrichtskonzepte. Wie der im vorliegenden Beitrag dargestellte Vergleich der Daten zeigt, sind durchaus Veränderungen im Antwortverhalten vor und während des Corona-Lockdowns erkennbar. Die intensiven Erfahrungen der Teilnehmer_innen mit digitaler Kommunikation, Distanzlernen und digitalen Lernelementen hat zu Veränderungen ihrer diesbezüglichen Wünsche und Erwartungen geführt.
Erhebungsinstrument, Datengrundlage und Datenqualität Mit dem für die Befragung entwickelten Instrument wird zunächst der Status-Quo der derzeit eingesetzten digitalen Lehr- und Lernmethoden in den Fort- oder Weiterbildungen erhoben. Dabei wird auf die jeweilige Fort- und Weiterbildung Bezug genommen, die die Befragten aktuell besuchen. Anschließend werden die Teilnehmer_innen danach gefragt, welche Methoden sie sich künftig mehr, weniger oder im gleichen Umfang wünschen. Die in die Befragung aufgenommenen digitalen Arbeitsweisen wurden mittels Internetrecherche sowie aus Items anderer Studien mit einschlägigen Fragestellungen zusammengetragen. Zusätzlich zu Status-Quo und Präferenz werden auch Einstellungen zum digitalen Lernen allgemein, zur Zielgruppe und zur Art der besuchten Qualifizierung erhoben. Zudem wurden die Befragten zu soziodemographischen Merkmalen befragt. Es hat sich jedoch gezeigt, dass weder die Art der Qualifizierung, noch die erhobenen soziodemographischen Daten einen erkennbaren Einfluss auf das Antwortverhalten nehmen. Deshalb werden diese Faktoren im weiteren Bericht nicht berücksichtigt. Insgesamt liegen nach der Datenbereinigung 1 088 Datensätze von Befragten aus dem Zeitraum von Februar bis Juli 2020 vor. Da der Befragungszeitraum durch den Corona-Lockdown unterbrochen wurde, wird er nachträglich in zwei Erhebungszeiträume geteilt: • Zeitraum t1 von Mitte Februar 2020 bis Mitte März 2020 mit 680 Befragten • Zeitraum t2 von Mitte Mai 2020 bis Ende Juli 2020 mit 408 Befragten Befragt wurden Teilnehmer_innen der beruflichen Fortund Weiterbildungen von 13 Bildungsinstituten der Arbeiterwohlfahrt. Der Erhebungsbogen wurde nach den Unterrichten im Seminar oder Lehrgang ausgegeben. Die Datenerhebung fand schriftlich (paper-and-pencil) oder ©2022 Hogrefe
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online mittels digitalem Erhebungsbogen statt und erfolgt als Vollerhebung. Demnach stellt die Befragung keine Zufallsstichprobe dar. Die Ausschöpfungsquote schwankte bei den beteiligten Instituten zwischen 14 % (bei OnlineErhebung) und 80 % (bei schriftlicher Befragungsdurchführung). Zur Bewertung der Qualität der Befragungsdaten wird die interne Konsistenz der Daten berechnet. Die errechneten Werte für Chronbachs Alpha betragen 0,87 (Items zur Zufriedenheit mit den bisher eingesetzten Methoden) sowie 0,85 (Items zu den Wünschen hinsichtlich des künftigen Methodeneinsatzes) und sprechen damit für eine gute bis sehr gute Reliabilität der Daten.
Ergebnisse Bis zum Ausbruch der Corona-Pandemie wurden digitale Methoden in der beruflichen Fort- und Weiterbildung im Sozial- und Gesundheitswesen nur rudimentär eingesetzt. Wie in Abb. 1 dargestellt, konzentrierte sich der Einsatz von Methoden des Distanzlernens vor der Pandemie auf die Bereitstellung von Selbstlerneinheiten, ergänzt um die Anleitung zur eigenständigen Recherche im Internet und der Nutzung von Lernvideos. Online-Unterricht mit gleichzeitiger digitaler Präsenz von Dozent_in und Teilnehmer_innen kam hingegen nur in 15 % der Fort- und Weiterbildungen zum Einsatz. Dieses Bild veränderte sich in den ersten Monaten des Lockdowns: Die Bildungsinstitute reagierten, indem sie mehr auf die bereits bekannten Methoden setzten (Selbstlerneinheiten und Anleitung zu eigenständiger Internet-Recherche). Kurzfristig intensiviert werden konnten jedoch auch die Nutzung ‚echter‘
Online-Formate des Online-Unterrichts, der Online-Beratung und der digitalen Kommunikation. Dies gelang aber nur auf niedrigem Niveau. Trotz der langjährig gehegten Erwartungen zum Potential digitalen Lehrens und Lernens war es nicht möglich, dieses Potential kurzfristig zu nutzen. Dies dürfte vor allem auf die geringe technische Verfügbarkeit beispielweise im Bereich der Videokommunikation zurückzuführen sein. Eine erneute Erhebung im zweiten Lockdown 2021 hätte vermutlich einen wesentlich breiteren Einsatz von Online-Unterricht und -Teilnehmerbegleitung gezeigt.
Der Lockdown verstärkt vor allem den Wunsch der Teilnehmer_innen nach Online-Unterricht, nicht jedoch nach herkömmlichen Selbstlerneinheiten. Der Lockdown veränderte die Wünsche der Teilnehmer_ innen in Bezug auf die einsetzbaren Formen von Distanzunterricht. Wie Abb. 2 zeigt, wünschten sich die Befragten bereits vor dem Lockdown zu fast der Hälfte (45 %) mehr Online-Unterricht. Dies ist bemerkenswert, da die Befragten Teilnehmer_innen aus Fort- oder Weiterbildung sind, die sich für ein Präsenzformat entschieden haben. Dazu passend wünschten sich vor der Pandemie 27 % der Befragten weniger Online-Unterricht. Auch das ist ein bemerkenswert hoher Anteil, wenn berücksichtigt wird, dass vor Corona nur 15 % der Institute überhaupt Online-Unterricht praktizierte. Corona ließ nun den Anteil derjenigen steigen, die sich mehr Online-Unterricht wünschen (auf 57 %). Der Anteil derjenigen, die sich das im bisherigen Umfang oder weniger wünschen, geht entsprechend zurück. Demgegenüber bleibt das Bild bei den bereits vor der Pandemie umfangreich etablierten Selbstlerneinheiten, vor und während des Lockdowns relativ unverändert: Wei-
62%
Selbstlerneinheiten (n=1069)
68%
45% 49%
Anleitung zur eigenständigen Online-Recherche (n=1059)
42% 39%
Einsatz von frei verfügbaren Impuls- oder Lernvideos (n= 1048) Einsatz von nicht frei verfügbaren Impuls- oder Lernvideos (n=1051)
38% 40% 29%
Austausch in frei verfügbaren sozialen Medien (n=1063) Erstellen von Audio- und Videodateien (n=1057)
25%
Austausch in Foren des Bildungsträgers (n=1042)
25%
33% 31%
28%
Online-Beratung durch Dozent/in (n=1060)
36%
34%
15% 17%
Online-Unterricht (n=1046) 0% vor dem Lockdown
10%
20%
30%
40%
50%
60%
70%
80%
im Lockdown
Abbildung 1. Einsatz von Distanzunterricht und digitalen Lehr- und Lernmethoden (Eigene Darstellung). ©2022 Hogrefe
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Präsenzunterricht (Abb. 4). Im selben Maß, wie hier die Zustimmung zurückging, stiegen im Lockdown die TeilsTeils-Antworten (um 5 bzw. 6 %-Punkte). Viele der Befragten, die sich nicht festlegen mochten, hätten der Aussage vermutlich zugestimmt, jedoch nicht unter risikobehafteten Bedingungen der Pandemie. Dennoch geben weiterhin fast drei Viertel der Teilnehmer_innen an, dass ihnen die persönliche Betreuung durch die Dozent_innen im Präsenzunterricht wichtig ist. Betrachtet man die Daten aus Abb. 3 und 4 so wird deutlich, dass der Lockdown den Wunsch nach Austausch mit Kolleg_innen und Dozent_innen verstärkte. Dies ist vor dem Hintergrund der reduzierten Kontakte im privaten und beruflichen Kontext sowie der allgegenwärtigen Unsicherheiten und Belastungen während der Pandemie nachvollziehbar. Es wird aber auch deutlich, dass die Teilnehmer_innen in der Krise die Möglichkeiten des digitalen Austauschs mehr zu schätzen lernten.
terhin wünschen sich gut 21 % der Befragten weniger Selbstlerneinheiten. Der Anteil derjenigen, die sich von dieser Form des Unterrichts mehr wünschen, steigt lediglich um 3 %-Punkte auf 24 %. Diese Zahlen sind deshalb interessant, weil bei den meisten der einbezogenen Bildungsinstitute ein Distanzunterricht im ersten Lockdown zunächst nur durch Selbstlerneinheiten realisierbar war. Diese Form des Unterrichts war somit die einzige Möglichkeit, begonnene Weiterbildungen abzuschließen.
Die Situation im Lockdown hat den Teilnehmer_innen die Bedeutung persönlichen Austauschs zu anderen Teilnehmer_innen und zu den Dozent_innen stärker ins Bewusstsein gerufen. Die Situation im Lockdown schärfte den Blick der Teilnehmer_innen auf die Bedeutung persönlichen Austauschs als wesentliches Element gemeinsamen Lernens. Abb. 3 zeigt, dass sich bereits vor der Corona-Pandemie knapp die Hälfte der Teilnehmer_innen mehr Austausch gewünscht hätte. Dabei spielt es keine Rolle, ob dieser in Foren des Bildungsträgers oder mit den Dozent_innen erfolgt. Dieser Wunsch intensivierte sich während des Lockdowns nochmals. Etwas relativiert hat sich im Lockdown hingegen die Fokussierung der Betreuung durch die / den Dozent_in im
Selbststudieneinheiten vor dem Lockdown (n=642)
Der Lockdown verstärkt den Wunsch nach einer größeren digitalen Methodenvielfalt. Zu allen in Abb. 1 genannten Methoden des digitalen Lernens stieg im Lockdown der Anteil derer, die sich einen vermehrten Einsatz dieser Methoden wünschen. Bereits vor Corona überwog jeweils der Anteil der Befragten, die
20.3%
im Lockdown (n=389)
58.6%
23.8%
21.1%
54.7%
21.5%
mehr
gleich viel Online-Unterricht vor dem Lockdown (n=628)
45.0%
im Lockdown (n=388)
27.8%
56.6%
0%
20%
22.6%
40%
weniger
27.3%
60%
20.8%
80%
100%
Abbildung 2. Veränderungen im Wunsch nach Online-Unterricht vs. Dem Wunsch nach Selbstlerneinheiten (Eigene Darstellung).
Austausch in frei verfügbaren sozialen Medien vor Corona (n=625)
39%
im Lockdown (n=392)
39%
42%
Austausch in Foren des Bildungsträgers vor Corona (n=626)
37%
49%
im Lockdown (n=397)
22% 21%
33%
56%
mehr
18%
27%
gleich viel
17%
weniger
Online-Beratung durch Dozent/in vor Corona (n=632)
44%
im Lockdown (n=392)
40%
51% 0%
20%
17%
37% 40%
60%
12% 80%
100%
Abbildung 3. Items zum Wunsch persönlichen Austauschs im Distanzunterricht (Eigene Darstellung). PADUA (2022), 17 (1), 43–48
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Wissen und Forschen
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von Handlungskompetenz bleibt sie jedoch unverändert.
sich ein Mehr im Einsatz von Lernvideos, eigenständiger Online-Recherche sowie dem Einsatz digitaler Austauschformen wünschten. Die hohen Anstiege im Wunsch nach Online-Unterricht und in Elementen des digitalen Austauschs sind bereits an anderer Stelle erwähnt worden. Zudem stieg durch den Lockdown auch der Anteil derjenigen Befragten, die einen umfangreicheren Einsatz von (frei oder nicht frei) verfügbaren Impuls- oder Lernvideos (plus 13 bzw. 9 %-Punkte) möchten. Die Anteile derjenigen, die sich mehr Unterstützung bei der eigenen Online-Recherche erwarten (plus 8 %-Punkte) bzw. die eigene Audio- oder Videodateien erstellen möchten (plus 9 %-Punkte) stieg ebenfalls.
Die Teilnehmer_innen wurden auch danach gefragt, welche Inhalte durch digitales Lernen übermittelt werden sollen. Dabei wurde zwischen dem Erwerb von Handlungskompetenz und theoretischem Wissen unterschieden. Wie Abb. 5 zeigt, äußert vor Corona die Mehrheit den Wunsch nach Präsenzunterricht. Sowohl in Bezug auf den Erwerb von Handlungskompetenz wie auch in Bezug auf den Erwerb von theoretischem Wissen. Hinsichtlich des Erwerbs von Handlungskompetenz beträgt der Zustimmungsanteil zugunsten des Präsenzunterrichtes 73 %. Hinsichtlich des Erwerbs von theoretischem Wissen liegt der Zustimmungsanteil etwas darunter, bei 64 %. Während des Lockdowns bleibt der Zustimmungsanteil derjenigen, die angeben, dass der Kompetenzerwerb von Handlungskompetenzen im Präsenzunterricht besser gelingt unverändert. Allerdings verändert sich das Bild hin-
Im Lockdown relativiert sich für die Befragten die Bedeutung persönlich anwesender Dozent_innen in Bezug auf den Erwerb theoretischen Wissens. In Bezug auf den Erwerb
Die im Präsenzunterricht mögliche Betreuunhg durch meine/n Dozent/in ist mir wichtig. (Vor dem Lockdown) (n=690)
77%
Im Lockdown (n=470)
72% 0%
stimme zu
19%
teils-teils
20%
40%
stimme nicht zu
26% 60%
80%
100%
weiß nicht
Abbildung 4. Betreuung im Präsenzunterricht (Eigene Darstellung).
Der Erwerb von Handlungskompetenz gelingt am besten in Präsenzunterricht. (Vor dem Lockdown) (n=648)
73%
21%
Im Lockdown (n=388)
72%
23%
Der Erwerb von Handlungskompetenz gelingt in Fernunterricht ebenso gut wie in Präsenzunterricht. (Vor dem Lockdown) (n=637)
6%
Im Lockdown (n=370)
9%
Theoretisches Wissen möchte ich selbstorganisiert im Selbststudium erarbeiten. (Vor dem Lockdown) (n=649)
8%
Im Lockdown (n=383)
25%
58%
31%
52%
35%
29% 34%
55% 20% stimme nicht zu
40% weiß nicht
5%
33%
64%
0%
teils-teils
1%
54%
Auch zum Erwerb von theoretischem Wissen bevorzuge ich den Unterricht mit persönlicher Anwesenheit durch eine/n Dozent/in. (Vor dem Lockdown) (n=654)
stimme zu
59%
13%
Im Lockdown (n=391)
11%
60%
5% 10%
80%
100%
Abbildung 5. Wunsch nach Präsenzunterricht zum Erwerb von Handlungskompetenz vs. dem Erwerb von theoretischem Wissen (Eigene Darstellung). ©2022 Hogrefe
PADUA (2022), 17 (1), 43–48
48
sichtlich des Erwerbs von theoretischem Wissen. Hier geht der Anteil der Befragten, die angeben dieser gelinge besser im Präsenzunterricht um 9 %-Punkte zurück. Der Anteil derjenigen, die sich vorstellen können, dass die Vermittlung theoretischen Wissens im Distanzunterricht ebenso gut gelingen kann, steigt um 6 %-Punkte. Beide Tendenzen hinsichtlich Handlungskompetenz und theoretischem Wissen sprechen demnach für die aufgestellte These. Doch auch hier ist weiterhin die deutliche Mehrheit der Befragten der Ansicht, dass ein Kompetenzerwerb mit persönlicher Anwesenheit durch eine Dozentin bzw. einen Dozenten besser gelingt. Dabei ist nochmal zu betonen, dass sich die befragten Teilnehmer_innen für Weiterbildungsinstitute entschieden haben, deren Unterrichte weitgehend in Präsenz durchgeführt werden. Das deutlich veränderte Bild hinsichtlich des Erwerbs von theoretischem Wissen ist dennoch augenfällig. Insbesondere, wenn man bedenkt, dass die mittlerweile verbreitet eingesetzten Formen der Videokommunikation eine spezielle Art der ‚persönlichen‘ Anwesenheit der Dozentin bzw. des Dozenten ermöglicht.
Diskussion und Restriktionen Die Ergebnisse zeigen, dass aus der Corona-Pandemie und den Erfahrungen im ersten Lockdown ein Zuwachs im Wunsch nach digitalen Elementen und Distanzlernen entstanden ist. Die Pandemie hat den Alltag der Weiterbildungsteilnehmer_innen schockartig und krisenhaft verändert. Dennoch ändern sich die Erwartungen der Teilnehmer_innen hinsichtlich des Einsatzes von digitalen Elementen und Online-Unterricht eher evolutionär denn revolutionär. Die eingangs beschriebene Vorhersage massiver Veränderungen in der Fort- und Weiterbildung durch die Digitalisierung ist auch durch die Corona-Pandemie bislang nicht eingetreten. Eindeutig erkennbar sind jedoch Verschiebungen im Wunsch nach insgesamt mehr digitalen Unterrichtsformen und entsprechender Methodenvielfalt. Es wird deutlich, dass die Teilnehmer_innen von den Bildungsinstituten erwarten, Präsenzunterrichte künftig differenzierter mit digitalen Elementen zu kombinieren. Das kann beispielsweise im Sinne von Blended-Learning als Kombination von Präsenzanteilen mit Ergänzungen durch digitale Medien erfolgen. Blended-Learning erscheint auch deshalb erstrebenswert, da reine OnlineFormate (bspw. MOOCS – Massive Open Online Courses) häufig eine für Teilnehmer_innen unzureichende Betreuung und hohe Abbruchquoten vorweisen (DAAD, 2014). Die in diesem Beitrag zusammengefassten Erkenntnisse sind vor dem Hintergrund mehrerer Einschränkungen zu interpretieren: Die Befragung erfolgte, wie bereits erwähnt, unter Teilnehmer_innen von Fort- und Weiterbildungen, die ein Bildungsinstitut gewählt haben, das vorwiegend Präsenzunterricht anbietet. Eine Befragung in Bildungsinstituten, die bereits vor Corona DistanzunterPADUA (2022), 17 (1), 43–48
Wissen und Forschen
richt anboten, hätte womöglich eine deutlichere Nachfrageänderung in Richtung digitaler Elemente gezeigt. Außerdem lag der zweite Befragungszeitraum „im Lockdown“ noch am Anfang der Corona-Pandemie. Eine Erhebung zu einem späteren Zeitpunkt, z. B. zu Jahresbeginn 2021, hätte vermutlich weitere Nachfrageverschiebungen abgebildet. Mittlerweile sind auch in der Breite Unterrichte in Form von Videokonferenzen möglich und umgesetzt. Eine erneute Befragung würde zeigen, ob bzw. wie sich die Erwartungen der Teilnehmer_innen geschärft haben und welche (neuen) Grenzen sie jetzt erkennen.
Literatur DAAD (2014). Das Internationalisierungspotential heben. In B. Michels, A. Schäfer, M. Schifferings, F. Schnabel, F. Wagenfeld (Hrsg.), Die internationale Hochschule: Die Internationalisierung der deutschen Hochschulen im Zeichen virtueller Lehr- und Lernszenarien (S.69 – 70). Bielefeld: Bertelsmann. Poschmann, K. (2015). Berufliche Weiterbildung im Zeitalter der Digitalisierung. DIW Roundup: Politik im Fokus, No. 84. Berlin: Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung. Schavan, A. (2010). Vorwort. In Bundesministerium für Bildung und Forschung (Hrsg.), e-Qualification: Neue Medien, neue Wege der Qualifizierung (S.3). Bonn / Berlin. Schmid, U., Goertz, L., Behrens, J., Michel, L.P., Radomski, S. & Thom, S. (2018). Monitor Digitale Bildung: Die Weiterbildung im digitalen Zeitalter. Gütersloh: Bertelsmann Stiftung. Seyda, S., Meinhard, D.B., Placke, B. (2018). Weiterbildung 4.0 – Digitalisierung als Treiber und Innovator betrieblicher Weiterbildung. IW-Trends, 45 (1), 107 – 124. mmb Institut – Gesellschaft für Medien- und Kompetenzforschung mbH (Hrsg.). (2017). Weiterbildung und Digitales Lernen heute und in drei Jahren: Corporate Learning wird zum CyberLearning, Ergebnisse der 11. Trendstudie „mmb Learning Delphi“. https://mmb-institut.de/wp-content/uploads/mmb-Trend monitor_2016 – 2017.pdf Vodafone Stiftung Deutschland (Hrsg.). (2016). Gebrauchsanweisung fürs lebenslange Lernen, Erkenntnisse zur Weiterbildung und wie Betriebe sowie Mitarbeiter sie einsetzen können. https://www.vodafone-stiftung.de/wp-content/uploads/2016/ 10/Vodafone_Stiftung_Gebrauchsanweisung_fuers_lebens lange_Lernen.pdf
Dr.rer.pol. Claus Heislbetz Dipl. Sozialwirt, Mitglied des Vorstands der Hans-WeinbergerAkademie der AWO e.V. c.heislbetz@hwa-online.de
Vanadis Götz, M.Sc. Gesundheitsmanagement und -ökonomie, stellv. Geschäftsbereichsleitung der Fort- und Weiterbildung der Hans-WeinbergerAkademie der AWO e.V. v.goetz@hwa.online.de
©2022 Hogrefe
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Die Gesichtsmaske verbirgt die Gefühlslage Wie der Mund-Nasenschutz die Rollentrainings mit Simulationspatientinnen und -patienten beeinflusst
Simulationstrainings sind in der Pflegeausbildung eine wirksame Methode, um Gelerntes praktisch umzusetzen. Allerdings erschwert das Tragen von Gesichtsmasken die Verständigung zwischen Schauspielpatienten (auch Simulationspatienten oder Simulationspersonen genannt), deren Rollentrainerinnen und Studierenden. Das Berner Bildungszentrum Pflege hat die Auswirkungen untersucht und die Beteiligten befragt. Aufgrund der Covid-19-Pandemie gehört der MundNasenschutz seit einiger Zeit zum Alltag von Bildungsinstitutionen. Somit sind auch Begegnungen möglich, bei denen die vorgegebenen Abstandsregeln nicht eingehalten werden können. Ein Beispiel dafür sind die Rollentrainings mit Simulationspatientinnen und -patienten, die am Berner Bildungszentrum Pflege (BZ Pflege) regelmäßig durchgeführt werden. Bei dieser Lehrmethode handelt es sich um Kommunikationstrainings mit Simulationspatientinnen und -patienten (SP). Im Einsatz sind Schauspielerinnen und / oder Laienschauspieler, die am BZ Pflege von SP-Trainerinnen gezielt geschult werden, um real anmutende Situationen von Patientinnen und Patienten zu simulieren. Pflegestudierende haben somit die Möglichkeit, ihre Handlungen sowie die Kommunikation in einer sicheren Umgebung zu üben und zu reflektieren. Das Tragen eines Mund-Nasenschutzes schützt zwar gegen Covid-19, verdeckt jedoch den größten Teil des Gesichts und verbirgt damit die Mimik. In der westlichen Kultur ist der Mund zur Interpretation von Gesichtsausdrücken wichtig (Jack et al., 2009). Emotionen wie Freude oder Überraschung werden oft nur durch Bewegungen des Mundes erkannt (Nusseck et al., 2008). Gesichtsmasken erschweren daher die Interpretation von Emotionen und schränken die nonverbale Kommunikation ein (Carbon, 2020). Die gesetzlichen Grundlagen des Kantons Bern, Schweiz und des kantonalen Mittelschul- und Berufsbildungsamts (MBA) erlaubten die Durchführung von Kommunikationstrainings mit SP auch während des Teil-Lockdowns. Das ©2022 Hogrefe
heißt, die Lehrveranstaltungen fanden vor Ort, am Campus in Bern und Thun, statt. Die Realisierung der Rollentrainings sowie der Kommunikationstrainings mit SP und Pflegestudierenden erforderte strenge Sicherheitsmaßnahmen wie das Tragen eines Mund-Nasenschutzes, Händehygiene, das Einhalten des Mindestabstandes von eineinhalb Metern sowie eine maximale Durchlüftung der Räume. Im Rahmen der Durchführung kam die Frage auf, welche Auswirkungen das Tragen eines Mund-Nasenschutzes während der Rollentrainings auf die SP hat. Ebenso von Interesse war die Rolle der SP-Trainerinnen: Worauf galt es für sie besonders zu achten, damit die Trainings so effizient und angenehm wie möglich gestaltet werden konnten?
Vorgehen Um die oben genannten Fragen zu beantworten, wurde ein qualitatives Vorgehen mit der Thematischen Analyse (Braun & Clark, 2012) gewählt. Acht Simulationspatientinnen im Alter zwischen 28 und 70 Jahre (Durchschnittsalter 46 Jahre) stellten sich für halbstrukturierte individuelle Fokus-Interviews zur Verfügung. Die Teilnehmenden waren einerseits erfahrene SP,
SP-Training PADUA (2022), 17 (1), 49–51 https://doi.org/10.1024/1861-6186/a000661
Wissen und Forschen
Ruth Hodler, Isabelle Galliker und Claudia Schlegel
50
die seit mehreren Jahren am BZ Pflege im Einsatz sind, aber auch Personen, die eben erst mit dem Engagement begonnen hatten. Die Interviews wurden auf der digitalen Plattform MS Teams durchgeführt. Der Interview-Leitfaden enthielt zwei Schwerpunkte: die Auswirkung des Mund-Nasenschutzes auf die Rollentrainings im Hinblick auf das Einüben der zu simulierenden Rolle und die Kommunikation mit den Trainerinnen sowie den Austausch unter den SP.
Ergebnisse Alle Einzelinterviews wurden auf Audiodateien aufgezeichnet und anschliessend transkribiert. Mit Hilfe der MAXQDA 2020 Software wurden die Transkripte analysiert, codiert und in folgende Themen unterteilt:
Kommunikation Die SP benannten die Wichtigkeit der verbalen (deutliches Sprechen, Sprachtempo), der nonverbalen (Gestik, Mimik, Augen) und paraverbalen (Stimme, Lautstärke) Kommunikation. Alle befragten SP gaben an, dass es erschwerend sei, den Mund des Gegenübers als Orientierungspunkt nicht sehen zu können. Dies zwinge sie, sich auf andere Teile des Ge-
Wissen und Forschen
sichtes respektive auf Elemente der nonverbalen Kommunikation zu verlassen. „Erst jetzt, wo die untere Gesichtshälfte verdeckt ist, stelle ich fest, wie viel die Augen ausdrücken können“, erzählte eine SP. Alle Teilnehmenden nannten die Augen als eine wichtige alternative Informationsquelle. Eine Person fand, dass das Tragen der Gesichtsmaske die Bedeutung des Blicks um ein zehnfaches verstärke. Die Gestik wird als Teil der nonverbalen Kommunikation deutlicher wahrgenommen, beispielweise kommt es zu einem bewussteren Einsatz der Hände. Eine SP meinte, dass man gewisse Ausdrücke mit dem Körper darstellen müsse, da der Mund nicht sichtbar sei. Auch die Stimme und ihre Lautstärke haben durch das Tragen eines Mund-Nasenschutzes mehr Gewicht. Die Teilnehmenden schätzten es, wenn die SP-Trainerin laut und deutlich sprach und die einzelnen Wörter betonte, da nebst dem Tragen des Mund-Nasenschutzes auch der Minimalabstand zwischen den Personen eingehalten werden musste. Eine ältere SP betonte, dass der Mund-Nasenschutz die Lautstärke dämpfe, obwohl dessen Flies dünn sei.
Distanz Die Befragten brachten zum Ausdruck, dass die Gesichtsmaske soziale Distanz schaffe. Jene SP, die erst kürzlich mit dem Einsatz am BZ Pflege begonnen hatten, gaben zu bedenken, dass die Maske das gegenseitige Kennenlernen verzögere. Es sei anstrengend, mit anderen SP in Kontakt zu kommen, da man nicht das ganze Gesicht des Gegenübers sehen könne, so ihr Fazit. Die erfahrenen SP hingegen empfanden das Tragen der Hygienemaske in dieser Hinsicht als „nicht so störend“. Grundsätzlich macht die Maske alles unpersönlicher. Dazu einige Aussagen von SP: • „Ohne Maske haben wir mehr miteinander gesprochen.“ • „Wie viel Nähe dürfen wir überhaupt zulassen?“
Tabelle 1. Wichtige Erkenntnisse
Nonverbale Kommunikation PADUA (2022), 17 (1), 49–51
Hilfreich für das Rollen-Training
Erkenntnisse für das SP-Rollentraining mit Mund-Nasenschutz
Augenkontakt
Wichtig, damit die anderen unsere Emotionen lesen können
Erkennen des Gesichtes
Zu Beginn kurz die Maske entfernen
Kennenlernen
Zeit einrechnen für gegenseitiges Kennenlernen
Gesten
Können verwendet werden, um die Informationslücke zu füllen, die durch das Bedecken des Mundes entsteht
Aussprache
Deutliches und lautes Sprechen
Mehr Zeit einrechnen
Durch die Maske muss mehr / anders erklärt werden
Anwendung eines Modelling-Filmes
Ein Modelling-Film ohne Maske hilft, genauere Vorstellungen der Rolle zu machen
©2022 Hogrefe
Wissen und Forschen
• „Wir haben mehr Distanz zueinander, jeder hat seinen eigenen Tisch. Vor der Pandemie haben wir uns zur Begrüssung manchmal umarmt.“ • „Die Maske ist wie ein Mahnmal.“ Jedoch gab es auch SP, die sich durch den Mund-Nasenschutz sicherer fühlten. Sie formulierten positive Aspekte der Distanz: Die Maske vermittle das Gefühl von Sicherheit, da sie vor der Krankheit schütze. Zudem trägt der Mund-Nasenschutz dazu bei, dass Hemmungen abgebaut werden können. „Ich habe mich vom ersten Moment an sicher gefühlt; ich kann hinter der Maske auch etwas verstecken“, meinte eine Teilnehmende. Eine andere SP teilte mit, dass ihr die Gesichtsmaske Selbstvertrauen gäbe, was dazu beitrage, dass sie die Rolle als SP genau nach Vorgabe spielen könne.
Rollentraining der SP Wie haben die SP die Rollentrainings mit Gesichtsmaske erlebt? Durch das Beobachten und Interpretieren der Gestik, der Körperhaltung und der Augen gelang es den SP, ihre zu simulierende Rolle so einzuüben, dass sie diese nach Drehbuch spielen konnten. Am besten sei es, man übe die zu spielende Rolle so ein, als ab man keine Maske tragen würde, meinte eine SP. „Wenn man lacht, lacht man auch hinter der Maske.“ Die Wirkung des Mund-Nasenschutzes sei für das Training nicht so relevant. Jedoch gibt es Patientensituationen, die mit der Maske schwierig einzuüben sind. Man denke an palliative oder an psychiatrische Rollen, die mit vielen Emotionen verbunden sind. Diese mit einem Mund-Nasenschutz zu spielen ist schwierig, da die Mimik zum Ausdruck von Gefühlen wichtig ist.
Interaktion zwischen Studierenden und SP Überraschenderweise empfanden viele Studierende den Mund-Nasenschutz während des Kommunikationstrainings mit den SP nicht als störend. Sie konnten sich trotz der Masken in die Patientensituation einfühlen und zeigten gegenüber den SP ein professionelles Verhalten. Dies dürfte verschiedene Gründe haben. Ein zentraler Punkt hierbei ist, dass die SP gut auf ihre Rollen vorbereitet wurden und somit eine quasi Realität entstand. Das erleichterte es den Studierenden, in die simulierte Situation einzutauchen.
Schlussfolgerung Das Tragen von Mund-Nasenschutz während der SPRollentrainings wurde unter der Covid-19-Pandemie zur Routine für alle Beteiligten. Es galt herauszufinden, welche Bedürfnisse die SP haben, um die Rollentrainings so ©2022 Hogrefe
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zu gestalten, dass eine quasi reale Simulation und eine Interaktion mit den Studierenden möglich waren. Somit konnten die Studierenden in den Kommunikationstrainings lernen und ihr Wissen erweitern. In der Tabelle 1 sind die wichtigsten Erkenntnisse aufgeführt, die aus Sicht der SP für das Rollentraining mit Mund-Nasenschutz relevant sind:
Literatur Braun, V. & Clarke, V. (2012). Thematic analysis. In H. Cooper, P. M. Camic, D. L. Long, A. T. Panter, D. Rindskopf, & K. J. Sher (Eds.), APA handbook of research methods in psychology, Vol. 2. Research designs: Quantitative, qualitative, neuropsychological, and biological (pp. 57 – 71). American Psychological Association. https://doi.org/10.1037/13620-004 Carbon, C. (2020). Wearing Face Masks Strongly Confuses Counterparts in Reading Emotions. Frontiers in Psychology, 11, Article 566886. Jack, R., Blais, C., Scheepers, C., Schyns, P. & Caldara, R. (2009). Cultural Confusions Show that Facial Expressions Are Not Universal. Current Biology, 19 (18), 1543 – 1548. Nusseck, M., Cunningham, D. W., Wallraven, C. & Bülthoff, H. H. (2008). The contribution of different facial regions to the recognition of conversational expressions. Journal of Vision, 8 (8), 1 – 23.
Ruth Hodler MAS Adult and Professional Education, LTT Koordinatorin, Berner Bildungszentrum Pflege.
Isabelle Galliker Berufsschullehrerin, Berner Bildungszentrum Pflege
Dr. Claudia Schlegel, PhD, MME, CAS Co-Leiterin Abteilung LTT Schule, Berner Bildungszentrum Pflege Claudia.Schlegel@bzpflege.ch
PADUA (2022), 17 (1), 49–51
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Gesundheit pflegender Mütter Christa Büker, Bianca Streicher und Laura Scheerbaum
Mütter mit einem pflegebedürftigen Kind haben zahlreiche Herausforderungen und Belastungen zu
ntenPatie ion at eduk
personen – richten ihre Aufmerksamkeit in erster Linie auf das schwer kranke oder behinderte Kind.
bewältigen. Damit gehören sie zu einer Risikogruppe für eigene gesundheitliche Beeinträchtigungen. Die professionelle Pflege kann wirksame Unterstützung durch Information, Schulung und Beratung leisten.
Pflegebedürftigkeit bei Kindern In Deutschland leben ca. 160 000 als pflegebedürftig im Sinne des Pflegeversicherungsgesetzes anerkannte Kinder und Jugendliche unter 15 Jahre (Statistisches Bundesamt, 2020). Die Ursachen einer kindlichen Pflegebedürftigkeit sind vielfältig. Sie reichen von schweren chronischen Erkrankungen bis hin zu angeborenen oder erworbenen geistigen und / oder körperlichen Behinderungen. Fast immer leben die Kinder in der Familie, eher selten in einem Heim. Zu Hause ist es in aller Regel die Mutter, die sich vorrangig um das Kind kümmert und den Großteil der Pflege und Versorgung leistet. Die Betreuung eines pflegebedürftigen Kindes ist mit vielfältigen Herausforderungen und Belastungen verbunden, die sich von der Betreuung älterer Menschen mit Pflegebedarf deutlich unterscheiden. Neben der Pflege, Betreuung und Beaufsichtigung bedarf es häufig der Durchführung medizinischer Maßnahmen, der Überwachung bei technikintensiver Versorgung, der Begleitung des Kindes zu therapeutischen Maßnahmen, Arztbesuchen und Krankenhausaufenthalten oder der Organisation von Hilfsmittel. Außerdem bedarf es der Vereinbarkeit der Pflege mit den sonstigen Anforderungen des Alltags, der Versorgung von Geschwisterkindern oder der Berufstätigkeit. Viele Kinder sind dauerhaft auf umfangreiche pflegerische Unterstützung angewiesen und leben bis weit ins Erwachsenenalter in der Familie. Für die Mütter bedeutet dies über viele Jahre hinweg „Schwerstarbeit“ (Büker, 2010) und damit ein Risiko für die eigene Gesundheit. Bislang wird der Gesundheit pflegender Mütter nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Ihr Einsatz wird selbstverständlich erwartet. Auch die Akteure im Gesundheitswesen – Ärzt_innen, Therapeut_innen sowie Pflegefach©2022 Hogrefe
Gesundheitliche Belastungen und Auswirkungen Die gesundheitlichen Belastungen für die Mütter sind vielfältig, wie eine neuere Untersuchung aufzeigt (Büker & Pietsch, 2019). Sie betreffen nicht nur die körperliche, sondern auch die psychische und soziale Gesundheit der Frauen. Die Notwendigkeit einer ständigen Präsenz und das jederzeitige „funktionieren“ müssen, lassen kaum Raum für Erholung. Körperlich anstrengend sind Heben und Tragen sowie Transfers, zum Beispiel vom Rollstuhl in das Auto, insbesondere mit dem Älterwerden und der Zunahme von Größe und Gewicht des Kindes. Belastend sind nächtliche Pflegeeinsätze oder häufige Krankenhausaufenthalte. Fehlende Zeit für Geschwisterkinder und die Partnerschaft führen zu einem Gefühl der Zerrissenheit. Auseinandersetzungen mit Kostenträgern und Behörden sind psychisch belastend, ebenso Stigmatisierungserfahrungen und soziale Isolation. Hinzu kommen unter Umständen finanzielle Sorgen durch die Einschränkung der Berufstätigkeit der Mütter. Für eigene Interessen, Hobbys oder die Selbstsorge bleibt oftmals kaum Zeit. Dies bleibt nicht ohne Auswirkungen auf die Gesundheit der Frauen. Viele Mütter klagen über Verspannungen, Verschleißerscheinungen und Arthrose. Häufig kommt es bereits im mittleren Lebensalter zu einer Chronifizierung von Beschwerden, wie chronische Schmerzen oder chronische Erschöpfung. Das anhaltende Schlafdefizit führt zu dauerhaften Schlafstörungen. Belastbarkeit und Leistungsfähigkeit sind verringert, depressive Verstimmung und Burnout-Symptome können auftreten.
Unterstützungsbedürfnisse der Mütter Als wichtigste Maßnahme zur Gesunderhaltung benötigen pflegende Mütter regelmäßige Auszeiten (Büker & Pietsch, PADUA (2022), 17 (1), 53–57 https://doi.org/10.1024/1861-6186/a000662
Informiert sein und Handeln
Edukative Unterstützung durch die professionelle Pflege
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2019). Nur so wird eine nachhaltige Regeneration ermöglicht. Bevor es zu gesundheitlichen Beeinträchtigungen kommt, bedarf es ferner frühzeitiger und spezieller Angebote der Gesundheitsförderung und Prävention in Form von ambulanten und stationären Vorsorge- bzw. Rehabilitationsmaßnahmen. Wichtig sind außerdem Information, Schulung und Beratung, ggf. auch eine längerfristige Unterstützung der Frauen auf ihrem Weg durch das Versorgungssystem in Form von Case Management. Nicht zuletzt bedarf es einer psychosozialen Begleitung der Mütter. Pflegende Mütter müssen zudem ermutigt werden, eigene Bedürfnisse zuzulassen und Angebote der Unterstützung und Gesundheitsförderung anzunehmen. Voraussetzung für eine wirksame Entlastung der Mütter ist jedoch das Vorhandensein von verlässlichen Betreuungsangeboten für das pflegebedürftige Kind. Stundenweise Betreuung bieten zum Beispiel Familienentlastende Dienste (FED). In speziellen Kurzzeitpflegeeinrichtungen können die Kinder tage- oder wochenweise untergebracht werden. Ein großes Problem stellt jedoch das diesbezüglich geringe Angebot dar, insbesondere für ältere Kinder und Kinder mit höheren Pflegegraden. Vor allem im ländlichen Raum fehlt es an entsprechenden Einrichtungen. Der über die Pflegeversicherung bestehende Anspruch auf diese Leistungen kann mangels Angebots oftmals nicht eingelöst werden.
Informiert sein und Handeln
während des Krankenhausaufenthaltes Kontakt zu den Familien auf und bereitet gemeinsam mit den Eltern die Entlassung vor. Sie begleitet die Familien nach Hause, organisiert und steuert die Versorgung und steht den Eltern für mehrere Wochen als Ansprechperson zur Seite. Information, Schulung und Beratung spielen auch im ambulanten Bereich eine bedeutende Rolle. Da wo ambulante Kinderkrankenpflege in die Versorgung eines schwerkranken oder behinderten Kindes involviert ist, bieten sich zahlreiche Ansatzpunkte: Schulungen zum Umgang mit dem Kind und zu speziellen Pflegemaßnahmen, Information über Entlastungsangebote in der Region, Vermittlung zu einer Selbsthilfegruppe, Beratung zu Angeboten der Gesundheitsförderung und Prävention. Im Wissen um die gesundheitliche Belastung der Mütter bedarf es der Ermutigung zur Selbstsorge und zum Zulassen eigener Bedürfnisse. Ambulante Kinderkrankenpflegedienste können spezielle Pflegekurse nach § 45 SGB XI für Familien mit einem behinderten oder chronisch kranken Kind anbieten und im Kursverlauf auf gesundheitliche Risiken und Entlastungsmöglichkeiten eingehen. Häusliche Einzelschulungen, die ebenfalls über die Pflegekasse nach § 45 SGB XI abgerechnet werden können, eröffnen die Möglichkeit, Familien direkt in der häuslichen Umgebung zu informieren, schulen und beraten. Eine weitere Unterstützungsmöglichkeit bietet sich mit den Pflegeberatungsbesuchen nach § 37(3) SGB XI. Hierüber können Familien erreicht
Unterstützung durch die professionelle Pflege Eine Schlüsselrolle bei der Unterstützung pflegender Mütter kann der Berufsgruppe der Pflege zukommen. Ihr unmittelbarer und intensiver Kontakt zu Familien prädestiniert sie, Überlastungen frühzeitig wahrzunehmen und Unterstützungsbedarfe zu erkennen. Bei Aufenthalten des Kindes im stationären Bereich (z. B. Kinderkliniken, pädiatrische Intensivstationen, Neonatologie) befindet dieses sich häufig in einer gesundheitlichen Krise. Hier gilt es, aufmerksam zu sein für die psychische Verfassung der Eltern, speziell der Mütter. Eine Aufgabe der Pflegenden kann es sein, eine psychologische oder seelsorgerische Begleitung anzuregen und zu initiieren. Eine wichtige Rolle spielen edukative Aktivitäten, um die Familien zur eigenständigen Durchführung notwendiger pflegerischer Maßnahmen in der Häuslichkeit zu befähigen. Für frühgeborene und schwerkranke Kinder besteht die Möglichkeit einer Unterstützung durch die sozialmedizinische Nachsorge als Regelleistung der Krankenkassen (§ 43(2) SGB V). Orientiert am Modell „Bunter Kreis“ werden die Familien beim oftmals schwierigen Übergang von der stationären Versorgung in die Häuslichkeit begleitet und unterstützt. Zu dem multidisziplinären Team gehören Kinderärzt_innen, Psycholog_innen, Sozialpädagog_innen sowie Gesundheits- und Kinderkrankenpfleger_innen. Letztere wird als Case Manager_in tätig. Sie nimmt bereits PADUA (2022), 17 (1), 53–57
Fotos der Lumia Stiftung. ©2022 Hogrefe
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werden, die im Alltag auf sich allein gestellt sind. Durch den zugehenden Charakter der Besuche wird ein Einblick in die Leben-, Wohn- und Pflegesituation vor Ort ermöglicht. Belastungssituationen der Mütter können frühzeitig erkannt werden. So wird eine gezielte und individuelle Beratung möglich, die sich an den Alltagsproblemen der Familien orientiert. Auch für Pflegefachpersonen, die Teil des interdisziplinären Teams von Sozialpädiatrischen Zentren sind, bietet sich die Chance zur Beratung der Mütter. In diesen ambulanten Zentren werden Kinder und Jugendliche mit Beeinträchtigungen der körperlichen, geistigen und seelischen Entwicklung regelmäßig, d. h. ein- bis zweimal jährlich, vorgestellt. Die Betreuung durch Fachleute aus den verschiedenen Gesundheits- und Sozialberufen umfasst auch eine Beratung und Anleitung der Familien.
Notwendige edukative Handlungskompetenzen Um Familien mit einem pflegebedürftigen Kind professionell informieren, schulen und beraten zu können, bedarf es verschiedener Kompetenzen (Schieron et al., 2021). Wichtig ist zunächst die Fachkompetenz, d. h. das spezifische Fachwissen über die Art der Behinderung oder chronischen Erkrankung. Zur Fachkompetenz gehört aber auch Basisund Handlungswissen über Theorien, Konzepte und Instrumente in der Kommunikation, Schulung und Beratung. Im Weiteren ist Methodenkompetenz von Bedeutung. Hierunter wird die Fähigkeit zur bedarfs- und bedürfnisgerechten Gestaltung von Schulungs- und Beratungsprozessen verstanden. Dazu gehören die Fähigkeit zur verständlichen Gestaltung von Informationsbroschüren, zum systematischen Aufbau von Schulungen, Problemlösungskompetenzen sowie die Fähigkeit, ein Beratungsgespräch gezielt aufnehmen, steuern und beenden zu können. Unerlässlich ist die Sozialkompetenz, d. h. die Fähigkeit zur Gestaltung von Interaktions- und Beziehungsprozessen. Entscheidend ist hier die Klient_innenzentrierung mit den Grundsätzen der Empathie, Wertschätzung und Kongruenz (Weinberger, 2013). Dies erfordert auch personale Kompetenz, d. h. die Fähigkeit zur Wahrnehmung, Beobachtung und Selbstreflexion sowie das Erkennen eigener Grenzen. Schließlich bedarf es der Systemkompetenz. Gemeint ist damit das Wissen um das regionale Hilfeangebot, sozialrechtliche Belange, die Kenntnis von Zugangswegen und Finanzierung von Hilfen. Dazu gehört auch das Wissen um Möglichkeiten der Gesundheitsförderung und Prävention für pflegende Mütter.
Fazit Mütter mit einem pflegebedürftigen Kind sind vielfältigen Herausforderungen und Belastungen ausgesetzt. Sie bil©2022 Hogrefe
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den eine Risikogruppe für gesundheitliche Beeinträchtigungen. An das Gesundheitssystem und seine professionellen Akteure ist daher die Forderung nach frühzeitiger Aufmerksamkeit für die Gesundheit der Frauen zu richten. Maßnahmen der Gesundheitsförderung und Prävention müssen einsetzen, bevor es zu gesundheitlichen Beeinträchtigungen und ihrer Chronifizierung kommt. Ein zentraler Ansatzpunkt für Gesundheitsförderung ist die zeitliche Entlastung. Indem den Müttern Auszeiten ermöglicht werden, gewinnen sie Freiraum für die eigene Gesundheitssorge. Voraussetzung ist allerdings ein flächendeckender Ausbau von Kurzzeit-, Ferien- und Freizeitangeboten für pflegebedürftige Kinder und Jugendliche, auch mit höheren Pflegegraden. Die Unterstützung von Familien mit einem pflegebedürftigen Kind durch edukative Aktivitäten der Information, Schulung und Beratung ist ein wichtiger Aufgabenbereich für die professionelle Pflege. International längst etablierte Handlungsfelder wie Family Health Nursing oder Community Health Nursing könnten auch hierzulande eine weitere Basis für wirksame Unterstützung darstellen.
Die Lumia-Stiftung – Unterstützung für Familien mit einem Kind mit schwerster erworbener Hirnschädigung Unterstützung für die speziellen Bedürfnisse von Familien mit einem Kind mit schwerster erworbener Hirnschädigung leistet die Lumia-Stiftung. Die im Jahr 2000 durch eine Unternehmerfamilie ins Leben gerufene Stiftung bietet sich als ständiger Ansprechpartner für Familien an, in denen ein Kind – häufig durch einen Unfall oder ein anderes plötzliches und lebensbedrohliches Ereignis – eine sehr schwere Hirnschädigung erlitten hat. Das pädagogische Team steht Familien in ganz Deutschland für Fragen und Anliegen unterschiedlichster Art zur Verfügung – unabhängig davon, wie lange die Verletzung zurück liegt. Die Mitarbeiterinnen leisten telefonische, schriftliche und bei Bedarf auch vereinzelt aufsuchende Hilfe. Oft entstehen jahrelange Begleitungen, die die Eltern stabilisieren und sowohl als Backup für Fragen als auch zum regelmäßigen Austausch dienen. Der Kontakt zu den Familien entsteht häufig über Rehabilitationseinrichtungen, in die die Kinder nach dem Akutgeschehen verlegt werden. Das dortige Personal (Pflegedienst, Sozialdienst) weist die Familien auf das Angebot der Stiftung hin und vermittelt den Kontakt. Die Lumia Stiftung besteht mit Ausnahme der Geschäftsführung aus einem rein pädagogischen Team. Neben der Beratung und Begleitung über einen Zeitraum, der sich am individuellen Bedarf der Familie orientiert, bietet die Lumia Stiftung für die Familien spezialisierte Informationen an, eine teilPADUA (2022), 17 (1), 53–57
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weise oder vollständige Übernahme von Recherche- oder Bürokratieaufgaben, die Erarbeitung individueller Lösungen und Bewältigungsstrategien oder auch auf Wunsch die Vernetzung von Familien untereinander. Die Lumia Stiftung wirkt in der Zusammenarbeit mit den Familien stets auch auf die Wichtigkeit von Selbstfürsorge für die pflegenden oder versorgenden Eltern hin, sowie auf deren kurz- oder langfristige Entlastung. Das Team arbeitet u. a. psychoedukativ, indem es Eltern über mögliche Folgen der Pflege oder Belastungssituationen informiert und Wege aufweist, wie diese es schaffen können, vor dem Hintergrund der Erkrankung ihres Kindes und dem häufig extrem komplexen Versorgungsbedarf auch an sich zu denken und über die Jahre selbst gesund zu bleiben. Das pädagogische Team ist für diese besondere Aufgabe zeitlich ausreichend ausgestattet, sodass langjährige und am Bedarf der Familie orientierte Begleitungen möglich sind. Die Beraterinnen sind in ihren Grundberufen Pädagoginnen, Heilpädagoginnen, Sonder- und Rehabilitationspädagoginnen und Sozialpädagoginnen. Sie haben z. T. Zusatzqualifikationen in der Traumafachberatung, Trauerbegleitung und Bindungspädagogik sowie Gesprächsführungstechniken erworben, um auf die besonderen Bedarfe der Zielgruppe eingehen zu können. Neurokompetenz, Sozialrecht und die Reflexion des eigenen Handelns sind zudem ständig fortlaufende Fortbildungsinhalte. Zu den Anforderungen an das pädagogische Team zählen u. a. die Arbeit mit einer sehr schwer belasteten Zielgruppe, der Umgang mit schwerer, z. T. lebensbeendender Krankheit im Kinder- und Jugendalter, das (Mit-)Aushalten von Ängsten und Sorgen der Eltern, die Beratung sowie der Beziehungsaufbau und die psychosoziale Begleitung am Telefon. Außerdem erfordert die Aufgabe breite Kenntnisse in angrenzenden relevanten Fachgebieten oder auch das stetige Einarbeiten in neue Sachverhalte und individuelle Problemstellungen.
Fallbeispiel aus der Arbeit der Lumia Stiftung Beispielhaft soll hier die Begleitung von Jeremias und seiner Familie durch die Lumia Stiftung vorgestellt werden (Name geändert). Jeremias war ein gesunder und fröhlicher Junge, als er im Alter von 3 Jahren in einem Baueimer der benachbarten Baustelle, in dem sich Regenwasser gesammelt hatte, ertrank und in letzter Minute durch Reanimation zurück ins Leben geholt wurde. Jeremias erlitt einen schweren Sauerstoffmangel. Er wurde sofort in die Uniklinik geflogen, wo er zunächst im Koma auf der Intensivstation lag. Nach einigen Tagen und Absetzen erster Medikamente warteten Jeremias' Eltern darauf, dass er aufwachte. Seine Schwester war seit dem Tag des Unfalls bei den Großeltern. Jeremias öffnete die Augen, aber sein PADUA (2022), 17 (1), 53–57
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Blick ging ins Leere, er konnte nicht fokussieren und auch nicht merklich reagieren. Er atmete selbstständig und sein Herz schlug auch von selbst. Er befand sich im Wachkoma, einem möglichen Durchgangssyndrom nach einem solchen schweren Ereignis. Jeremias wurde nach weiteren zwei Wochen in eine neuropädiatrische Reha-Klinik verlegt, die 220 km vom Wohnort der Familie entfernt lag. Er blieb dort 11 Monate, ein Elternteil war stets bei ihm. Er machte kleine Fortschritte, sein Schluckreflex konnte wieder trainiert und sein Tracheostoma entfernt werden. Seine Eltern beobachteten auch zunehmend sehr kleine Reaktionen wie Erhöhung des Herzschlages bei bestimmten Reizen, ein vereinzeltes Kopfdrehen zu ihrer Stimme hin oder dass er insgesamt „wacher“ wirkte und vermehrt auf Ansprache reagierte. Neben der täglichen aktivierenden Pflege erhielt Jeremias während seines Klinik-Aufenthaltes mehrmals am Tag Therapien, um seine Rehabilitation bestmöglich voranzutreiben. Umgeben von ärztlichem Personal, Pflege- und therapeutischen Kräften verbrachten Jeremias' Eltern die gesamte Zeit abwechselnd in der RehaKlinik. Über den Sozialdienst der Klinik wurde Jeremias Familie schließlich auf die Lumia Stiftung aufmerksam. Am Ende der Reha bedurfte es für die Entlassung in das eigene Zuhause einige Vorbereitungen, die mithilfe des Sozialdienstes und der Lumia Stiftung umgesetzt wurden. Hierfür mussten zunächst entsprechende Hilfsmittel und die Pflege organisiert sowie das Haus barrierefrei umgebaut werden. Ein geeignetes Team aus Pflegekräften zu finden, war eine der schwierigsten Herausforderungen für die Eltern. Die Lumia Stiftung unterstützte die Eltern zunächst bei der Recherche nach Pflegediensten. Aufgrund der ländlichen Lage war das Angebot jedoch sehr beschränkt und es fehlten Pflegekräfte, um ein ausreichend großes Team zusammenzustellen. Bis eine Versorgung schlussendlich auf die Beine gestellt werden konnte, vergingen einige Wochen. Über die folgende Zeit ist zwischen Jeremias Eltern und dem Pflegeteam eine wichtige Verbindung entstanden. Durch das gewachsene Vertrauen in die Pflegekräfte konnten die Eltern nach und nach ihren Alltag so strukturieren, dass Jeremias Vater wieder arbeiten gehen konnte. Auch Jeremias Schwester hat dadurch wieder mehr Aufmerksamkeit von ihren Eltern bekommen können. Erst nach einigen Jahren trauten sich Jeremias Eltern zu, seine Versorgung aus den Händen zu geben und das Angebot der Kurzzeitpflege in Anspruch zu nehmen. Diese Pausen waren dringend nötig, damit Jeremias Eltern auch wieder einmal an die eigene Gesundheit denken und Kraft tanken konnten. Die Lumia Stiftung unterstützte die Familie in dieser Zeit bei unterschiedlichen Anliegen und half u. a. bei der Suche nach Therapie-Angeboten, informierte über rechtliche Ansprüche sowie Geschwisterangebote oder half bei der Antragstellung und Spendensuche nach einem behinderungsgerechten Kfz. Über die Jahre fanden zudem regelmäßige Entlastungsgespräche statt. ©2022 Hogrefe
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hutsam Informationen zur Selbstfürsorge sowie Anregungen zur eigenen Achtsamkeit gegeben und dies stets auf die spezielle Situation der Familien zugeschnitten. Die Broschürenreihe wurde im Broschürenwettbewerb des Netzwerks Patienten- und Familienedukation in der Pflege e. V.(www.patientenedukation.de) im Jahr 2018 ausgezeichnet.
Literatur
Abbildung 3. Ratgeber-Broschüren der Lumia-Stiftung. In der Mitte das Titelbild der Broschüre „Selbstfürsorge“
Auch in der Zeit, in der sich Jeremias Gesundheitszustand verschlechterte, war die Lumia Stiftung als Ansprechpartner da. Jeremias verstarb zehn Jahre nach seinem Unfall an einem Infekt, der zu einer schweren Lungenentzündung führte. Das Team unterstützte die Familie auch in dieser schweren Zeit, nahm an der Beerdigung teil, führte Trauergespräche und begleitete die Familie nach seinem Tod weiterhin. Bis heute steht die Familie in Kontakt mit der Lumia Stiftung.
Broschürenangebot der Lumia Stiftung Ein allgemeiner Flyer übe die Arbeit der Stiftung steht auf der Homepage bereit (www.lumiastiftung.de) oder kann kostenfrei über den Postweg bestellt werden. Fern hat die Lumia Stiftung eine 8-teilige Broschürenreihe als „Familien-Ratgeber“ herausgegeben, die kostenfrei entweder in Printform bestellt oder direkt von der Homepage heruntergeladen werden können (www.ratgeber.lumiastiftung. de). Im Heft 5 – der Broschüre „Selbstfürsorge“ – steht das Gesundbleiben der Eltern im Mittelpunkt. Es werden be-
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Büker, C. (2010). Leben mit einem behinderten Kind. Bewältigungshandeln pflegender Mütter im Zeitverlauf. Bern: Huber. Büker, C. & Pietsch, S. (2019). Gesundheitsbezogene Lebensqualität von Müttern mit einem pflegebedürftigen Kind (GeSuLeM). Abschlussbericht. Bielefeld: Fachhochschule Bielefeld und Institut für Bildungs- und Versorgungsforschung im Gesundheitsbereich. Schieron, M., Büker, C. & Zegelin, A. (Hrsg.). (2021). Patientenedukation und Familienedukation in der Pflege. Praxishandbuch zur Information, Schulung und Beratung. Bern: Hogrefe. Statistisches Bundesamt (2020). Pflegestatistik 2019. Pflege im Rahmen der Pflegeversicherung. Deutschlandergebnisse. Wiesbaden. www.destatis.de Weinberger, S. (2013). Klientenzentrierte Gesprächsführung. Lernund Praxisanleitung für psychosoziale Berufe (14. Aufl.). Weinheim: Beltz Juventa.
Prof. Dr. Christa Büker Gesundheits- und Pflegewissenschaftlerin, Fachhochschule Bielefeld christa.bueker@fh-bielefeld.de
Bianca Streicher Diplom-Sozialpädagogin und Sozialarbeiterin, Leiterin der Familienberatung und -begleitung b.streicher@lumiastiftung.de Laura Scheerbaum Sonderpädagogin, Rehabilitationswissenschaftlerin, Team Familienberatung und -begleitung l.scheerbaum@lumiastiftung.de
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Positive Psychotherapie
Positive Psychotherapie
Tayyab Rashid Martin Seligman
Ein Therapiemanual
Therapeutische Praxis
Positive Psychotherapie Ein Therapiemanual (Reihe: „Therapeutische Praxis“). 2021, 381 Seiten, Großformat, inkl. Online-Materialien, € 89,95 (DE) / € 92,50 (AT) / CHF 122.00 ISBN 978-3-8017-3009-3 Auch als eBook erhältlich
Achtsamkeit
Rashid / Seligman
Tayyab Rashid / Martin Seligman
Michalak / Heidenreich / Williams
Unsere Buchtipps
2., überarbeitete Auflage
Digitale Selbsthilfe bei psychischen Störungen
Counseling, Psychoedukation und Psychotherapie
2021, 327 Seiten, inkl. Online-Materialien, € 36,95 (DE) / € 38,00 (AT) / CHF 48.90 ISBN 978-3-8017-2774-1 Auch als eBook erhältlich
Etwa 3 Millionen Erwachsene in Deutschland leiden unter einem chronischen Tinnitus, der häufig auch mit weiteren Problemen wie Schlafstörungen, Stress und Ängsten einhergeht. Der Band stellt verhaltenstherapeutisch, psychodynamisch sowie hypnotherapeutisch orientierte Module für die Behandlung des Tinnitus vor. Die zahlreichen im Buch enthaltenen Arbeitsmaterialien können nach erfolgter Registrierung von der Hogrefe Website heruntergeladen werden.
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Chancen, Risiken und Auswirkungen auf die Behandlung Digitale Selbsthilfe bei psychischen Störungen
Module für die Tinnitus-Behandlung
Module für die TinnitusBehandlung
(Reihe: „Fortschritte der Psychotherapie“, Band 83) 2., überarbeitete Auflage 2021, VI/100 Seiten, € 19,95 (DE) / € 20,60 (AT) / CHF 28.90 (Im Reihenabonnement € 15,95 (DE) / 16,40 (AT) / CHF 22.90) ISBN 978-3-8017-3040-6 Auch als eBook erhältlich
Christiane Eichenberg / Felicitas Auersperg
Counseling, Psychoedukation und Psychotherapie Roberto D’Amelio Helmut Schaaf Detlef Kranz
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Der Band gibt einen praxisorientierten Einblick in die theoretischen Hintergründe und die Methoden achtsamkeitsbasierter therapeutischer Arbeit. Er stellt die Grundzüge von MBSR und MBCT dar und gibt einen Überblick über wichtige Forschungsergebnisse zur Wirksamkeit von achtsamkeitsbasierten Verfahren.
Eichenberg / Auersperg
D’Amelio / Schaaf / Kranz
Module für die Tinnitus-Behandlung
Johannes Michalak Thomas Heidenreich J. Mark. G. Williams
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Das vorliegende Manual beschreibt ein 15 Sitzungen umfassendes Therapieprogramm basierend auf den Prinzipien der Positiven Psychologie. Ziel ist es, Klientinnen und Klienten zu unterstützen, ihre persönlichen Stärken herauszufinden und gezielt einzusetzen, um mehr Zufriedenheit und Sinnhaftigkeit im Leben zu erlangen.
Roberto D‘Amelio / Helmut Schaaf / Detlef Kranz
Achtsamkeit
Johannes Michalak / Thomas Heidenreich / J. Mark G. Williams
Christiane Eichenberg Felicitas Auersperg
Digitale Selbsthilfe bei psychischen Störungen Chancen, Risiken und Auswirkungen auf die Behandlung
2022, 82 Seiten, € 19,95 (DE) / € 20,60 (AT) / CHF 28.90 ISBN 978-3-8017-3104-5 Auch als eBook erhältlich
Die Beschäftigung mit gesundheitlichen Problemen findet zunehmend im Internet sowie mit anderen neuen Medien statt. Das Buch informiert über digitale Selbsthilfeaktivitäten von Patientinnen und Patienten sowie deren Auswirkungen auf die therapeutische Beziehung und Behandlung. Die Chancen und Grenzen des Internets als Selbsthilfemedium werden beleuchtet und es werden Empfehlungen für Behandelnde zum Umgang mit den Online-Selbsthilfeaktivitäten ihrer Patientinnen und Patienten gegeben.
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Service Stellungnahme zur Lehrerinnenund Lehrerbildung Fachrichtung Pflege der Sektion Berufsund Wirtschaftspädagogik in der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (DGfE) Die Ausbildungen in den personenbezogenen beruflichen Fachrichtungen (Sozialpädagogik, Ernährung und Hauswirtschaft, Gesundheit und Körperpflege sowie Pflege) weichen in ihren Regelungen und ihrer Verortung von anderen Berufsausbildungen ab, was u. a. mit ihrer Geschichte als überwiegend typische Frauenberufe zusammenhängt. Gleichwohl haben sie eine hohe gesellschaftliche Bedeutung, was sich auch in den Anforderungen ihrer Berufsausbildungen abzeichnet. Korrespondierend mit dem Sonderweg auf Ausbildungsebene erfüllt auch die Lehrer_
innen-Bildung für die personenbezogenen beruflichen Fachrichtungen nicht die allgemeinen Standards. Beide Sachverhalte werden in der Sektion Berufs- und Wirtschaftspädagogik seit vielen Jahren im Hinblick auf Weiterentwicklung und Professionalisierung diskutiert. Nun hat der Vorstand der Sektion eine Stellungnahme zur Lehrerinnen- und Lehrerbildung verabschiedet und veröffentlicht, die im Auftrag der Sektion von Prof. Dr. Marianne Friese (Universität Gießen), Prof. Dr. Karin Reiber (Hochschule Esslingen) und Prof. Dr. Ulrike Weyland (Universität Münster) in Rückbindung an die Sektion erarbeitet worden ist. Die Stellungnahme ist ein Plädoyer für eine Lehrerinnen- und Lehrerbildung, die die allgemeinen Professionsstandards für das Berufsschullehramt erfüllt; sie richtet sich an die Bildungspolitik. Sie kann abgerufen werden unter: https://www.dgfe.de/fileadmin/OrdnerRedakteure/Sektio nen/Sek07_BerWiP/2021_Stellungnahme_AG_Lehrer_inn_ enbildung_Personenbezogene_Dienstleistungsberufe.pdf
Termine 26. bis 27. Januar 2022
Fachsymposium Gesundheit 2022 Digitalisierung, Technik und künstliche Intelligenz – Fortschritt und Gefahr für Pflege und Medizin
St. Gallen
med.com.wka@gmx.de; www.fachsymposium.ch
28. bis 29. Januar 2022
Kongress Pflege 2022
Berlin
https://www.gesundheitskongresse.de/ berlin/2022/downloads/
01. bis 03.März 2022
8. Österreichischer interprofessioneller Palliativkongress
St. Pölten
opg2022@mondial-congress.com; www.palliativ.at
04. bis 06. Mai 2022
Deutscher Wundkongress & Bremer Pflegekongress
Bremen
https://congress-bremen.com/event/ deutscher-wundkongress-bremer-pflegekongress-2022/
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PADUA (2022), 17 (1), 59 https://doi.org/10.1024/1861-6186/a000663
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Meldungen · Neuheiten · Termine
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Vorschau
Vorschau PADUA 2 / 2022 Erscheint im April 2022
Schwerpunkt Exemplarität Weitere Themen in PADUA 2 / 2022 Problembasiertes Curriculum für die generalistische Pflegeausbildung Pilotprojekt der Berufsfachschule für Pflege am Klinikum Passau in Kooperation mit dem Verlag Careum zur Entwicklung eines generalistischen Curriculums „Digitale Kompetenz“: Wie können wir sie lernen und lehren? Erste Schritte zur digitalen Transformation eines Pflegestudiengangs an der Ostschweizer Fachhochschule Herausfordernde Emotionen in den Pflegeberufen Handlungsempfehlungen zur curricularen Einbettung des Umgangs mit Angst und Ekel in den Pflegeberufen
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Aktuelle Sachbücher und Ratgeber aus dem Hogrefe Verlag John Medina
Russell A. Barkley
Brain Rules für Ihr Baby
Das große ADHS-Handbuch für Eltern
Wie neurowissenschaftliche Erkenntnisse helfen, dass Ihre Kinder schlau und glücklich werden
Verantwortung übernehmen für Kinder mit Aufmerksamkeitsdefizit und Hyperaktivität
3., überarb. Aufl. 2022. 344 S., Kt € 34,95 (DE) / € 36,00 (AT) / CHF 47.90 ISBN 978-3-456-86153-1 Auch als eBook erhältlich
Eltern brauchen Fakten, nicht nur Ratschläge, wie sie ihre Kinder am besten aufziehen. Brain Rules machen Ihr Baby schlau und glücklich!
Maja Storch / Gerhard Roth
Das schlechte Gewissen – Quälgeist oder Ressource? Neurobiologische Grundlagen und praktische Abhilfe 2021. 136 S., Kt € 19,95 (DE) / € 20,60 (AT) / CHF 28.90 ISBN 978-3-456-86134-0 Auch als eBook erhältlich Das schlechte Gewissen kann eine echte Plage sein. Maja Storch und Gerhard Roth stellen sich der Frage, woher eigentlich die lange Überlebensdauer eines schlechten Gewissens kommt und wie man damit umgehen kann.
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4., überarb. Aufl. 2021. 520 S., 3 Abb., 6 Tab., Kt € 39,95 (DE) / € 41,10 (AT) / CHF 52.90 ISBN 978-3-456-86082-4 Auch als eBook erhältlich Prof. Barkley forscht seit über 40 Jahren zum Thema ADHS und hat sein Wissen in diesem Ratgeber zusammengefasst.
l Motto-Zie für Teams
Annette Diedrichs / Dominique Krüsi / Maja Storch
Durchstarten mit dem Team Aufbau einer ressourcenorientierten Zusammenarbeit mit Verstand und Unbewusstem 2., akt. u. erw. Aufl. 2021. 192 S., 25 Abb., 1 Tab., Kt € 29,95 (DE) / € 30,80 (AT) / CHF 41.50 ISBN 978-3-456-86031-2 Auch als eBook erhältlich Mit dem bewährten Instrumentarium des Zürcher Ressourcen Modells (ZRM) können Sie als Teamentwickler oder Coach mittels dieses Buches das Motto-Ziel auch für Gruppen erarbeiten lassen.
Transkulturelle Kompetenz weitergedacht Dagmar Domenig (Hrsg.)
Transkulturelle und transkategoriale Kompetenz Lehrbuch zum Umgang mit Vielfalt, Verschiedenheit und Diversity für Pflege-, Gesundheits- und Sozialberufe 3., vollst. überarb. u. erw. Aufl. 2021. 752 S., 77 Abb., 36 Tab., Gb € 89,95 (DE) / € 92,50 (AT) / CHF 120.00 ISBN 978-3-456-85753-4 Auch als eBook erhältlich
Das Lehrbuch entwickelt die transkulturelle zur transkategorialen Kompetenz weiter. Es bietet ein grundlegendes und praxisorientiertes Handbuch zum Umgang mit Vielfalt, Verschiedenheit und Diversity für Gesundheitsberufe. Der erste Teil beschäftigt sich mit sozialen Dynamiken pluralistischer Gesellschaften, wie mit dem ökonomischen Flexibilismus, dem demografischen Wandel und Trends bezüglich Mobilität, Migration und Bürgerrechten. Der zweite Teil diskutiert „flüchtige Kategorien“ am Beispiel sich auflösender Begriffe wie „fremde Kulturen“, „zweite Generation“, „Religion“ und „Behinderung“. Im dritten Teil wird der Fokus auf „Ausgrenzung“ durch Stigma, Menschenfeindlichkeit und Nichtanerkennung, aber auch auf Grund- und Menschenrechte gerichtet. Was transkategoriale Kompe-
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tenz in unterschiedlichen Lebensaltern, Lebenswelten und Praxisfeldern bedeutet, wird im vierten Teil des Lehrbuchs exemplarisch in Beiträgen über Mädchenbeschneidung, Traumatisierungen, Migrationskinder und Altern beschrieben. Der fünfte Teil widmet sich der Gesundheitsversorgung mit einem besonderen Fokus auf Frauen und Männer mit Migrationserfahrung, auf Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung und psychischen Störungen und einer Migrationserfahrung sowie der Beschreibung eines Pflege- und Versorgungsprozesses für diese komplexen Kontexte. Im sechsten Teil werden diverse kommunikative Aspekte im Umgang mit Vielfalt und Verschiedenheit erläutert. Zahlreiche praxisorientierte Fallbeispiele und selbstreflexive Übungen ebnen den Weg für einen kreativen Umgang mit Diversity im Gesundheitswesen.