Ppp 2016 64 issue 1

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Jahrgang 64 / Heft 1 / 2016

Geschäftsführender Herausgeber Franz Petermann Herausgeber Harald J. Freyberger Alexandra Philipsen Erich Seifritz Rolf-Dieter Stieglitz

Zeitschrift für

Psychiatrie, Psychologie und Psychotherapie Themenheft Sozialpsychiatrie


Essentials für die Praxis Horst Dilling / Werner Mombour / Martin H. Schmidt / WHO (Hrsg.)

Horst Dilling / Harald J. Freyberger / WHO (Hrsg.)

Taschenführer zur ICD-10Klassifikation psychischer Störungen

Internationale Klassifikation psychischer Störungen ICD-10 Kapitel V (F) – Klinisch-diagnostische Leitlinien

Mit Glossar und Diagnostischen Kriterien sowie Referenztabellen ICD-10 vs. ICD-9 und ICD-10 vs. DSM-IV-TR

10., überarb. Aufl. 2016. 456 S., Kt € 36.95 / CHF 45.90 ISBN 978-3-456-85560-8

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Die Einführung für praktisch tätige Psychiater und

Der «Taschenführer» enthält die diagnostischen

Psychotherapeuten – Neuauflage entsprechend

Kriterien für die einzelnen psychischen Störun-

der ICD-10-GM 2015.

gen und Störungsgruppen in kommentierter Form. Nach einem kurzen Einführungsabschnitt zu je-

Im Gesamtwerk der Internationalen Klassifikation

der Störung werden die für die Diagnose relevan-

der Krankheiten (ICD) der WHO kommt den psychi-

ten Kriterien aufgeführt und mit Hinweisen zur

schen Störungen eine Sonderstellung zu. Aufgrund

Differenzial- und Ausschlussdiagnostik ergänzt.

der besonderen Anforderungen bei der Klassifika-

Damit umfasst dieser Ansatz sowohl die pragma-

tion psychischer und Verhaltensstörungen gibt die

tische Darstellung der Diagnosen entsprechend

WHO diese offizielle Publikation heraus, mit den

den ICD-10-Forschungskriterien als auch, anstelle

für die praktische Arbeit notwendigen klinischen

der ausführlicheren diagnostischen Leitlinien, die

Beschreibungen und diagnostischen Leitlinien.

kompakte Definition und Beschreibung der einzelnen Störungen.

www.hogrefe.com


Zeitschrift fĂźr

Psychiatrie, Psychologie und Psychotherapie

64. Jahrgang/Heft 1/2016

Themenheft Sozialpsychiatrie Herausgeber Harald J. Freyberger Franz Petermann Alexandra Philipsen Erich Seifritz Rolf-Dieter Stieglitz


Geschäftsführender Herausgeber

Prof. Dr. Franz Petermann, Zentrum für Klinische Psychologie und Rehabilitation der Universität Bremen, Grazer Straße 2 und 6, 28359 Bremen, Tel. +49 (0) 421 218-68601 (Sekr.), -68600 (direkt), fpeterm@uni-bremen.de

Herausgeber

Prof. Dr. H. J. Freyberger, Greifswald Prof. Dr. Alexandra Philipsen, Bad Zwischenahn Prof. Dr. Erich Seifritz, Zürich Prof. Dr. Rolf-Dieter Stieglitz, Basel

Redaktion

Dr. Ulrike de Vries, Zentrum für Klinische Psychologie und Rehabilitation ZKPR, Universität Bremen, Grazer Straße 6, 28359 Bremen, Tel. +49 (0) 421 218-68612, udevries@uni-bremen.de

Beirat

Prof. Dr. Martin Bohus, Mannheim

Prof. Dr. Norbert Kathmann, Berlin

Prof. Dr. Heinz Böker, Zürich

Prof. Dr. Klaus Lieb, Mainz

Prof. Dr. Elmar Brähler, Leipzig

Prof. Dr. Jürgen Margraf, Bochum

Prof. Dr. Franz Caspar, Bern

Prof. Dr. Hans J. Markowitsch, Bielefeld

Prof. Dr. Ulrike Ehlert, Zürich

Prof. Dr. Michael Rösler, Homburg/Saar

Prof. Dr. Jörg M. Fegert, Ulm

Prof. Dr. Dr. Wolfgang Schneider, Rostock

Prof. Dr. Hans Förstl, München

Prof. Dr. Ulrich Schnyder, Zürich

Prof. Dr. Wolfgang Gaebel, Düsseldorf

Prof. Dr. Carsten Spitzer

Prof. Dr. Peter Henningsen, München

Prof. Dr. Bernhard Strauß, Jena

Prof. Dr. Wolfgang Hiller, Mainz

Prof. Dr. Claus W. Wallesch, Elzach

Prof. Dr. Fritz Hohagen, Lübeck

Prof. Dr. Martina de Zwaan, Hannover

Prof. Dr. Lutz Jäncke, Zürich Verlag

Hogrefe AG, Länggass-Strasse 76, Postfach, 3000 Bern 9, Schweiz, Tel. +41 (0) 31 300 45 00, verlag@hogrefe.ch, www.hogrefe.com

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Social Sciences Citation Index, Social Scisearch, Current Contents/Social and Behavioral Sciences, Journal Citation Reports/Social Sciences Edition, EMBASE, PsycINFO, PsyJOURNALS, IBZ, IBR, Europ. Reference List for the Humanities (ERIH) und Scopus

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ISSN-L 1661-4747 ISSN 1661-4747 (Print) ISSN 1664-2929 (online)


3

Inhalt

Editorial

5

Wo steht die Sozialpsychiatrie? Georg Schomerus und Harald J. Freyberger

Themenschwerpunkt

Chronizität im Alltag der psychiatrischen Versorgung – eine Forschungskollaboration zwischen Sozialpsychiatrie und Europäischer Ethnologie

7

Sebastian von Peter, Alexandre Wullschleger, Lieselotte Mahler, Ingrid Munk, Manfred Zaumseil, Jörg Niewöhner, Martina Klausner, Milena Bister, Andreas Heinz und Stefan Beck 19

Macht Burnout Menschen ärgerlicher als Depression? Unterschiede in den emotionalen Reaktionen auf psychische Probleme in der Allgemeinbevölkerung Johannes Bahlmann, Georg Schomerus, Matthias C. Angermeyer und Harald J. Freyberger Beurteilung depressiver und somatischer Symptome mittels des PHQ-9 und PHQ-15 bei ambulanten vietnamesischen und deutschen Patientinnen

25

Eric Hahn, Ronald Burian, Annegret Dreher, Georg Schomerus, Michael Dettling, Albert Diefenbacher, Anita von Poser und Thi Minh Tam Ta Spätaussiedler, Migranten, Deutsche ohne Migrationshintergrund im Maßregelvollzug (§ 63 StGB) – Unterschiede und Gemeinsamkeiten

37

Jan Bulla, Amelie Baumann, Jan Querengässer, Klaus Hoffmann und Thomas Ross 45

Auswirkungen von Peer-Begleitung für Angehörige auf Belastung und Lebensqualität – Eine Pilotstudie Kolja Heumann, Lisa Janßen, Friederike Ruppelt, Candelaria Mahlke, Gyöngyver Sielaff und Thomas Bock Freier Beitrag

Die Bedeutung des sozialen Milieus bei Jugendlichen mit externalisierenden Verhaltensauffälligkeiten: Analyse einer Bremer kinder- und jugendpsychiatrischen Inanspruchnahmepopulation

55

Henrike Biermann, Esmahan Belhadj Kouider, Alfred L. Lorenz, Marc Dupont und Franz Petermann Kurzbeitrag

Wir brauchen eine Grundhaltung der vorurteilsfreien Begegnung im öffentlichen Raum, auch in Zeiten des «Wutbürgers» – eine sozialpsychiatrische Sichtweise

67

Sven Speerforck, Georg Schomerus und Harald J. Freyberger Klinische Untersuchungsverfahren

State-Trait-Ärgerausdrucks-Inventar – 2 (STAXI-2)

73

Franz Petermann

Zeitschrift für Psychiatrie, Psychologie und Psychotherapie (2016), 64(1), 3–4

© 2016 Hogrefe


4

Buchbesprechung

Mischel, W. (2015). Der Marshmallow-Test. Willensstärke, Belohnungsaufschub und die Entwicklung der Persönlichkeit

75

Franz Petermann Kongresskalender

© 2016 Hogrefe

77

Zeitschrift für Psychiatrie, Psychologie und Psychotherapie (2016), 64(1), 3–4


Editorial

Wo steht die Sozialpsychiatrie? Georg Schomerus1,2 und Harald J. Freyberger1,2 1 2

Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Universitätsmedizin Greifswald Helios Hanseklinikum Stralsund

Zusammenfassung: Während die Sozialpsychiatrie an den Universitäten auf dem Rückzug zu sein scheint, hat sich die Patientenversorgung in der Psychiatrie in den letzten Jahrzehnten stark sozialpsychiatrisch verändert. Im Gegensatz zu diesem akademischen Trend gibt das vorliegende Themenheft einen Überblick über innovative sozialpsychiatrische Forschungsvorhaben, die sich nicht nur der Versorgungsfoschung, sondern auch der sozialpsychiatrischen Grundlagenforschung widmen. Wir diskutieren, inwieweit die akademische Zukunft der Psychiatrie auf dem Gebiet der Sozialpsychiatrie liegen wird. Schlüsselwörter: Sozialpsychiatrie, Versorgungsforschung, Grundlagenforschung

Where is social psychiatry? Abstract: While social psychiatry seems to have lost ground in German universities, mental health services have undergone profound changes inspired by social psychiatry. Contrary to this academic trend, the present thematic issue provides an overview of innovative social psychiatric research projects that do not only cover mental health services research, but also basic research in social psychiatry. We discuss whether the academic future of psychiatry may be social. Keywords: social psychiatry, health services research, basic research

Schaut man auf die universitäre Psychiatrie in Deutschland, scheint die große Zeit der Sozialpsychiatrie vorbei zu sein: An den Universitäten werden psychiatrische Lehrstühle in der Regel mit biologisch forschenden Psychiatern besetzt, seit Jahren dominieren neurobiologische Forschungsleistungen die Außendarstellung der Psychiatrie in den Medien. Dabei ist die Praxis der Psychiatrie so sozialpsychiatrisch wie nie zuvor. Die psychiatrische Versorgung in der Gemeinde hat sich in den letzten 20 Jahren enorm verändert. Das psychiatrische Krankenhaus hat sich gewandelt, Liegezeiten und Bettenzahlen sind dramatisch gesunken, während die teilstationäre Versorgung ausgebaut wurde. Auch die ambulanten Versorgung hat sich verändert: viele neue komplementäre Strukturen und Angebote sind entstanden (Bramesfeld, Schafer, Stengler & Schomerus, 2014), und die psychiatrischen Institutsambulanzen haben sich neben den niedergelassenen Fachärzten und Psychotherapeuten in der Versorgung schwer psychisch kranker Menschen fest etabliert. Als direkte Folge dieser Veränderung hat sich das Bild der Psychiatrie, insbesondere der psychiatrischen Klinik, in der Öffentlichkeit deutlich verbessert (Schomerus & Angermeyer, 2013). Eine neue Leitlinie zur psychosozialen Versorgung von Menschen mit schweren psychischen Störungen hat eine beeindruckende Menge an Evidenz für sozialpsychiatrische Therapien zusammengetragen (DGPPN, 2013), wie etwa zum Training sozialer Fertigkeiten (Guhne, Weinmann, Arnold, Becker & Riedel-

Heller, 2014). Es gibt gute Gründe, auf dem Gebiet der Sozialpsychiatrie den zentralen Fortschritt der Psychiatrie in den letzten 20 Jahre auszumachen (Priebe, 2012). In diesem Heft möchten wir das Augenmerk darauf lenken, dass auch die sozialpsychiatrische Forschung blüht. Sechs Arbeitsgruppen aus Hamburg, Berlin, Greifswald und Reichenau stellen Überlegungen und Ergebnisse vor, die ein breites Spektrum an Methoden und Perspektiven wissenschaftlicher Sozialpsychiatrie repräsentieren. von Peter et al. (2016) legen eine Übersichtsarbeit vor, in der die Möglichkeiten kollaborativer Forschung zwischen Ethnologie und Sozialpsychiatrie ausgelotet werden: hier werden spannende neue Perspektiven für die sozialpsychiatrische Grundlagenforschung entwickelt. Eine zweite Arbeit des Themenhefts von Bahlmann, Schomerus, Angermeyer und Freyberger (2016) untersucht die Folgen der Modediagnose Burnout für Menschen mit Depression im Kontext der Medikalisierung von Alltagsproblemen: reagieren andere Menschen positiver oder ablehnender, wenn sie statt der korrekten Krankheitsbezeichnung das alltagsnähere Label Burnout verwenden? Drei weitere Arbeiten widmen sich Menschengruppen, die in der sozialpsychiatrischen Forschung bisher eindeutig zu wenig Aufmerksamkeit erfahren haben. Hahn et al. (2016) greifen die zukünftig immer wichtiger werdende Frage der transkulturellen Psychiatrie auf und stellen Ergebnisse einer vergleichenden Erhebung unter Menschen

Zeitschrift für Psychiatrie, Psychologie und Psychotherapie (2016), 64(1), 5–6 DOI 10.1024/1661-4747/a000254

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G. Schomerus & H. J. Freyberger: Wo steht die Sozialpsychiatrie?

mit vietnamesischem Migrationshintergrund und ohne Migrationshintergrund vor. Sie gehen der Frage nach, ob sich das Erscheinungsbild eines depressiven Syndroms in diesen beiden Gruppen unterscheidet. Bulla, Baumann, Querengässer, Hoffmann und Ross (2016) untersuchen in einer Stichprobe von Patienten in forensischen Kliniken, ob und wie sich Spätaussiedler hinsichtlich wichtiger klinischer Parameter von Menschen mit einem anderen Migrationshintergrund unterscheiden. Heumann, Janßen, Ruppelt, Mahlke, Sielaff und Bock (2016) schließlich wenden sich einer ganz zentralen Gruppe sozialpsychiatrischer Arbeit zu: den Angehörigen. Sie untersuchen in einer Pilotstudie, wie sich Peer-Begleitung auf Belastung und Lebensqualität der Angehörigen auswirkt. Während die Beiträge für dieses Themenheft die Vielfalt sozialpsychiatrischer Forschungen und Fragestellungen belegen, machen sie auch deutlich, wie viel Forschungsbedarf noch besteht. Neue Versorgungsformen wie E-Mental Health stehen erst am Anfang, unklar ist nach wie vor, wie sie praktisch und rechtlich in die Routineversorgung integriert werden können (Lucht & Schomerus, 2013). Die Allokation der vielfältigen komplementären Therapieangebote hängt stark von gewachsenen lokalen Strukturen und den Interessen unterschiedlicher Kostenträger ab, hier fehlen Steuerungselemente, die eine evidenzbasierte und wirtschaftliche sozialpsychiatrische Therapie über Settinggrenzen hinweg ermöglichen (Kilian, 2014). Die Beiträge dieses Hefts machen aber auch deutlich, dass sich sozialpsychiatrische Forschung nicht auf Versorgungsforschung beschränkt. Die Fragen nach der Abgrenzung psychischer Krankheiten von Alltagsbelastungen (Bahlmann et al., 2016) und nach dem Umgang mit Chronizität (von Peter et al., 2016) berühren die grundsätzliche Frage, wo genau eigentlich die Grenze zwischen ‹gesund› und ‹krank› verläuft – bzw. wie wir damit umgehen, dass es diese Grenze gar nicht gibt (Schomerus, Matschinger & Angermeyer, 2013). Über die Psychiatrie hinaus weist der Beitrag von Speerforck, Schomeurs und Freyberger (2016), der sich mit der kontroversen Frage des richtigen gesellschaftlichen Umgangs mit Außenseitermeinungen beschäftigt. Psychische Krankheiten sind soziale Phänomene, deren Manifestation und Folgen unmittelbar mit dem sozialen Umfeld der erkrankten Person zusammenhängen. Nicht nur für das Verstehen psychischer Krankheit, sondern auch für den besten Umgang damit ist sozialwissenschaftliche psychiatrische Forschung unerlässlich. Die in diesem Themenheft abgebildete Vielfalt der Perspektiven in der sozialpsychiatrischen Forschung entspricht der Vielschichtigkeit ihres Gegenstandes, den psychischen Krankheiten. Wo steht also die Sozialpsychiatrie? Wir haben den Eindruck: Am Anfang. Oder, um noch einmal Stefan Priebe zu zitieren: «The future of academic psychiatry may be social» (Priebe, Burns & Craig, 2013). © 2016 Hogrefe

Literatur Bahlmann, J., Schomerus, G., Angermeyer, M. C. & Freyberger, H. J. (2016). Macht Burnout Menschen ärgerlicher als Depression? Unterschiede in den emotionalen Reaktionen auf psychische Probleme in der Allgemeinbevölkerung. Zeitschrift für Psychiatrie, Psychologie und Psychotherapie, 64, 19–24. Bramesfeld, A., Schafer, I., Stengler, K. & Schomerus, G. (2014). Impulse für die Versorgungsforschung: Was folgt auf die DGPPN S3-Leitlinie zu psychosozialen Therapien? Psychiatrische Praxis, 41, 65–67. Bulla, J., Baumann, A., Querengässer, J., Hoffmann, K. & Ross, T. (2016). Spätaussiedler, Migranten, Deutsche ohne Migrationshintergrund im Maßregelvollzug (§ 63 StGB) - Unterschiede und Gemeinsamkeiten. Zeitschrift für Psychiatrie, Psychologie und Psychotherapie, 64, 37–44. DGPPN (2013). S3-Leitlinie Psychosoziale Therapien bei schweren psychischen Erkrankungen. Heidelberg: Springer. Guhne, U., Weinmann, S., Arnold, K., Becker, T. & Riedel-Heller, S. (2014). Training sozialer Fertigkeiten bei schweren psychischen Erkrankungen. Psychiatrische Praxis, 41, e1–e17. Hahn, E., Burian, R., Dreher, A., Schomerus, G., Dettling, M., Diefenbacher, A., … Ta, T. M. T. T. (2016). Beurteilung depressiver und somatischer Symptome mittels des PHQ-9 und PHQ-15 bei am-bulanten vietnamesischen und deutschen Patientinnen. Zeitschrift für Psychiatrie, Psychologie und Psychotherapie, 64, 25–36. Heumann, K., Janßen, L., Ruppelt, F., Mahlke, C., Sielaff, G. & Bock, T. (2016). Auswirkungen von Peer-Begleitung für Angehörige auf Belastung und Lebensqualität – eine Pilotstudie. Zeitschrift für Psychiatrie, Psychologie und Psychotherapie, 64, 45–53. Kilian, R. (2014). Integrierte Versorgung unter gemeindepsychiatrischer Steuerung -Pro. Psychiatrische Praxis, 41, 182–183. Lucht, M. & Schomerus, G. (2013). E-health in der Psychiatrie. Psychiatrische Praxis, 40, 301–303. Priebe, S. (2012). Wo ist der Fortschritt? Psychiatrische Praxis, 39, 55–56. Priebe, S., Burns, T. & Craig, T. K. (2013). The future of academic psychiatry may be social. British Journal of Psychiatry, 202, 319–320. Schomerus, G. & Angermeyer, M. C. (2013). Psychiatry – endlich entstigmatisiert? Psychiatrische Praxis, 40, 59–61. Schomerus, G., Matschinger, H. & Angermeyer, M. C. (2013). Continuum beliefs and stigmatizing attitudes towards persons with schizophrenia, depression and alcohol dependence. Psychiatry Research, 209, 665–669. Speerforck, S., Schomerus, G. & Freyberger, H. J. (2016). Wir brauchen eine Grundhaltung der vorurteilsfreien Begegnung im öffentlichen Raum, auch in Zeiten des «Wutbürgers» – eine sozialpsychiatrische Sichtweise. Zeitschrift für Psychiatrie, Psychologie und Psychotherapie, 64, 67–71. von Peter, S., Wullschleger, A., Mahler, L., Munk, I., Zaumseil, M., Niewöhner, J., … Beck, S. (2016). Chronizität im Alltag der psychiatrischen Versorgung – eine Forschungskollaboration zwischen Sozialpsychiatrie und Europäischer Ethnologie. Zeitschrift für Psychiatrie, Psychologie und Psychotherapie, 64, 7–18. Priv.-Doz. Dr. Georg Schomerus Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universitätsmedizin Greifswald am HELIOS Hanseklinikum Stralsund Rostocker Chaussee 70 18437 Stralsund Deutschland georg.schomerus@uni-greifswald.de

Zeitschrift für Psychiatrie, Psychologie und Psychotherapie (2016), 64(1), 5–6


Themenschwerpunkt

Chronizität im Alltag der psychiatrischen Versorgung – eine Forschungskollaboration zwischen Sozialpsychiatrie und Europäischer Ethnologie Sebastian von Peter1, Alexandre Wullschleger1, Lieselotte Mahler1, Ingrid Munk2, Manfred Zaumseil3, Jörg Niewöhner4, Martina Klausner4, Milena Bister4, Andreas Heinz1 und Stefan Beck4 1

Psychiatrische Universitätsklinik der Charité im St. Hedwig Krankenhaus, Berlin Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik des Vivantes Klinikums Berlin-Neukölln 3 Fachbereich Psychologie, Emeritus Freie Universität Berlin 4 Institut für Europäische Ethnologie der Humboldt-Universität, Berlin 2

Zusammenfassung: Interdisziplinärität ist in den letzten Jahrzehnten zu einem wissenschaftspolitischen Desiderat geworden. Gleichzeitig besteht bisher kaum Einigkeit darüber, wie sich interdisziplinäre Forschung strukturieren oder operationalisieren lässt. Im vorliegenden Artikel wird ein kollaboratives Arbeiten zwischen Ethnologie und Psychiatrie beschrieben. Es werden vor allem methodische Fragen eines kollaborativen Vorgehens diskutiert und daraus methodologische Forderungen für die Entwicklung alltagsnaher Forschungsdesigns abgeleitet. Im engeren Sinn wird dabei der Frage nachgegangen, in welcher Weise ethnographische Methoden dazu beitragen können, die Komplexität und Vielschichtigkeit sowohl des klinisch-therapeutischen Alltags als auch der Lebenswelten von Betroffenen und deren Bezugspersonen abzubilden und möglichst genau zu erfassen. Schlüsselwörter: Psychiatrische Versorgung, Interdisziplinärität, Forschungskollaboration

Chronicity in mental health care: a collaborative research project in between social anthropology and psychiatry Abstract: Interdisciplinarity has become a desideratum within sciences and politics. At the same time, there is no consensus about how to structure or operationalize interdisciplinary activities. In this article a co-laborative interaction between ethnology and psychiatry will be described. It will be focussed on methodological queries in order to be able to deduce claims for the development of praxis-oriented research designs. It will be elaborated in which sense ethnographic methods might contribute to represent and evaluate the complexity of the everyday within the clinical routines and the daily lives of patients and their families. Keywords: mental healt care, interdisciplinarity, collaborative research

Einleitung Interdisziplinäre Forschung wurde in den letzten Jahren in Deutschland von unterschiedlichen Förderinstitutionen und der Wissenschaftspolitik verstärkt eingefordert (BMBF, 2015; Wissenschaftsrat, 2000). Sie soll zu einem festen Bestandteil von Sonderforschungsinitiativen und anderen Forschungsverbünden werden (DFG, 2013). Solche Forderungen, die im anglo-amerikanischen Forschungsraum bereits länger diskutiert und nicht zuletzt

auch im Rahmen der EU-Forschungsförderung immer relevanter werden (Barry, Born & Weszkalnys, 2008), werden häufig damit begründet, dass ein interdisziplinärer Ansatz komplexen Forschungsgegenständen gerechter würde (Nowotny, 2005). Die Kombination von in unterschiedlichen Disziplinen verankerten Methoden, Theorien oder Konzepten führe zu einem umfassenderen Verständnis eines untersuchten Phänomens und außerdem zu mehr Praxisbezug in der Forschung. Insbesondere dieser letzte Aspekt verweist auf eine wichtige wissenschafts-

Zeitschrift für Psychiatrie, Psychologie und Psychotherapie (2016), 64(1), 7–18 DOI 10.1024/1661-4747/a000255

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S. von Peter et al.: Chronizität im Alltag der psychiatrischen Versorgung

politische Motivation: Mit dem Ruf nach «Interdisziplinarität» wird oft der Kritik begegnet, dass wissenschaftliche und technische Entwicklungen ihre sozialen, ethischen oder rechtlichen Auswirkungen nicht ausreichend berücksichtigen (Gibbons et al., 1994). Geistes- und Sozialwissenschaften werden aufgefordert, endlich mit Natur- und Ingenieurwissenschaften (die bereits intensiv kooperieren) zusammenzuarbeiten, um praktische Probleme in der Anwendung von Wissen gemeinsam zu lösen. Gerade der Bereich der Psychiatrie scheint sich dabei für ein interdisziplinäres Vorgehen zu eignen. Denn dort verwendete Krankheits- und Versorgungskonzepte greifen oftmals sowohl auf medizinische, als auch philosophische, soziologische und psychologische Theorien und Konzepte zurück (Breuer, 2003; Heinz, 2014). Zudem muss psychiatrisches Handeln in besonderer Weise die sozialen Lebensund kulturellen Sinnwelten der Patienten auch jenseits des klinischen Kontextes in Rechnung stellen. Fuchs (Fuchs, 2000) schreibt deshalb der Psychiatrie eine einzigartige Stellung in der Wissenschaftslandschaft zu, die als «Grenzgängerin» zwischen medizinisch-naturwissenschaftlichen Feldern, der Literaturwissenschaft, Wissenschaftstheorie, Genderforschung, Pädagogik, Sozialwissenschaft und Ethnologie wirken könne (Gergen, 2008). Unterschlage man diese vielfältige Verwurzelung der Psychiatrie in der Sozialund Geisteswissenschaft, so reduziere man ihren methodischen und theoretischen Pluralismus (Kanning et al., 2007). Gleichzeitig besteht bisher kaum Einigkeit darüber, wie sich interdisziplinäre Forschung grundsätzlich strukturieren oder operationalisieren lässt (Fischer, Laitko & Parthey, 2010). So fehlt es an einer einheitlichen, allgemeingültigen Definition von Interdisziplinarität: Einige Autoren empfehlen nur dann von einer interdisziplinären Zusammenarbeit zu sprechen, wenn sozial- und naturwissenschaftlichen Disziplinen miteinander kooperieren. Andere wiederum setzen in ihrer Definition den Schwerpunkt auf das Zusammenarbeiten, ohne dabei die beteiligten Fächer näher zu bezeichnen. Und wieder Andere lehnen beide Auffassungen ab und begründen dies damit, dass die Trennung in wissenschaftliche Disziplinen eher eine soziale Konvention sei (Fischer et al., 2010): Es gäbe keine spezifischen Methoden oder Forschungsgegenstände, die trennscharf eine Disziplin von einer anderen unterschieden. Wenn jedoch nicht klar sei, was eine einzelne Disziplin ausmache, sei es auch nicht angemessen von Inter-Disziplinarität zu sprechen.

Die neuere Wissenschaftsforschung verspricht hier etwas Klärung. Demnach werden disziplinäre Grenzen weder durch Methoden, Gegenstände oder spezifische Theorien definiert, sondern durch gemeinsame Denk- und Praxisstile einer sozial, bzw. professionell intensiv interagierenden, durch geteilte Institutionen und Normen (Fachverbände, Ausbildungsordnungen, Rekrutierungsverfahren, institutionell-ökonomische Bedingungen etc.) gestützten Forschungscommunity. Es sind mithin institutionelle und soziale Faktoren, die die interne wie externe Stabilisierung einer Disziplin garantieren (Lepenies, 1981) Insbesondere der Begriff des «Denkstils» (Fleck, 1980) oder eines zu einem bestimmten Zeitpunkt geltenden «Erklärungsparadigmas» (Kuhn, 1962) einer Forschercommunity ist dabei hilfreich, um unterschiedliche Relevanzsetzungen, Problemkonstruktionen, Evidenzkriterien und Erklärungsansprüche verschiedener Disziplinen besser zu verstehen. Dabei ist es vor allem die unterschiedliche Problematisierung eines Phänomens, die eine einfache Zusammenarbeit verschiedener Disziplinen erschwert. In ähnlicher Weise verzichten wir im Folgenden auf den Begriff der Interdisziplinarität. Stattdessen sprechen wir von Ko-Laboration (Niewöhner, 2015; 2016), weil dieser Begriff nicht die Existenz von Disziplinen oder Fächern, sondern vielmehr eine tätige Zusammenarbeit (ko-laborare) von bestimmten Personen vor dem Hintergrund (ihrer) spezifischen institutionellen Bedingungen und Denk- und Praxisstile in den Vordergrund rückt.1 Eine nähere Beschreibung dieses gemeinsamen Tuns findet sich im dritten Teil dieses Artikels. Wir beziehen uns dabei auf konkrete Erfahrungen, die wir im Rahmen des durch die DFG geförderten Forschungsprojektes zum Thema «Chronizität im Alltag der psychiatrischen Versorgung» gesammelt haben. Dieses Projekt wurde im Jahr 2010 bei der DFG auf der Grundlage einer bereits bestehenden Zusammenarbeit zwischen Mitarbeitern des Instituts für Europäische Ethnologie an der Humboldt Universität/Berlin und Mitgliedern zunächst des Vivantes Klinikum Neukölln und später dann der Arbeitsgemeinschaft Sozialpsychiatrie und Versorgung an der Psychiatrischen Universitätsklinik der Charité im St. Hedwig- Krankenhaus/Berlin bewilligt.2 In dem vorliegenden Artikel werden vor allem methodische Fragen diskutiert. Demgegenüber sind die Ergebnisse in Bezug auf das eigentliche Forschungsthema «Chronizität» an anderer Stelle publiziert worden (Bister &

1

Häufig befürworten besonders solche Personen eine ko-laborative Zusammenarbeit, die zwar einer Fachdisziplin angehören, dort aber mit ihren Schwerpunkten nicht im Mainstream der Fachidentität angesiedelt sind. Nicht wenige haben eine zweifache berufliche Sozialisation. Es besteht die Tendenz zur Bindestrich- Fachidentität, wie bspw. Soziale Psychiatrie, Sozialpsychologie, Medizinsoziologie, Kulturpsychiatrie, Kulturpsychologie, Psychiatrische Anthropologie etc. Arbeitszusammenhänge zwischen solchen Personen und ihren Einrichtungen werden durch fachübergreifende Methoden, theoretische Konzepte und Forschungsstile begünstigt. 2 Der Gesamttitel des DFG-Projekts lautet «Die Produktion von Chronizität im Alltag psychiatrischer Versorgung und Forschung in Berlin» (GZ: BE 3191/3-1). Antragsteller: Stefan Beck; Mitantragsteller: Sebastian von Peter, Jörg Niewöhner, Manfred Zaumseil; MitarbeiterInnen: Milena Bister, Martina Klausner.

© 2016 Hogrefe

Zeitschrift für Psychiatrie, Psychologie und Psychotherapie (2016), 64(1), 7–18


S. von Peter et al.: Chronizität im Alltag der psychiatrischen Versorgung

Niewöhner, 2014; Klausner, 2014; Klausner & Niewöhner, 2012; von Peter, 2010; von Peter, 2013a; von Peter, 2013b). Wir wollen nachfolgend darlegen, auf welche Weise wir im Rahmen des Forschungsprojektes ko-laboriert haben (Teil III). Vorher soll erörtert werden, welche (wissenschaftlichen) Gründe es für diese Ko-Laboration gegeben hat (Teil II). Diese Frage wird später wieder aufgegriffen und, darauf aufbauend, ein Arbeitsprogramm für eine alltagsorientierte Form der psychiatrischen Versorgungsforschung entwickelt (Teil IV). Im Kern geht es dabei darum, in welcher Weise ethnographische Methoden dazu beitragen können, die Komplexität und Vielschichtigkeit sowohl des klinisch-therapeutischen Alltags als auch der Lebenswelten von Betroffenen und deren Bezugspersonen zu erfassen. Zum Schluss fassen wir die Ergebnisse zusammen und setzen uns damit auseinander, vor welchen Herausforderungen ko-laboratives Arbeiten steht (Teil V).

Weshalb ko-laborieren? Interdisziplinäre Zusammenarbeit wird vor allem dann gefordert, wenn praxiswirksame, neue Erkenntnisse erwartet werden.3 Dies scheint vor allem im psychiatrischen Feld unvermeidlich, da sich dort größere Teile der Forschung offensichtlich vom klinischen und außer-klinischen Alltag entfernt haben (Sikorski, Glaesmer & Bramesfeld, 2010). Gerade in diesem Bereich scheint es demnach notwendig, Ergebnisse zu liefern, die für den Alltag relevant sind.4 Unter Relevanz verstehen wir ferner, dass Wissensformen der spezifischen Logik dieser Alltage entsprechen und das Potential haben, diesen in beträchtlichen Umfang zu irritieren (Strauss & Corbin, 1996). Wie im Folgenden ausgeführt, kann eine fehlende Relevanz von Forschungsergebnissen in einer unzureichenden Passung von Forschungsdesigns und Alltag begründet sein. Sie kann also daran liegen, dass im Zuschnitt eines Projekts zu wenig berücksichtigt wurde, wie Alltag funktioniert und was in ihm bedeutsam ist. So kommen in der psychiatrischen Versorgungsforschung häufig Parameter zur Anwendung, die mit der Le3

4

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benswirklichkeit von Patienten und deren Angehörigen nur wenig gemein haben (Orlinsky, 2008). Während sowohl Prozess- als auch Strukturqualität von Versorgungsprogrammen inzwischen einigermaßen gut abgebildet werden können, ist die Frage, wie sich Ergebnisqualität am besten fassen lässt, auch weiterhin virulent. Dabei sind gängige Outcomes, wie die Dauer der Behandlung, die Wiederaufnahmerate oder die Besserung bzw. Remission einer Erkrankung oder die Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit häufig nur eingeschränkt bedeutsam für Betroffene und ihre Bezugspersonen. Insbesondere die Recovery-Bewegung zeigt, dass es vielfach um andere Parameter gehen muss, die sich gleichzeitig oft nur unzureichend für alle Personen generalisieren lassen (Amering, 2007). Die subjektive Sichtweise von Betroffenen und deren Bezugspersonen müsste also in der psychiatrischen Forschung häufiger erfasst werden. Experimentelle Forschungsdesigns bemühen sich gleichwohl eher darum, objektive Daten zu generieren (Zepf & Hartmann, 2002). Etwas polemisch gefasst geht es dabei oft darum, sich von einem so kritisierten «vor-wissenschaftlichen» Subjektivismus der psychiatrischen Tradition zu befreien, um psychische Erkrankungen endlich und für immer zu «objektivieren» (Schmiedebach, 1996). Außerdem wirft die Frage, wie sich Versorgungsprogramme mehr an den Wünschen und Perspektiven von Betroffenen und deren Bezugspersonen orientieren lassen, einige Probleme auf: Denn im klinischen Alltag werden Ziele häufig ambivalent behandelt; sie stehen nicht selten in Konkurrenz zueinander und werden außerdem oft auf eher implizite und stillschweigende Art und Weise gegeneinander abgewogen (Brodwin, 2011). Dabei spielen immer auch die spezifischen Bedingungen eines konkreten Kontexts eine Rolle. Alltägliches Handeln, in und außerhalb der Institution, richtet sich meistens gleichzeitig an unterschiedlichen (bspw. sozialen, politischen, ökonomischen) Werten, Zielen und Interessen aus. Diese kontextuellen Faktoren werden in experimentellen Designs – im Gegensatz zum Alltag, in dem sie sich wechselseitig beeinflussen und kaum voneinander zu trennen sind – in Form von Variablen voneinander isoliert und dann aufaddiert, wobei ihre Bezüge untereinander häufig verloren gehen (Cohn, Clinch, Bunn & Stronge,

Eigentlich hält sich kein theoretisches Problem an «disziplinäre», Grenzen. Außerdem geht jede Form der Forschung problemzentriert vor, was jedoch nicht automatisch dazu führt, dass immer ko-laborativ gearbeitet wird. Es stellt sich also nach wie vor die Frage, in welchen Zusammenhängen sich ein ko-laboratives Tun anbietet. In dieser Arbeit versuchen wir, diese Frage pragmatisch zu beantworten, also an Hand einer konkreten Beschreibung unseres Vorgehens. Allgemeingültige Aussagen sind vermutlich angesichts der Unterschiedlichkeit ko-laborativer Projekte ohnehin kaum möglich. Was Alltag ausmacht und wie er zu definieren ist, ist selbst Gegenstand eines umfassenden Diskurses, den zu vertiefen der Umfang dieser Arbeit nicht erlaubt. In der Ethnologie (Bausinger 1996) werden beispielsweise andere Konzepte diskutiert als in der Soziologie (Felski, 2000; Lefebvre, 1987). Und auch im psychiatrischen Feld haben sich einige Autoren mit diesem Phänomen auseinandergestezt (Fengler & Fengler, 1980; Hildenbrand, 1991). Für unsere Zwecke nutzen wir die folgende Definition von Bausinger: «Alltag ist ein Raum, in dem wir uns unreflektiert bewegen, dessen Wege wir wie im Schlaf gehen, ohne Aufwand, dessen Bedeutungen und Konstellationen uns unmittelbar zugänglich sind, wo man tut, was man eben tut, wo das Handeln den Charakter des Natürlichen hat, wo wir die Vorstellungen vom Sinn unseres Tuns selbstverständlich mit anderen teilen.» (Bausinger, 1996, S. 33).

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2013). Experimentelle Designs streben also explizit danach, den Kontext einer untersuchten Größe zu kontrollieren, mehr noch, von diesem sogar zu abstrahieren. Im Sinne «experimenteller Laborbedingungen» wird ein artifizielles Milieu absichtsvoll hergestellt, das es erlaubt, sich möglichst uneingeschränkt auf den Gegenstand der Untersuchung zu konzentrieren – das ist die Stärke dieser Designs (in der Erzeugung kausaler Evidenz), aber gleichzeitig auch ihre Begrenzung (in der Herstellung alltagsrelevanter Ergebnisse). Schließlich scheint auch die Theoriearmut vieler psychiatrischer Forschungsprojekte zu einer verminderten Praxisrelevanz der erzeugten Ergebnisse zu führen (Priebe & Finzen, 2002). In Bezug auf die Sozialpsychiatrie wird bspw. ein Defizit an Theorien und Konzepten beschrieben, das durch eine «Abkoppelung» dieses Gebiets von den Sozialwissenschaften entstanden sei (Finzen, 2009). In der Tat gibt es in der Sozialpsychiatrie nur wenige theoretische Überlegungen darüber, wie bspw. (lebensweltlicher oder Versorgungs-)Alltag funktioniert. Überhaupt ist Forschung mit umfassendem Theoriebezug dort eher die Ausnahme; stattdessen beschäftigt sich die Mehrzahl der sozialpsychiatrischen Forschungsprojekte mit eher zahlenorientierten oder epidemiologischen Fragestellungen, die naturgemäß weniger theoretisch operieren (Richter, 2003).5 Theorien und Konzepte sind jedoch wichtig, um zu verstehen, wie Versorgung alltagsnah zu bewältigen ist. Sie müssen, komplementär zu experimentellen und anderen Designs, verstärkt einbezogen werden, damit Forschung für den Alltag relevante Ergebnisse produziert.

Wie ko-laborieren? Bevor wir im vierten Teil der Arbeit aus diesen Umständen eine Vision unserer Ko-Laboration ableiten, soll in diesem Abschnitt darauf eingegangen werden, wie bisher ko-laboriert wurde. Wie eingangs bereits erwähnt, soll der Begriff der Ko-Laboration deutlich machen, dass unsere Zusammenarbeit von bestimmten Personen und vor dem Hintergrund (deren) spezifischer institutioneller Bedingungen umgesetzt und ausgestaltet wurde. Im Folgenden soll KoLaboration also nicht abstrakt erörtert werden, sondern 5

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wir wollen unser Vorgehen in Form eines konkreten, zeitlich und räumlich spezifischen Forschungsprozesses darstellen. Dabei beziehen wir uns auf die Erfahrungen, die wir in den letzten Jahren im Rahmen des bereits oben genannten, von der DFG geförderten, ko-laborativen Forschungsprojektes gemacht haben. Im Vorfeld der gemeinsamen Antragstellung suchte einer der Autoren (SvP) Kontakt zum Institut für Europäische Ethnologie der Humboldt-Universität in Berlin. Dieser Autor hatte, als Arzt ein Masterprogramm in Social Anthropology (Ethnologie) in England durchlaufen. Der Kontakt bot sich auch deshalb an, weil das europäisch-ethnologische Institut vorher schon in mehreren Projekten mit der Charité kooperiert hatte (Kontopodis, Niewöhner & Beck, 2011; Niewöhner, 2008; Niewöhner & Lipphardt, 2006) Zudem verfügt das Institut über einen ausgewiesenen Forschungsschwerpunkt zur Anthropologie der Medizin, der, aus der Perspektive der Wissenschafts- und Technikforschung, medizinische Praktiken in klinischen Kontexten sowie in ihren Alltagswirkungen untersucht. Von der psychiatrischen Seite wurde der Fokus auf die Klassifikation «chronisch» vorgeschlagen, da diese nicht nur das Selbst- und Krankheitsverständnis vieler psychisch Erkrankter beeinflusst, sondern ihnen gleichzeitig Zugang zu medizinischen, finanziellen und sozialtherapeutischen Ressourcen verschafft (Simon, 1993). Im Verlauf der Treffen, die vor allem einer gemeinsamen Problemdefinition dienten, wurde der Zuschnitt des Projektes bestimmt: Es sollte untersucht werden, in welcher Weise sich die klinische Klassifikation «chronisch» sowohl auf den institutionellen Versorgungsalltag als auch auf die Lebenswelten von Betroffenen und deren Bezugspersonen auswirkt. So wurde aus der ursprünglich in der Psychiatrie verankerten Problemstellung ein ko-laboratives Anliegen, das aus einer qualitativ-ethnographischen Perspektive methodisch bearbeitet werden sollte. Nach der Abstimmung des Gegenstands der Untersuchung wurden – inzwischen in einer kleinen Arbeitsgruppe, bestehend aus SvP, MZ, MK, JN und SB – gemeinsam Hypothesen erarbeitet und ein gemeinsamer Förderantrag formuliert. Während dieses Prozesses mussten Konzepte, Theorien oder bestimmte institutionell verankerte Denk- und Handlungsweisen fortlaufend von einer in die andere Disziplin übersetzt werden. Wir standen also vor der Herausforderung, eine gemeinsame Sprache zu entwickeln.6

Die Frage, ob die Sozialpsychiatrie überhaupt eine eigene wissenschaftliche Einheit ist, ist schon länger in der Diskussion (Dietrich et al., 2006). Viele Sozialpsychiater zu Zeiten der Psychiatrieenquete waren eher wissenschaftsfeindlich aufgestellt (Richter, 2003). Ebenso scheinen die wissenschaftstheoretischen Grundlagen der Sozialpsychiatrie weitgehend ungeklärt zu sein (Warsitz, 2001). Außerdem sind in den letzten Jahren die Lehrstühle einiger Forscher, die sich als Sozialpsychiater bezeichneten, geschlossen oder stillgelegt worden (Priebe & Finzen, 2002). Ein eigenes Forschungsparadigma der Sozialpsychiatrie hat sich dadurch bisher nicht herausgebildet. Auch für viele Betroffene, Angehörige und, in den Untersuchungsfeldern, professionell Tätige waren viele der Forschungsergebnisse anregend. An dieser Stelle können wir darauf nicht im Detail eingehen. Wichtig ist jedoch anzumerken, dass wir uns während der Laufzeit des Projektes um Rückkoppelung der Ergebnisse mit den von uns untersuchten Feldern an die beteiligten Personengruppen bemüht haben. Zum Einen konnten auf diese Weise die gewonnenen Hypothesen fortlaufend aktualisiert werden, zum Anderen wollten wir Ergebnisse und Denkprozesse der psychiatrischen Praxis direkt zur Verfügung stellen.

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Besser als unter dem Begriff des Übersetzens, der ein eher uni-direktionales und irgendwann auch abgeschlossenes Vorgehen impliziert, ist unsere Ko-Laboration jedoch eher als ein fortwährender Prozess des Aushandelns zu begreifen, also als ein kontinuierliches und dialogisches Unterfangen. Um einen solchen Prozess zu beschreiben, nutzt der amerikanische Ethnologe George Marcus den Begriff trade language (Marcus, 2011) und bezieht sich dabei auf ein kollaboratives Projekt an der World Trade Organisation.7 Er zeigt, dass bei der Entwicklung einer Verhandlungs-Sprache nicht nur Terminologien oder theoretische Konzepte untereinander abgestimmt, sondern häufig auch althergebrachte, institutionelle Gepflogenheiten oder ursprünglich inkommensurable Standards miteinander ausgehandelt werden müssen. Bezogen auf das Projekt führte das bspw. dazu, dass in der Abfassung des Antrags sowohl auf psychiatrische als auch ethnologische, disziplinäre Anforderungen geachtet werden musste, was nur durch eine gemeinsame, meist umschichtige Art der Formulierung gelang. Auch in der Durchführung lebte das Projekt von der gemeinsamen Arbeit. Nach Bewilligung des Antrags wurde ein interdisziplinär besetztes Kolloquium eingerichtet, das sich in regelmäßigen Abständen über drei Jahre hinweg damit beschäftigte, die gewonnenen Erkenntnisse sowohl für beide Fächer theoretisch anschlussfähig als auch für den psychiatrischen Versorgungsalltag fruchtbar werden zu lassen. Außerdem wurde für zwei Jahrgänge ethnologischer Master-Studierender ein Schwerpunkt auf psychiatrischer Ethnologie eingerichtet, der eine Vielzahl von formellen oder informellen Treffen zwischen der Europäischen Ethnologie und der psychiatrischen Praxis mit sich brachte. 2011 lag dabei der Fokus auf der Untersuchung von institutionellen und komplementären, psychiatrischen Einrichtungen. 2013 untersuchten Studierende den Alltag innovativer psychiatrischer Behandlungsmodelle. Gemeinsam mit diesen Studierenden sind zu diesen The-

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men verschiedene Publikationen entstanden (Bister & Niewöhner, 2014; Klausner & Niewöhner, 2012). Alle diese Vorhaben führten dazu, dass sich die Handlungs- und Denkweisen der Mitglieder unserer kollaborativen Arbeitsgruppe in vielen Teilen angenähert haben.8 Wir wissen inzwischen um die wesentlichen strukturellen Beschränkungen der jeweils anderen Institutionen, kennen Teile der Forschungsinteressen und Vorstellungen einiger ihrer MitarbeiterInnen und haben ein Gefühl dafür entwickelt, in welcher Sprache wir miteinander verhandeln müssen. Die Art und Weise, Entscheidungen zu treffen hat sich etwas angenähert, die Absprachen in Bezug auf ein konkretes, operationales Vorgehen fallen inzwischen weniger zeitaufwendig aus und die Logik bestimmter Argumentationsformen sind geläufiger geworden. Kurzum, wir haben eine lokale Form der Ko-Laboration entwickelt, innerhalb der wir versuchen auf meistens sehr pragmatische Art und Weise, also an Hand von konkreten Probleme und Themen, mal unterschiedliche, mal ähnliche Haltungen oder Perspektiven untereinander in den Austausch zu bringen. In diesem Zusammenhang und passend zum Begriff der trade language hat der Wissenschaftstheoretiker und Physiker Peter Galison das Konzept der trading zone geprägt (Galison, 1997). Innerhalb einer solchen, meist lokal organisierten Verhandlungs-Zone nehmen die ursprünglich disziplinär strukturierten Akteure Bezug zueinander auf, wodurch etwas Neues, etwas Drittes entsteht. Die Sichtund Handlungsweisen der beteiligten Akteure ändern sich also, was wiederum, rückkoppelnd, Auswirkungen auf die Ursprungsdisziplinen haben kann. Die beschrieben KoLaboration zwischen Psychiatrie und Ethnologie beförderte also Reflexivität. Sie ermöglichte es, die Denkstile der jeweils anderen Seite nachzuvollziehen. Daraus ergaben sich nicht immer gemeinsame Positionen. Ko-laboratives (im Gegensatz zu kollaborativen Arbeiten) zielt also weni-

Der Begriff «epistemic partner» soll, nach Marcus (2011), vor allem dann genutzt werden, wenn ausreichend Reflexivität und Konzeptarbeit im untersuchten Feld vorhanden ist, d. h., wenn die beforschten Subjekte ein hohes Interesse an selbst-analytischer Arbeit haben und eine gewisse konzeptuelle Neugier. Diese Auffassung wendet sich von einer klassischen Sichtweise von Beforschten als «Informanten» ab. Andererseits nutzt sie offenbar die Idee des modernen und selbst-reflexiven Subjekts, um zur Kollaboration taugliche und nicht taugliche Personen voneinander zu trennen. Es stellt sich also die Frage, ob das Kriterium der Reflexivität nicht hinterfragt werden muss. Nach dem Wissenschaftstheoretiker Callon (1986) sind Aushandlungsprozesse immer machtvoll und erfordern ganz spezifische Techniken: Wissen wird mobilisiert, Positionen und Interessen werden ausgehandelt und Überzeugungsarbeit wird geleistet. Das Thema Macht wurde auch in unserer Kollaboration immer wieder virulent. Die Frage, ob eine der beiden Disziplinen die andere dominiert, wurde bspw. bei der Erschließung der Felder für die teilnehmende Beobachtung deutlich. In diesem Zusammenhang wurden für die psychiatrische MitarbeiterInnen eher ambivalente Bezeichnungen verwendet: In der Form von «Gatekeepern» wurden sie einerseits als machtvolle Regulatoren des Feldzugangs tituliert. An anderer Stelle wurden sie als «epistemic partner» bezeichnet und damit als eher gleichwertige und kooperative Partner aufgefasst. Und auch die Rolle der Ethnologen wurde teilweise als machtvoll erlebt: So wurde während der Feldforschung deutlich, dass das psychiatrische Feld Probleme mit dem Beobachtet-werden hatte. Weniger für PatientInnen als für das Personal war eine beobachtende Begleitung gewöhnungsbedürftig, und zwar sowohl aus biographisch-persönlichen als auch institutionell-kulturellen Gründen (bspw. auf Grund der in der Psychiatrie traditionell verwurzelten Gleichsetzung von Beobachtung und Bewertung und auf Grund der ethnologischen Tradition, das psychiatrische Feld zu dekonstruieren (s. u.)). Dieses so verstandene Machtgefälle wurde glücklicherweise aktiv benannt, so dass transparente Absprachen getroffen und die Ergebnisse der Feldforschung konsequent rückgemeldet werden konnten. Denn unserer Kollaboration geht es, wie weiter unten beschrieben, vor allem um die Herstellung einer gleichwertigen Forschungsbeziehung. Eine einseitig wissende und die andere Disziplin dominierende Position soll demnach vermieden werden, zu Gunsten eines gleichrangigen Austauschs, in dem beide Disziplinen Erkenntnisse gewinnen können.

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ger auf ein gemeinsames Ergebnis, als vielmehr darauf, bei allen Partnern einen Reflexionsprozess in Gang zu setzen. Dieser mag, wie in diesem Aufsatz dargestellt, zu einer gemeinsamen Position führen. Er kann aber auch Methoden- und Theoriearbeit in den jeweiligen Disziplinen auslösen, die nicht oder nicht vollständig von den Partnern geteilt wird. Ko-laboration stellt also auf gemeinsame Wissensarbeit ab, dabei aber nicht immer auf ein geteiltes Ziel. In diesem Sinne hat sich, im Verlauf unserer Ko-Laboration und als Rückwirkung der ethnologischen Theorien und Methoden, eine Forschungsgruppe an der Charite gegründet, die darauf zielt unter Einbezug verschiedener Methoden und möglichst praxisnah zu untersuchen, wie Versorgungsalltag funktioniert und auf welche Weise er sich verbessern lässt. Welches Arbeitsprogramm dabei verfolgt wird, und welche Rolle in diesem Zusammenhang ein ethnographisch-qualitatives Vorgehen spielt, soll im nun folgenden Teil dargestellt werden.

Wofür ko-laborieren? Im zweiten Teil dieses Artikels wurden verschiedene, methodische wie konzeptionelle Gründe genannt, die dazu beitragen, dass große Teile der psychiatrischen Forschung nur bedingt alltags- oder praxisnahe Ergebnisse produzieren. Aus diesen Hypothesen sowie aus den Erfahrungen, die wir im Rahmen der Zusammenarbeit sowie innerhalb der Arbeitsgemeinschaft psychiatrische Versorgungsforschung in der Charite bisher gemacht haben, hergeleitet soll im Folgenden ein methodologisches Arbeitsprogramm formuliert werden. Im Kern soll es dabei darum gehen, in welcher Weise ethnographische Methoden dazu beitragen können, die Komplexität und Vielschichtigkeit sowohl des klinisch-therapeutischen Alltags als auch der Lebenswelten von Betroffenen und deren Bezugspersonen möglichst genau zu erfassen. In diesem Abschnitt soll die Anschlussfähigkeit dieser Methoden im Zusammenhang mit einer alltags-orientierten, psychiatrischen Versorgungsforschung aufgezeigt werden. Teil V des Aufsatzes wird, darauf aufbauend, auf die Durchmischung, bzw. Integration unterschiedlicher methodischer Ansätze eingehen. Im Kontext der psychiatrischen Versorgungsforschung sind als Erstes psychometrische Skalen von Bedeutung.9 In den letzten Jahren wurden einige Skalen entwickelt, die versuchen, bestimmte sozialwissenschaftliche Konzepte 9

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und Theorien zu operationalisieren. Um einige Beispiele zu nennen, sind das Fragebögen, die den Grad an Empowerment von Betroffenen messen (EPAS) oder ihr Ausmaß an Selbstwirksamkeit (SWE); andere Skalen setzen sich mit dem Phänomen der Selbst-Stigmatisierung auseinander (ISMI), oder bemühen sich darum, Lebensqualität zu quantifizieren (WHOQOL). Für viele Betroffene können diese oder ähnliche Outcomes mit ihrer Lebenswirklichkeit bei Weitem mehr zu tun haben, als bspw. die Bewertung von Symptomschwere oder anderer Krankheitsmerkmale (Amering, Gössler, Katschnig & Sibitz, 2007). Dabei ist zu beachten, dass sich die Vorlieben für bestimmte Outcomes von Person zu Person unterscheiden können. Außerdem sind die Effekte von komplexen Interventionen oft vielfältig und miteinander verschränkt (Tarquinio, Kivits, Minary, Coste & Alla, 2015). Aus diesen Gründen sollte eine Vielzahl von sich ergänzenden Skalen zur Anwendung kommen. Außerdem können hier ethnographisch-qualitative Zugänge nutzvoll sein. Denn erstens sind sie dazu geeignet, inter-personelle Unterschiede gut zu erfassen oder zu kontextualisieren. Und zweitens können sie dazu verhelfen, Indikatoren (bspw. Stör- oder Wirkgrößen) in Bezug auf ein Untersuchungsfeld oder eine bestimmte Forschungsfrage zu identifizieren – bspw. für die Entwicklung von alltagsnahen Forschungsinstrumenten oder geeigneten Parametern, um die Ergebnisqualität eines bestimmten Behandlungsprogramms zu ermitteln. Neben dem Einsatz von psychometrischen Skalen sollten auch interpretative Verfahren eine Rolle spielen, um die Komplexität und Vielschichtigkeit von (Versorgungs- und lebensweltlichem) Alltag angemessen abbilden zu können. Auch in diesem Zusammenhang ist die ethnologische Expertise hilfreich, insbesondere angesichts der Tatsache, dass sich dieses Fach über Jahrzehnte darum bemüht hat, einen native point of view in Augenschein zu nehmen (Malinowski, 1920). Eine Diskussion darüber, ob dies überhaupt möglich ist, würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen (Clifford & Marcus, 1986). Festzuhalten ist jedoch, dass ein alltags-orientierter, psychiatrischer Forschungsansatz die subjektiven Deutungsmuster und (so erlebten) Handlungsmöglichkeiten der jeweils beforschten Personen in den Fokus ihrer Untersuchung rücken sollte. Deren Sichtweisen, Erfahrungen, Welt- und Selbstsicht sollten einbezogen werden, wenn wir die Vielschichtigkeit und Komplexität von Alltag verstehen wollen.10 Ein trialogischer Zuschnitt von Fokusgruppen oder Interviewformaten ist

Da es sich bei dem beschriebenen ko-laborativen Vorhaben vor allem um ein offenes, exploratives Vorgehen handelte, kamen in diesem Projekt keine psychometrischen Skalen zur Anwendung. Eine solche Subjektorientierung wird inzwischen nicht nur für die Ausrichtung von evaluativen Forschungsdesigns gefordert, sondern Betroffene sollen bereits in der Entwicklung und Ausgestaltung von sowohl Behandlungs- als auch Forschungsprogrammen einbezogen werden. Während sich die Ex-In Bewegung inzwischen in geringem Umgang etablieren konnte, ist partizipative Forschung in der deutschsprachigen Psychiatrie immer noch eine große Seltenheit.

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dabei angeraten, weil es häufig große Unterschiede in den subjektiven Konstruktionen von Alltag zwischen Betroffenen, deren Angehörigen und professionell Tätigen gibt. Außerdem ist uns im Rahmen unseres ko-laborativen Projektes aufgefallen, dass es untersuchten Personen manchmal schwer fällt, sich zu positionieren oder explizit zu äußern. Die Ethnologin Jeannette Pols weist in diesem Kontext darauf hin, dass die Durchführung interpretativer Verfahren bei den Forschungssubjekten einiges an Selbstreflexivität und Autonomie voraussetzt und dadurch im wissenschaftlichen Alltag nicht selten an ihre Grenzen stößt (Pols, 2005). Aus diesem Grund sollten, neben interpretativen, auch beobachtende Verfahren in einer alltags-orientierten Versorgungsforschung eingesetzt werden. Bereits im zweiten Teil dieses Aufsatzes wurde darauf hingewiesen, dass alltägliches Handeln sich stark am jeweiligen (institutionellen oder lebensweltlichen) Kontext ausrichtet. Es wurde festgestellt, dass experimentelle Designs großteils danach streben, diesen Kontext systematisch zu neutralisieren. Im Gegensatz dazu versucht das Instrumentarium der ethnographischen Feldforschung, und darunter besonders die Methode der Teilnehmenden Beobachtung, den jeweiligen Kontext des untersuchten Gegenstandes gezielt einzubeziehen. Dabei können sowohl mikro- (i. S. von eine konkrete Situation bestimmenden, sozio-materiellen Kontingenzen), als auch makro-kontextuelle Faktoren (wie sozioökonomische, institutionelle oder politische Voraussetzungen für ein bestimmtes Handeln) in unterschiedlicher Weise berücksichtigt werden. So gelingt es, die lokalen, hoch-impliziten und oft stillschweigenden Routinen des klinischen und außer-klinischen Alltags detailgenau zu analysieren (Brodwin, 2010). In Bezug auf den klinischtherapeutischen Alltag kann bspw. systematisch der Frage nachgegangen werden, welche Art der Intervention für welche Person und unter welchen Umständen hilfreich war. Insbesondere in Bezug auf innovative Versorgungsmodelle (bspw. Modellprojekte nach § 64b) oder Wissensformen (bspw. Expertise von Ex-Inlern) kann dieser Ansatz hilfreich sein. Denn neuartige Behandlungsformen lassen sich häufig (noch) unzureichend durch Standards oder festgelegte Regeln erfassen, so dass vorstrukturierte Befragungsinstrumente in diesem Zusammenhang auch nur bedingt brauchbar sind. Schlussendlich haben wir oben stehend bereits darauf hingewiesen, dass auch eine Theoriearbeit dazu beitragen

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kann, Forschungsergebnisse sowohl theoretisch als auch praktisch anschlussfähig werden zu lassen. Einerseits können dabei theoretische Erkenntnisse aus der Praxis abgeleitet, also Versorgungsmodelle zunächst evaluiert und dann mit bestehenden Theorien und Konzepten verknüpft werden. Andererseits können innovative Theorien (Recovery, Empowerment etc.) dazu dienen, den Versorgungsalltag zu reflektieren oder umzugestalten. In beiden Richtungen ist, unseren Erfahrungen nach, der ethnologische Wissensbestand äußerst hilfreich, um die Diversität sozialer Lagen und kultureller Hintergründe in ausreichender Weise in Rechnung zu stellen, vor deren Hintergrund therapeutische Interventionen schließlich wirksam werden sollten. (Amelang, 2014; Beck, 2004; Böhme, 1981; Klausner, 2014; Luckmann, 1989).

Diskussion und Ausblick Im Folgenden soll nun geklärt werden, wie ein ethnographisches Vorgehen mit anderen Methoden der Versorgungsforschung kombiniert, oder besser integriert werden kann. Es gibt einige Versuche, experimentelle Designs auf eine Weise auszuweiten, dass sie subjektorientierter, kontext-sensitiver und theoretisch gesättigter vorgehen. All diesen Versuchen ist gemein, dass sie eine Durchmischung von (qualitativen und quantitativen) Methoden anempfehlen (Craig, 2001). Synergien von experimentellen und beobachtenden Arbeitsweisen sollen genutzt werden, anstatt ihre Effekte als gegensätzlich zu betrachten und damit zu vergeuden (DFG, 2013; Cohn et al., 2013). Ohne auf diese Versuche in unserer Arbeit einzeln eingehen zu können,11 ist festzuhalten, dass eine alltags-orientierte Versorgungsforschung ein Zusammenspiel unterschiedlicher methodischer Zugänge voraussetzt. Neben dem Einsatz von Datensätzen, die zur Erhebung der Prozess- und Strukturqualität einer Intervention oder durchführenden Einrichtung üblicherweise verwendet werden, sollten dabei, wie oben ausgeführt, psychometrische Messinstrumente und interpretative Verfahren – beide zur Erhebung des subjektiven Erlebens der beforschten Subjekte – sowie beobachtende Methoden genutzt werden. In diesem Zusammenhang können ethnographische Methoden dazu dienen, bspw. im Vorfeld zu oder im Rahmen einer experimentellen Studie, Hypothesen über aktive Wirkfaktoren einer Intervention

Eine genaue Darstellung dieser Versuche bräuchte eine eigene (Übersichts-)Arbeit. Einen guten Überblick bietet der Artikel von Tarquinio et al. (2015). Diese beschreiben, wie in einigen Studien das klassische Paradigma experimenteller Designs in unterschiedlicher Weise ausgeweitet wurde: Multi-Arm-Studien mit unterschiedlichen Kombinationen von Variablen und Wirkfaktoren sollen dazu führen, dass die Auswirkung eines Kontexts auf die untersuchte Größe ermittelt werden kann. Wechselwirkungen zwischen einerseits Variablen und andererseits Wirkfaktoren können über die Definition sekundärer Outcomes oder, statistisch, in Form einer Regressionsanalyse ermittelt werden. Außerdem wird anempfohlen, theoretisch-konzeptionell zu arbeiten, um die «aktiven Wirkfaktoren» einer Intervention identifizieren zu können.

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und deren Interaktionen untereinander sowie im Verhältnis zu einem spezifischen Kontext zu generieren. Ein solcher Ansatz beantwortet die Komplexität und Vielschichtigkeit des Alltags durch ein komplexes methodisches Vorgehen. Das führt dann auch dazu, dass einige Herausforderungen noch zu bewältigen sind. Zum Ersten fehlt, wie eingangs bereits angedeutet, eine ausreichend konkrete Operationalisierung davon, wie unterschiedliche und komplexe, sich teilweise ergänzende als auch weniger zusammenhängende Datensätze zu integrieren sind (Tarquinio et al., 2015). Daten können unterschiedliche Formate haben, die sich untereinander manchmal nur schwer in Verbindung bringen lassen. Jenseits dessen erfordert die Erhebung und Auswertung qualitativer Daten Zeit, Expertise und einen relativ hohen personellen Aufwand, so dass viele Projekte in der Versorgungsforschung, oft auch auf Grund der damit verbundenen Kosten, eher darauf verzichten. Die Anwendung ethnographischer Methoden ist sogar noch aufwendiger. Sie setzt ein akribisches und auf nur wenige Felder begrenztes Vorgehen voraus, viel Vor- und Nachbereitungszeit und Mühe in der Aufbereitung der gewonnenen Beobachtungen (Emerson, 2001). Hinzu kommt die disziplinäre Engführung des deutschsprachigen Wissens- und Förderungssystems. Interdisziplinäre, oder besser ko-laborative Forschung, hat an Hochschulen immer noch einen schweren Stand (Fischer et al., 2010). Beispielsweise setzt der Aufbau einer wissenschaftlichen Karriere – sowohl in der Psychiatrie als auch in den Sozialwissenschaften – vorwiegend eine fachspezifische Profilierung voraus, so dass es nicht leicht fällt, eine interdisziplinär ausgerichtete Expertise systematisch und vor allem auch nachhaltig auf- oder auszubauen. Außerdem werden Förderanträge, die sich zwischen Fächern oder Disziplinen ansiedeln, häufiger abgelehnt oder kritisiert (Fischer et al., 2010). Die Platzierung von diesen Anträgen erfordert zudem die aufwendige Entwicklung einer Terminologie, die, im Sinne der oben genannten trade language, in beiden Disziplinen anerkannt und anschlussfähig ist. Und nicht zuletzt verschränken sich in ko-laborativen Forschungsprojekten methodische und inhaltliche Anliegen in einer Weise, die eine positive Rezeption deutlich erschweren kann. Ferner erzeugen qualitative, und insbesondere ethnographische Methoden eine vorwiegend beschreibende Form von Wissen. Einerseits sind sie dadurch häufig «näher dran», erzeugen also im Vergleich zu statistisch-metrischen Verfahren oft ein genaueres Bild der Wirklichkeit. Andererseits sind sie deshalb aber auch gefährdet, scheinbar «triviale» Einsichten zu generieren, also für das psychiatrische Fachpublikum zu wenig neue Erkenntnisse zu liefern. In jedem Fall handelt es sich dabei jedoch um ein überaus textlastiges Datenmaterial, das «dichten Beschreibungen» (Geertz, 1973) Vorrang einräumt. Publikationsformate und andere Anforderungen © 2016 Hogrefe

innerhalb des psychiatrischen Diskurses sind demgegenüber weitgehend auf zahlenbasierte Formen der Evidenzproduktion ausgerichtet (Finzen, 2009). So müssen nicht selten Unmengen an Feldnotizen oder Transkriptionen nicht nur untereinander ins Verhältnis gesetzt, sondern auch noch Wege gefunden werden, diese auf eine Weise aufzubereiten, dass sie auch für das psychiatrische Feld rezipierbar werden. Darüber hinaus stehen ethnologische Konzepte und Theorien in der Tradition einer eher kritisch ausgerichteten Sozialforschung. Sie sind also besonders dann von Nutzen, wenn es darum geht, einen Sachverhalt zu hinterfragen oder zu überdenken. Sicherlich ist eine kritische, selbstreflexive Haltung wichtig, damit das psychiatrische Feld lebendig und dynamisch bleibt. Außerdem kommt diese Haltung auch dem Impetus der Sozialpsychiatrie entgegen, der sich immer schon eher «aufklärerisch» positioniert hat (Rössler, 2001). Jedoch hatte das kritische Potential der Ethnologie im Verlauf der Psychiatriegeschichte auch eine abschreckende und teilweise auch destruktive Wirkung. Asmus Finzen (2009) spricht in diesem Zusammenhang vom «Goffman-Rosenhan-Scheff-Trauma». Er beschreibt die zersetzende Wirkung dieser drei Sozialwissenschaftler auf die Psychiatrie der 70er Jahre. Sie hätten zwar erkenntnisgeleitet geforscht, seien aber für die Entwicklung antipsychiatrischer Diskurse missbraucht worden (Finzen, 2009). Infolgedessen würde ethnologische Forschung im psychiatrischen Feld immer noch als destruktiv und oft auch persönlich verletzend empfunden. Es stellt sich also die Frage, auf welche Weise das ethnologische Wissen zwar kritisch bleiben, aber dennoch konstruktiv auf das beobachtete Feld einwirken kann. Eng verbunden damit ist die Frage der Macht, inwieweit es im Rahmen einer Ko-Laboration gelingen kann, eine die andere Disziplin dominierende Position zu vermeiden, also eine gleichwertige Forschungsbeziehung herauszubilden (siehe dazu auch Fußnote 8). Ebenfalls mit dieser Problematik verknüpft sind einige wissenschaftstheoretische Herausforderungen: Alltagsnahe Forschung will, in ambivalenter Position zwischen Erkenntnis- und Handlungsorientierung, praktisches Tun leiten und lenken. In der Psychiatrie geltende Gütekriterien wie Generalisierbarkeit, repräsentative Wahrhaftigkeit oder wissenschaftliche Abstinenz (Fossey, 2002) sind also zur Bewertung von alltagsnahen Forschungsansätzen häufig nur bedingt brauchbar. Stattdessen ist die Qualität dieser Arbeiten nach der Gegenstandsangemessenheit der verwendeten Methoden zu beurteilen (Flick, 1996). Sie kann sich ferner am Kriterium der Plausibilität messen lassen, also daran, ob es gelungen ist, Daten glaubwürdig und nachvollziehbar darzustellen: Wurden sie bspw. ausreichend transparent durch illustrative Beobachtungssequenzen oder Zitate

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Kasten 1. Das Verhältnis von Sozialwissenschaften und -psychiatrie in den letzten 100 Jahren

Bis in die 40er Jahre arbeiteten die Sozialwissenschaften und Psychiatrie mit annähernd den gleichen Instrumenten: Beobachtung, Befragung, Beschreibung und Biographiearbeit (Flick et al., 2005). In diesen Jahren erschien es befremdlich, soziale Phänomene durch Experimente zu erforschen. Wilhelm Wundt bspw. sprach sich klar gegen die Angemessenheit der experimentellen Methode für sein Feld aus, da – modern formuliert – hierdurch der Komplexität sozialer und kultureller Einflussfaktoren nicht ausreichend Rechnung getragen würde. Sein Entwurf einer Völkerpsychologie berücksichtigte kulturelle, soziale und physiologische Faktoren und war dadurch nicht nur für die Ethnologie, sondern auch für die frühe Sozial- und Kulturpsychologie sehr einflussreich. Letztere, wiederum, nahmen in ihrer Formationszeit für sich selbstverständlich in Anspruch, zwischen Natur- und Geisteswissenschaften zu vermitteln (Goertzen & Teo, 2006; Jüttemann, 2007; Wundt, 1913). In der Blüte des Behaviorismus wurden in der Psychiatrie experimentelle Vorgehensweisen bevorzugt (Konradt, 2000), so dass es ab den 50er Jahren zu einer zunehmenden Distanz von psychiatrischen und sozialwissenschaftlichen Arbeitsweisen kam (Richter, 2003). Ausnahme sind die Arbeiten von Erving Goffman, der vorwiegend psychiatrische Institutionen teilnehmend beobachte (Goffman, 1961). Erst in den 70ern wurde ein ethnologisches Vorgehen in der (sozial-)psychiatrischen Forschung wieder populär – zum Einen in Verbindung mit der kognitiven Wende und zum Anderen auf Grund ihrer Passung zu den Reformbestrebungen in der psychiatrischen Versorgungslandschaft (Allolio-Näcke, 2005; Richter, 2003). Sozialwissenschaftliche Ansätze und der damalige psychiatrische Diskurs wurden zu «natürlichen» Verbündeten als Folge ihrer systemkritischen Haltung, durch ihren Fokus auf Randgruppen und Minderheiten, und auf Grund ihres gemeinsamen Kampfes um soziale Gerechtigkeit (Bargfrede et al., 2002). Beide bedienten sich eines kritischen Wissenschaftsideals, zielten also eher auf eine Umwälzung, denn Sicherung des psychiatrischen Wissensbestandes, und nutzten hierbei ein kreatives und progressives Arsenal an Fragestellungen und Methoden (Bergold, 2000; Foucault, 1988). Es folgen etwa drei Dekaden, während denen sowohl sozialpsychiatrische als auch sozialwissenschaftliche Forschung, infolge des Booms von gen- und molekulartechnologischen, hirnphysiologischen und anderen biowissenschaftlichen Ansätzen, aus der Mode gerieten. Lediglich ein Bruchteil von Forschungsgeldern floss in sozialwissenschaftliche Projekte (Weinmann, 2008). Letztere wurden oft «milde belächelt», teils sogar offen diskriminiert oder abgewertet (Breuer & Mruck, 2000). Sozialwissenschaftlich interessierte Forscher organisierten sich in «lokalen Szenen», die wenig Kontakt untereinander hatten und es fehlte an Publikationsorganen die ethnologisch oder sozialwissenschaftlich orientierte Arbeiten veröffentlichten (Mey, 2007). Seit Kurzem scheinen sozialwissenschaftliche und -psychiatrische Forschungsanliegen jedoch eine Renaissance zu erleben (Mey, 2007). Das könnte daran liegen, dass sich die Hoffnungen diverser biowissenschaftlich ausgerichteter Forschungsansätze nur wenig erfüllt haben: Alle Bemühungen im Feld der Psychopharmakologie haben nur bedingt zu einer verminderten Prävalenz psychischer Erkrankungen oder insgesamt verbesserten Lebensqualität der Erkrankten geführt (Richter, 2003). Darüber hinaus haben auch die bildgebenden Forschungsansätze bisher nur wenig in Bezug auf die konkreten Lebenssituationen psychisch Kranker verändert (Holzhey, 2003). Epigenetische Ansätze betonen die wechselseitige Beeinflussung von Genen und Umwelt, nachdem die vielen Versuche, psychische Störungen strukturell zu determinieren, eher erfolglos geblieben sind (van Os, Kenis & Rutten, 2010). Und auch im wegweisenden Forschungsfeld der Neuroplastizität wird eine kontinuierliche, lebenslange Veränderung des Gehirns in Bezug zum sozialen Milieu propagiert (Hüter, 2006). Das «Soziale» und damit auch sozialpsychiatrische und -wissenschaftliche Fragestellungen werden in der psychiatrischen Forschungslandschaft also voraussichtlich wieder eine stärkere Bedeutung erlangen (Priebe, Burns & Craig, 2013)

belegt? Und sind sie vor dem Hintergrund existierender Literatur oder praktischer Erfahrungen plausibel? Zu bewerten wäre also eher die innere Kohärenz und Überzeugungskraft von Daten, anstatt die methodische Akribie ihres Erwerbs (Flick, v. Kardoff & Steinke, 2005). Und schlussendlich ginge es darum, die Alltagsrelevanz, oder anders formuliert, Viabilität von Forschungsergebnissen zu beurteilen (von Glaserfeld, 1997). Ist eine Arbeit im Verhältnis zum Alltag als zumindest «überlebenstaug-

lich» oder sogar produktiv einzuschätzen? Erlaubt diese es also praktisch Tätigen, sich im untersuchten Feld (besser) zurechtzufinden? Dieses letzte Kriterium ist einerseits deshalb wichtig, weil sich im Verlauf der Wissenschaftsgeschichte besonders diejenigen Erkenntnisse durchgesetzt haben, die sich in der Anwendung auf den Alltag als wertvoll erwiesen (Kuhn, 1962). Im Verlauf der letzten Jahre hat sich Einiges im Alltag von psychisch Erkrankten verändert (vgl. Kasten 1). Einige

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hilfreiche Konzepte sind entstanden, die versuchen, den institutionellen Alltag zu reformieren und lebensweltnäher zu gestalten (Lang, 2012; Mahler, Jarchov-Jádi, Montag & Gallinat, 2013). Auch im außer-institutionellen Alltag der Betroffenen sind Veränderungen passiert. So erlaubt die Gesetzgebung inzwischen eine sektorübergreifende und im Alltag der Betroffenen verankerte psychiatrische Versorgung. Forschungsdesigns, die die alltägliche Lebenswelt von psychisch Erkrankten versuchen zu erfassen, sind demnach gefragter denn je. In diesem Sinn soll unsere Arbeit dazu ermutigen, ko-laborativ und alltagsnah zu forschen. Vielleicht trägt sie dazu bei, ein geeignetes theoretisches und methodisches Werkzeug zu entwickeln, das der dynamischen und komplexen Struktur des institutionellen und lebensweltlichen Alltags gerecht wird. Dabei sollten Betroffene von Anfang an einbezogen werden. Denn ihre konkreten Sicht- und Handlungsweisen werden entscheidend für die Aufgabe sein, zukünftigen Versorgungsmodellen zu einem geeigneten Zuschnitt zu verhelfen.

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Dr. Sebastian von Peter Psychiatrische Universitätsklinik der Charite im St. Hedwig Krankenhaus Große Hamburger Strasse 5–11 10115 Berlin Deutschland s.vonpeter@alexius.de

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UniversitätsSpital Zürich (USZ) Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Prof. Dr. Ulrich Schnyder

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Psychotraumatologie Im Frühling 2016 beginnt berufsbegleitend ein neuer Weiterbildungsgang in Psychotraumatologie an der Universität Zürich. Ziel

Das Beste von Paul Watzlawick – in einem Band! Trude Trunk (Hrsg.) / Paul Watzlawick

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Fragebogen zu Dissoziativen Symptomen Ein Selbstbeurteilungsverfahren zur syndromalen Diagnostik dissoziativer Phänomene

C. Spitzer / R.-D. Stieglitz / H. J. Freyberger Deutschsprachige Adaptation der Dissociative Experience Scale (DES) von E. Bernstein-Carlson und F. W. Putnam 3., überarbeitete und erweiterte Auflage Einsatzbereich: Der FDS ist ein Screening-Instrument zur Erfassung verschiedener dissoziativer Phänomene für Erwachsene ab 18 Jahren. Sein Einsatz empfiehlt sich im Rahmen der dimensionalen Diagnostik dissoziativer Störungen. Darüber hinaus sind dissoziative Symptome als Bestandteil der entsprechenden diagnostischen Kriterien bei den schizophrenen Störungen, den phobischen und anderen Angststörungen, der posttraumatischen Belastungsstörung und der Borderline-Persönlichkeitsstörung von besonderer Bedeutung. Der FDS basiert auf der Methode der Selbstbeurteilung und erfasst die Subskalen Amnesie, Absorption, Derealisation und Konversion. Es liegt zusätzlich eine verkürzte Screening-Version mit 20 Items (FDS-20) vor, die sich für die Verlaufsmessung eignet. Es sind Einzel- und Gruppenuntersuchungen möglich. Test komplett bestehend aus: Manual, 10 Fragebogen FDS, 10 Fragebogen FDS-20, 10 Auswertebogen und Box Bestellnummer 03 091 01 € 89.00 / CHF 110.00

In der dritten, überarbeiteten und erweiterten Auflage wurden neue Daten ausgewertet sowie der Theorieteil des Manuals komplett überarbeitet und mit aktuellen Studien ergänzt. Außerdem wurde der Auswertebogen überarbeitet und anwenderfreundlicher gestaltet. Zuverlässigkeit: Die internen Konsistenzen (Cronbachs Alpha) fallen mittel bis hoch aus (.83–.95), die Test-Retest-Reliabilitäten bei verschiedenen Stichproben sind befriedigend bis gut. Gültigkeit: Umfangreiche Überprüfungen an zahlreichen Stichproben liefern Belege für die konvergente, divergente und diskriminante Validität des FDS. Normen: Es liegen Prozentrangnormen vor für Stichproben Gesunder sowie verschiedener klinischer Gruppen. Bearbeitungsdauer: FDS 5 bis 15 Minuten, FDS-20 maximal 10 Minuten.

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Themenschwerpunkt

Macht Burnout Menschen ärgerlicher als Depression? Unterschiede in den emotionalen Reaktionen auf psychische Probleme in der Allgemeinbevölkerung Johannes Bahlmann1,2, Georg Schomerus1,2, Matthias C. Angermeyer3,4 und Harald J. Freyberger1,2 1

Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Universitätsmedizin Greifswald HELIOS Hanseklinikum Stralsund 3 Center for Public Mental Health, Gösing am Wagram, Österreich 4 Dipartemento di Sanità Pubblica, Università degli Studi di Cagliari, Italien 2

Zusammenfassung: Das Ziel der vorliegenden Analyse war es, herauszufinden welche emotionalen Reaktionen mit einer Fallvignette Depression und deren Einschätzung als Burnout oder Depression verbunden sind. Datengrundlage war eine Bevölkerungsumfrage in Deutschland aus dem Jahr 2011. Die Bezeichnung einer Depression als Depression war mit stärkerer Angst und Unbehagen, jedoch mit weniger Unverständnis verbunden. Die Bezeichnung als Burnout war mit einem stärkeren Bedürfnis zu helfen sowie mit weniger Verunsicherung, Genervtsein und Unverständnis verbunden. Weiterhin ergaben die Analysen, dass es bei Erwerbstätigen zu größerer Verunsicherung führt, wenn sie das Problem Depression, und zu größerem Mitleid führt, wenn sie das Problem Burnout genannt haben. Insgesamt zeigt die vorliegende Arbeit, dass die emotionalen Reaktionen eher positiver sind, wenn das Problem Burnout genannt wird und eher negativer sind, wenn es Depression genannt wird. Wir diskutieren mögliche Ursachen für diese Unterschiede. Schlüsselwörter: Burnout, Depression, Emotion, Reaktion

Does burnout evoke more anger than depression? Differences in emotional reactions to mental health problems in the General Population Abstract: Our aim is to determine whether emotional reactions to a case vignette depicting a person with depression differ depending on whether respondents call the condition ‘burnout’ or ‘depression’. Our analyses are based on a representative population survey in Germany in 2011. Calling the problem ‘depression’ was associated with stronger fear and embarrassment, but also with less incomprehension. Calling the problem ‘burnout’ was associated with feeling more need to help the person, less uncertainty, less annoyment and less incomprehension. If respondents were employed, calling the problem ‘depression’ was associated with more insecurity, while calling the problem ‘burnout’ was associated with greater compassion. Overall, our study shows that emotional reactions are more positive when the problem is called burnout and are more negative when it is called depression. We discuss potential reasons for these differences. Keywords: burnout, depression, emotion, reaction

Einleitung Diese Arbeit untersucht emotionale Reaktionen von Personen in der Allgemeinbevölkerung, denen eine Fallbeschreibung einer Person mit Depression vorgelegt wurde, ohne dass dabei die Diagnose genannt wurde. Uns interessiert, ob sich emotionale Reaktionen auf dieselbe Fallbeschreibung unterscheiden, je nachdem wie ein Proband das dargestellte Problem bezeichnet, also laiendiagnostisch einordnet. Dabei schauen wir insbesondere auf die

Einordnung eines depressiven Syndroms als Burnout im Gegensatz zur Einordnung als Depression. Die Wahrnehmung von Affekten und Gefühlen spielt in therapeutischen Kontexten eine zentrale Rolle. In der Verhaltenstherapie werden die in psychotherapeutischen Kontexten auftretenden interpersonellen Affekte spätestens seit der sog. «emotionalen Wende» der neunziger Jahre (Görlitz, 2000) stärker berücksichtigt. In der Psychoanalyse bzw. der psychodynamischen Psychotherapie wurde bei sog. Übertragungsphänomenen bereits länger

Zeitschrift für Psychiatrie, Psychologie und Psychotherapie (2016), 64(1), 19–24 DOI 10.1024/1661-4747/a000256

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J. Bahlmann et al.: Macht Burnout Menschen ärgerlicher als Depression?

davon ausgegangen, dass vom Patienten auf der unbewussten oder vorbewussten Ebene biographisch weit zurückliegende, mit alten zentralen Beziehungserfahrungen verknüpfte Affekte auf den Therapeuten übertragen werden (Krause, 1982), so dass dieser in seiner affektbezogenen Gegenübertragung in Positionen gerät, die die zurückliegenden interpersonellen Konfliktmuster repräsentieren. In der Therapie nimmt daher die Gegenübertragungsanalyse einen wichtigen Platz ein, in dem diese Muster interpretiert und damit dem bewussten Erleben des Patienten zugänglich gemacht werden. Wie insbesondere die Ergebnisse der interpersonellen Forschung nahelegen (vgl. z. B. die Beziehungsachse der OPD; Arbeitskreis OPD, 2006), kann davon ausgegangen werden, dass diese Prozesse in vergleichbarer Weise auch in alltäglichen Interaktionen eine zentrale Rolle spielen. Stigmatisierung wird als ein Prozess von aufeinander bezogenen Schritten, wie Labeling und Abgrenzung, beschrieben (Link & Phelan, 2001; Link, Yang, Phelan & Collins, 2004). Der Prozess der Abgrenzung ist mit negativen emotionalen Reaktionen bei den Betroffenen verbunden, die wiederum mit stärkerer Ablehnung der Person einhergehen. Emotionale Reaktionen als Element der Stigmatisierung von Menschen mit psychischen Erkrankungen sind schon häufig untersucht worden (Angermeyer & Dietrich, 2006; Angermeyer, Matschinger, Link & Schomerus, 2014; Rüsch, Angermeyer & Corrigan, 2005), allerdings nicht im Zusammenhang mit der Krankheitsbezeichnung Burnout. Studien zeigen, dass in der Allgemeinbevölkerung der Wunsch nach sozialer Distanz gegenüber einer depressiven Person größer ist, wenn ihr Zustand als Depression bezeichnet wird, als bei der Bezeichnung Burnout (Bahlmann, Angermeyer & Schomerus, 2013). Unklar ist, ob die laiendiagnostische Einordnung eines depressiven Syndroms auch mit unterschiedlichen emotionalen Reaktionen verbunden ist. Unterscheiden sich die emotionalen Reaktionen von Menschen in Abhängigkeit davon, ob das Gegenüber in ihren Augen an einer Depression oder einem Burnout leidet? Die Laiendiagnose Burnout hat in den letzten Jahren enorm an Popularität gewonnen (Bahlmann et al., 2013). Da von einigen Experten die Burnout-Thematik als vergleichsweise geringer stigmatisierend als eine Depressionsdiagnose angesehen bzw. als subsyndromale Form einer Depression betrachtet wird (Huber & Juen, 2013; Schneider, 2013), wäre es interessant zu klären, ob Personen in der Allgemeinbevölkerung affektiv unterschiedlich auf diese beiden Kategorien reagieren. Burnout-Diagnosen werden eher im Zusammenhang mit Überlastungen im Arbeitsalltag vergeben (Berger, Schneller & Maier, 2012) und stellen eine neue Dimension von Befindlichkeitsbeschreibungen dar, die auch im Sinne einer Medikalisierung sozialer Prozesse verstanden wer© 2016 Hogrefe

den kann (Schneider, 2013) – Phänomene, die ursprünglich Teil des ‹normalen› Alltags waren werden dabei in einen medizinischen Kontext gestellt und damit medikalisiert. Dieser Alltagsbezug von Burnout könnte zu ganz unterschiedlichen emotionalen Reaktionen führen. Einerseits kann die Symptomatik unter dem Label Burnout als positiv konnotierte Überlastung im Beruf angesehen werden («ein hoch engagierter Mitarbeiter ist ausgebrannt»), andererseits aber auch als ein Ergebnis anhaltender Missachtung der Grenzen eigener Belastbarkeit des Erkrankten, wie dies in psychotherapeutischen Kontexten häufig geschieht (Huber & Juen, 2013). Entsprechend wäre es einerseits vorstellbar, dass ein alltagsnäheres Konzept wie Burnout positive emotionale Reaktionen wie Mitleid oder Hilfsbereitschaft auslöst, andererseits könnten aber Menschen auf Burnout Erkrankungen vor dem Hintergrund der größeren persönlichen Verantwortung der Betroffenen für seinen Zustand genervter oder ärgerlicher reagieren als auf eine depressive Erkrankung. Beide Krankheitsbezeichnungen werden in der Bevölkerung größtenteils als Krankheit im medizinischen Sinne angesehen (Bahlmann et al., 2013). Insofern wird Erkrankten die Krankenrolle zugebilligt und wahrgenommene Probleme und Schwierigkeiten werden eventuell eher entschuldigt, was im Vergleich zu krankheitsferneren Problembezeichnungen zu positiveren emotionalen Bewertungen führen könnte. Darüber hinaus wäre es denkbar, dass sich die emotionalen Reaktionen unterscheiden, je nachdem, ob sich die Befragten im Erwerbsleben befinden oder nicht. Es wäre denkbar, dass Menschen, die sich im Arbeitsprozess befinden, empathischer auf ein Problem reagieren, dass sie als Burnout bezeichnen und deshalb angesichts der eigenen Arbeitsbelastung besser nachvollziehen können. Ziel der vorliegenden Arbeit ist es folgende Fragestellungen zu untersuchen: 1. Wie wirkt sich die Bezeichnung einer Depression als Burnout oder als Depression auf die emotionalen Reaktionen auf die beschriebene Person aus? 2. Unterscheidet sich der Zusammenhang zwischen Krankheitsbezeichnung und emotionalen Reaktionen in Abhängigkeit vom Erwerbsstatus?

Methoden Wir führten 2011 eine repräsentative Bevölkerungsbefragung in Deutschland durch. Dabei wurden vollständig strukturierte, persönliche Interviews (face-to-face, paper and pencil) durchgeführt. Als Grundgesamtheit diente die deutschsprachige, in Privathaushalten lebende Bevölkerung ab einem Alter von 18 Jahren. Die Stichprobe basierte

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0.018

0.000 2.658

0.028

0.000 3.333

0.006

0.000 2.311

0.012

0.000 2.548

0.003

0.000 1.621

0.008

0.000 2.713

0.002

0.000 3.594

–0.002

0.000 1.886

0.005

0.000 2.548 2.159

0.005

Konstante

Adjustiertes R2

0.000

.0061 0.924 –.2750 0.000 .0083 0.890 –.2206 0.000 –.0013 0.975 –.0186 0.783 –.1478 0.011 .0401 0.506 .0076 0.919 –.1120 0.113 Geschlecht

.0030 0.121 –.0008 0.667 .0030 0.103 –.0014 0.458 .0029 0.029 .0024 0.247 –.0008 0.644 .0000 0.965 –.0008 0.722 –.0018 0.407 Alter

.1498 0.001 –.1393 0.001 .0518 0.234 –.1248 0.006 .0729 0.019 .1071 0.029 –.0143 0.735 .0248 0.570 .0387 0.469 .0742 0.147 Bildung

–.1760 0.010 .0517 0.410 –.1005 0.113 .0410 0.539 –.0357 0.429 .0903 0.207 .0540 0.381 .0127 0.842 .2114 0.007

–.1227 0.231 –.1541 0.219 –.0291 0.808 Burnout

.1548 0.038

.2636 0.009 –.2936 0.004 .0193 0.857 –.0739 0.308 –.2866 0.013 .0867 0.382

p B p B p B p B

Problembeschreibung

Depression

–.3820 0.000

p B p B p B p B p B p B

Hilfsbedürfnis Genervtheit Sympathie Belustigung Verunsicherung Mitleid Ärger Unbehagen Angst

In der Vignette wurde eine Person mit einer depressiven Episode nach DSM-IIIR beschrieben, ohne dass die Diagnose genannt wurde. Nach der Vorstellung der Vignette wurde den Befragten die offene Frage gestellt: «Wie würden Sie den Zustand, in dem sich dieser Mensch befindet, bezeichnen? Was meinen Sie, was dieser Mensch hat?» Die Antworten wurden vom Interviewer wörtlich notiert und später einem induktiv entwickelten Kategoriensystem zugeordnet, das schon in einer früheren Umfrage Verwendung gefunden hatte (Angermeyer et al., 2014; Bahlmann et al., 2013). Die Anzahl der verwendeten Krankheitsbezeichnungen war nicht begrenzt, insgesamt nannten die Befragten bis zu fünf verschiedene Bezeichnungen. Außerdem wurde das Kategoriensystem um die Kategorie «Burnout» ergänzt, diese Kategorie schloss alle Nennungen von Burnout ein. Weitere für unsere Auswertungen verwendete Kategorien waren «Depression/depressiv», und eine Restkategorie für alle anderen gewählten Krankheitsbezeichnungen. Im Anschluss an die offene Frage wurde eine Reihe von geschlossenen, auf die Vignette bezogenen Fragen gestellt. Aufgrund der Möglichkeit von Mehrfachnennungen sind die Kategorien Burnout und Depression nicht exklusiv. Von 1220 Befragten nannten insgesamt n = 124 (10,2 %) Burnout und n = 759 (62,2 %) Depression, wobei n = 37 (3 %) sowohl Burnout als auch Depression als Bezeichnung für das geschilderte Problem wählten. 300 Probanden (24,6 %) nannten weder Burnout noch Depression. Für die vorliegende Arbeit untersuchten wir emotionale Reaktionen der Befragten in Bezug auf die vorgelegte Fallvignette. Den Respondenten wurde die Frage gestellt: «Wie würden Sie reagieren?». Als Antwortmöglichkeiten wurden «Er löst bei mir Angst aus», «Ich fühle mich unbe-

Reaktionen

Interview

Tabelle 1. Ergebnisse der linearen Regressionsanalysen, Zusammenhänge zwischen den Problembeschreibungen Burnout und Depression und den emotionalen Reaktionen.

auf einer dreistufigen Zufallsauswahl, die bereits an anderer Stelle ausführlich beschrieben wurde (Angermeyer et al., 2014). Insgesamt wurden n = 3642 Personen befragt (Ausschöpfungsquote 64.0 %). Den Befragten wurde nach dem Zufallsprinzip eine Fallvignette vorgelegt, in der entweder eine Person mit Schizophrenie, Depression oder Alkoholabhängigkeit beschrieben wurde. Für die verschiedenen Vignetten ergaben sich so die folgenden Fallzahlen: Schizophrenie n = 1235, Depression n = 1220, Alkoholabhängigkeit n = 1187. In der vorliegenden Arbeit wurde die Auswertung der Depressionsvignette fokussiert. Die soziodemographische Zusammensetzung der Stichproben entsprach weitestgehend der der Allgemeinbevölkerung (Angermeyer et al., 2014; Angermeyer et al., 2013). Die Befragung wurde durch das Institut für Markt-, Meinungsund Sozialforschung USUMA, Berlin durchgeführt.

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Unverständnis

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0.000 3.81 0.000 2.16 0.000 3.95 0.000 3.03 0.000 4.61 0.000 3.57 0.000 2.30 0.000 4.20 0.000 3.50 0.000 3.82 Konstante

0.496 0.984 –0.094 0.002 0.605 0.831 –0.066 0.250 –0.028 0.048 –0.105 0.123 –0.286 0.192 0.655 0.709 –0.057 –0.127 Interaktionen

0.394 –0.058

0.641 0.050 0.523 0.063 0.270 0.109 0.982 0.002 0.059 0.133 0.074 0.199 0.151 0.828 –0.138 0.021 0.634 0.057 0.777 0.032

0.939 0.375 –0.006 0.070 0.775 0.311 –0.024 0.057 0.638 0.125 –0.042 0.851 –0.119 0.028 –0.014 0.179 –0.215 –0.126 Depression

Depression

Erwerbsstatus

0.108 0.139

0.000 3.86 0.000 2.19 0.000 3.96 0.000 3.03 0.000 4.64 0.000 3.51 0.000 2.21 0.000 4.18 0.000 3.33 0.000 3.72 Konstante

0.832 0.732 –0.049 0.181 –0.074 0.576 –0.287 0.127 0.773 0.044 0.694 0.095 0.042 0.701 –0.426 0.081 0.661 –0.070 Interaktionen

–0.111

0.832 Erwerbsstatus –0.016

0.790

0.995 0.000 0.330 0.064 0.124 0.100 0.720 0.148 –0.025 0.067 0.582 0.041 0.783 0.017 0.843

0.556 0.285 0.127 0.091 0.251 0.348 0.133 Burnout

Burnout

0.499 –0.013

0.028 0.003 –0.265 0.362 0.554 0.351 –0.075 0.797 0.028 0.298 0.634

p C p C p C

0.054

0.004 0.377

p C p C p C p C p C p C

Hilfsbedürfnis Genervtheit Sympathie Belustigung Verunsicherung Mitleid Ärger

p

1. Wie wirkt sich die Bezeichnung einer Depression als Burnout auf die Reaktionen aus? Die Spalten 2 bis 11 der Tabelle 1 zeigen lineare Regressionsanalysen mit den emotionalen Reaktionen und den Dummy-codierten Variablen für die Nennung von Burnout und Depression. Die Bezeichnung des Problems als Burnout war signifikant mit stärkerem Bedürfnis zu helfen, sowie mit weniger Verunsicherung, Genervtsein und Unverständnis verbunden. Die Bezeichnung des Problems

C

Ergebnisse

Unbehagen

Wir führten lineare Regressionsanalysen durch (Tabelle 1). Die verschiedenen emotionalen Reaktionen verwendeten wir als abhängige Variablen (Angst, Unbehagen, Ärger, Mitleid, Verunsicherung, Belustigung, Sympathie, Genervtheit, Bedürfnis zu helfen und Unverständnis). Als unabhängige Variablen verwendeten wir zwei Dummy-codierte Variablen für die Nennung von Burnout (1 = ja) und Depression (1 = ja) als Krankheitsbezeichnung. Darüber hinaus schlossen wir die potentiell konfundierenden Variablen Bildung, Alter und Geschlecht in die Analyse ein. Angegeben sind die nicht-standardisierten Regressionskoeffizienten (B). Diese zeigen an, um welchen Betrag sich die abhängige Variable bei der Nennung von Burnout oder von Depression verändert. Weiterhin berechneten wir in linearen Regressionen (Tabelle 2) jeweils die Haupteffekte der Faktoren Burnout und Erwerbsstatus auf die jeweilige Emotion sowie die Interaktionen zwischen der Nennung von Burnout oder Depression und des Erwerbsstatus. Die verschiedenen emotionalen Reaktionen verwendeten wir als abhängige Variablen. Als unabhängige Variablen verwendeten wir die Dummy-codierten Variablen für Burnout und Depression, sowie die dichotomisierte Variable Erwerbsstatus.

Angst

Statistische Analyse

Reaktionen

haglich», «Ich reagiere ärgerlich», »Ich verspüre Mitleid mit ihm», «Ich fühle mich durch ihn verunsichert», «Mich belustigt so etwas», «Ich verspüre für ihn Sympathie», «Ich fühle mich durch ihn «genervt», «Ich verspüre das Bedürfnis, ihm zu helfen» und «Er löst bei mir Unverständnis aus» vorgegeben. Die Antworten wurden mit Hilfe einer 5-stufigen Likert-Skala, mit den Ankern «trifft voll und ganz zu» = 1 und «trifft überhaupt nicht zu» = 5 gegeben. Für unsere Analysen wurden die Antwortscores invertiert, so dass hohe Werte einer starken Zustimmung entsprechen. Als potentielle Einflussgrößen wurden die soziodemographischen Variablen erhoben.

Unverständnis

J. Bahlmann et al.: Macht Burnout Menschen ärgerlicher als Depression?

Tabelle 2. Ergebnisse der linearen Regressionsanalysen, Berechnung der Haupteffekte von Burnout/Depression und des Erwerbsstatus auf, und der Interaktionen zwischen der Nennung von Burnout/Depression und den emotionalen Reaktionen.

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als Depression war signifikant mit stärkerer Angst und größerem Unbehagen, hingegen mit weniger Unverständnis assoziiert. 2. Hat der Erwerbsstatus der Befragten einen Einfluss? Die Spalten 2 bis 11 der Tabelle 2 zeigen Analysen der Haupteffekte und die Interaktionsanalysen mit den emotionalen Reaktionen und den Dummy-codierten Variablen für Burnout und Depression sowie den Erwerbsstatus als dichotome Variable. Es ergaben sich folgende signifikante Haupteffekte: das geschilderte Problem Burnout zu nennen, war unabhängig vom Erwerbsstatus mit einer Verringerung der Verunsicherung, der Genervtheit und des Unverständnisses und mit einer Verstärkung des Bedürfnisses zu Helfen verbunden, das Problem als Depression zu bezeichnen war unabhängig vom Erwerbsstatus mit einer Vergrößerung des Unbehagens verbunden. Signifikante Interaktionseffekte ergaben sich bei der Bezeichnung als Burnout bei Mitleid und bei der Bezeichnung als Depression bei Verunsicherung. Bei Erwerbstätigen war die Bezeichnung des geschilderten Problems als Burnout mit stärkerem Mitleid assoziiert. Die Bezeichnung des geschilderten Problems als Depression führte dagegen bei erwerbstätigen Menschen zu größerer Verunsicherung.

Diskussion Unsere Ergebnisse zeigen zunächst, dass beide Krankheitsbezeichnungen (im Gegensatz zu ‹keiner Bezeichnung›) mit geringerem Unverständnis assoziiert sind. Darüberhinaus ist die Bezeichnung Burnout mit weniger Verunsicherung und Genervtsein, dafür aber mit einem größeren Bedürfnis zu helfen assoziiert, die Bezeichnung Depression dagegen mit mehr Angst und mehr Unbehagen. Dieselbe Personenbeschreibung löst also bei den Studienteilnehmern unterschiedliche Reaktionen aus, je nachdem, wie das Problem benannt wird. Insgesamt sind die Reaktionen auf Burnout verglichen mit der Depression positiver. Das erhöhte Bedürfnis zu helfen beim Label Burnout lässt sich als Erweiterung bekannter Befunde sehen. In einer vorangegangenen Analyse des vorliegenden Datensatzes (Bahlmann et al., 2013) konnte gezeigt werden, dass einer Person mit der vermuteten Diagnose Depression eher eine professionelle Behandlung empfohlen wird, als mit einer vermuteten Diagnose Burnout. Zusammen mit den Ergebnissen der hier vorgestellten Analysen legen diese Befunde nahe, dass sich die Befragten bei einem Burnout offenbar eher persönlich zur Hilfe aufgerufen fühlen, während sie bei einer Depression das Problem eher an

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professionelle Behandler delegieren möchten. Auch die vermehrte Angst und das Unbehagen bei einem als Depression bezeichneten Problem passen zu diesem Impuls, das vorliegende Problem lieber professionell behandeln zu lassen. Unsere weiteren Analysen ergaben Unterschiede in den emotionalen Reaktionen in Abhängigkeit von der Erwerbstätigkeit. Die Schilderung eines depressiven Menschen, welcher als solcher erkannt wurde, führte bei Erwerbstätigen zu einer größeren Verunsicherung, als bei Menschen, die nicht im Erwerbsleben stehen. Die gleiche Schilderung führte bei Erwerbstätigen zu mehr Mitleid, wenn sie als Burnout gesehen wurde. Die vergrößerte Verunsicherung bei Erwerbstätigen bei der Annahme eines depressiv Erkrankten könnten einerseits Hinweise darauf sein, dass eine psychische Erkrankung auch als solche wahrgenommen wird und die Grenzen der eigenen Handlungsfähigkeit wahrgenommen werden. Andererseits könnte sich hier der Beginn erster Stigmatisierungsprozesse, im Sinne von ersten Abgrenzungstendenzen äußern. Erhöhtes Mitleid bei der Schilderung eines Burnouts bei erwerbstätigen Menschen könnten Hinweise auf empathische Grundtendenzen sein. Erwerbstätige können, auch vor dem Hintergrund der Zusammenhänge zwischen Arbeit und Burnout, leichter die Entstehung eines Burnouts nachvollziehen. Depressiv Erkrankte scheinen Erwerbstätige eher ratlos zu machen, wohingegen Menschen mit einem Burnout Erwerbstätigen leidtun. Beide Ergebnisse zeigen, dass der Erwerbsstatus einen Einfluss darauf hat, wie mit den geschilderten Problematiken umgegangen wird. Die wachsende Popularität des Begriffes Burnout spiegelt nicht nur eine Medikalisierung von Belastungsreaktionen wider. Der Begriff Burnout vereint eine Diagnose mit einer Aussage über die Ätiologie. Betrachtet man zusätzlich die zunehmende Popularisierung des Konzepts der posttraumatischen Belastungsstörung (Freyberger & Kuwert, 2013), so wird deutlich, dass einfache und unidirektionale Erklärungsmodelle (berufliche Überlastung verursacht Burnout, ein Trauma eine posttraumatische Belastungsstörung) sich einer zunehmenden Attraktivität erfreuen, ohne die in der Regel komplexen biographischen Zusammenhänge zu berücksichtigen. Es bleibt festzuhalten dass in der vorliegenden Studie ein stark vereinfachendes, leichter nachvollziehbares Krankheitskonzept mit insgesamt positiveren emotionalen Reaktionen assoziiert ist. Unsere Untersuchung unterliegt Limitierungen. Ausgewertet wurden Laienantworten auf eine Fallvignette einer Depression. Das geringe R2 ist ein Hinweis darauf, dass es offenbar neben den Krankheitsbezeichnungen noch andere wichtige Determinanten der emotionalen Reaktionen auf eine Person mit einer psychischen Krankheit gibt, die in unserer Studie nicht berücksichtigt wurden. Dafür

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spricht auch, dass es keine signifikanten Zusammenhänge zwischen der Krankheitsbezeichung und einer ganzen Reihe von emotionalen Reaktionen wie z. B. Belustigung und Sympathie gab. Weiterhin kann unsere korrelative Studie keine Aussagen zur Kausalität machen: Es ist theoretisch auch möglich, dass eine unterschiedliche emotionale Reaktion auf das geschilderte Problem zu unterschiedlichen Krankheitsbezeichnungen führt. Insgesamt zeigt unsere Studie, dass eine identische Fallvignette sehr unterschiedliche emotionale Reaktionen auslöst, je nachdem ob das Problem als Burnout oder als Depression bezeichnet wird. Insgesamt sind die emotionalen Reaktionen deutlich positiver, wenn das Problem als Burnout bezeichnet wird. Negative Folgen dieser «fehlerhaften» Laiendiagnose lassen sich also auf emotionaler Ebene nicht beobachten.

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Johannes Bahlmann Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universitätsmedizin Greifswald am HELIOS Hanseklinikum Stralsund Rostocker Chaussee 70 18437 Stralsund Deutschland johannes.bahlmann@uni-greifswald.de

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Themenschwerpunkt

Beurteilung depressiver und somatischer Symptome mittels des PHQ-9 und PHQ-15 bei ambulanten vietnamesischen und deutschen Patientinnen Eric Hahn1,2, Ronald Burian2, Annegret Dreher2, Georg Schomerus3, Michael Dettling1, Albert Diefenbacher2, Anita von Poser4 und Thi Minh Tam Ta1 1

Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Campus Benjamin Franklin, Charité – Universitätsmedizin Berlin Abteilung für Psychiatrie, und Psychotherapie und Psychosomatik, Evangelisches Krankenhaus Königin Elisabeth Herzberge, Berlin 3 Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald am HANSE-Klinikum Stralsund 4 Institut für Sozial- und Kulturanthropologie, Freie Universität Berlin 2

Zusammenfassung: Studien in der Allgemeinbevölkerung zeigen uneinheitliche Ergebnisse bezüglich häufigerer Somatisierung bei Migranten. Vergleichende Untersuchungen fanden bei depressiven Patienten ostasiatischer Herkunft geringere Angaben von psychologischen Symptomen und häufigere somatische Beschwerden, als bei Patienten westlicher Herkunft. Aufgrund einer geringen Inanspruchnahme psychiatrischer Versorgungsangebote in Deutschland, insbesondere durch vietnamesische Migranten der ersten Generation, existieren bisher keine Studien zu einer psychischen und somatischen Symptomausprägung bei Patienten vietnamesischer Herkunft im Vergleich zu deutschen Patienten ohne Migrationshintergrund. Im Kontext kultursensibler Diagnostik von Migranten in Deutschland wurde als ausreichend messäquivalentes Selbstbeurteilungsinstrument insbesondere der Patient Health Questionnaire bzw. der Gesundheitsfragebogen für Patienten als ein valides und einfach verwendbares Instrument für eine Erfassung von Symptomen und Schweregraden häufiger psychischer Störungen, wie der Depression empfohlen. Im Rahmen der vorliegenden Untersuchung wurden bei 66 vietnamesischen Patientinnen der ersten Generation und 83 deutschen Patientinnen während des erstmaligen psychiatrischen Kontaktes psychische Symptome einer Depression mittels des PHQ-9 und somatische Symptome mittels des PHQ-15 in der jeweiligen Muttersprache erfasst. Für beide Gruppen fand sich für beide Instrumente eine zufriedenstellende interne Konsistenz. Ein möglicher Zusammenhang zwischen der Herkunft und dem Schweregrad der Ausprägung psychischer depressiver und somatischer Symptome bei diagnostizierter depressiver Episode erfolgte mittels einer multivariaten Analyse. Für die Selbstbeurteilung mittels des PHQ-9 fanden sich keine Gruppenunterschiede hinsichtlich des Gesamtsummenwertes und des Schweregrades psychischer depressiver Symptome. Dagegen berichteten vietnamesische Patientinnen in der Selbstwahrnehmung anhand des PHQ15 von einem insgesamt höheren Schweregrad von somatischen Symptomen. Insbesondere waren bei depressiven vietnamesischen Patientinnen die Mittelwerte der Einzelitems Kopfschmerzen, Glieder- und Gelenkschmerzen, Schmerzen im Brustbereich sowie Schwindel und Ohnmachtsanfälle gegenüber deutschen Patientinnen deutlich erhöht. Entgegen der Untersuchungshypothese und früherer Studien ging die häufigere Selbstbeurteilung oder Aufmerksamkeit auf somatische Symptome bei vietnamesischen Patientinnen nicht mit einer verminderten Eigenwahrnehmung von psychischen Symptomen einer depressiven Episode anhand des PHQ-9 einher. Schlüsselwörter: vietnamesische Migranten, Depression, Somatisierung, somatische Symptome, Patient Health Questionnaire, PHQ-9, PHQ15, Gesundheitsfragebogen für Patienten

Assessment of depressive and somatic symptoms with the PHQ-9 and PHQ-15 in female Vietnamese and German outpatients Abstract: Studies in the general population have reported inconclusive results regarding higher rates of somatization in migrants compared to native populations. Overall, cross-cultural studies show, that patients in East-Asia with major depressive episodes report fewer psychological and more often somatic symptoms. Since mental health care utilization of Vietnamese migrants in Germany has been low, comparative studies on symptom presentation and somatization for depressed Vietnamese patients are lacking. The Patient Health Questionnaire (PHQ) is an internationally available, valid and easy to use self-report instrument for assessing common psychiatric disorders. Recent studies have shown that cross-cultural comparisons between migrants and native-German populations of PHQ mean values, severity and PHQ single items are possible. In this study 66 female Vietnamese and 83 female German outpatients were assessed for symptoms of depression (PHQ-9) and somatic symptoms (PHQ-15), using the Vietnamese- or German language versions of the PHQ respectively. Differences in PHQ-9 and PHQ-15 total score,

Zeitschrift für Psychiatrie, Psychologie und Psychotherapie (2016), 64(1), 25–36 DOI 10.1024/1661-4747/a000257

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E. Hahn et al.: PHQ 9 und 15 bei vietnamesischen Patientinnen

severity of depression and somatization and single item differences were analyzed using either MANOVAs or chi-square-tests. For both groups, PHQ-9 and PHQ-15 scales showed good internal consistency. Vietnamese outpatients reported depressive symptoms at similar severity levels as German outpatients matched for age and school education, but had a higher total score of somatic symptoms and a higher proportion of severe somatization according to PHQ-15. Since the differences in somatic symptoms was driven by a subset of PHQ-15 items, primary care physicians should keep in mind that somatic complains including headaches, chest pain, and pain in arms, legs, or joints, dizziness or fainting could be indicative of somatic symptoms of depression in female Vietnamese patients. However, increased awareness and emphasis on selfreported somatic symptoms did not reflect a minimization of PHQ-9 symptoms of depression in female Vietnamese patients. Keywords: Vietnamese migrants, depression, somatization, somatic symptom presentation, Patient Health Questionnaire, PHQ-9, PHQ-15, Germany

Einleitung Nach aktuellen Erhebungen zählen in Deutschland etwa 17 Millionen Einwohner zu den «Menschen mit Migrationshintergrund», wobei rund 10,5 Millionen eine persönliche Migrationserfahrung aufweisen (Statistisches Bundesamt, 2014). Bisherige Untersuchungen konnten zeigen, dass eine mindestens gleichhohe Prävalenz von psychischen Erkrankungen im Vergleich zur deutschen Bevölkerung ohne Migrationshintergrund besteht, wobei höhere Prävalenzraten insbesondere bei ungünstigen Migrationsund Ankunftsbedingungen wie einem Flüchtlings- oder Duldungsstatus, geringem sozioökonomischen Status, Diskriminierungserfahrungen aber auch nicht ausreichenden psychosozialen Versorgungsangeboten in Verbindung stehen (Bermejo, Mayninger, Kriston & Härter, 2010; Glaesmer et al. 2009). Bei Migranten der ersten Generation ist eine höhere Prävalenz depressiver Syndrome bei gleichzeitig geringerer Inanspruchnahme psychosozialer Versorgungsangebote beschrieben (Bermejo, Frank, Maier & Hölzel, 2012; Glaesmer et al., 2011; Sieberer et al., 2012). Die Inanspruchnahme psychiatrisch-psychotherapeutischer Angebote ist zudem abhängig vom Kontext kultureller und migrationsbezogener Faktoren, Anpassungsleistungen im Rahmen von Akkulturation, aber auch von Geschlechterrollen, dem Alter, sowie vorhandenen Sprachkompetenzen (Aichberger et al., 2012; Lindert, Schouler-Ocak, Heinz & Priebe, 2008; Schenk, 2007). Kulturell geprägte Wahrnehmungen psychischer oder somatischer Symptome bilden eine Grundlage persönlicher Krankheits- und Behandlungsmodelle, welche von westlich geprägten Erklärungsmodellen abweichen können (Kirmayer & Sartorius, 2007; Kleinman & Benson, 2006). Trotz der Einsicht, dass solche Faktoren einen nichtlinearen Einfluss auf das Auftreten und die Ausprägung psychischer Beschwerden haben, ist die kultursensible psychologische Diagnostik, insbesondere für Menschen mit geringen Deutschkenntnissen verbesserungsbedürftig (Glaesmer, Brähler & von Lersner, 2012). In einer kürzlich veröffentlichten Untersuchung zum Stand der interkulturellen Öffnung des psychosozialen Versorgungssystems in Berlin zeigten sich weiter beste© 2016 Hogrefe

hende Defizite. Als wesentliche Faktoren wurden eine uneinheitliche Dokumentation, der nicht ausreichend finanzierte Einsatz von professionellen Dolmetschern, sowie Probleme bei der Erfassung psychischer Symptome diskutiert (Penka et al., 2015). Da aufgrund solcher Faktoren vergleichende kulturübergreifende Untersuchungen häufiger psychiatrischer Syndrome erschwert sind, konzentriert sich die bisherige Forschung oft auf einzelne Inanspruchnahmepopulationen und die in Deutschland lebenden größten Migrationsgruppen (Schouler-Ocak, Aichberger, Penka, Kluge & Heinz, 2015). Ein geeigneter und kosteneffizienter Schritt, um die psychosoziale Versorgung aller Migranten zu verbessern und das vorhandene Wissen und die kulturellen Kompetenzen zu erweitern, könnte die Definition und öffentliche Bereitstellung geeigneter psychometrischer Standardinstrumente in verschiedenen Sprachen sein, um vergleichende Untersuchungen bei Menschen unterschiedlicher Herkunft in ihrer Diversität zu ermöglichen (Glaesmer et al., 2012; Kirmayer, 2012).

Einsatz des Patient Health Questionnaire (PHQ) in der kultursensiblen psychosozialen Versorgung von Menschen mit Migrationshintergrund Neben der psychiatrischen Anamnese können in der Primärversorgung von psychisch symptomatischen Patienten, die aufgrund mangelnder Sprachkenntnisse keine deutschsprachigen Fragebögen beantworten können, Versionen psychometrischer Instrumente in der jeweiligen Herkunftssprache eingesetzt werden. Dieser Ansatz kann auch zur vergleichenden Untersuchung eines Einflusses kultureller oder migrationsbedingter Unterschiede auf den Ausprägungsgrad psychischer oder somatischer Symptome dienen (Glaesmer et al., 2012). Bisher wurden nur wenige, bei verschiedenen Migrationsgruppen ausrei-

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chend messäquivalente psychometrische Selbstratinginstrumente, auf ihre Eignung für die psychiatrischpsychotherapeutische Versorgung getestet. Ein häufig verwendetes Instrument ist der PHQ , der in seiner Gesamtversion als Selbstratinginstrument inhaltlich dem gut validierten PRIME-MD Fragebogen entspricht (Spitzer, Kroenke & Williams, 1999). Durch seine meist lizenzfreie Verfügbarkeit in über 35 Sprachen (im Internet erhältlich unter: http://www.culturementalhealth.com/clinicaltools/assessment/screening-for-common-mental-disorders/phq-in-different-languages/ oder www.phqscreeners.com) ist der PHQ zu einem Standardinstrument der effizienten Diagnostik häufiger psychischer Störungen geworden, die in der psychiatrischen Versorgung und für die Konsiliar- und Liaisontätigkeit von Bedeutung sind (Ferrari et al., 2015; Kroenke, Spitzer, Williams & Löwe, 2010; Wolf, Burian, Arolt & Diefenbacher, 2013). In einer früheren Untersuchung von Glaesmer et al. (2009) konnte weder auf Symptomebene noch für die dimensionalen Beschwerdemaße des PHQ ein Zusammenhang zwischen Migrationshintergrund und den untersuchten somatischen und depressiven Beschwerden gefunden werden. Diese Studie zielte jedoch mit ihrem epidemiologischen Studiendesign auf eine repräsentative Stichprobe der deutschen Allgemeinbevölkerung, und bot daher keine Möglichkeit einer Berücksichtigung spezifischer kultureller Faktoren bzw. einer Erhebung in der Muttersprache. Der PHQ-9 ist für die Diagnostik einer depressiven Episode validiert und es konnte Messäquivalenz im Kontext von Migration bestätigt werden (Löwe et al., 2004; Manea, Gilbody & McMillian, 2012). In einer Studie, die den PHQ9 anhand von Faktorenanalysen bei Niederländern und Migranten aus Surinam untersuchte, fand sich insbesondere für Frauen eine kulturelle Invarianz, woraus die Autoren schlossen, dass der PHQ-9 gut bei Migrantinnen einsetzbar ist (Baas et al., 2011). In einer Studie von Huang, Chung, Kroenke, Delucchi und Spietzer (2006) konnte gezeigt werden, dass der PHQ-9 bei den vier ethnisch bzw. kulturell größten Bevölkerungsgruppen in den USA ein gemeinsames Konzept von Depression erfassen kann, so dass der PHQ-9 als effektiv für die Erkennung und die Verlaufskontrolle von Depressionen in diesen Gruppen eingeschätzt wurde. Mewes et al. (2010) und Hirsch, DonnerBanzhoff und Bachmann (2013) zeigten sowohl für das Depressivitätsmodul (PHQ-9) und das Modul für somatische Beschwerden (PHQ-15) eine gute Messäquivalenz bei in Deutschland lebenden Menschen mit Migrationshintergrund, so dass vergleichende PHQ Schweregradbestimmungen möglich sind. Wie der PHQ-9 ist auch der PHQ15 in anderen Sprachen validiert und es konnte ebenfalls Messäquivalenz im Kontext von Migration bestätigt werden (Han et al., 2009; Hirsch et al., 2013; Lee, Yee & Adley, 2011; Mewes et al., 2010). Als ein relativ kurzes und in

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verschiedenen Nationen validiertes Instrument, wird der PHQ daher auch in häufigen ostasiatischen Sprachen wie Chinesisch, Koreanisch, Japanisch aber auch südostasiatischen Sprachen wie Thai, Malaiisch und Vietnamesisch verwendet (Kroenke et al., 2010).

Psychosoziale Versorgung vietnamesischer Migranten Auch 40 Jahre nach der Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Vietnam, sowie der politisch-integrativen Aufnahme von etwa 40 000 sogenannten «Boatpeople» in der BRD und gleichzeitiger Anwerbung von ca. 80 000 Vertragsarbeitern durch die DDR sind vietnamesische Migranten in der psychosozialen Versorgungsforschung weiterhin kaum präsent. Aufgrund der geopolitisch-historischen Verzahnung lebten 2014 knapp 130 000 Menschen mit vietnamesischem Migrationshintergrund in Deutschland, wovon 84 455 vietnamesische Staatsbürger sind (Statistisches Bundesamt, 2014). In Berlin als geteilter und wiedervereinter Stadt leben heute über 22 500 Menschen mit vietnamesischem Migrationshintergrund. Eine Auswertung der Inanspruchnahme der ambulanten psychiatrischen Versorgungsangebote für vietnamesische Migranten konnte zeigen, dass ein integriertes sprachund kultursensibles, multilokal vernetztes Angebot mit niederschwelligen Zugangsstrukturen die Akzeptanz psychiatrischer Versorgung für die zuvor schwer erreichbaren vietnamesischen Migranten deutlich verbessern konnte (Dreher, Hahn, Diefenbacher, Burian & Ta, 2013; Ta et al., 2015). Vor dem Hintergrund der komplexen vietnamesisch-deutschen Migrationsgeschichte mit einem bis heute anhaltenden Einfluss wirkmächtiger Mobilitätsregimes (Glick Schiller & Salazar, 2013), zeigte diese Untersuchung auch, dass persönliche Empfehlungen von Patientinnen untereinander und ein aktives Vernetzen der Mitarbeiter innerhalb der differenten vietnamesischen Communities wichtige Akzeptanzfaktoren darstellten (Ta et al., 2015). Fünf Jahre nach Eröffnung der Angebote an zwei Berliner Standorten (Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Charité Campus Benjamin Franklin und Abteilung für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik des Ev. Krankenhaus Königin Elisabeth Herzberge (KEH)) zeigte sich bei insgesamt 300 erstmalig vorstelligen Patienten mit vietnamesischem Migrationshintergrund eine anhaltende relative Überrepräsentation von Frauen; wobei am häufigsten eine depressive Episode als Hauptdiagnose vergeben wurde. Während Intervisionen der in den Ambulanzen tätigen

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Mitarbeiterinnen fiel hier eine häufige Angabe initial somatischer Beschwerden auf.

Kultureller Einfluss auf Somatisierung und depressive Symptome

Fragestellung und Ziel

Depressive psychische und somatische Symptome finden sich in unterschiedlicher Ausprägung in allen Gesellschaften (Kirmayer & Young, 1998; Sayar, Kirmayer & Taillefer, 2003). Mit dem Konzept der Somatisierung wird eine Ausdrucksform psychologischen Stresses beschrieben, wobei kulturspezifische Erklärungsmodelle auf einer westlichdualistischen Ontologie mit einer Trennung von Soma und Psyche oder einer psychodynamisch geprägten psychosomatischen Konversionstheorie aufbauten (Diefenbacher, 2015; Kirmayer & Sartorius, 2007). Korrelate häufig auftretender somatischer Symptome können Angst und Depressivität, negative Affektivität, längere Erkrankungen in der Kindheit, traumatische Ereignisse in der Lebensgeschichte, nicht ausreichend normalisierende körperliche Attributionen, aber auch traditionelle medizinische Nahrungsgewohnheiten sein (Chio & Zaroff, 2015; Kirmayer & Sartorius, 2007; Sayar, Kirmayer & Taillefer, 2003). Abhängig vom kulturellen Kontext wurden somatische Symptome mit einer Vielzahl sich überschneidender Bedeutungen, u. a. als Repräsentation eines Krankheitsmodells oder symbolische Präsentation eines psychologischen Konflikts, als kulturell geprägte Metaphern eines Krankheitsausdrucks, aber auch mit Formen sozialen Protests in Verbindung gebracht (Groleau & Kirmayer, 2004; Kirmayer & Sartorius, 2007; Kirmayer, 1992; Nichter, 2010). Vergleichende Untersuchungen zu Krankheitskonzepten wie der in China in den 80er Jahren häufig diagnostizierten Neurasthenie und der Depression in den USA, bildeten in ihrer anthropologisch-psychiatrischen Auseinandersetzung mit dem kulturellen Einfluss auf depressive Symptomatik und Diagnostik den Grundstein einer «New Cross-Cultural Psychiatry» (Kleinman, 1977, 1982). In späteren Arbeiten wurde repliziert, dass Menschen chinesischer Herkunft eine Tendenz zur Betonung somatischer im Vergleich zu psychologischen Symptomen bei Depression zeigten (Parker, Cheah & Roy, 2001). In der Folge etablierte sich die erneut etwas dichotomisierende Beschreibung einer spezifischen kulturellen Formung von Depression mit chinesischer Somatisierung in der östlichen und Psychologisierung in der westlichen Hemisphäre, die jedoch zunehmend differenzierter und kritischer betrachtet wird (Ryder & Chentsova-Dutton, 2012; Ryder © 2016 Hogrefe

et al., 2008). Bei Menschen südasiatischer Herkunft im Großbritannien zeigte eine vergleichende Studie, dass vor allem bei erstmaligen Kontakten häufiger somatische Symptome einer Depression präsentiert wurden (Gater et al., 2009).

Die Fragestellung entwickelte sich ausgehend von klinischen Beobachtungen häufiger somatischer- und schmerzbezogener Symptomatik im Rahmen der erstmaligen Vorstellung von vietnamesischen Patienten der ersten Generation. Symptomatisch waren dies häufig Kopf- und Gliederschmerzen. Ziel der vorliegenden Studie ist eine vergleichende, quantitative Erhebung von depressiven und somatischen Symptomen mittels des PHQ-9 und PHQ-15 bei vietnamesischen Migrantinnen der ersten Generation und deutschen Patientinnen ohne Migrationshintergrund, die sich zum ersten Mal mit einer klinisch diagnostizierten Depression vorstellten. Aufgrund der während der Studienplanung noch geringen Inanspruchnahme der ambulanten Spezialangebote durch vietnamesische Männer, insbesondere mit der Hauptdiagnose einer Depression, musste eine Beschränkung auf Frauen erfolgen, um ein ausreichend großes und bezüglich der Diagnose vergleichbares Sample zu gewährleisten (Ta et al., 2015).

Hypothesen Da bisherige Studien häufiger somatische Symptome in asiatischen Kulturen beschrieben (Parker, Cheah & Roy, 2001; Ryder et al., 2008), gingen wir hypothetisch von einem signifikant erhöhten PHQ-15 Gesamtsummenwert und insbesondere signifikant erhöhten schmerzbezogenen Symptomen bei der Inanspruchnahmepopulation von vietnamesischen Patientinnen mit der Diagnose einer Depression aus. Bezüglich des PHQ-9 erwarteten wir bei den Patientinnen deutscher Herkunft signifikant erhöhte Mittelwerte insbesondere bei den psychologischen oder kognitiven Einzelitems des PHQ-9 (Anhedonie, depressive Verstimmung, Minderwertigkeitsgefühle) im Vergleich zu vietnamesischen Patientinnen. Bezüglich des Gesamtwertes des PHQ-9 erwarteten wir bei den psychologischen Einzelitems einen höheren Gesamtsummenwert bei den deutschen Patientinnen. Zudem erwarteten wir nach Berechnung von Cronbach’s α als Gütekriterium für die Reliabilität für beide Gruppen mindestens eine zufriedenstellende interne Konsistenz beider Skalen.

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Methode Patientinnen Alle Daten wurden im Rahmen eines ambulanten psychiatrischen Erstkontaktes entweder in den psychiatrisch-psychotherapeutischen Spezialambulanzen für Vietnamesische Migranten an der Charité am CBF bzw. am KEH erhoben. Im Rahmen der systematischen Befunderhebung in der psychiatrischen Ambulanz mit Schwerpunkt auf affektive Störungen am KEH ist die initiale Verwendung des Gesamt-PHQ ein etabliertes Standardverfahren. Bei allen eingeschlossenen Patientinnen war mindestens eine leichtgradige depressive Episode (ICD-10: F32.0) als Hauptdiagnose anhand eines Interviews in Deutsch oder in Vietnamesisch von Fachärzten für Psychiatrie und Psychotherapie nach den operationalisierten Kriterien des ICD-10 diagnostiziert worden. Vorliegende Abhängigkeitserkrankungen, außer Nikotinabhängigkeit, Vordiagnosen psychotischer oder bipolarer Störungen oder neurodegenerative Erkrankungen waren ein Ausschlusskriterium. Zum Einschluss der vietnamesischen Patientinnen der ersten Generation war muttersprachliches Vietnamesisch, mindestens Abschluss der 8. Klasse in Vietnam und die Migration frühestens nach Vollendung des 17. Lebensjahres Voraussetzung. Deutsche Patientinnen mit Depression, die sich im Untersuchungszeitraum vorstellten, wurden nach Alter und Schulbildungsjahren den vietnamesischen Patientinnen zugeordnet. Alle Patientinnen wurden vor der Teilnahme an der Erhebung ihrer Symptomatik mittels des PHQ über die Durchführung und die Zielsetzung der Studie, sowie die Sicherstellung der Datenanonymität aufgeklärt und gaben ihr schriftliches Einverständnis zu einer wissenschaftlichen Veröffentlichung.

Befunderhebung in den Spezialambulanzen für vietnamesische Migranten Die ausgewerteten Daten basieren auf einer bei Bedarf muttersprachlich erhobenen Basisdokumentation von erstmalig vorstellig gewordenen vietnamesischen Patientinnen im definierten Erhebungszeitraum ab März 2013 bis März 2015. Die wahlweise auch bilinguale vietnamesisch-deutsch durchgeführte Basisdokumentation orientierte sich an dem «Mindestindikatorensatz zur Erfassung des Migrationsstatus» (Schenk et al., 2012) und wurde bei Ta et al., 2015 ausführlich beschrieben. Relevante migrationsspezifische Daten im Studienkontext waren im Rahmen dieser Studie die Aufenthaltsdauer in Deutschland, das Alter bei Migration und die Selbstauskunft der vietnamesischen Patienten über ihre Kenntnisse der deutschen Sprache.

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Die Diagnostik der psychiatrischen Hauptdiagnose erfolgte nach den Kriterien des ICD-10, sowie anhand eines strukturierten Interviews angelehnt an eine vietnamesische Übersetzung des M.I.N.I. Interviews (Lecrubier, Y., Sheehan, D. & Weiller, E. 1997). Neben der psychiatrischen Hauptdiagnose wurde bei Diagnose einer depressiven Episode der Schweregrad bei Erstvorstellung mittels des PHQ-9 sowie die somatische Symptomausprägung mittels des PHQ-15 erfasst, die ebenfalls in deutscher und vietnamesischer Übersetzung vorlagen. Die vietnamesische Übersetzung des PHQ ist dabei lizenzfrei im Internet verfügbar und wird in vietnamesischen Migrantenpopulationen z. B. in Australien aber auch in Vietnam in psychiatrischen Kliniken oder Ambulanzen eingesetzt. Das zunächst selbstständige Ausfüllen der Fragebögen wurde im anschließenden psychiatrischen Erstgespräch fachärztlich auf Verständnis überprüft.

Psychometrische Instrumente PHQ-9: Der PHQ-9 fragt anhand von 9 Items nach den Kriterien einer Depression nach DSM-IV, die im Kern auch für das DSM-5 gelten. Der PHQ-9 besitzt auch in der deutschen Übersetzung als PHQ-D eine hohe Sensitivität für depressive Störungen von 95–98 % und eine gute Spezifität von 80– 86 % und gilt anderen Selbstrating-Instrumenten zur Erfassung depressiver Störungen als überlegen (Gräfe, Zipfel, Herzog & Löwe, 2004; Löwe et al., 2004). Die Ausprägung der Depressivität wird für die letzten 2 Wochen auf einer Skala von 0 («überhaupt nicht») bis 3 («beinahe jeden Tag») gemessen; so dass der Gesamtsummenwert einen Range von 0 bis 27 hat (Gräfe, et al., 2994; Kroenke et al., 2010). PHQ-15: Der PHQ-15 fragt anhand einer Liste nach 15 somatischen Beschwerden, die 90 Prozent der in der Primärversorgung vorgetragenen körperlichen Symptome ausmachen, wobei 2 Items aus dem PHQ-9 («Schlafstörungen bzw. vermehrter Schlaf» und «Müdigkeit oder Energiemangel») verwendet werden. Die Beeinträchtigung durch diese somatischen Symptome soll für die letzten 4 Wochen auf einer Skala von 0 («nicht beeinträchtigt») bis 2 («stark beeinträchtigt») bewertet werden. Mit einem Skalensummenwert von 0–30 Punkten kann der PHQ-15 sowohl den Schweregrad für die häufigsten somatischen Beschwerden als auch die Einzelkriterien für eine Somatisierungsstörung erfassen (Kroenke, Spitzer & Williams, 2002; Kroenke et al., 2010). Da das Kriterium der «nicht organischen Erklärbarkeit» bei der Diagnostik der somatoformen Störungen nach dem DSM-5 nicht mehr angewandt wird, kann der PHQ-15, der ebenfalls keine organische Erklärbarkeit der somatischen Symptome voraussetzt, auch nach den Kriterien des DSM-5 angewandt werden (Kocalevent, Hinz & Brähler, 2013).

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Tabelle 1. Soziodemographische Merkmale bei vietnamesischen Patientinnen der ersten Generation und deutschen Patientinnen. Soziodemographische Merkmale

Vietnamesische Patientinnen n = 66

Deutsche Patientinnen n = 83

Signifikanz p Wert

Alter (Jahre) MW ± SD Altersrange (Jahre)

44.3 ± 10.3 24–72

44.7 ± 11.2 24–65

n. s.1

Schulbildung (Jahre) MW ± SD

10.3 ± 2.4

10.8 ± 1.2

n. s.1

Erwerbstatus Berufstätig (einschließlich Krankschreibung) Arbeitslosigkeit keine Arbeitserlaubnis Erwerbsunfähigkeitsrente Altersrente/Pension

(Anzahl/Prozent) 18/27.4 30/45 9/13.6 1/1.5 1/1.5

(Anzahl/Prozent) 51/61.4 27/32.6 0/0 1/1.2 4/4.8

p = 0.0012

Anmerkungen. MW = Mittelwert, SD = Standardabweichung, n = Fallzahl, n.s. = nicht signifikant, 1t-Test für unabhängige Stichproben, 2Chi-Quadrat Test

Statistische Auswertung Die statistische Analyse der demographischen und psychometrischen Daten erfolgte mit dem Programm IBM SPSS Statistics für Windows, Version 21. Statistische Analysen auf mögliche Unterschiede zwischen vietnamesischen und deutschen Patientinnen in Bezug auf kontinuierliche Variablen (Alter und Schulbildung in Jahren) erfolgten mittels t-Tests für unabhängige Stichproben und für ordinale Variablen (Erwerbstatus und PHQ Schweregrade) mittels Chi-Quadrat Test. Ein möglicher Zusammenhang zwischen der Ethnizität und damit verbunden der Migrationserfahrung und den PHQ-9 und PHQ-15 Gesamtmittelwerten, sowie den Mittelwerten der einzelnen Items beider Skalen erfolgte mittels einer multivariaten Analyse (MANOVA) mit dem Faktor Ethnizität und der jeweiligen abhängigen Variable. Das Signifikanzniveau wurde mit α = 0,05 festgesetzt. Zur Untersuchung und zum Vergleich der Reliabilität der beiden Skalen PHQ-9 und PHQ-15 wurde als Maß für die interne Konsistenz Cronbach's α für beide Patientengruppen separat berechnet. Als Richtwert für eine zumindest ausreichende interne Konsistenz wurde ein Wert von > 0,7 mit zufriedenstellend bewertet.

Ergebnisse

ration und 83 deutsche Patientinnen, die in Alter und Bildung der vietnamesischen Stichprobe entsprachen, eingeschlossen. Deutsche Patientinnen ohne Migrationshintergrund waren dabei mehr als doppelt so häufig berufstätig bzw. krankgeschrieben, während die vietnamesischen Patientinnen deutlich häufiger arbeitslos waren. Tabelle 2. Aufenthaltsdauer, Alter bei Migration und Deutschkenntnisse bei vietnamesischen Patientinnen der ersten Generation (n = 66). Migrationsassozierte Merkmale

n = 66

Aufenthaltsdauer (Jahre) MW ± SD

15.6 ± 9.9

Anzahl

Prozent

0–3 Jahre

7

10.6

4–10 Jahre

19

28.8

11–20 Jahre

17

25.8

21–30 Jahre

18

27.3

30–39 Jahre

5

7.5

18–29 Jahre

36

54.6

30–39 Jahre

22

33.3

40–49 Jahre

5

7.6

50–59 Jahre

3

4.5

gut/sehr gut

7

10.6

mittelmäßig

21

31.8

gering

28

42.4

sehr gering/keine

10

15.2

Alter bei Migration aus Vietnam (Jahre) MW ± SD

29.3 ± 10.2

Deutschkenntnisse

Soziodemographie und migrationsspezifische Merkmale Tabelle 1 stellt vergleichend die soziodemographischen Merkmale bei vietnamesischen Patientinnen der ersten Generation und deutschen Patientinnen dar. Insgesamt wurden 66 vietnamesische Patientinnen der ersten Gene© 2016 Hogrefe

Anmerkungen. MW = Mittelwert, SD = Standardabweichung, n = Fallzahl

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E. Hahn et al.: PHQ 9 und 15 bei vietnamesischen Patientinnen

Tabelle 2 stellt die Aufenthaltsdauer, Alter bei Migration und Deutschkenntnisse bei vietnamesischen Patientinnen der ersten Generation dar. Die Mehrzahl der vietnamesischen Patientinnen lebte länger als 10 Jahre und migrierte vor dem 30. Lebensjahr nach Deutschland. Trotzdem gaben über 50 % der vietnamesischen Patientinnen ihre deutschen Sprachkenntnisse mit gering oder sehr gering an.

Patient Health Questionnaire Die interne Konsistenz war sowohl für den PHQ-9 als auch für den PHQ-15 in beiden Stichproben zufriedenstellend und zeigte auch im Vergleich beider Skalen keine Unterschiede: PHQ-9: deutsche Patientinnen: Cronbach's α = 0,76; vietnamesische Patientinnen: Cronbach's α = 0,86. PHQ-15: deutsche Patientinnen: Cronbach's α = 0,76; vietnamesische Patientinnen: Cronbach's α = 0,84. PHQ-9 Tabelle 3 stellt den Gesamtwert, sowie die Einordnung nach Schweregraden und die Mittelwerte der Einzelitems für beide Gruppen von Patientinnen anhand des PHQ-9 dar. Der Gesamtsummenmittelwert lag bei 15,6 Punkten bei den vietnamesischen Patientinnen und 15,4 bei den deutschen Patientinnen, was einer mäßig schweren depressiven Symptomatik entspricht. Auch hinsichtlich der prozentualen Verteilung der Schweregrade (leicht-schwer) fand sich kein signifikanter Unterschied zwischen den bei-

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den Gruppen. Auf der Ebene der einzelnen Items gab es keinen signifikanten Unterschied bezüglich 7 Einzelitems, bei 2 Items (Konzentrationsstörungen und psychomotorische Verlangsamung oder Unruhe) erreichten die vietnamesischen Patientinnen signifikant höhere PHQ-9 Werte. PHQ-15 Tabelle 4 stellt den Gesamtwert, sowie die Einordnung nach Schwergraden und die Mittelwerte der Einzelitems für beide Gruppen dar. Der Gesamtsummenmittelwert war signifikant unterschiedlich und entsprach bei den vietnamesischen Patientinnen mit 16,2 Punkten einer schwereren somatischen Symptomatik als mit 12,5 Punkten bei den deutschen Patientinnen. Hinsichtlich der prozentualen Verteilung des Schweregrades moderat-schwer) zeigte sich ein signifikanter Unterschied, wobei über 60 % der depressiven vietnamesischen Patientinnen einer schwergradig ausgeprägten somatischen Symptomatik zuzuordnen waren. Auf der Ebene der einzelnen Items gaben vietnamesische Patientinnen hochsignifikant stärkere Symptome für die Items «Schmerzen in den Gliedern oder Gelenken»; «Kopfschmerzen; «Schmerzen im Brustbereich»; «Schwindel»; und «Ohnmachtsanfälle» an.

Diskussion In dieser Studie wurde die depressive und somatische Symptompräsentation anhand des PHQ-9 und PHQ-15 bei erstmaliger Vorstellung einer ambulanten Inanspruch-

Tabelle 3. Mittelwerte und Schweregrad depressiver Symptome anhand des PHQ-9 bei der Inanspruchnahmepopulation von vietnamesischen Patientinnen der ersten Generation und deutschen Patientinnen. Vietnamesische Patientinnen n = 66

Deutsche Patientinnen n = 83

Signifikanz p Wert

PHQ-9 Gesamtsummenwert (0–27) MW ± SD

15.6 ± 6,2

15.4 ± 4.6

n. s.1

Schwergrad der Depression leicht (5–9) moderat (10–14) mäßig schwer (15–19) schwer (20–27)

(Anzahl/Prozent) 11/16.7 21/31.8 15/22.7 19/28.8

(Anzahl/Prozent) 8/9.7 28/33.7 28/33.7 19/22.9

n. s.2

PHQ-9 Einzelitems (1) Anhedonie (2) depressive Verstimmung (3) Schlafstörungen (4) Energiemangel (5) Appetitveränderung (6) Minderwertigkeitsgefühle (7) Konzentrationsstörungen (8) verlangsamte Psychomotorik/Unruhe (9) Lebensüberdrussgedanken

MW ± SD 1.80 ± 0.96 1.76 ± 0.96 2.33 ± 0.81 2.11 ± 0.95 1.55 ± 1.15 1.55 ± 1.14 2.02 ± 1.00 1.65 ± 1.13 0.86 ± 0.98

MW ± SD 1.82 ± 0.83 1.99 ± 0.83 2.28 ± 0.83 2.24 ± 0.82 1.61 ± 0.90 1.84 ± 0.94 1.70 ± 0.91 1.23 ± 1.01 0.70 ± 0.78

n. s.1 n. s.1 n. s.1 n. s.1 n. s.1 n. s.1 p = 0.0451 p = 0.0181 n. s.1

Anmerkungen. MW = Mittelwert, SD = Standardabweichung, n = Fallzahl, n. s. = nicht signifikant, 1Lineares Modell (MANOVA), 2Chi-Quadrat Test

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Tabelle 4. Mittelwerte und Schweregrad somatischer Symptome anhand des PHQ-15 bei der Inanspruchnahmepopulation von vietnamesischen Patientinnen der ersten Generation und deutschen Patientinnen. Vietnamesische Patientinnen n = 66

Deutsche Patientinnen n = 83

Signifikanz p Wert

PHQ-15 Gesamtsummenwert (0–30) MW ± SD

16.42 ± 5.97

12.53 ± 4.90

p < 0.0011

Schweregrad somatischer Symptome moderat (5–9) mäßig schwer (10–14) schwer (15–30)

(Anzahl/Prozent) 11/16.7 13/19.7 42/63.6

(Anzahl/Prozent) 28/33.7 25/30.1 30/36.1

p = 0.0032

PHQ-15 Einzelitems (1) Bauchschmerzen (2) Rückenschmerzen (3) Schmerzen in Gliedmaßen oder Gelenken (4) Menstruationsschmerzen (5) Schmerzen beim Geschlechtsverkehr (6) Kopfschmerzen (7) Schmerzen im Brustbereich (8) Schwindel (9) Ohnmachtsanfälle (10) Herzklopfen oder Herzrasen (11) Kurzatmigkeit (12) Darmbeschwerden (13) Übelkeit oder Verdauungsbeschwerden (14) Energiemangel (15) Schlafstörungen

MW ± SD 0.74 ± 0.71 1.29 ± 0.72 1.48 ± 0.69 0.65 ± 0.79 0.45 ± 0.71 1.65 ± 0.54 1.06 ± 0.78 1.38 ± 0.72 0.58 ± 0.77 0.91 ± 0.78 0.88 ± 0.80 0.92 ± 0.77 0.98 ± 0.79 1.65 ± 0.57 1.79 ± 0.41

MW ± SD 0.59 ± 0.70 1.13 ± 0.79 0.82 ± 0.83 0.40 ± 0.68 0.28 ± 0.61 0.95 ± 0.70 0.59 ± 0.73 0.89 ± 0.75 0.12 ± 0.40 0.95 ± 0.80 0.65 ± 0.74 0.77 ± 0.69 0.84 ± 0.72 1.77 ± 0.45 1.77 ± 0.45

n. s.1 n. s.1 p < 0.0011 p = 0.371 n. s.1 p < 0.0011 p < 0.0011 p < 0.0011 p < 0.0011 n. s.1 n. s.1 n. s.1 n. s.1 n. s.1 n. s.1

Anmerkungen. MW = Mittelwert, SD = Standardabweichung, n = Fallzahl, n. s. = nicht signifikant, 1Lineares Modell (MANOVA), 2Chi-Quadrat Test

nahmepopulation von als depressiv diagnostizierten vietnamesischen Migrantinnen der ersten Generation mit einer Vergleichsgruppe deutscher Patientinnen ohne Migrationshintergrund verglichen. Es konnte zunächst die Hypothese bestätigt werden, dass hinsichtlich der internen Konsistenz des PHQ-9 (Cronbach's α = 0,86) und des PHQ-15 (Cronbach's α = 0,84) bei Einsatz in der vietnamesischen Muttersprache eine wie auch bei deutschen Patienten mindestens zufriedenstellende Reliabilität erreicht werden konnte. Die interne Konsistenz für die Skalen entsprach dabei der deutschen Validierungsstudie des PHQD für das Depressionsmodul (Cronbach's α, = 0.88) und das Somatisierungsmodul (Cronbach's α, = 0.79) (Gräfe et al., 2004). Diese gute, auch mit anderen Untersuchungen in Migrantenpopulationen vergleichbare Reliabilität, wurde hier erstmals in einem Sample von vietnamesischen Migrantinnen gezeigt und unterstützt die bisherige Datenlage zum Einsatz dieser Skalen in der kultursensiblen Diagnostik (Glaesmer et al., 2012; Mewes et al., 2010). Weiterhin konnte während der Studiendauer beobachtet werden, dass der PHQ als modularer Selbsterhebungsfragebogen gut in ein ambulantes Versorgungsangebot für vietnamesische Migranten der ersten Generation zu integrieren war und als muttersprachliche Version auf eine hohe Akzeptanz traf. Die Hypothese konnte bestätigt werden, dass bei vietnamesischen Migrantinnen mit Depression ein signifikant © 2016 Hogrefe

erhöhter PHQ-15 Gesamtsummenwert sowie ein höherer Anteil schwergradiger Somatisierung im Vergleich zu deutschen Patientinnen festzustellen war. Bei der Analyse der Einzelitems fanden sich entsprechend unserer Hypothese signifikant erhöhte Werte, insbesondere bei den schmerzbezogenen Symptomen wie Kopfschmerzen, Gelenk- und Gliederschmerzen, Schmerzen im Brustbereich und Menstruationsschmerzen; aber auch für die Items Schwindel und Ohnmachtsanfälle. Diese Ergebnisse bestätigen frühere Befunde über häufigere Angaben von somatischen Symptomen unter Menschen asiatischer Herkunft (Parker et al., 2001). Eine mögliche Erklärung könnten Daten aus ethnographischen und quantitativ-empirischen Studien bieten, die zeigten, dass Angehörige asiatischer Kulturen erhöhte Level von körperlicher Aufmerksamkeit, aber geringere Werte bezüglich einer interozeptiven Genauigkeit als Angehörige westlicher Kulturen zeigten. Dieser Unterschied wurde unter anderem mit höherer Aufmerksamkeit auf externe kontextuelle Faktoren bei Angehörigen asiatischer Herkunft in Verbindung gebracht (Ma-Kellams, 2014). Zudem erleben und artikulieren Menschen ostasiatischer Sozialisation und kultureller Identifikation körperliche und psychologische Zustände enger miteinander verflochten, wobei dualistisch getrennte Krankheitserklärungen seltener artikuliert werden (Ots, 1990). Das Aufsuchen psychiatrischer Hilfe geht in asiatischen Kulturen häufiger mit Gefühlen von

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Scham einher, so dass die Aufmerksamkeit und das Eingehen auf somatische Symptome analog zu einer nicht-psychiatrischen ärztlichen Konsultation weniger schambesetzt sein könnte (Tseng, 2004). In diesem Kontext sind auch Untersuchungen zu sehen, die zeigen konnten, dass Patienten asiatischer Herkunft aufgrund von erwarteter Stigmatisierung seltener bereit waren über eine psychische Erkrankung zu sprechen (Chan & Parker, 2004). Linguistische Untersuchungen zum Ausdruck von Emotionen zeigten, dass obwohl Somatisierung in allen Kulturen auftritt, insbesondere Mitglieder asiatischer Communities ihr psychisches Erleben häufiger in verbalen auch schmerzassoziierten Begriffen physischen Erlebens beschrieben (Benedek, 2007). In einer vergleichenden Arbeit, die den Einfluss von kultureller Herkunft auf das sprachliche Beschreiben von Emotionen untersuchte, wurde gezeigt, dass US-Amerikaner chinesischer Herkunft, die weniger an die US-amerikanische Mainstream Kultur akkulturiert waren, häufiger körperbezogene Begriffe benutzten, wenn sie über Beziehungen, frühe Kindheitserinnerungen oder über ihre aktuellen Partnerschaften sprachen (Tsai, Simeonova & Watanabe, 2004). Die Hypothese einer geringeren Ausprägung von mit dem PHQ-9 gemessenen depressiven Symptomen bei Patientinnen vietnamesischer Herkunft konnte in unserem Sample nicht bestätigt werden. Es fanden sich weder Gruppenunterschiede bezüglich des PHQ-9 Gesamtsummenwerts, noch signifikante Unterschiede in Bezug auf die Abstufung der Schweregrade. Auch die Hypothese einer deutlicheren «Psychologisierung» bei deutschen Patientinnen konnten anhand der Einzelitems («Anhedonie», «depressive Verstimmung», «Minderwertigkeitsgefühle») im Vergleich zu vietnamesischen Patientinnen nicht bestätigt werden. Dagegen fanden sich für die Items «Konzentrationsstörungen» und «verlangsamte Psychomotorik/Unruhe» signifikant höhere Mittelwerte bei den vietnamesischen Patientinnen. Die Zusammenschau der bei depressiven vietnamesischen Migrantinnen signifikant erhöhten Einzelitems sowohl des PHQ-9 und PHQ-15 zeigt einige Übereinstimmung mit dem u. a. von Kleinman in China beschriebenen Syndrom der Neurasthenie: Die Merkmale einer vermehrten Müdigkeit nach geistigen Anstrengungen gehen in diesem Fall mit Konzentrationsstörungen, Kopfschmerzen sowie Gefühlen körperlicher Schwäche einher und werden begleitet von anderen Schmerzsymptomen, Schwindelgefühlen und der Unfähigkeit, sich zu entspannen (Kleinman, 1982). Das Ergebnis dieser Studie liefert weitere Daten, die der Hypothese einer vermehrten Somatisierung bei asiatischen und anderen nicht-westlichen Gesellschaften bei einer gleichzeitig antagonistischen Psychologisierung psychischen Leidens bei westlichen Gesellschaften widersprechen. So konnte eine ebenfalls in Berlin durchgeführte

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Studie im Vergleich stationär behandelter türkischer Migrant_innen mit Depression zu einem gematchten deutschen Sample deutscher Patient_innen zwar höhere somatische und vegetative Syndromskalenwerte, jedoch keine Unterschiede hinsichtlich depressiver Syndromskalenwerte anhand der entsprechenden AMDP Skalen zeigen (Diefenbacher & Heim, 1994). Auch neuere Diskussionen fokussieren auf ein soziosomatisches und kontextabhängiges Verständnis, wobei insbesondere in chinesischen Samples zwar eine vermehrte somatische Aufmerksamkeit bei Depression, jedoch ebenso häufig eine depressive Stimmung berichtet wurde (Dere et al., 2013; Ryder & Chentsova-Dutton, 2012). So kann in ostasiatischen Kulturen ein besonderer Wert in der Vermeidung von interpersonellen Konflikten durch Bescheidenheit in der Kommunikation und Vermeidung starker Emotionen liegen, der mit häufigeren verbal körperbezogenen Ausdrucksformen assoziiert sein kann (Kim, Atkinson & Umemoto, 2001). Für ein kontext-, kulturell und gesellschaftliches Verständnis von somatischer Symptompräsentation bei psychischen Leiden plädieren auch Zaroff, Chio und Madhavan (2012), die eine gleichzeitige Betrachtung der in den Sozialwissenschaften als «etisch» und «emisch» bezeichneten und zu differenzierenden Perspektiven empfehlen. Während die etische Perspektive eine auf objektivierbaren, universell gültigen Beobachtungskriterien basierende Außensicht auf bestimmte soziale und kulturelle Phänomene meint, versteht man unter der emischen Perspektive die Innensichten, die Mitglieder einer bestimmten Kultur entwerfen (von Poser & von Poser, 2014). Die beschriebenen Symptome psychischen Leidens unter vietnamesischen Patientinnen lassen sich aus etischer, z. B. medizinischer Sicht anhand des ICD-10 oder PHQ-9 ebenso als «Depression» kategorisieren. Emische Erklärungsmodelle dagegen können einer anderen, da kulturell jeweils spezifisch geprägten Sinnstiftung entspringen. Groleau & Kirmayer (2004) etwa beschreiben, dass psychische Beschwerden von vietnamesischen Migranten in Kanada entweder als extern durch kalte Winde ausgelöst z. B. «phong thấp» («Windkrankheit», einhergehend mit Energieverlust, Schwäche und rheumatischen Schmerzen) verstanden oder in Zusammenhang mit sozialer Entwürdigung oder Gesichtsverlust z. B. «uất ức» (sozial-relational bedingte Emotion von Ärger, Frustration, Verbitterung, Scham und Schuld) gesehen wurden. Bei der in dieser Studie untersuchten Inanspruchnahmepopulation vietnamesischer Migrantinnen mit Depression wurde neben diesen von Groleau und Kirmayer, 2004 beschriebenen emischen Erklärungsmodellen, häufig als Beschreibung «Rối loạn thần kinh thực vật» («vegetative Nervenstörung») verwendet, die einer Symptomatik bestehend aus Kopf- und Gliederschmerzen, Schwäche, Schwitzen und Schwindel entspricht.

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Limitierend muss erwähnt werden, dass sich diese Studie aus methodischen Gründen auf den Vergleich einer einzelnen Migrantengruppe, in einer Inanspruchnahmepopulation von vietnamesischen Migrantinnen, mit einem einzelnen Störungsbild der Depression bezieht und daher keine umfassenden Aussagen erlaubt. Dennoch konnten die Ergebnisse dieser Studie zeigen, dass sich häufige somatische und depressive Symptome mittels des einfach zu handhabenden PHQ-9 und PHQ-15 bei vietnamesischen Migrantinnen erster Generation reliabel und für die klinische Praxis relevant erfassen lassen. Ein Vergleich der PHQ Module für Depression, Somatisierung und Angststörungen mit ethnographisch abgeleiteten kulturspezifischen Skalen, wie der Vietnamese Depression Scale oder der Phan Vietnamese Psychiatric Scale steht noch aus und könnte die Validität dieser Instrumente weiter untermauern (Dinh, Yamada & Yee, 2009; Phan, Steel & Silove, 2004). Zukünftig werden daher u. a. im Rahmen des Sonderforschungsbereichs 1171 «Affective Societies: Dynamiken des Zusammenlebens in bewegten Welten» innerhalb eines ethnologisch-psychiatrischen Teilprojekts unter anderem diese Fragestellungen bei der Inanspruchsnahmepopulation vietnamesischer Patienten weitergehend untersucht werden. Mit Blick auf den Stand der kultursensiblen Diagnostik in Deutschland unterstützt diese Untersuchung Forderungen nach einer systematischen Übersicht von in Deutschland verwendeten Sprachversionen reliabler Erhebungsinstrumente, die z. B. auf einer Internetpräsenz als deutschsprachige, fremdsprachige und möglichst auch bilinguale psychodiagnostische Verfahren allen psychiatrisch und psychotherapeutisch Arbeitenden zugänglich sein könnte (Glaesmer et al., 2012). Die vorliegende Studie liefert einen weiteren Hinweis, dass insbesondere der PHQ in verschiedenen Sprachversionen ein verlässliches Selbsterhebungsinstrument im Kontext der notwendigen weiteren interkulturellen Öffnung der psychosozialen Versorgungsangebote in Deutschland darstellen könnte.

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Eric Hahn Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Charité – Universitätsmedizin Berlin Campus Benjamin Franklin Hindenburgdamm 30 12203 Berlin Deutschland Eric.Hahn@charite.de

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Themenschwerpunkt

Spätaussiedler, Migranten, Deutsche ohne Migrationshintergrund im Maßregelvollzug (§ 63 StGB) Unterschiede und Gemeinsamkeiten Jan Bulla, Amelie Baumann, Jan Querengässer, Klaus Hoffmann und Thomas Ross Zentrum für Psychiatrie Reichenau, Klinik für Forensische Psychiatrie und Psychotherapie, Reichenau

Zusammenfassung: Spätaussiedler haben aus historischen und politischen Gründen einen besonderen Rechtsstatus. Untersucht wurde, ob es aus empirischen Gründen gerechtfertigt ist, nach § 63 StGB untergebrachte Spätaussiedler von Deutschen ohne Migrationshintergrund (Deutsche o. M.) und anderen Migranten zu unterscheiden. Hauptdiagnosen, Indexdelikte und Indikatoren für die psychosoziale, kriminologische und psychiatrische Vorgeschichte von N = 1353 Probanden wurden verglichen. Spätaussiedler glichen in verschiedenen Merkmalen entweder den Deutschen o. M. oder den Migranten. Eine dezidierte Unterscheidung ist aus Sicht dieser Erhebung nicht sinnvoll. Schlüsselwörter: Spätaussiedler, Migranten, Forensische Psychiatrie, Transkulturelle Psychiatrie

Late repatriates, migrants, and locals in forensic psychiatric hospitals according to section 63 of the German legal code: differences and similarities Abstract: In Germany, late repatriates have a special legal status. In this study, we investigated whether there are empirical reasons to uphold the differentiation between Germans without migration background, late repatriates and other migrants. N = 1353 patients under unlimited detention order (section 63 of the German legal code) were investigated for diagnoses, main offences and forensic, psychiatric and psychosocial background. Late repatriates share similarities with both comparison groups at hand. From a clinical point of view, they should be treated as a heterogeneous group of patients with treatment needs that must flexibly be adjusted to their special (transcultural) treatment needs, i. e. language skills and their dominant cultural background. Keywords: late repatriates, migrants, forensic psychiatry, transcultural psychiatry

Einleitung In Deutschland wies 2013 jeder fünfte der 80,6 Millionen Bundesbürger einen Migrationshintergrund auf (20,5 %). Darunter waren 18,8 % Spätaussiedler, was 3,8 % der Gesamtbevölkerung entspricht (Statistisches Bundesamt, 2013). In Baden-Württemberg lag der Migrantenanteil im Ländervergleich 2013 auf dem zweiten Platz mit 28,3 % (hinter Hamburg mit 29,4 %). Der Anteil an Spätaussiedlern war bundesweit ebenfalls der zweithöchste (5,7 %). Seit dem Höchstwert von 387.073 Zuzügen im Jahr 1990 ist bei dieser Gruppe ein stetiger Rückgang zu verzeichnen. 2012 zogen noch 1817 Spätaussiedler nach Deutschland (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, 2013). Während 1990 neben der Sowjetunion Polen und Rumänien die Hauptherkunftsländer waren, kamen in den letz-

ten Jahren rund 98 % der Spätaussiedler aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion, vor allem aus Russland und Kasachstan. Der generelle Rückgang beruht in erster Linie auf der Abnahme des sogenannten «Zuzugpotentials», nachdem sich mittlerweile 2,5 Millionen Spätaussiedler in Deutschland niedergelassen haben. 1993 wurden die Bedingungen enger gefasst und ein Zuzugskontingent von 225 000 Personen pro Jahr eingeführt. Als Spätaussiedler werden nach dem Bundesvertriebenengesetz (BFVG) und dem Kriegsfolgenbereinigungsgesetzt (KfbG) diejenigen vor 1993 geborenen Personen und ihre Angehörigen aus den ehemaligen Aussiedlungsgebieten anerkannt, bei welchen ein «Kriegsfolgenschicksal» vermutet oder nachgewiesen wird sowie die deutsche Volkszugehörigkeit und profunde Deutschkenntnisse belegt werden können (§ 4 BVFG). Gemäß Art. 116 GG erhal-

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J. Bulla et al.: Spätaussiedler im Maßregelvollzug (§ 63 StGB)

ten die nach dem BVFG berechtigten Personenkreise die deutsche Staatsangehörigkeit. Bis 2010 unterlagen die Spätaussiedler der Wohnortzuweisung durch festgelegte Verteilungsschlüssel des Bundesverwaltungsamtes, seitdem wird die Wohnsitznahme nicht mehr reglementiert. Es handelt sich somit um eine politisch gewollte und normativ-rechtlich definierte Entscheidung, Spätaussiedlern einen anderen Rechtsstatus als den übrigen Migrantengruppen einzuräumen. Diese wird vor allem mit der speziellen historisch-kulturellen Situation der Spätaussiedler begründet (Dix, 2009; Weber, 2009). Dabei handelt es sich keineswegs um einen deutschen «Sonderweg», wie immer wieder behauptet wird: Die meisten anderen europäischen Länder unterscheiden ebenfalls zwischen einer «allgemeinen» und einer «speziellen», in der Landesgeschichte begründeten Immigration, zum Beispiel der Einwanderung aus ehemaligen Kolonien. Auch der empirisch-soziologische Forschungsstand rechtfertigt es grundsätzlich, Spätaussiedler als eigene Untergruppe zu untersuchen. Es bilden sich eine Reihe von Unterschieden ab, wenn Spätaussiedler mit Nicht-Migranten und den übrigen Migranten verglichen werden (Worbs et al., 2013). Häufig liegen die Merkmalsausprägungen zwischen den beiden anderen Gruppen (Worbs et al., 2013). Aber, wie Schmidt (2009, S. 70) es formulierte «bei aller Unterscheidung sind integrationspolitisch eben auch ein Stück weit Gemeinsamkeiten mit anderen Migrantengruppen gegeben – und auf beides kommt es an». Sowohl die mediale und gesellschaftliche Auseinandersetzung (Rabkov, 2006) als auch spezielle Motive und sprachlich-kulturelle Voraussetzungen bei den Einwanderern haben sich seit Anfang der 1990'er Jahre geändert (Hoffmann, 2007; Worbs et al., 2013). Vor dem Fall des Eisernen Vorhangs wurden Aussiedler als Deutsche wahrgenommen, die widrigen Lebensbedingungen oder sogar der Verfolgung in kommunistischen Staaten entkommen konnten. Sie wurden nicht als eigenständige Gruppe gegenüber Deutschen o. M. erlebt. Nach 1990 entwickelte sich allmählich die Wahrnehmung einer speziellen Migrantengruppe, der zunehmend problematische Eigenschaften unterstellt wurde. Folgerichtig erschienen um die Jahrtausendwende erste wissenschaftliche Untersuchungen zur Kriminologie von Spätaussiedlern und deren Unterbringung im Maßregel- (MRV) und Strafvollzug (z. B. Grundies, 2000; Luff, 2000; Strobl & Kühnel, 2000). Als Essenz dieser Studien ist eine Überpräsentation dieser Bevölkerungsgruppe verglichen mit ihrem Bevölkerungsanteil sowohl im MRV der 1990er Jahre (Hoffmann, 2006), als auch im Strafvollzug Anfang 2000 (Kerner und Marks 2007) berichtet worden. In Baden-Württemberg lag im Jahr 2001 der Anteil der im Jugendstrafvollzug inhaftierten, aus der GUS stammenden Personen bei 19,1 % (Kerner & Marks, 2007). Zur Kriminalität der Aussiedler in den © 2016 Hogrefe

1990er Jahren sind die Befunde heterogen. Bis heute differenzieren bundesweite Kriminal-, Strafvollzugs- und Maßregelvollzugsstatistiken ausschließlich nach der Staatsangehörigkeit. Folgerichtig werden Spätaussiedler als Deutsche geführt. Die vorhandenen Studien aus einzelnen Bundesländern (Worbs et al., 2013) legen nahe, dass sich die Kriminalitätsrate auf vergleichbarem Niveau wie die der Deutschen o. M. bewegt (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, 2008; Bundesministerium der Justiz, 2006; Kerner & Marks, 2007; Worbs et al., 2013). Bei jugendlichen und heranwachsenden Spätaussiedlern ist die Kriminalitätsbelastung hingegen höher, wobei dieser Zusammenhang insbesondere auf die seit Mitte der 1990'er Jahre aus dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion eingereisten Personen zurück zu führen ist (Grundies, 2000; Heinz, 2003; Luff, 2005). Im Jahr 2001 stellten Spätaussiedler einen erheblichen Teil der Gefangenen im badenwürttembergischen Jugendstrafvollzug. Als besonders schwerwiegend wurde die hohe Rate an Bewährungswiderrufen und ein deutlich verkürztes Intervall in Freiheit gesehen (Walter, 2003). Eine wesentliche Erklärung wurde in «weiterhin vorhandene[n] problematische[n] Lebenslagen» gesehen (Worbs et al., 2013, S. 175). In den letzten Jahren wurden aber kaum noch gesonderte Daten zur Kriminalität von Spätaussiedlern erhoben. In psychiatrischen Einrichtungen außerhalb des MRV sind vor allem drogen- und alkoholabhängige Aussiedler (Collatz, 2002) sowie osteuropäische Einwanderer mit Psychosen (Koch et al., 2008) auffällig geworden. Suchtkranke, delinquente Spätaussiedler sind auch im badenwürttembergischen MRV in der Unterbringung nach § 64 StGB mit einem Anteil von 20 % deutlich überrepräsentiert (Baumann, Querengässer, Hoffmann & Mielke, 2013). Drei Viertel der Spätaussiedler im MRV sind gem. § 64 StGB untergebracht, nur ein Viertel nach § 63 StGB. Als Hauptdiagnosen dominieren hier Psychosen (Kapitel F2 der ICD-10) und Persönlichkeitsstörungen (F60, F61). Hoffmann (2006) ermittelte für die forensischen Einweisungen in die drei badischen Einrichtungen des MRV, dass in den 1990'er Jahren noch 50 % der Spätaussiedler (n = 27) gem. § 63 StGB untergebracht worden waren und nur 33,3 % (n = 18) auf Grundlage des § 64 StGB. Das damalige Verhältnis entsprach also eher den allgemeinen Proportionen. Bei den Spätaussiedlern wurden ähnlich häufig Diagnosen aus dem schizophrenen Formenkreis (35,5 %) wie bei Deutschen o. M. (29,5 %) gestellt, bei den übrigen Migranten jedoch deutlich häufiger (56,1 %). In Bezug auf Persönlichkeitsstörungen wiesen Spätaussiedler (20,4 %) und die übrigen Migranten (18,9 %) ähnliche Prävalenzen auf (Deutsche o. M.: 38,8 %). Intelligenzminderungen (18,5 % gegenüber 14,5 % bei Deutschen o. M. und 6,8 % bei den übrigen Migranten) und Alkoholabhängigkeit (7,4 % gegenüber 7,3 % und 4,1 %) waren häufiger vertreten als bei

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J. Bulla et al.: Spätaussiedler im Maßregelvollzug (§ 63 StGB)

den anderen Gruppen. Das Deliktspektrum und die Aufenthaltsdauer glichen den Vergleichsgrößen der Deutschen o. M (vgl. Hoffmann, 2007). In der vorliegenden Arbeit wird untersucht, ob sich Spätaussiedler über die juristisch-politische Dimension hinausausgehend in kriminologischen und klinischen Merkmalen signifikant von Migranten und Deutschen o. M. unterscheiden. Folgende Hypothesen wurden formuliert: 1. Bei untergebrachten Spätaussiedlern, Migranten und Deutschen o. M. liegen keine Unterschiede in den folgenden psychosozialen Indikatoren vor: Psychosozialer Status zum Zeitpunkt der Unterbringung; Schulausbildung/Schulabschluss, Berufsabschluss und Berufstätigkeit vor der Unterbringung. 2. Spätaussiedler weisen gegenüber den beiden Vergleichsgruppen keine Unterschiede bezüglich a. der kriminologischen Vorgeschichte (Einträge ins Bundeszentralregister (BZR), Alter bei erster Delinquenz, Gesamthaftdauer) b. des Alters bei der ersten allgemeinpsychiatrischen Aufnahme und der Anzahl der Voraufenthalte in der Allgemeinpsychiatrie c. des Deliktspektrums (Hauptdelikt) und d. der Unterbringungsdauer auf. 3. Diagnosen aus dem schizophrenen Formenkreis a. sind bei Spätaussiedlern gegenüber Deutschen o. M. überrepräsentiert b. werden bei Spätaussiedlern im Vergleich mit Migranten gleich häufig gestellt

Stichprobe und Methodik Stichprobe Als Datengrundlage dienten fünf von 2009 bis 2013 durchgeführte Stichtagserhebungen aus acht forensisch-psychiatrischen Kliniken in Baden-Württemberg. Dabei handelt es sich um eine von Therapeuten durchgeführte Vollerhebung aller Patienten dieser Kliniken. Die nach einem standardisierten Berichtsschema gewonnenen Daten bilden neben klinischen Indikatoren vor allem kriminologisch und versorgungsepidemiologisch relevante Fakten ab. Die Gesamtstichprobe umfasste N = 1353 gem. § 63 StGB untergebrachte Patienten. Es handelte sich sowohl um abgeschlossene als auch um laufende Maßregeln, aus denen drei Untersuchungsgruppen nach dem Kriterium des Migrationshintergrunds gebildet wurden. Die Spätaussiedler (inklusive der vor 1993 zugezogenen «Aussiedler») bildeten mit n = 83 Patienten die kleinste Gruppe (6,1 %). Als Ver-

39

gleichsgruppen dienten Deutsche o. M. mit n = 872 (64,4 %) und Patientinnen und Patienten mit anderweitigem Migrationshintergrund (n = 398; 29,4 %), die nachfolgend als Migranten bezeichnet werden. Letztere umfasste Patienten mit und ohne Aufenthaltstitel, in Deutschland geborene Ausländer, eingebürgerte Ausländer sowie Personen mit mindestens einem Elternteil, der eines der Kriterien erfüllte. Während das Geschlechterverhältnis bei allen Untersuchungsgruppen bei rund 90 männlichen zu 10 weiblichen Patienten lag, unterschieden sich die drei Gruppen im Alter bei Aufnahme: Deutsche o. M. waren im Mittel 37,5 (SD 12,8), Migranten 32,9 (SD 10,3), Spätaussiedler 37,6 (SD 11,6) Jahre alt. Die wichtigsten Herkunftsländer der Spätaussiedler waren Russland (n = 34; 41 %), Kasachstan (n = 23; 27 %) und Polen (n = 10; 12 %). Bei den Migranten waren dies die Türkei (n = 111; 27,9 %), Deutschland (n = 35; 8,8 %) und Italien (n = 31; 7,8 %).

Methoden Mittels induktiv statistischer Verfahren (χ2-Test und nichtparametrischer Verfahren) wurde jeweils überprüft, ob sich Spätaussiedler signifikant von Deutschen o. M. und Ausländern unterschieden.

Ergebnisse Psychosoziale Situation Deutsche o. M. unterschieden sich in der Lebenssituation vor der Unterbringung sowohl von den Migranten (χ2 (4, N = 1270) = 35.348, p < 0.001) als auch von den Spätaussiedlern (χ2 (4, N = 955) = 1.000; p < 0.001), nicht jedoch Spätaussiedler von Migranten (Tabelle 1). Die Schulabschlüsse von Deutschen o. M. und Migranten waren verschieden (χ2 (4, N = 1270) = 29.848, p < 0.001). Der Vergleich Spätaussiedler und Migranten war nicht signifikant (χ2 (4, N = 481) = 0.999, p = 0.087), ebenso der Vergleich zwischen Spätaussiedlern und Deutschen o. M. (χ2 (4, N = 955) = 1.509, p = 0.825). Deutsche o. M. (χ2 (1, N = 1270) = 13.537; p < 0.01) und Spätaussiedler (χ2 (1, N = 481) = 7.272; p < 0.01) hatten gegenüber Migranten häufiger eine abgeschlossene Berufsausbildung. Vor der Unterbringung arbeiteten Deutsche o. M. im Mittel M = 88,2 Monate (Median = 42,0 Monate, SD = 114,5 Monate), Migranten M = 59,9 Monate (Median = 29,0; SD = 75,8), und Spätaussiedler M = 71,7 Monate (Median = 48,0; SD = 79,1). Die Unterschiede über alle drei

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Tabelle 1. Psychosoziale Indikatoren. Deutsche o. M. n

Migranten

Spätaussiedler

%

n

%

n

%

368

42,2 %

128

32,2 %

17

20,5 %

82

9,4 %

43

10,8 %

8

9,6 %

155

17,8 %

118

29,6 %

33

39,8 %

45

5,2 %

20

5,0 %

5

6,0 %

Eingliederungs-Pflegeheim

110

12,6 %

25

6,3 %

6

7,2 %

Sonstige (wohnsitzlos und weitere)

112

12,8 %

64

16,1 %

14

16,8 %

Psychosozialer Status zum Zeitpunkt der Unterbringung ledig in Partnerschaft bei den Eltern lebend betreutes Wohnen

χ2 (10, 1353) = 54,92. p < 0.001** Schulabschluss (einschließlich während der Unterbringung erworbener) keiner + Sonderschule

229

26,3 %

118

29,7 %

24

28,9 %

Hauptschule

363

41,6 %

169

42,5 %

36

43,4 %

Mittlere Reife

138

15,8 %

49

12,3 %

9

10,8 %

Höherer Schulabschluss

120

13,8 %

25

8,8 %

12

15,7 %

22

2,5 %

27

6,8 %

2

2,4 %

29,4 %

37

44,6 %

75,8

71,7

79,1

unbekannt

χ2 (8, 1343) = 20,94. p < 0.01** Berufsausbildung abgeschlossen (einschließlich während der Unterbringung Erworbener) 341

39,1 %

117

χ2 (4, 1353) = 15,839. p < 0.001** Berufstätigkeit in Monaten bis zur Aufnahme(Median, SD) 88,2

114, 5

Untergruppen hinweg waren signifikant (Kruskal-Wallis H (1318,2) = 10,670; p < 0.05). Gleichfalls signifikant waren der paarweise Vergleich zwischen Migranten und Deutsche o. M. (H = 6,404; p < 0.05) sowie der Vergleich zwischen Migranten und Spätaussiedlern (H = 6,027; p < 0.05). Der Vergleich zwischen Spätaussiedler und Deutsche o. M. war nicht signifikant.

Forensische und psychiatrische Vorgeschichte Signifikante Unterschiede zeigten sich beim Alter der ersten psychiatrischen stationären Behandlung (H (1147, 2) = 7.405, p < 0.05). Die Spätaussiedlergruppe war um rund zwanzig Monate älter als die Migrantengruppe (Tabelle 2). Für 22,6 % der Deutsche o. M. (n = 192), 18,3 % der Migranten (n = 73) und 26,5 % der Spätaussiedler (n = 22) wur© 2016 Hogrefe

59,9

de mindestens eine suchtmedizinische Vorbehandlung berichtet. Die diesbezüglichen Unterschiede zwischen den Gruppen waren nicht signifikant.

Indexunterbringung Spätaussiedler waren mit 6,1 % unter den gemäß § 63 StGB untergebrachten Patienten im baden-württembergischen MRV vertreten. Dieser relative Anteil entsprach in etwa ihrem allgemeinen Bevölkerungsanteil von 5,7 % in Baden-Württemberg (Statistisches Bundesamt, 2013). Deutsche o. M. waren im Mittel M = 60,6 Monate untergebracht (Median = 45,0; SD = 61,6), Migranten M = 46,3 Monaten (Median = 39,0; SD = 36,5) und Spätaussiedler M = 53,2 Monate (Median = 51,0; SD = 35,4). Die Unterbringungsdauer wies signifikante Unterschiede auf (H (1353,2) = 9.675, p < 0.01). Beim paarweisen Vergleich un-

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Tabelle 2. Forensische und allgemeinpsychiatrische Vorgeschichte. Deutsche o. M.

Migranten

Spätaussiedler

MW

SD

MW

SD

MW

SD

5,1

8,4

4,3

7,4

3,3

4,3

Alter bei erster Delinquenz

23,1

14,5

22,1

13,4

24,1

16,1

Gesamthaftdauer

17,1

44,6

8,2

24,9

9,5

20,7

Alter bei erster allgemeinpsychiatrischer Aufnahme

20,6

13,9

22,2

11,4

20,5

11,6

4,5

3,7

4,2

3,6

4,3

3,9

Einträge ins BZR

Anzahl allgemeinpsychiatrischer Voraufenthalte

terschieden sich nur Migranten und Deutsche o. M. signifikant voneinander (H = 68.08, p < 0.05).

Anlassdelikte Die drei Gruppen unterschieden sich signifikant in den Indexdelikten (χ2 (1353, N = 12) = 39.148, p < 0.001) (Tabelle 3). Im Einzelgruppenvergleich waren die Spätaussiedler in ihrer Deliktstruktur den Migranten sehr ähnlich. Deutsche o. M. unterschieden sich hingegen von Migranten (χ2 (6, N = 1370) = 31.223, p < 0.001). Der Vergleich mit den Spätaussiedlern war knapp nicht signifikant (χ2 (6, N = 955) = 5.656, p = 0.059). Im Vergleich mit Deutschen o. M. begingen Spätaussiedler signifikant häufiger Körperverletzungsdelikte (χ2 (2, N = 1353) = 17.009, p < 0.001), und seltener Sexualdelikte (χ2 (2, N = 1353) = 13.065, p < 0.01).

Psychiatrische Hauptdiagnosen

Deutsche o. M. von Migranten ebenfalls hochsignifikant (χ2 (4, N = 1262) = 54.765, p < 0.001), nicht jedoch Spätaussiedler von Deutschen o. M. oder anderen Migranten. Diagnosen aus dem schizophrenen Spektrum wurden unterschiedlich häufig gestellt (χ2 (2, N = 1345) = 50.963, p < 0.001). Diese Unterschiede bildeten sich sowohl zwischen Deutschen o. M. und Migranten (χ2 (2, N = 1262) = 49.918, p < 0.001) als auch zwischen Deutschen o. M. und Spätaussiedlern (χ2 (2, N = 949) = 4.13, p < 0.05) ab, nicht jedoch zwischen den beiden Migrantengruppen. Hochsignifikante Unterschiede zeigten sich auch in der Häufigkeit von Persönlichkeitsstörungen (χ2 (2, N = 1345) = 30.974, p < 0.001). Dort unterschieden sich beim paarweisen Vergleich Deutsche o. M. und Ausländer hochsignifikant (χ2 (1, N = 1262) = 30.618, p < 0.001). Spätaussiedler unterschieden sich von Deutsche o. M. nicht. Der Vergleich Spätaussiedler und Migranten war knapp nicht signifikant (χ2 (1, N = 479) = 3.435, p = 0.064).

Diskussion

Die Unterschiede zwischen den drei Vergleichsgruppen waren hochsignifikant (χ2 (8, N = 1345) = 56.903, p < 0.001) (Tabelle 4). Bei einem paarweisen Vergleich unterschieden sich

Insgesamt weisen Spätaussiedler ein eigenständiges Eigenschaftsmuster auf. In einigen der hier untersuchten

Tabelle 3. Indexdelikte. Deutsche o. M.

Migranten

Spätaussiedler

n

%

n

%

n

%

Tötungsdelikt

69

7,9 %

26

6,5 %

7

8,4 %

ver. Tötungsdelikt

97

11,1 %

59

14,8 %

11

13,3 %

284

32,6 %

168

42,2 %

36

43,4 %

Sexualdelikt (Erwachsene)

80

9,2 %

24

6,0 %

4

4,8 %

Sexualdelikt (Kinder)

73

8,4 %

15

3,8 %

2

2,4 %

sonstiges Gewaltdelikt

84

9,6 %

49

12,3 %

12

14,5 %

185

21,1 %

57

14,4 %

11

18,6 %

Körperverletzungsdelikt

Sonstige

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Tabelle 4. Hauptdiagnosen (gruppiert). Deutsche o. M.

Migranten

Spätaussiedler

n

%

n

%

n

%

43

5,0 %

19

4,8 %

5

6,0 %

Psychosen (F2-Spektrum)

495

57,2 %

308

77,8 %

57

68,7 %

Persönlichkeitsstörungen und Paraphilien

199

23,0 %

39

9,8 %

14

16,9 %

Intelligenzminderungen

67

7,7 %

14

3,5 %

4

4,8 %

Sonstige

62

7,1 %

16

4,1 %

3

3,6 %

organische Störungen

Variablen bzw. Variablengruppen gleichen sie anderen nach § 63 StGB untergebrachten Migranten, andere Variablenausprägungen ähneln den entsprechenden Werten von Deutschen o. M. Letztere unterschieden sich bezüglich ihrer Lebenssituation vor der Unterbringung signifikant von Spätaussiedlern und Migranten; die beiden Untergruppen mit Migrationshintergrund hatten eine ähnliche statistische Verteilung in Bezug auf die Wohnformen vor der Unterbringung (Hypothese 1 wird zurückgewiesen). Der bereits bekannte enge familiäre Zusammenhalt in Spätaussiedlerfamilien (Worbs et al., 2013) spiegelt sich in dem Umstand wieder, dass fast jeder zweite Spätaussiedler vor dem Indexdelikt in seiner Herkunftsfamilie lebte. Deutsche o. M. und Spätaussiedler wiesen gegenüber Migranten eine höhere schulische und berufliche Qualifikation auf. Im aktuellen Mikrozensus haben Spätaussiedler gegenüber der Gesamtgruppe der Deutschen mittlerweile ein ähnliches Niveau an schulischen und beruflichen Abschlüssen, wobei Spätaussiedler bei einfachen und mittleren Berufsabschlüssen etwas überrepräsentiert sind. Migranten sind demgegenüber deutlich schlechter gestellt (Statistisches Bundesamt, 2014). Zu diesem Verhältnis trägt der Umstand bei, dass Bildungs- und Berufsabschlüsse von Spätaussiedlern gem. § 10 BVFG im Vergleich zu anderen Migrantengruppen relativ großzügig anerkannt werden, um den Betreffenden den deutschen Arbeitsmarkt zu öffnen und damit die Integration zu erleichtern. Vermutlich spielen jedoch familiäre und sprachlich-kulturelle Einflüsse ebenfalls eine gewisse Rolle. Einige Studien betonen bessere deutsche Sprachkenntnisse der Spätaussiedler im Vergleich mit anderen Migrantengruppen. Arbeit nimmt im Lebensentwurf von Spätaussiedlern einen wesentlichen Stellenwert ein (Worbs et al., 2013). Bei den Variablen, die allgemeinpsychiatrische und kriminologische Indikatoren im Überblick abbilden, hatten die Spätaussiedler das höchste Alter bei der ersten stationär-psychiatrischen Behandlung bei einer vergleichbaren Zahl an Voraufenthalten (Hypothese 2b wird zurückgewiesen). Angesichts der relativ hohen Zahl abgeschlossener © 2016 Hogrefe

Berufsausbildungen spricht dieser Befund eher für einen späteren Ausbruch der Erkrankung als dafür, dass die Latenz zwischen dem Auftreten erster Krankheitssymptome und dem Beginn einer adäquaten Behandlung bei späteren forensischen Patienten signifikant länger wäre. In der deskriptiven Statistik fällt auf, dass Spätaussiedler im BZR im Mittel 3,3 Voreinträge gegenüber 5,1 Einträgen bei Deutschen o. M. hatten. Da letztere beim ersten Eintrag auch jünger waren, kann nicht sicher ausgeschlossen werden, dass die kriminelle Belastung tatsächlich geringer ausfällt. Möglicherweise wurden noch im Ausland Delikte begangen, die im Bundeszentralregister nicht erfasst worden sind (Hypothese 2a wird beibehalten). Spätaussiedler und Migranten haben ein statistisch ähnliches Deliktspektrum. Die Unterschiede im gesamten Deliktspektrum waren nicht signifikant (Hypothese 2c wird verworfen). Gegenüber Deutschen o. M. haben sie jedoch häufiger Körperverletzungsdelikte und seltener Sexualdelikte begangen. Migranten waren 14 Monate kürzer als Deutsche o. M. untergebracht (Hypothese 2d wird verworfen). Die Unterbringungsdauer der Spätaussiedler lag zwischen derjenigen der beiden anderen Gruppen. Die relative höhere Prävalenz von Diagnosen aus dem schizophrenen Spektrum (F2), die besser behandelbar sind als z. B. Persönlichkeitsstörungen, ist sicherlich eine wesentliche Erklärung für die kürzere Unterbringungsdauer von Spätaussiedlern (Ross, Querengässer, Fontao & Hoffmann, 2012). Die relativ kurze Aufenthaltsdauer legt jedoch auch die Schlussfolgerung nahe, dass keine außergewöhnlichen Schwierigkeiten im Vollzug der Maßregel aufgetreten sind. Betrachtet man die beiden größten Diagnosegruppen der F2- und F6- Diagnosen (Persönlichkeitsstörungen und Paraphilien), bewegte sich das Diagnosespektrum der Spätaussiedler ebenfalls in der Mitte, d. h. zwischen Deutschen o. M. und Migranten. Höhere Anteile von F2-Diagnosen der Patienten mit Migrationshintergrund und solchen osteuropäischer Herkunft sind auch aus der Allgemeinpsychiatrie bekannt (Koch et al., 2008; Schouler-Ocak et al., 2010). Neben ei-

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nem unterschiedlichen Inanspruchnahmeverhalten psychiatrischer Angebote wird eine höhere Prävalenz psychotischer Erkrankungen bei Migranten (Cantor-Graae & Selten, 2005) diskutiert. Der höhere Anteil gegenüber Deutschen o. M. entspricht den Erwartungen (Hypothese 3a wird beibehalten). Der niedrigere Anteil gegenüber Migranten ist hingegen erklärungsbedürftig (Hypothese 3b wird verworfen). Möglicherweise liegt die Prävalenz von Auffälligkeiten aus dem F2-Spektrum bei Spätaussiedlern auch in der Allgemeinbevölkerung zwischen Deutschen o. M. und Migranten. Aus einigen Ländern wurde über Prävalenzunterschiede zwischen verschiedenen Migrantengruppen berichtet (z. B. für das Vereinigte Königreich: Kirkbride et al., 2008). Es wäre jedoch auch denkbar, dass Migranten und Spätaussiedler allgemeinpsychiatrische Versorgungsangebote in unterschiedlichem Ausmaß in Anspruch nehmen und sich dies auf die forensische Unterbringung auswirkt, d. h. unterschiedliche Behandlungspfade bestehen. Bemerkenswert ist, dass die Häufigkeit der F6-Diagnosen bei Spätaussiedlern keinen signifikanten Unterschied zu Deutschen o. M. aufweist. Als eine Ursache der niedrigeren Prävalenz von Persönlichkeitsstörungen in der Gesamtgruppe der Migranten wurden an anderer Stelle transkulturelle Besonderheiten und insbesondere sprachliche Schwierigkeiten bei der Diagnosestellung vermutet. Aus diesem Grunde werden schwere Persönlichkeitsstörungen, die zur Feststellung einer Schuldminderung und Unterbringung führen könnten, im erkennenden Verfahren bei Migranten seltener als bei Deutschen o. M. diskutiert (Hoffmann, 2006; Bulla et al., 2015). Eine weiterführende Hypothese dazu wäre, dass bei Spätaussiedlern sprachliche und kulturelle Unterschiede gegenüber Deutschen o. M. geringer sind als bei anderen Migrantengruppen, und Persönlichkeitsstörungen daher phänomenologisch ähnlicher und somit leichter zu erkennen und diagnostizieren sind. Spätaussiedler waren nur in einem Merkmal, nämlich der Prävalenz der F2-Diagnosen, signifikant von Deutschen o. M. und von Migranten unterscheidbar. In den meisten untersuchten Merkmalen ähnelten sie entweder den Deutschen o. M. (schulische und berufliche Qualifikation) oder den Migranten (soziale Situation, Deliktspektrum) oder es ließen sich überhaupt keine statistischen Unterschiede nachweisen. Im politischen Diskurs werden bei der Einwanderung von Spätaussiedlern verschiedene «Wellen» unterschieden, in denen Menschen nach Deutschland gekommen sind, die bezüglich ihrer Verbundenheit mit der deutschen Sprache und Kultur deutlich voneinander abgrenzbar sind. Diese Unterschiede sind Ausdruck einer beträchtlichen Heterogenität der in der Allgemeinbevölkerung mittlerweile großen Gruppe der Spätaussiedler. Die vorgelegten Daten rechtfertigen es

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nicht, Spätaussiedler konzeptuell als eigenständige Gruppe im Maßregelvollzug von anderen Personen- bzw. Patientengruppen abzugrenzen. Aus klinischer Sicht ist es zielführender, sich am Einzelfall zu orientieren, und zu prüfen, in wie fern Gemeinsamkeiten mit anderen Patientengruppen bestehen, ohne die Herkunft dabei zu sehr in den Vordergrund zu rücken. Spätaussiedler mit einer relativ starken Orientierung an der deutschen Kultur könnte man als Deutsche mit einer besonderen familiären und persönlichen Geschichte betrachten. Wenn Spätaussiedler sich hingegen eher mit der Sprache und Kultur ihres Herkunftslandes verbunden fühlen, befinden sie sich grundsätzlich in der gleichen Situation wie andere Migrantengruppen. Es gelten die Grundsätze der transkulturellen Psychiatrie. Im Rahmen dieser Ansätze sollten Herkunft und Biografie der Patienten, ihre besondere soziale Situation im Einwanderungsland und die daraus resultierenden Bedürfnisse für die psychiatrisch-psychotherapeutischen Behandlung berücksichtigt werden (Machleidt, 2002; Schouler-Ocak et al., 2015). Die Kategorie Spätaussiedler ist aus Sicht der Autoren ausschließlich zur Bewertung des Rechtsstatus und dessen Einfluss auf die konkrete Lebenssituation relevant. Klinisch sind genaue Kenntnisse der individuellen, familiären und kollektiven Migrationsgeschichte und Kultur des Herkunftslandes der Patientinnen und Patienten von wesentlich größerer Bedeutung. Für die Allgemeinpsychiatrie bedeutet dies, dass es über die bekannten Risikofaktoren für gewalttätiges Verhalten hinaus keine unabhängigen gruppenspezifische Indikatoren gibt, anhand derer sich vorhersagen ließe, welche Patienten Gefahr laufen, irgendwann einmal forensisch auffällig zu werden. Bei legalprognostischen Fragestellungen geht es immer um eine adäquate Bewertung personenspezifischer Risikofaktoren, die besonders problematisch sind, wenn folgende Voraussetzungen vorliegen: junges Lebensalter, kriminologische Vorbelastung, prekäre soziale Situation zum Einweisungszeitpunkt, komorbide Abhängigkeitserkrankungen, häufige Voraufenthalte in der Allgemeinpsychiatrie, anti- bzw. dissoziales Wertegefüge bzw. Einstellungen, manifest aggressives bzw. gewalttätiges Verhalten auf Station (vgl. Ross et al., 2012). Das Herkunftsland bzw. der Migrationsstatus einer Person tragen zu einer rationalen Risikobewertung nichts bei.

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J. Bulla et al.: Spätaussiedler im Maßregelvollzug (§ 63 StGB)

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Dr. med. Jan Bulla Zentrum für Psychiatrie Reichenau Klinik für Forensische Psychiatrie und Psychotherapie (Med. Dir.: Prof. Dr. med. Klaus Hoffmann) Feursteinstr. 55 78479 Reichenau Deutschland j.bulla@zfp-reichenau.de

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Themenschwerpunkt

Auswirkungen von PeerBegleitung für Angehörige auf Belastung und Lebensqualität Eine Pilotstudie Kolja Heumann1, Lisa Janßen1, Friederike Ruppelt1, Candelaria Mahlke1, Gyöngyver Sielaff2 und Thomas Bock1 1 2

Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf Bildungsakademie, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf

Zusammenfassung: Angehörige psychisch erkrankter Menschen sind für diese eine wichtige Ressource. Gleichzeitig bringt ihre Rolle zusätzliche Belastungen auf verschiedenen Ebenen mit sich, die auf Kosten der eigenen Gesundheit gehen können. Im Kontext des Hamburger PeerProjekts im Psychenet-Programm wurden an zehn Standorten in allen Hamburger Kliniken geschulte Angehörige als Angehörigen-Peerbegleiter eingesetzt, um die Situation der Angehörigen psychisch langfristig Erkrankter in Hinblick auf Belastung und Lebensqualität zu verbessern. Im Zeitraum von 11.2011 bis 03.2015 wurden von 242 Angehörigen, die die Peer-Begleitung in Anspruch genommen haben, N = 165 Angehörige untersucht. Mittels Selbstrating wurde zu drei Zeitpunkten (prä, post, Katamnese nach jeweils 6 Monaten) die subjektive Belastung der Angehörigen (FBA), die psychische und körperliche gesundheitsbezogene Lebensqualität (SF-8) sowie die Zufriedenheit mit der Behandlung (ZUF-8) erfragt. Ein Großteil (93 %) der Teilnehmer war zufrieden mit der erhaltenen Peer-Begleitung. Im Vergleich zum Prä-Zeitpunkt war im Anschluss an die Begleitung die Belastung signifikant reduziert und die Lebensqualität verbessert. Nach einem halben Jahr ohne Begleitung blieben Belastung und psychische Lebensqualität konstant – mit steigender Tendenz. Die Ergebnisse geben einen guten Hinweis auf die Wirksamkeit von Angehörigen Peer-Begleitung, welche zukünftig in randomisierten Studien überprüft werden sollte. Peer-Begleitung könnte eine deutliche Lücke in der Unterstützung Angehöriger psychisch Erkrankter schließen und hat damit präventiv für diese Zielgruppe, und indirekt auch für die betroffenen Patienten, einen großen Stellenwert. Die nachhaltige Implementierung wird empfohlen. Schlüsselwörter: psychische Erkrankung, Gesundheitssystem, Angehörige, Angehörigen Peer-Begleitung

A pilot study of peer support for relatives of individuals with severe mental health problems: Effects on burden and quality of life Abstract: Relatives of persons with psychiatric disabilities form an important resource. Further, relatives' augmented involvement and experienced strain can take a toll on their own health, which so far has not received sufficient attention in mental health services. Via the peer project of the Psychenet program trained caregivers were installed as peer support workers for other relatives in all ten hospitals in Hamburg. We investigated whether this intervention can reduce strain and improve of quality of life. Between 11.2011 and 03.2015, out of 242 relatives who consumed peer support services, 165 were examined. Subjective strain, physical and mental health related quality of life and satisfaction with the offered services were each measured three times at six month intervals (pre, post, follow-up) via self-rating. The majority (93 %) of participants were satisfied with the received peer support services. A significant reduction in strain and an improvement of mental and physical health was found after treatment. At follow-up, levels of strain and mental health remained stable, with tendencies toward further improvement. Results indicate the effectiveness of peer support services for caregivers which should be investigated further in randomized trials. This intervention could bridge the gap in support for relatives of psychiatric patients and emphasizes its preventive potential for caregivers and indirectly for their related patients. The lasting implementation of peer support services for relatives is recommended. Keywords: psychiatric disabilities, mental health services, caregiver, peer support services

Einleitung Die Familie oder andere Bezugspersonen spielen eine bedeutende Rolle in der Betreuung und Unterstützung von psychisch erkrankten Menschen. Ihre Funktion als unter-

stützende Ressource im oft langjährigen Genesungs-Prozess der Erkrankten (Pitschel-Walz, Leucht, Bäuml, Kissling & Engel, 2001) bringt häufig Belastungen auf unterschiedlichen Ebenen mit sich: Mangelnde institutionelle Unterstützung wie unzureichende Informationen

Zeitschrift für Psychiatrie, Psychologie und Psychotherapie (2016), 64(1), 45–53 DOI 10.1024/1661-4747/a000259

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K. Heumann et al.: Auswirkungen von Peer-Begleitung für Angehörige

über die Erkrankung oder Behandlung führen zu einer Belastung (Schmid, Huttel, Cording & Spießl, 2007), verkürzte Liegezeiten erhöhen die Verantwortung der Angehörigen (Bock, 2013). Durch Fahrten zum Arzt/ Therapeuten oder Hilfe bei der Hausarbeit steigt der zeitliche Betreuungsaufwand (Bauer, 2010). Zuzahlungen zu Therapien oder Unterstützung bei der Miete führen zu finanziellem Mehraufwand (Wilms, Mory & Angermeyer, 2004). Viele Angehörige berichten zudem von Einschränkungen in der eigenen Lebensführung, bspw. in der Freizeitgestaltung (abnehmende soziale Kontakte, Verzicht auf Urlaub) oder in der beruflichen Situation (Sibitz, Amering, Kramer, Griengl & Katschnig, 2002). Dem entsprechend zeigt sich, dass die Lebensqualität von Angehörigen im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung geringer ausfällt (Angermeyer, Kilian, Wilms & Wittmund, 2006; Fischer, Kemmler & Meise, 2004). Darüber hinaus berichten viele Angehörige von gesundheitlichen Beeinträchtigungen, wie bspw. Schlafstörungen oder Erschöpfung (Angermeyer, Liebelt & Matschinger, 2001). Insbesondere zeigt sich ein erhöhtes Depressionsrisiko im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung (Wittmund, Wilms, Mory & Angermeyer, 2002). Etliche Institutionen bieten heutzutage expertengestützte, teils psychoedukative, Angehörigengruppen an (Schmid, Spiessl, Vukovich & Cording, 2003). Im Jahr 2003 nahmen in Deutschland, Österreich und der Schweiz allerdings maximal 2 % der Angehörigen von stationär behandelten Patienten mit Schizophrenie an psychoedukativen Gruppen teil (Rummel-Kluge, Pitschel-Walz, Bäuml & Kissling, 2006). Innovative Angebote für Angehörige wie bspw. Angehörigeninformationstage (Rothbauer, Spiessl & Schön, 2001) oder Angehörigenvisiten (Fähndrich, Kempf, Kieser & Schütze, 2001) sind trotz des erheblichen Gewinns immer noch selten und fallen häufig der Ökonomisierung zum Opfer (Bock, 2013). Zudem sind viele Konzepte in ihrer Zielsetzung sowohl auf Angehörige als auch auf die betroffenen Patienten angelegt (Jungbauer, Bischkopf & Angermeyer, 2001). Demnach ist der Bedarf an spezifischen Unterstützungsangeboten für Angehörige nach wie vor nicht oder nur teilweise gedeckt (Schmid et al., 2003; Unger et al., 2005). Trialogforen, wie bspw. Psychoseseminare, können in dieser Situation für Angehörige einen besonderen Stellenwert haben: Sie sind niedrigschwellig, sprechen unterschiedliche Angehörige (Eltern, Partner, etc.) an und erlauben rollenübergreifende Lernprozesse (Bock, Sielaff, Ruppelt, Nordmeyer & Klapheck, 2012). Vor dem Hintergrund des Trialogs ist in Hamburg das Peer-Projekt ent-

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standen, in dessen Rahmen auch die hier berichtete Implementierung und Evaluation von Angehörigen-PeerBegleitung durchgeführt wurde (vgl. Mahlke et al., 2015; Ruppelt, Mahlke, Heumann, Sielaff & Bock, 2015).

Peer-Begleitung Die Grundidee von Peer-Support1 ist, dass Menschen, die besondere Lebenslagen (z. B. in Form schwerer psychischer Krisen) durchlebt und bewältigt haben, andere Menschen in ähnlicher Lage unterstützen und begleiten (Stopat & Schulz, 2015). Anders als in der klassischen Selbsthilfe ist dabei die Rollenverteilung zwischen Hilfesuchenden und Helfenden klarer geregelt. Die Ziele von Peer-Arbeit zeichnen sich durch eine Recovery-Orientierung aus, bei der Genesung als individueller Prozess verstanden wird und auch mit eventueller Restsymptomatik und Rückschlägen vereinbar ist (Bock et al., 2013). In vielen englischsprachigen Ländern wird seit den frühen 1990er Jahren der Einsatz von Peer-Support im Rahmen einer stärkeren Recovery-Orientierung der psychiatrischen Versorgung gefördert (Bock, Grotelüschen & Lamparter, 2014; Davidson, Bellamy, Guy & Miller, 2012; Mahlke, Krämer, Becker & Bock, 2014). Übersichtsarbeiten zur Wirksamkeit von Peer-Support bei schweren psychischen Erkrankungen berichten, wenn auch nicht in allen Studien konsistent, über vielfältige positive Effekte für die Nutzer (Mahlke, Krämer, Kilian & Becker, 2015; Pitt et al., 2013). Im deutschsprachigen Raum gibt es seit mittlerweile 10 Jahren die Ex-In-Ausbildung für Betroffene (Utschakowski, 2010), welche in verschiedenen Regionen Deutschlands, Österreichs und der Schweiz angeboten wird (Bock et al., 2013). Ausgebildete Peer-Begleiter arbeiten vermehrt im ambulanten Bereich, wie der integrierten Versorgung oder der Eingliederungshilfe (SGB XII), und eher vereinzelt in der stationären Versorgung. Im hier beschriebenen Projekt wurde seit 2011 in allen psychiatrischen Kliniken Hamburgs eigenständige Peer-Begleitung an der Schnittstelle von ambulanter und stationärer Versorgung etabliert (Ruppelt et al., 2015). Peer-Support für Angehörige von psychisch erkrankten Menschen ist national wie international noch selten. In Kanada gibt es das Bestreben, Angehörige als Peers einzusetzen (MacCourt, Family Caregivers Advisory Committee & Mental Health Commission of Canada, 2013), in British Columbia startete 2006 ein Pilotprojekt, bei dem Angehörige psychisch erkrankter Menschen durch ge-

Während sich im englischsprachigen Raum der Begriff Peer-Support etabliert hat, gibt es im deutschsprachigen Raum noch keine einheitliche Bezeichnung. Im Folgenden werden die Begriffe Peer-Arbeit und Peer-Begleitung synonym verwendet.

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K. Heumann et al.: Auswirkungen von Peer-Begleitung für Angehörige

schulte Angehörige telefonisch und aufsuchend unterstützt werden (BCC, 2005). In einem australischen Projekt werden Angehörige als «Family Peer Support Worker» geschult und eingesetzt (Leggatt, 2007). Im deutschen Raum gibt es bislang einzig Psychoedukationsgruppen für Angehörige, die von anderen Angehörigen geleitet werden (Rummel, Pitschel-Walz & Kissling, 2005). Forschungsarbeiten zur Wirksamkeit von Angehörigen-Peer-Support wurden unseres Wissens bislang nicht veröffentlicht. Im Rahmen der Hamburger Pilot-Studie wurde erstmalig der Einfluss von Angehörigen-Peer-Begleitung auf die subjektive Belastung und die gesundheitsbezogene Lebensqualität von Angehörigen psychisch erkrankter Menschen untersucht. Im Einzelnen wurde erwartet, dass sich zum Ende der Begleitung im Vergleich zum Beginn (1) die Belastung reduziert, (2) die psychische und körperliche Lebensqualität erhöht und sich diese Veränderungen zum Katamnese-Zeitpunkt halten.

Methode Intervention Die Angehörigen-Peer-Begleitung (APB) war Teil eines größeren Forschungsprojekts zur Peer-Begleitung. Ab November 2011 wurde zeitlich versetzt in allen psychiatrischen Krankenhäusern Hamburgs Peer-Begleitung angeboten. An jedem Standort waren mindestens ein Angehörigen-Begleiter und ein Betroffenen-Begleiter, meist im Rahmen einer geringfügigen Beschäftigung, tätig. Die Angehörigen-Peers waren selbst Angehörige von psychisch erkrankten Personen. Vor Projektbeginn wurden sie im Rahmen einer zweitägigen Pilot-Schulung fortgebildet, welche in Kooperation mit dem Landesverband der Angehörigen psychisch Kranker Hamburg e. V. entwickelt wurde (Sielaff et al., 2015). Parallel zu ihrer Tätigkeit erhielten die Peers zweiwöchentlich peer-spezifische Gruppen-Supervision sowie zusätzliche EinzelSupervision bei Bedarf. Durch die Einrichtung von PeerTeams, die regelhafte Bezahlung der Peer-Tätigkeit, die Fortbildung vor Projektbeginn sowie die regelmäßige peer-spezifische Supervision wurden wichtige Qualitätsstandards für eine erfolgreiche Implementierung von Peer-Support sichergestellt (Heumann, Utschakowski, Mahlke & Bock, 2015). Die APB war strukturell hauptsächlich an die Institutsambulanzen der einzelnen Kliniken angegliedert, konnte allerdings unabhängig davon in Anspruch genommen werden, ob die erkrankten Familienmitglieder vor Ort in Behandlung waren. Die Begleitung konnte bis zu einem

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halben Jahr genutzt werden und umfasste hauptsächlich persönliche, anonyme Einzelgespräche, die nach individueller Terminabsprache – bei Bedarf auch telefonisch – stattfanden. Darüber hinaus waren Familiengespräche möglich, zu denen auch ein Betroffenen-Peer miteinbezogen werden konnte. Die Anzahl der möglichen Termine innerhalb des halben Jahres sowie die Inhalte der Begleitung wurden bewusst offen gelassen, um unterschiedliche Anliegen abzudecken. Konzeptuelle Ziele der APB waren Entlastung der Angehörigen, Förderung der Wahrnehmung eigener Grenzen, Bedürfnisse und Ressourcen sowie die Vermittlung von Informationen und geeigneten Kontaktstellen (Lamparter & Bolkan, 2015).

Rekrutierung Zu Projektbeginn wurde auf einer Pressekonferenz und über Artikel in unterschiedlichen Tages- und Stadtteilzeitungen auf das neuartige Angebot aufmerksam gemacht. Auf den Webseiten von Psychenet (www.psychenet.de) und den teilnehmenden Kliniken wurden Informationen über APB zusammengestellt. In den einzelnen Kliniken gab es Flyer und Poster, die Peer-Begleiter selbst haben sich auf den Stationen sowie bei Angehörigengruppen vorgestellt. Teilnehmen konnten alle volljährigen Angehörigen von psychisch erkrankten Menschen. Das Angebot beschränkte sich nicht auf bestimmte Diagnosegruppen der erkrankten Angehörigen oder die Beziehung zwischen Teilnehmern und erkranktem Angehörigen. Es konnten sowohl Eltern, Partner und Kinder als auch Freunde oder Bekannte die Begleitung wahrnehmen.

Untersuchungsablauf Für die Studie lag ein positives Votum der Ärztekammer Hamburg vor (PV3669). Alle Teilnehmer der APB wurden über den Ablauf der Studie informiert und haben ihr schriftliches Einverständnis zur Studienteilnahme gegeben. Es wurden zu drei Messzeitpunkten Fragebögen ausgefüllt: Vor Beginn der ersten Begleitung (T0), nach einem halben Jahr zum Ende der Begleitung (T1) sowie nach einem weiteren halben Jahr Katamnese-Zeitraum (T2). Die Fragebögen wurden durch die Angehörigen-Begleiter ausgegeben und von den Teilnehmern anonym per Post an die Studienleitung geschickt. Das Ausfüllen des Fragebogens dauerte ca. 30 Minuten. Die letzten Studien-Teilnehmer wurden im März 2014 aufgenommen, so dass die Datenerhebung bis März 2015 lief.

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Erhebungsinstrumente

(Bauer, 2010) bzw. α = .81 in der vorliegenden Stichprobe verfügt die Kurzfassung über eine gute interne Konsistenz.

Behandlungszufriedenheit Die Zufriedenheit mit der APB wurde mit dem Fragebogen zur Patientenzufriedenheit (ZUF-8, dt. Version von Schmidt, Lamprecht & Wittmann, 1989) erfasst. Der Fragebogen umfasst acht Items mit jeweils vier Antwortkategorien von 1 («eindeutig nicht») bis 4 («eindeutig ja»). Zur Auswertung wird ein Summenwert aus allen Items gebildet (Skalenrange: 8–32), ein hoher Wert entspricht einer hohen Behandlungszufriedenheit (Kriz, Nübling, Steffanowski, Wittmann & Schmidt, 2008). Um den ZUF-8 an die vorliegende Studie anzupassen, wurden die Begriffe «Behandlung» und «Klinik» durch «Peer-Beratung/Beratung» und «Angebot» ersetzt. Gesundheitsbezogene Lebensqualität Die gesundheitsbezogene Lebensqualität wurde mit der deutschsprachigen Version des Short-Form-8 Health Survey (SF-8; Ellert, Lampert & Ravens-Sieberer, 2005), einer Kurzform des SF-36v2, erfasst. Vom SF-8 existieren drei verschiedene Fassungen; in der vorliegenden Studie wurde die Akutversion verwendet, die das Befinden in der vergangenen Woche abfragt. Der SF-8 umfasst acht Items, jedes ist als Frage über den Gesundheitszustand formuliert und wird auf einer fünf- bis sechsstufigen Skala beantwortet. Zur Auswertung werden die Items entsprechend des amerikanischen Manuals (vgl. Ellert et al., 2005) aufbereitet und zu zwei Subskalen körperliche und psychische Gesundheit zusammengefasst; ein hoher Wert entspricht einer hohen Lebensqualität. Belastungserleben Das Belastungserleben wurde mit dem Fragebogen zur Belastung von Angehörigen (FBA) erfasst, einem Instrument zur Erfassung der objektiven (Häufigkeit) und subjektiven (Intensität) Belastung von Angehörigen psychisch erkrankter Menschen. Die Langfassung sollte im Rahmen einer Multizenterstudie des Arbeitskreises «Junge Wissenschaftler» der DGBS e. V. erprobt und validiert werden (Schmid, Schielein, Spießl & Bauer, 2008). Da dieses Projekt aufgelöst wurde, konnten zur vorliegenden Auswertung nur die Items der Kurzfassung herangezogen werden (Bauer, 2010), die ausschließlich einen Gesamtscore der Belastungsintensität darstellt. Der FBA besteht aus mehreren Subskalen zu verschiedenen Teilbereichen der Belastung. Jede Subskala des FBA enthält ein zusammenfassendes Item, welches die Gesamtbelastung bezüglich des jeweiligen Problembereichs erfasst. Zur Auswertung der Kurzfassung wird ein Summenscore dieser zusammenfassenden Items gebildet. Die Items sind vierstufig von 1 («nicht belastend») bis 4 («extrem stark») skaliert, ein hoher Wert entspricht einer hohen Belastung. Mit α = .74 © 2016 Hogrefe

Anzahl der Kontakte Die Anzahl der Kontakte wurde durch die Peer-Begleiter selbst dokumentiert.

Datenanalyse Die Datenauswertung erfolgte mit SPSS 20. Sozidemographische Daten sowie die Rohwerte der einzelnen Outcomemaße wurden deskriptiv dargestellt, kategoriale Variablen mit absoluten und relativen Häufigkeiten und stetige Variablen als Mittelwert und Standardabweichung. Ein möglicher Unterschied in der Behandlungszufriedenheit zwischen T1 und T2 wurde aufgrund der linksschiefen Daten mit einem Wilcoxon-Rang-Test geprüft. Die erwarteten Unterschiede in Lebensqualität und Belastung über den zeitlichen Verlauf wurden mit einem gemischten Model mit Messwiederholung (mixed model of repeated measurement; MMRM) getestet. Dabei wurden die Erhebungszeitpunkte als Messwiederholungen, die Teilnehmer als Zufallseffekte, die Zeit als fester Effekt und die Ausgangswerte der abhängigen Variablen als Kovariaten in die Analyse aufgenommen. Alle Modelle wurden um die Variablen Alter, Geschlecht und die Anzahl der Kontakte adjustiert. Zusätzliche Kontrollvariablen wurden explorativ geprüft und aufgrund nicht signifikanter Effekte nicht mit in das Modell aufgenommen. Alle Ergebnisse werden mittels adjustierter Schätzer und 95 %-Konfidenzintervalle tabellarisch und grafisch dargestellt. Das Fehler-Niveau aller Tests wurde auf 5 % (zweiseitig) festgelegt.

Ergebnisse Rücklauf und Stichprobenbeschreibung Es gaben 242 Interessierte ihr Einverständnis zur Studienteilnahme. Davon waren 77 (31,8 %) zu T1 nicht mehr zu erreichen, so dass verbleibende N = 165 Teilnehmer (68,2 %) mit mindestens 2 von 3 Fragebögen in die Auswertung eingeschlossen wurden. Die Dropoutanalyse zeigte signifikante Unterschiede zwischen eingeschlossenen und ausgeschlossenen Fällen bezüglich verschiedener Merkmale. Die eingeschlossenen Teilnehmer waren älter (M = 57,4, SD = 11,9) als die ausgeschlossenen (M = 52,6, SD = 13,1; t(187) = 2.05, p = .04) und wohnten seltener mit den erkrankten Angehörigen zusammen (χ2(1,N = 235) = 5.1, p < .05). Zudem unterschieden sich beide Gruppen in ihrer Rolle bezüglich

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K. Heumann et al.: Auswirkungen von Peer-Begleitung für Angehörige

des erkrankten Angehörigen (χ2(5,N = 233) = 13.3, p < .05). Paarweise Vergleiche zeigten, dass unter den eingeschlossenen Fällen vermehrt Eltern (χ2(1,N = 233) = 4.5, p < .05) und seltener Partner (χ2(1,N = 233)= 7,7, p < .01) erkrankter Angehöriger waren. Ferner haben die eingeschlossenen Fälle die Peer-Begleitung häufiger (M = 10,21, SD = 7,0) in Anspruch genommen, als die ausgeschlossenen (M = 4,82; SD = 4.61; t(150,55) = 6.47, p < .001). Beide Gruppen unterTabelle 1. Soziodemographische und klinische Variablen (N = 165). Alter

M = 57,40 SD = 11,90 (Range = 22–79) N

(%)

118

(71,5)

Geschlecht

weiblich

Familienstand

ledig

27

(16,4)

verheiratet

92

(55,8)

getrennt/geschieden

28

(16,9)

verwitwet

11

(6,7)

Haupt-/Volksschule

26

(15,8)

Realschule

46

(27,9)

(Fach-)Abitur

33

(20)

Hochschulabschluss

54

(32,7)

nicht berufstätig

64

(38,8)

7

(4,2)

höchster Schulabschluss

Berufstätigkeit

geringfügig

Wohnsituation

Beziehung zum Angehörigen

teilzeit

33

(20)

vollzeit

56

(33,9)

alleine

30

(18,2)

mit erkranktem Angehörigem

63

(38,2)

Eltern

91

(55,2)

Partner

41

(24,8)

Kind

10

(6,1)

Geschwister

13

(7,9)

2

(1,2)

keine/unklar

44

(26,7)

Schizophrenie/Psychose

43

(26,1)

Bipolare Störung

17

(10,3)

Depression

56

(33,9)

Persönlichkeitsstörung

20

(12,1)

andere

41

(24,8)

nicht verwandt Diagnose der Angehörigen1

Anzahl der Kontakte

M = 10,21, SD = 6,90 (Range = 1–31)

Anmerkungen. 1 Randsummen > 100 % aufgrund von Doppeldiagnosen

49

schieden sich weder in ihrer Belastung zu Beginn der Begleitung noch in ihrer sozialen Unterstützung. Tabelle 1 zeigt die soziodemographischen und klinischen Variablen der eingeschlossenen Teilnehmer bzw. ihrer erkrankten Angehörigen. Ein Großteil (71,5 %) war weiblich, 38,2 % lebten mit dem erkrankten Angehörigen zusammen, 18,2 % der Teilnehmer lebten allein. Über die Hälfte (55,2 %) der Teilnehmer waren Eltern eines erkrankten Angehörigen, ein geringer Anteil (5,5 %) war gleichzeitig als gesetzlicher Betreuer eingesetzt. Über ein Drittel (33,9 %) der erkrankten Angehörigen war an Depressionen erkrankt, gefolgt von Psychosen (26,1), einem Viertel der Teilnehmer war die Diagnose ihres Angehörigen unklar bzw. es gab keine.

Behandlungszufriedenheit Zum Ende der erhaltenen Peer-Begleitung zeigte sich eine durchschnittliche Behandlungszufriedenheit von M = 29,77 (SD = 3,23), und zum Katamnese-Zeitpunkt M = 29,7 (SD = 2,69). Die Werte zu beiden Messzeitpunkten unterscheiden sich nicht signifikant (z = –1,67, p = .095). Gemessen am Cutoff-Wert von 24,5 (Kriz et al., 2008) waren damit 137 Teilnehmer (93,2 %) zum Post-Zeitpunkt bzw. 108 (93,1 %) zum Katamnese-Zeitpunkt mit der Begleitung zufrieden. Die Teilnehmer (n = 41), deren Angaben zur Behandlungszufriedenheit zum letzten Messzeitpunkt (Katamnese) fehlten, hatten zum Post-Messzeitpunkt eine Behandlungszufriedenheit von M = 28,49 (SD = 4,74) und unterschieden sich damit signifikant von den restlichen Teilnehmern (M = 30,26; SD = 2,26; z = –2,17; p < .05) zum gleichen Zeitpunkt. Allerdings lagen in dieser Teilstichprobe 35 Teilnehmer (85,3 %) über dem Cut-off-Wert von 24,5 Punkten und waren dem entsprechend zufrieden mit der erhaltenen Behandlung.

Subjektive Belastung In Tabelle 2 sind die Werte der verschiedenen Outcomemaße zu den drei Messzeitpunkten dargestellt, die Differenzen zu T0 im zeitlichen Verlauf zeigt Abbildung 1. Die durchschnittliche subjektive Belastung nahm zu jedem Messzeitpunkt ab. Im gemischten Modell mit Messwiederholung (MMRM) zeigte sich eine signifikante Abnahme der Belastung von T0 zu T1 (Madj = –2.01, CI = −2.98 – −1.05, p < .001, d = 0.36) und von T0 zu T2 (Madj = −2.95, CI = −3.99 – −1.90, p < .001, d = 0.48), nicht aber von T1 zu T2 (Madj = −0.94, CI = −1.93–0.54, p = .064, d = 0.10). Von den mit ins Modell aufgenommenen Kovariaten zeigte das Geschlecht einen signifikanten Einfluss: Die mittlere Belastungsreduktion war bei Frauen höher als bei Männern (Madj = 2.26, CI = 0.49–4.02, p <.05, d = 0.22).

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Tabelle 2. Veränderung der subjektiven Belastung (FBA), körperlichen und psychischen Gesundheit (SF-8) über drei Messzeitpunkte. Differenz zu T0 M (SD) FBA subjektive Belastung (Intensität)

SF-8 körperliche Gesundheit

SF-8 psychische Gesundheit

Differenz zu T1

Madj (95 % CI)

p

T0 (0 Monate)

18,49 (5,82)

T1 (6 Monate)

15,69 (6,20)

−2,01 (−2,98; −1,05)

< .001

T2 (12 Monate)

15,28 (6,03)

−2,95 (−3,99; −1,90)

< .001

T0 (0 Monate)

45,97 (9,98)

T1 (6 Monate)

47,93 (9,87)

1,87 (0,35; 3,39)

< .05

T2 (12 Monate)

47,97 (9,92)

1,23 (−0,43; 2,88)

= .15

T0 (0 Monate)

37,19 (11,59)

T1 (6 Monate)

42,73 (10,46)

4,40 (2,48; 3,49)

< .001

T2 (12 Monate)

43,45 (11,81)

5,67 (3,49; 7,85)

< .001

Madj (95 % CI)

p

−0,94 (−1,93; 0,54)

= .064

−0.64 (−2,04; 0,75)

= .36

1,14 (−1,00; 3,53)

= .27

Anmerkungen. M = Mittelwert; SD = Standardabweichung; Madj = mittlere Differenz, um Kontrollvariablen adjustiert; CI = Konfidenzintervall. T0: vor der Begleitung; T1: nach der Begleitung; T2: Katamnese.

Gesundheitsbezogene Lebensqualität Die körperliche Gesundheit war zu jedem Messzeitpunkt signifikant niedriger (t(151) = −455,93/t(144) = −448,1/t(102) = −367,91; alle p < .001) als in der Allgemeinbevölkerung (M = 50,3; SD = 8,39) (Beierlein, Morfeld, Bergelt, Bullinger & Brähler, 2012). Im Vergleich zu T0 nahm die körperliche Gesundheit sowohl bei T1 als auch bei T2 zu. Im gemischten Modell zeigte sich hingegen eine signifikante Zunahme von T0 zu T1(Madj = 1.87, CI = 0.35–3.39, p < .05, d = 0.22), nicht aber von T0 zu T2 (Madj = 1.23, CI = −0.43–2.88, p = .15, d = 0.13) und von T1 zu T2 (Madj = −0.64, CI = −2.04–0.75, p = .36, d = 0.16). Von den ins Modell aufgenommenen Kovariaten zeigte allein das Alter einen signifikanten Einfluss: Mit zunehmenden Alter fiel die Verbesserung der körperlichen Gesundheit geringer aus (Madj = −0.13, CI = −0.24 – −0.03, p < .05, d = 0.17).

8 Differenz zu T0

-1 -2 -3 -4 -5 T0

T1

T2

b

körperliche Gesundheit

a

0 Differenz zu T0

Auch bezüglich der psychischen Gesundheit lagen die Werte zu jedem Messzeitpunkt signifikant niedriger (t(151) = −455,93/t(144) = −448,1/t(102) = −367,91; alle p < .001) als in der Allgemeinbevölkerung (M = 53,25; SD = 7,82). Die psychische Gesundheit nahm bei jedem Messzeitpunkt zu. Im gemischten Modell zeigte sich eine signifikante Zunahme von T0 zu T1 (Madj = 4.40, CI = 2.48– 3.49, p < .001, d = 0.41) und von T0 zu T2 (Madj = 5.67, CI = 3.49–7.85, p < .001, d = 0.46), nicht aber von T1 zu T2 (Madj = 1.14, CI = −1.00–3.53, p = .27, d = 0.08). Von den mit ins Modell aufgenommenen Kovariaten zeigte allein das Alter einen signifikanten Einfluss: Mit zunehmenden Alter fiel die Verbesserung der psychischen Gesundheit geringer aus (Madj = −0.17, CI = −0.30 – −0.04, p < .05, d = 0.16).

psychische Gesundheit

6 4 2 0 T0

T1

T2

Abbildung 1. Zeitlicher Verlauf von (a) subjektiver Belastung (FBA) und (b) gesundheitsbezogener Lebensqualität (SF-8): Um Kontrollvariablen adjustierte Differenz zum Beginn der Peer-Begleitung (T0) nach 6 Monaten Peer-Begleitung (T1) und nach 6 Monaten Katamnese (T2). Die Fehlerbalken zeigen die Konfidenzintervalle.

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Diskussion In der vorliegenden Pilotstudie sollten Machbarkeit, Akzeptanz und Wirkung von Angehörigen-Peer-Begleitung untersucht werden. Durch das Angebot wurden insbesondere stark belastete Angehörige von Menschen mit größtenteils schweren psychischen, Erkrankungen erreicht. Fast zwei Drittel der Teilnehmer waren Frauen, die Hälfte waren Eltern erkrankter Kinder. Letzteres mag mit der größeren Verantwortung von Eltern, insbesondere Müttern, und einer damit einhergehenden stärkeren Betroffenheit zusammenhängen – wobei es diesbezüglich unterschiedliche Studienergebnisse gibt (Jungbauer et al., 2001). Da es sich bei den im Projekt beschäftigten BegleiterInnen ebenfalls hauptsächlich um Eltern handelte, wäre in zukünftigen Studien zu prüfen, ob eine Rollenhomogenität die Teilnahme an der Peer-Begleitung beeinflusst oder Auswirkungen auf die Effekte der Begleitung selbst hat. Eine größere Rollenvielfalt bei den Angehörigen-Peerbegleitern wäre wünschenswert. Ein Großteil der Teilnehmer war zufrieden mit der erhaltenen Begleitung – zum Abschluss und im gleichen Ausmaß nach einem halben Jahr ohne Begleitung. Aus Ermangelung an vergleichbaren Daten aus AngehörigenStichproben wurde als Maßstab für die Zufriedenheit ein Cut-Off-Wert von einer Stichprobe von Patienten in der somatischen und psychosomatischen Rehabilitation (Kriz et al., 2008) verwendet. Mit 24.5 Punkten entspricht dieser einer durchschnittlichen Bewertung jedes Items mit 3 von maximal 4 Rohpunkten. Die durchschnittliche Punktzahl in der vorliegenden Stichprobe lag mit jeweils M = 29.7 deutlich darüber. Einschränkend ist einzuwenden, dass zum Katamnese-Zeitpunkt weniger Teilnehmer ihre Rückmeldung zur Behandlungszufriedenheit gegeben haben, als zum Post-Zeitpunkt. Somit ist nicht auszuschließen, dass weniger zufriedene Teilnehmer zum zweiten Messzeitpunkt nicht mehr an der Befragung teilnahmen. Da 85 % dieser Subgruppe allerdings auch direkt nach der Begleitung zufrieden waren, ist dies nur für einzelne Teilnehmer anzunehmen. Im Vergleich zum Begleitungsbeginn hat sich die subjektive Belastung sowohl zum Begleitungsende als auch zum Katamnese-Zeitpunkt mit mittleren bis großen Effekt reduziert. Da es keinen signifikanten Unterschied zwischen T1 und T2 gab, kann festgehalten werden, dass die Reduktion der Belastung, auch nach einem halben Jahr ohne Begleitung, aufrecht erhalten wird. Weiterhin war die Reduktion der Belastung bei Frauen größer. Dieser Unterschied lässt sich weder auf eine grundsätzlich stärkere Belastung weiblicher Angehöriger (Jungbauer et al., 2001) vor Begleitungsbeginn noch auf eine größere Kontaktdichte zurückführen, da diese Aspekte als Kovariaten in die Analyse mit aufgenommen wurden. Da von dem

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verwendeten Fragebogen nur die Skala zur subjektiven Belastung bereits erprobt wurde, konnte in der vorliegenden Studie keine Aussage zur objektiven Belastung, d. h. die Häufigkeit im Auftreten verschiedener Belastungsbereiche, getroffen werden. Dies mag zwar weniger relevant sein, da bei Angehörigen psychisch Erkrankter die subjektive Belastung stärker ausgeprägt ist (Magliano, Fiorillo, Rosa & Mai, 2006) und diese vermutlich eher durch eine psychosoziale Intervention zu beeinflussen ist. Dennoch sollte in zukünftigen Untersuchungen auch die objektive Belastung valide gemessen werden, bspw. durch eine regelmäßige Dokumentation des Ausmaßes verschiedener Belastungsbereiche im Laufe der Intervention. Die gesundheitsbezogene Lebensqualität hat sich im Anschluss an die Begleitung ebenfalls verbessert. Die Skala psychische Gesundheit war – analog zur subjektiven Belastung – zum Ende der Begleitung erhöht, mit weiter steigender Tendenz zum Katamnese-Zeitpunkt. Bezüglich der körperlichen Gesundheit zeigte sich hingegen nur eine signifikante Erhöhung direkt zum Ende der Begleitung, nicht aber zur Katamnese. Wie bei einer psychosozialen Intervention zu erwarten, gab es demnach eine größere und anhaltende Verbesserung der psychischen im Vergleich zur körperlichen Gesundheit. Dem aktuellen Kenntnisstand entsprechend, dass die gesundheitsbezogene Lebensqualität mit zunehmenden Alter sinkt (Beierlein et al., 2012), zeigte sich auch in der vorliegenden Studie ein Einfluss des Alters auf die Steigerung der Lebensqualität. Eine Besonderheit der angebotenen Begleitung war die offene Anzahl möglicher Kontakte, um die Intensität an die Bedürfnisse der Klienten anzupassen. Dazu passt der Befund, dass die Anzahl der Kontakte keinen signifikanten Einfluss auf die getesteten Haupteffekte hatte. Vor dem Hintergrund unterschiedlicher Belastungsbereiche von Angehörigen psychisch Erkrankter (Jungbauer et al., 2001; Schmid et al., 2007) scheint eine Standardisierung an dieser Stelle nicht angebracht, da es nicht um die Reduktion bestimmter Krankheitssymptome geht, sondern um eine individuell angepasste Intervention. Die Peers selbst berichten dem entsprechend von unterschiedlichen Anliegen der Angehörigen an die Begleitung (Lamparter & Bolkan, 2015) – vom reinen Informationsbedarf bis hin zu einer weitgehenden psychosozialen Unterstützung. In Folgeuntersuchungen sollte geprüft werden, ob diese unterschiedlichen Bedarfe tatsächlich die Anzahl der Kontakte beeinflussen.

Limitationen Limitierender Faktor für die Interpretation der Ergebnisse ist in erster Linie das Studiendesign. Aufgrund des Pi-

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lotcharakters sowie struktureller Begrenzungen war eine Kontrollgruppe, bspw. in Form eine Wartegruppe, nicht zu realisieren. Insofern kann nicht ausgeschlossen werden, dass es sich bei den gezeigten Veränderungen um spontane Verbesserungen handelte. Die Tatsache, dass sich sowohl die Belastung als auch psychische Gesundheit zum Katamnese-Zeitpunkt in der Tendenz weiter verbessern, könnte diese Annahme unterstützen. Dennoch können die Ergebnisse als Hinweis für eine positive Wirkung von Angehörigen-Peer-Begleitung gewertet werden. Dies und die hohe Behandlungszufriedenheit der Teilnehmer sprechen für eine weitere Evaluation der Angehörigen-PeerBegleitung. Diese sollte möglichst auf RCT-Niveau in Kombination mit qualitativen Methoden (Mixed Method) durchgeführt werden, um sowohl die hier gezeigten Tendenzen abzusichern als auch das subjektive Erleben und die individuellen Veränderungsprozesse zu berücksichtigen. Wie bei Längsschnittstudien üblich, gab es auch in der vorliegenden Studie Dropouts. Ein Großteil davon füllte ausschließlich den ersten Fragebogen aus und wurde zur Analyse ausgeschlossen. Die Analyse dieser Fälle legt den Schluss nahe, dass sie die Begleitung aufgrund mangelnder Rollenpassung seltener in Anspruch nahmen und deshalb nicht weiter an der Befragung teilnahmen. Fehlende Werte, die im Verlauf der restlichen Befragung auftraten, wurden nicht gesondert analysiert, da sich gemischte Modelle mit Messwiederholungen besonders eignen, um mit multiplen Missings umzugehen (Krueger & Tian, 2004). Auf eine Schätzung fehlender Werte, wie sie bspw. in kontrollierten Designs gefordert ist, wurde vor dem Hintergrund des Studiendesigns verzichtet, da sie keinen Mehrwert für die Interpretation der Ergebnisse gehabt hätte.

Fazit und Ausblick Durch die Entwicklung des zunehmenden Ökonomisierungsdrucks in der stationären Versorgung werden Angehörige psychisch Erkrankter auch in Zukunft vermehrt in der Verantwortung für viele Patienten stehen. Entsprechend ist es von besonderer Bedeutung, Interventionen zu etablieren, die Angehörige als eigene Zielgruppe unterstützen und stärken. Die hier vorgestellte Intervention könnte eine bedeutsame Ergänzung zwischen Selbsthilfe und professionellem Versorgungssystem sein. Die berichteten Ergebnisse machen Hoffnung, die Belastung bei Angehörigen psychisch Erkrankter zu reduzieren und deren Lebensqualität verbessern zu können. Weitere empirische Untersuchung könnte Peer-Begleitung mit anderen Angeboten, bspw. therapeutischen, edukativen oder trialogi© 2016 Hogrefe

schen, vergleichen. Wichtig erscheint auch eine genauere qualitative Betrachtung der Wirkweise und der Differenzierung einzelner Elemente der Begleitung. Im Kontext des Hamburger Projekts ist es mit Unterstützung der Kliniken und Krankenkassen gelungen, Betroffenen und- Angehörigen-Peer-Begleitung über das Projektende hinaus zu sichern. Obgleich weitere Evaluation notwendig ist, wird aufgrund der Erfahrungen und Ergebnisse des Projekts die langfristige Implementierung von Peer-Begleitung für Angehörige von schwer psychisch Erkrankten im klinischen Kontext empfohlen.

Danksagung Aufbau und Evaluation der Angehörigen-Peerbegleitung wurden durch das Forschungsprogramm «PsychenetHamburger Netz psychische Gesundheit» des BMBF gefördert. Die Koordination lag bei der Gesundheitswirtschaft Hamburg GmbH und dem Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. Die Fortbildung sowie die Tätigkeit der Angehörigen-Peerbegleiter wurden unterstützt vom Landesverband der Angehörigen psychisch Kranker, insbesondere den Vorsitzenden Dr. Hans-Jochim Meyer und Renate Bublitz. Besonders herzlich bedanken wir uns bei den Angehörigen-PeerbegleiterInnen für Ihre großartige Pionier-Arbeit.

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MSc. Psych. Kolja Heumann Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf Martinistraße 52 20246 Hamburg Deutschland k.heumann@uke.de

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ADOS-2

Diagnostische Beobachtungsskala für Autistische Störungen – 2 L. Poustka / D. Rühl / S. Feineis-Matthews / S. Bölte / F. Poustka / M. Hartung unter Mitarbeit von C. Bach, A. Schröter, F. Ellerbrock, N. Müller und L. Mertens Deutschsprachige Fassung der Autism Diagnostic Observation Schedule – 2 von C. Lord, M. Rutter, P. C. DiLavore, S. Risi, K. Gotham und S. L. Bishop (Module 1 bis 4) bzw. C. Lord, R. J. Luyster, K. Gotham und W. Guthrie (Kleinkind-Modul)

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Freier Beitrag

Die Bedeutung des sozialen Milieus bei Jugendlichen mit externalisierenden Verhaltensauffälligkeiten Analyse einer Bremer kinder- und jugendpsychiatrischen Inanspruchnahmepopulation Henrike Biermann1, Esmahan Belhadj Kouider2, Alfred L. Lorenz2, Marc Dupont2 und Franz Petermann1 1 2

Zentrum für Klinische Psychologie und Rehabilitation an der Universität Bremen Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, -psychotherapie und -psychosomatik im Klinikum Bremen-Ost und Gesundheitsamt Bremen

Zusammenfassung: Die vorliegende Studie geht der Frage nach, ob externalisierende Störungen spezifischen sozialen Belastungsfaktoren zugrunde liegen und überprüft damit die Bedeutung von sozialen Risikofaktoren. Die Untersuchung umfasst N = 1611 Jugendliche im Alter zwischen 12 und 18 Jahren, die in kinder- und jugendpsychiatrischen Institutionen des Klinikverbundes Bremen in den Jahren 2010–2012 behandelt wurden und analysiert n = 436 Jugendliche mit einer Diagnose im Bereich der F 90 (Hyperkinetische Störungen), F 91 (Störung des Sozialverhaltens) sowie F 92 (Kombinierte Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen) nach ICD-10. Binäre logistische Regressionsanalysen zeigen auf, dass das soziale Umgebungsmilieu, in Form der sozialen Benachteiligungswerte der Bremer Stadtteile, einen Prädiktor für externalisierende Störungsbilder darstellt. Ein weiterer bedeutsamer Risikofaktor für externalisierende Verhaltensstörungen bildet bei den Jugendlichen außerdem elterliche Vernachlässigung. Die Befunde stimmen mit entwicklungspathologischen Erkenntnissen überein und werden abschließend mit Hinweisen auf zukünftige Forschung sowie mögliche Implikationen für die Praxis diskutiert. Schlüsselwörter: externalisierende Verhaltensstörungen, soziales Umgebungsmilieu, Entwicklungspsychopathologie, Adoleszenz, Risikofaktoren

The importance of the social milieu for adolescents with externalizing behavioral problems: Analysis of a psychiatric child and adolescent health care population in Bremen Abstract: This study examines whether externalizing behavior problems are caused by specific social risk factors and verifies the importance of known risk factors. The study includes 1 611 adolescents aged 12 to 18, treated in psychiatric institutions by the network of the Bremen Hospital Group from 2010 to 2012 and analyzed 436 patients with diagnoses in the fields of F 90 (hyperkinetic disorders), F 91 (conduct disorders) and F 92 (mixed disorders of conduct and emotions) of ICD-10. Binary logistic regression models show that social milieu is a predictor of externalizing disorders. In addition a significant risk factor for externalizing behavior disorders is the inadequate parental supervision and control. This highlights the interplay of family factors, determined by parents’ interaction and behavior, with externalizing disorders. The findings are consistent with previous research in developmental psychology. The results are discussed with references to future research and possible implications. Keywords: externalizing behavioral problems, social milieu, developmental psychology, adolescence, risk factors

In vielen deutschen Großstädten nimmt die soziale Ungleichheit zu. Dies spiegelt sich in Stadtteilen wider, in denen vermehrt Menschen mit niedrigem Einkommen oder einer schlechten Wohnsituation angesiedelt sind. Jugendliche, die in benachteiligten Wohngegenden in Deutschland aufwachsen, sind mit einer Vielzahl von belastenden sozialen Faktoren konfrontiert: Langzeitarbeitslosigkeit,

Kriminalität, Suchterkrankungen, vielen Sozialhilfeempfängern und häufig auftretenden Mietrückständen (vgl. Hohm, 2011). Dies wirft die Frage auf, ob Jugendliche aus Umgebungen mit einem hohen sozialen Problemanteil vermehrt externalisierende Verhaltensauffälligkeiten aufweisen. Weiterhin konnte die entwicklungspsychopathologische Forschung zwar soziale Einflussgrößen nachweisen,

Zeitschrift für Psychiatrie, Psychologie und Psychotherapie (2016), 64(1), 55–66 DOI 10.1024/1661-4747/a000260

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H. Biermann et al.: Die Bedeutung des sozialen Milieus bei Jugendlichen

die bei der Entstehung von externalisierenden Verhaltensstörungen wirken können, dennoch mangelt es an aktuellen Befunden zu spezifischen Risiken. Es bedarf einer differenzierten Analyse der Risikofaktoren von Kindern und Jugendlichen, beispielsweise aus der psychiatrischen Versorgung (Belhadj Kouider & Petermann, 2015), zumal bekannt ist, dass eine Reihe von psychischen Erkrankungen (z. B. Angststörungen bei Kindern und Jugendlichen; Belhadj Kouider, Lorenz, Dupont & Petermann, 2015) von sozialen Faktoren unabhängig sind.

Klassifikation und Epidemiologie externalisierender Verhaltensstörungen im Jugendalter Zur Gruppe der externalisierenden Verhaltensstörungen lassen sich der Symptomatik entsprechend die ICD-10-Diagnosen (Dilling, Mombour, Schmidt & Schulte-Markwort, 2006) «Hyperkinetische Störungen», «Störungen des Sozialverhaltens» sowie die «kombinierte Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen» zuweisen. Die Prävalenzrate von hyperkinetischen Störungen liegt bei etwa 3–5 %, wobei Jungen im Vergleich zu ihren weiblichen Altersgenossen dreimal häufiger von dieser Störung betroffen sind (vgl. Petermann, 2013). Für die Störungen des Sozialverhaltens wird eine Lebenszeitprävalenz von 7.6 % angenommen, dabei treten aggressiv-oppositionelle Symptome häufiger als aggressiv-dissoziale auf. Auch diese Störung tritt bei Jungen deutlich häufiger auf (vgl. Petermann et al., 2013).

Soziales Milieu und externalisierende Verhaltensstörungen Der soziale Kontext, in dem Jugendliche mit ihren Eltern leben, spielt eine wichtige Rolle bei der Entwicklung des kindlichen Wohlbefindens (Delany-Brumsey et al., 2014). Entsprechend ihrer sozialen und ökonomischen Lage, Lebensphase, Nationalität und Alltagskultur bildet eine spezifisch zusammengesetzte Bevölkerungsstruktur ein bestimmtes soziales Milieu (Friedrich-Ebert-Stiftung, 2006). Die soziale Umgebung stellt ein relationales Konzept dar, das aus zwischenmenschlichen Beziehungen sowie geschichtlichen und kulturellen Kontexten besteht (Barry, 1999). Diese unterscheiden sich durch beispielsweise Immobilienpreise, Miethöhen sowie Wohnpräferenzen. Soziale Milieus können © 2016 Hogrefe

entsprechend als problembelastet oder privilegiert angesehen werden (Friedrich-Ebert-Stiftung, 2006). Das soziale Milieu und externalisierende Verhaltensprobleme wurden in bisherigen Studien auf unterschiedliche Weise erhoben. Pettit und Kollegen (1999) bildeten das soziale Milieu durch die wahrgenommene Sicherheit in der Nachbarschaft und den Kontakt der jeweiligen Peergroups ab. Jugendliche in einer unsicheren Nachbarschaft, die viel unbeaufsichtigten Kontakt in ihren Peergroups verbrachten, zeigten ein erhöhtes Risiko für die Entstehung externalisierender Verhaltensprobleme. Deković (1999) zeigte einen Zusammenhang zwischen verhaltensauffälligen Peers und dem Risiko für die Entwicklung von Problemverhalten auf. Zudem wurde das soziale Milieu in Form des sozioökonomischen Status der Familie analysiert. Dabei konnte ein Zusammenhang zwischen einem geringen sozioökonomischer Status und Verhaltensstörungen nachgewiesen werden (Miech et al., 1999). Eine weitere Studie gibt wiederum Hinweise darauf, dass vermehrt Zusammenhänge zwischen Gewalterfahrungen und externalisierenden Verhaltensauffälligkeiten im Kindes- und Jugendalter in Gegenden mit niedrigem sozioökonomischen Status vorliegen (Chauhan et al., 2010). In sozial benachteiligten Milieus findet man gehäufter Kriminalität, so konnten Manly und Kollegen (2013) nachweisen, dass die Rate der Kriminalität in der Wohnumgebung die Beziehung zwischen Vernachlässigung von Heranwachsenden und externalisierenden Verhaltensproblemen moderiert. Reising und Mitarbeiter (2012) fanden für externalisierende Verhaltensprobleme einen Zusammenhang mit einer wirtschaftlich schlechten Lage in einem Gebiet. In der aktuellen Forschung spielt eine benachteiligte Umgebung in der Entwicklung von Verhaltensstörungen vor allem bei weiblichen Jugendlichen eine wesentliche Rolle. Keenan und Kollegen (2010) konnten aufzeigen, dass die Diagnose einer Verhaltensstörung in einer Umgebung mit wenig Einkommen mehr als sonst üblich auf Mädchen zutraf (21.2 Prozent). Des Weiteren moderiert das Einkommen in der Nachbarschaft – also die innewohnenden Ressourcen einer Gemeinschaft wie soziale Unterstützung, sozialer Informationsaustausch, soziale Kontrolle und nachbarschaftliche Teilhabe – das Zusammenspiel mütterlicher Depression und Verhaltensauffälligkeiten bei Jugendlichen (Delany-Brumsey et al., 2014).

Familiäre Faktoren und externalisierende Verhaltensstörungen Der familiäre Kontext beeinflusst nachhaltig die Entstehung externalisierender Verhaltensprobleme (Javdani et

Zeitschrift für Psychiatrie, Psychologie und Psychotherapie (2016), 64(1), 55–66


H. Biermann et al.: Die Bedeutung des sozialen Milieus bei Jugendlichen

al., 2011). Dabei wurden das Fehlen von elterlicher Wärme in der Beziehung zum Kind und die körperliche Misshandlung des Kindes durch die Eltern in der Forschung vielfach auf Zusammenhänge zu psychischen Störungen untersucht (Afifi et al., 2012; Appel et al., 2011; Etkin et al., 2014; Khaleque, 2013; Lessard et al., 2010; Norman et al., 2012; Quach et al., 2013; Sugaya et al., 2012). Nach Petermann und Petermann (2006) erhöht ein Mangel an Wärme, welcher auch als fehlende Feinfühligkeit und wenig emotionale Zuwendung betrachtet werden kann, das Risiko für das Auftreten einer externalisierenden Störung. So entstehen Verhaltensprobleme, wenn wenig elterliche Wärme/ Zuneigung und viele harte Strafen seitens der Eltern verhängt werden. Gleichzeitig wird durch das Verhalten der Kinder oft das strenge Erziehungsverhalten und die niedrig ausgeprägte elterliche Zuneigung verstärkt (Berkout et al., 2011). Diese Wechselwirkung wurde auch in aktuellen Studien belegt (u. a. Wang & Kenny, 2014). So führten unangepasste mütterliche Reaktionen und mütterliche Wärme zu vermehrtem externalisierendem Verhalten von Kindern (Nuttall et al., 2012). Wenn Jugendliche körperlicher Misshandlung ausgesetzt sind, schwächt dies die Bindung zu ihren Eltern, gleichzeitig kann aber festgestellt werden, dass eine positive Beziehung zu Eltern das Risiko für aggressives Verhalten verringert (Sousa et al., 2011). Ma und Kollegen (2012) konnten aufzeigen, dass körperliche Bestrafung von Eltern mit stärkeren externalisierenden Verhaltensproblemen bei Jugendlichen einhergeht. Aber auch andere Faktoren wie eine psychische Erkrankung eines Elternteils kann durch die wahrgenommene Belastung und die dadurch resultierenden Stressoren (Schwere der Eltern durch Krankheit, niedrig wahrgenommene elterliche Kompetenz und problematische ElternKind-Interaktion) die Lebensqualität eines Heranwachsenden einschränken (Wiegand-Grefe et al., 2010; Van Santvoort et al., 2012). Im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung haben Kinder psychisch kranker Eltern ein dreibis siebenfach erhöhtes Risiko, eine psychopathologische Symptomatik zu entwickeln (Wiegand-Grefe et al., 2012). Nach Van Loon und Kollegen (2011) besteht eine Wechselwirkung zwischen der mütterlichen Depression und externalisierendem Verhalten des Kindes: Verbessert sich der Zustand der Mutter, kann beispielsweise auch die Symptomatik des Kindes zurückgehen. Wenn Eltern wiederum wenig Kenntnis über die Aktivitäten ihrer Kinder haben, was sich als elterliche Vernachlässigung darstellt, weisen Jugendliche häufiger externalisierende Verhaltensauffälligkeiten auf (Marceau et al., 2014). Eine unangemessene und ausgeprägte kontrollierende elterliche Erziehung wird wiederum als Risikofaktor für die Entwicklung von Verhaltensproblemen bei Kindern und Jugendlichen beschrieben (vgl. Racz & McMahon, 2011). So konnten Salvatore und Kollegen (2014) belegen, dass bei

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Jugendlichen mit geringer elterlicher Aufsicht (Vernachlässigung) erhöhte externalisierende Symptome vorlagen.

Fragestellung Ziel dieser Studie ist es, einen möglichen Zusammenhang zwischen sozialem Milieu und einer externalisierenden Störung bei Jugendlichen aus einer kinder- und jugendpsychiatrischen Inanspruchnahmepopulation aufzuzeigen. Dazu werden die soziale Benachteiligung der jeweiligen Stadtteile, der Mangel an Wärme in der Eltern-Kind-Beziehung, die körperliche Misshandlung von Kindern, die psychische Störung eines Elternteils und die Vernachlässigung durch die Eltern als mögliche Risikofaktoren einer externalisierenden Verhaltensauffälligkeit herangezogen. Als weiterer Schritt soll überprüft werden, inwiefern die entscheidenden Einflussfaktoren in der Vorhersage externalisierender Störungen bei Jugendlichen mit dem sozialen Milieu interagieren.

Methodisches Vorgehen Die vorliegende Studie umfasst Jugendliche aus den verschiedenen Stadtteilen Bremens mit den unterschiedlichen Merkmalen des sozialen Milieus. Die Daten, auf denen diese Studie basiert, wurden im Rahmen der kinder- und jugendpsychiatrischen Versorgungsdokumentation verschiedener psychiatrischer Institutionen in Bremen gewonnen. Die Studie betrachtet den Erhebungszeitraum von 2010 bis 2012 und wurde unter Berücksichtigung ethischer Standards durchgeführt; es liegt ein Ethikvotum der Universität Bremen vor.

Versorgungsdokumentation Das Erhebungsinstrument dieser Studie ist ein Dokumentationsbogen, der eine verkürzte Fassung der Basisdokumentation für psychiatrische Versorgung (BADO) für Kinder und Jugendliche nach Englert und Kollegen (1998) darstellt. Dieser Dokumentationsbogen wurde vereinheitlicht am Ende jeder Behandlungsepisode von den zuständigen Psychiatern, Klinischen Kinderpsychologen und Sozialpädagogen ausgefüllt. Dementsprechend liegen für jede Behandlung folgende Angaben vor (vgl. hierzu Lorenz, 2012): • Patient/in: soziodemografische Patienteninformationen • Auffällige Erscheinungen: Beobachtungen innerhalb der 6 Monate vor Aufnahme

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H. Biermann et al.: Die Bedeutung des sozialen Milieus bei Jugendlichen

• Diagnose: multiaxiale Diagnosen nach ICD-10 • Behandlung: Dauer und Art der psychiatrischen Behandlung. Für die hier vorliegende Untersuchung wurde lediglich die Diagnose der letzten Behandlungsepisode eines Patienten verwendet. Die Versorgungsdokumentation wurde in allen kinderund jugendpsychiatrischen Einrichtungen des Klinikverbundes in Bremen für den stationären, den teilstationären und den ambulanten Bereich durchgeführt. Zu diesem Verbund zählen die Kinder- und Jugendpsychiatrie Bremen Ost, die Institutsambulanz im Klinikum Ost, die Tagesklinik im Klinikum Ost, die Tagesklinik Bremen Nord, die kinder- und jugendpsychiatrische Beratungsstelle und die Suchtberatung des Gesundheitsamtes Bremen. Es besteht ein Kooperationsvertrag der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie im Klinikum Bremen Ost mit dem Öffentlichen Gesundheitsdienst (ÖGD). Diese Kooperation ist eine Besonderheit in Deutschland und gewährleistet bei entsprechendem Bedarf einen direkten Zugang zu einer teilstationären oder stationären Behandlung.

Klassifikation der familiären Einflussfaktoren Aus dem Dokumentationsbogen wurden die weiteren zu analysierenden Merkmale herangezogen. Um eine mögliche psychische Störungen der Eltern der Jugendlichen in dieser Studie abzubilden, wurde aus der Ursprungsvariable in der Dokumentationsbasis eine Variable mit zwei Kategorien gebildet (0 = Störung nicht vorhanden, 1 = vorhanden). Die weiteren familiären Risikofaktoren Mangel an Wärme in Eltern-Kind-Beziehung, Körperliche Misshandlung sowie Vernachlässigung durch die Eltern wurden nach dem gleichen Prinzip in null (0 = nicht vorhanden) und eins (1 = vorhanden) umkodiert.

Stichprobe

Klassifikation der Variablen Klassifikation des sozialen Milieus der Jugendlichen Das soziale Milieu wurde durch den Stadtteil erfasst, in dem die Jugendlichen leben. Diese Stadtteile Bremens wurden unter Verwendung der Sozialindikatoren der Senatorin für Arbeit, Frauen, Gesundheit, Jugend und Soziales der Stadt Bremen (2009; vgl. Derzak, 2010) in drei Kategorien zusammengefasst. Der Sozialindex bildet sich aus insgesamt 22 sozialen Indikatoren und es wurde ein Benachteiligungsindex für bestimmte Stadtteile Bremens berechnet. Die 22 Indikatoren wurden in folgende Gruppen unterteilt: A) Bildungsbeteiligung, B) Erwerbs- und Einkommensverhältnisse, C) Identifikation (wie Wahlbeteiligung Bundestagswahl) und D) Entmischung und Konfliktpotential (Senatorin für Arbeit, Frauen, Jugend und Soziales der Stadt Bremen, 2009). Die Werte dieser Indikatoren wurden zunächst transformiert (M = 0, SD = 1) und mit einem negativen Vorzeichen versehen, wenn diese Indikatoren sich benachteiligend auf die Ortsteile von Bremen auswirkten. Anschließend wurde für die einzelnen Gruppen A, B, C und D der Mittelwert gebildet. Der allgemeine Benachteiligungsindex für die einzelnen Ortsteile ergab sich dann aus dem Durchschnitt der vier Mittelwerte (Derzak, 2010). Da für die vorliegende Studie lediglich die Stadtteile Bremens © 2016 Hogrefe

relevant sind, wurde der gemittelte Benachteiligungsindex der zugehörigen Ortsteile der Stadtteile gebildet. Aus dieser entstandenen Rangfolge wurde anhand der gemittelten Indizes eine hohe, mittlere und geringe Benachteiligung (0, 1, 2) für die entsprechenden Stadtteile festgelegt.

Die behandelten Jugendlichen der gesamten Inanspruchnahmepopulation nahmen stationäre, teilstationäre oder ambulante Versorgungseinrichtungen in Anspruch (Lorenz, 2012). Diese Studie fokussiert die Bremer Stadtteile, daher wurden von allen Behandelten (N = 2 137) lediglich die Jugendlichen einbezogen, die im Behandlungszeitraum in der Stadt Bremen wohnten. Die zu betrachtende Population umfasst demzufolge N = 1611 Jugendliche im Alter zwischen 12 und 18 Jahren (M = 15.05, SD = 1.73). Die Inanspruchnahmepopulation setzt sich aus 781 weiblichen (48.5 %) und 830 männlichen (51.5 %) Behandelten zusammen. Eine externalisierende Verhaltensstörung wiesen n = 436 Kinder und Jugendliche (27.1 %) auf, von denen n = 227 (52.1 %) aus einer hoch, n = 117 (26.8 %) aus einer mäßig und n = 92 (21.1 %) aus einer wenig benachteiligten Umgebung in Bremen stammen. In der gesamten Stichprobe leben fast die Hälfte der Jugendlichen (n = 780; 48.4 %) in einem stark benachteiligten Umgebungsmilieu.

Auswertungsstrategie In den statistischen Analysen werden als abhängige Variable alle Jugendlichen mit externalisierenden Verhaltensauffälligkeiten definiert. So werden als externalisierende Störungen die hyperkinetischen Störungen (F 90.0, F 90.1,

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H. Biermann et al.: Die Bedeutung des sozialen Milieus bei Jugendlichen

Tabelle 1. Statistische Modellübersicht der vorliegenden Studie. Binäre logistische Regression Abhängige Variable

Externalisierende Verhaltensstörung

1. Modell: Haupteffekt Unabhängige Variablen

2. Modell: Interaktion

1. Benachteiligungswert der Bremer Stadtteile

UV (signifikanter Haupteffekt)

2. Mangel an Wärme in Eltern-Kind-Beziehung 3. Körperliche Misshandlung

× Benachteiligungswert

4. Psychische Störungen der Eltern 5. Elterliche Überfürsorge 6. Elterliche Vernachlässigung

F 90.8, F 90.9), die Störungen des Sozialverhaltens (F 91.0, F 91.1, F 91.2, F 91.3, F 91.8, F 91.9) sowie die kombinierte Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen im Kindes- und Jugendalter (F 92.0, F 92.8, F 92.9) festgelegt. Binäre logistische Regressionen untersuchen hierbei den Einfluss unterschiedlicher Faktoren auf die externalisierenden Verhaltensauffälligkeiten bei Jugendlichen. Als mögliche sozialen Einflussfaktoren für externalisierende Verhaltensstörungen werden in dem ersten Modell das jeweilige soziale Milieu, der Mangel an elterlicher Wärme, das Vorhandensein von körperlicher Misshandlung sowie psychische Störungen der Eltern als auch elterliche Vernachlässigung untersucht. Um mögliche Interaktionen der als bedeutsam herausgestellten Risikofaktoren mit dem sozialen Umgebungsmilieu aufzuzeigen, untersucht ein weiteres Modell neben den Haupteffekten der Risikofaktoren auch den Zusammenhang der Risikofaktoren mit dem Milieu bei Jugendlichen mit externalisierenden Verhaltensauffälligkeiten (Tabelle 1). Die Modellgüte wird in beiden Modellen mit Nagelkerkes R2 beurteilt. Zudem wurde die Bootstrap-Methode zur internen Validierung der beiden Prognosemodelle angewendet. Die statistischen Analysen wurden mit SPSS 20.0 durchgeführt.

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chen aus einem guten sozialen Milieu ein signifikant erhöhtes Risiko (b = −.35, p = .023, OR = .71) vorhanden, eine externalisierende Verhaltensstörung aufzuweisen. Im Vergleich von Jugendlichen aus stark oder mittelmäßig benachteiligten Stadtteilen besteht kein bedeutsamer Unterschied (b = .06, p = .690, OR = 1.06) (Tabelle 2).

Einfluss der Familie Die elterliche Wärme, die ein Jugendlicher seitens der Eltern erfährt, stellt keinen Prädiktor für externalisierende Verhaltensstörungen dar. Bei einem Mangel an Wärme durch die Eltern ist die Wahrscheinlichkeit einer externalisierenden Störung bei Jugendlichen nicht bedeutsam erhöht (b = .24, p = .092, OR = 1.27). Elterliche Vernachlässigung (b = .80, p = .000, OR = 2.23) kann jedoch mit einer erhöhten Prävalenz externalisierender Störungen assoziiert werden. Körperliche Misshandlung durch die Eltern leistet keinen Beitrag zur Vorhersage externalisierender Störungen (b = .43, p = .085, OR = 1.54). Die psychische Erkrankung eines Elternteils (b = −.26, p = .051, OR = .77) hat ebenfalls keinen signifikanten Einfluss auf externalisierende Störungen. Die Güte des Modells beträgt R2 = .063 (Tabelle 2).

Einfluss der Interaktionen des sozialen Umgebungsmilieus mit den bedeutsamen Risikofaktoren Es wurde in einem zweiten Modell überprüft, ob die zwei Haupteffekte Benachteiligungswert der Bremer Stadtteile und elterliche Vernachlässigung in einer Wechselwirkung zu einander stehen. Diese Interaktion ist jedoch für eine externalisierende Verhaltensstörung prognostisch nicht ausschlaggebend. In diesem Modell bleiben die beiden Haupteffekte aus dem ersten Modell elterliche Vernachlässigung (b = .85, p = .000, OR = 2.34) sowie der Benachteiligungswert der Stadtteile (b = −.44, p = .016, OR = .65) signifikante Prädiktoren für die Vorhersage externalisierender Störungen bei Jugendlichen (Tabelle 3). Die Bootstrap-Methode bestätigte die Ergebnisse dieser zwei logistischen Modelle, da die Genauigkeit der Schätzung bei allen Variablen gezeigt werden konnte.

Ergebnisse Diskussion Einfluss des sozialen Milieus In der untersuchten Stichprobe ist für Jugendliche aus einem hoch benachteiligten Stadtteil gegenüber Jugendli-

Insgesamt betrachtet wird durch diese Studie deutlich, dass ein sozial hoch benachteiligtes Milieu ein entscheidender Prädiktor für externalisierende Verhaltensauffäl-

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Tabelle 2. Ergebnisse der binären logistischen Regressionsanalyse zur Vorhersage einer externalisierenden Störung. Externalisierende Verhaltensstörungen (N = 1611, R = .063) Prädiktor

Bootstrapb

Kennwerte b

χ2

df

p

OR

CI 95-

CI95+

.06

.16

1

.690

1.06

−.24

.35

−.35

5.15

1

.023*

.71

−.66

−.05

.24

2.83

1

.092

1.27

−.04

.53

.43

2.98

1

.085

1.54

−.07

.92

−.26

3.82

1

.051

.77

−.54

−.02

.80

37.87

1

.000**

2.23

.56

1.06

−1.30

131.92

1

.000**

.27

−1.53

−1.06

Benachteiligungswert der Bremer Stadtteile (0) hoch (ref) (1) mittel (2) niedrig Mangel an Wärme in Eltern-Kind-Beziehung (0) nicht zutreffend (ref) (1) zutreffend Körperliche Misshandlung (0) nicht zutreffend (ref) (1) zutreffend Psychische Störungen der Eltern (0) nicht zutreffend (ref) (1) zutreffend Elterliche Vernachlässigung (0) nicht zutreffend (ref) (1) zutreffend Konstante

Anmerkungen. ref = Referenzgruppe; b = Regressionskoeffizient B; χ2 = Wald-Statistik; df = Freiheitsgrad; OR = Odds Ratio. *p < .05. **p < .01.

Tabelle 3. Ergebnisse der binären logistischen Regressionsanalyse zur Vorhersage einer externalisierenden Störung mit Interaktion der Haupteffekte. Externalisierende Verhaltensstörungen (N = 1611, R = .064) Prädiktor

Bootstrapb

Kennwerte b

χ2

df

p

OR

CI 95-

CI95+

.02

.02

1

.892

1.02

−.26

.30

−.44

5.81

1

.016*

.65

−.86

−.08

(1) zutreffend

.85

38.58

1

.000**

2.34

.57

1.14

Vernachlässigung × Benachteiligungswert

.17

.54

1

.464

1.18

−.26

.65

1

.000**

.28

−1.48

−1.08

Benachteiligungswert der Bremer Stadtteile (0) hoch (ref) (1) mittel (2) niedrig Elterliche Vernachlässigung (0) nicht zutreffend (ref)

Konstante

−1.27

147.0

Anmerkungen. ref = Referenzgruppe; b = Regressionskoeffizient B; χ2 = Wald-Statistik; df = Freiheitsgrad; OR = Odds Ratio. *p < .05. **p < .01.

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ligkeiten bei Jugendlichen sein kann. Zudem stellte elterliche Vernachlässigung in dieser klinischen Stichprobe von 12- bis 18-Jährigen einen entscheidenden Risikofaktor für externalisierende Verhaltensauffälligkeiten dar. Diese Studie veranschaulicht, dass die spezifische Diagnose der externalisierenden Störungsbilder häufiger bei Jugendlichen aus bestimmten sozial schwächeren Milieus vergeben werden. Hierauf soll im Folgenden genauer eingegangen werden. Es sollte jedoch bedacht werden, dass die Vergabe der Diagnose externalisierende Verhaltensstörung auch an Jugendliche aus sozial gut gestellten Stadtbezirken erfolgte. Insofern kommen unabhängig von der psychiatrischen Diagnose tendenziell mehr Jugendliche aus sozial benachteiligten Stadteilen Bremens in die kinder- und jugendpsychiatrische Versorgung.

Soziales Milieu Dieser Faktor stellte den Schwerpunkt der vorliegenden Studie dar. Es sollte analysiert werden, ob eine Beziehung zwischen den Störungen des Sozialverhaltens sowie der hyperkinetischen Störungen und einem benachteiligten sozialen Milieu besteht. Es wurde deutlich, dass es entscheidend ist aus welchem Stadtteil Bremens die Jugendlichen mit der Diagnose der externalisierenden Verhaltensstörung kommen. Die soziale Benachteiligung eines Milieus scheint neben anderen sozialen Einflussfaktoren bedeutsam für die Entstehung einer externalisierenden Verhaltensauffälligkeit zu sein. In der Studie von Bøe und Kollegen (2014) konnten diese Ergebnisse bestätigt werden. Die Autoren untersuchten die Wirkung des sozioökonomischen Status (Bildung, elterliches Wohlbefinden, negative Erziehungspraktiken) auf kindliches Wohlbefinden. Sie fanden, dass vor allem die Faktoren elterliches Wohlbefinden und negative Erziehungspraktiken der Eltern auf externalisierende Probleme von Jugendlichen wirken. Die Besonderheit der vorliegenden Studie ist, dass eine klinische Stichprobe analysiert wurde und die externalisierenden Verhaltensstörungen im Vergleich zu anderen psychiatrischen Diagnosen ausgewertet wurden. Zudem wurden eine Vielfalt von Merkmalen des sozialen Milieus (z. B. Einkommen, Migrationshintergrund, Wahlbeteiligung) einbezogen, welche eine genauere Betrachtung der Ergebnisse ermöglichten. In den bestimmten Milieus Bremens lässt sich eine Kumulation der sozialen Benachteiligung verzeichnen. Dazu konnten Belhadj Kouider und Kollegen (2013) aufzeigen, dass Störungen des Sozialverhaltens bedeutsam von der Anzahl psychosozialer Belastungen beeinflusst werden. Dieser Sachverhalt lässt vermuten, dass Jugendliche aus den sozial benachteiligten Gebieten unter einer Vielzahl von erschwerten Bedingungen für ihre Entwicklung auf-

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wachsen. Unter diesen Voraussetzungen sind die in dieser Lebensphase auftretenden Entwicklungsaufgaben schwerer zu bewältigen. Die Jugendlichen erleben im Vergleich zu Jugendlichen aus sozial gut gestellten Milieus eine andere Form des Alltags, der von materieller Armut der Eltern und Arbeitslosigkeit, aber auch instabilen Familien und Kriminalität geprägt ist. Jugendliche in sozial benachteiligten Milieus erleben eine abweichende gesellschaftliche Normalität. Dadurch kommt es zu einer sozialen Ausgrenzung, die wiederum zum Herabsetzen der psychischen Gesundheit führen kann. So liegt die Vermutung nahe, dass die Jugendlichen die Ursachen ihres Leidens in Form von externalisierenden Verhaltensstörungen nach außen an ihre Umwelt tragen. Zu bedenken ist dabei, dass auch Jugendliche aus sozial gut gestellten Milieus beispielsweise erschwerte familiäre Bedingungen erfahren können und psychische Störungen aufweisen; solche Jugendlichen besitzen jedoch kein erhöhtes Risiko für externalisierende Störungsbilder. Wie genau sich die Verhaltensstörungen zwischen den sozialen Milieus unterscheiden, könnte Ziel einer weiteren Studie sein.

Elterliche Vernachlässigung Des Weiteren wurde in dieser Studie überprüft, ob zu wenig Aufsicht und Steuerung durch die Eltern in Form von Vernachlässigung als spezifischer Risikofaktor für die Genese externalisierender Störungsbilder gelten kann. Dieser wurde durch die Ergebnisse eindeutig als ein solcher identifiziert. Wie zuvor erwähnt, konnten u. a. Van Loon und Kollegen (2013) diesen Sachverhalt als Prädiktor für Verhaltensprobleme, speziell externalisierende, hervorheben. Kinder und Jugendlichen, die von ihren Eltern zu wenig Beaufsichtigung und Steuerung erfahren, lernen nur schwer, wie man sich Autoritätspersonen und anderen Menschen gegenüber positiv verhält, Anforderungen, Regeln sowie Grenzen akzeptiert und vor allem, wie man soziale Konflikte auf eine kompetente Weise regelt. So scheint die elterliche Vernachlässigung der Kinder, im Verhältnis zu den anderen in dieser Studie untersuchten Risikofaktoren, einen hohen Stellenwert einzunehmen. Somit kann dieser soziale Faktor in Form von familiär instabilen Verhältnissen die Vulnerabilität von Jugendlichen für externalisierende Verhaltensauffälligkeiten stark erhöhen. Jugendliche, die von ihren Eltern vernachlässigt werden, erhalten im Alltag wenig Tagesstruktur und dadurch können Peers mehr Raum in ihrem sozialen Umfeld einnehmen. Diesen Zusammenhang haben unter anderem Pettit und Kollegen (1999) betrachtet. Sie fanden das größte Risiko für externalisierende Störungen bei wenig empfundener Sicherheit in der Nachbarschaft und wenig Aufsicht durch die Eltern. Daher lag die Vermutung nahe, dass das

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soziale Milieu und elterliche Vernachlässigung eine Wechselwirkung in dieser Studie zu einander aufweisen. Diese konnte in der vorliegenden Studie jedoch nicht belegt werden. So spielen die Risikofaktoren unabhängig voneinander eine entscheidende Rolle für die Entwicklung externalisierender Störungsbilder. Bei dem Vorhandensein elterlicher Vernachlässigung entwickeln die Jugendlichen eher eine Störung, die sich nach außen richtet, nicht zuletzt um auch Aufmerksamkeit für ihre psychische Notlage einzufordern.

Mangel an Wärme in der Eltern-KindBeziehung In der vorliegenden Untersuchung konnte diese Variable nicht als spezifischer Prädiktor bestätigt werden. Das Ergebnis ist zunächst nicht naheliegend, da die Beziehung zu den Eltern ein bedeutsamer Faktor in der emotionalen und sozialen Entwicklung des Kindes darstellt und sich in der Eltern-Kind-Interaktion die Identitätsentwicklung vollzieht, wodurch auch spätere Erwartungen an Beziehungen und Verhaltensweisen geprägt werden (Koepke & Denissen, 2012). Fehlt es in dieser Interaktion mit den Bezugspersonen an Wärme, prägt dies auch den weiteren Umgang des Kindes oder Jugendlichen mit seiner Umwelt. Im Zusammenhang mit dem sozialen Milieu und elterlicher Vernachlässigung könnte dieser Faktor jedoch an Bedeutung verloren haben. Zudem kann der Mangel an Wärme nicht bedeutsam für die externalisierenden, aber möglicherweise für andere Verhaltensstörungen eine Rolle spielen.

Zeitpunkt des Auftretens körperlicher Misshandlung zeigte die Studie von Afifi und Kollegen (2012), dass körperliche Bestrafung mit affektiven Störungen, Angststörungen, Substanzmissbrauch und Persönlichkeitsstörungen bei Jugendlichen assoziiert ist. Dieser Faktor ist also im Kontext der anderen sozialen Faktoren für externalisierende Störungen nicht ausschlaggebend.

Psychische Störungen der Eltern Psychische Erkrankungen können Eltern in ihrem Erziehungs- und Interaktionsverhalten einschränken und außerdem eine genetische Disposition für Jugendliche darstellen (Callender et al., 2012). Diese Studie wies das Vorhandensein eines psychisch erkrankten Elternteils als Prädiktor für eine externalisierende Störung bei Jugendlichen jedoch nicht nach. Callender und Kollegen (2012) belegten den Sachverhalt bei Eltern, die an Depressionen erkrankt waren. An Depression erkrankte Eltern vernachlässigen beispielsweise häufig ihre Aufsichtspflicht, wodurch sich externalisierende Probleme bei Jugendlichen erhöhen können (Van Loon et al., 2013). Durch eine psychische Erkrankung der Eltern kann sich die elterliche Wahrnehmung des kindlichen Verhaltens verzerren. Die vorliegende Studie analysierte jedoch eine generelle psychische Erkrankung der Eltern ohne eine genauere Spezifizierung für die Risikoerhöhung externalisierender Störungen in der Adoleszenz. Dieser Zusammenhang legt die Vermutung nahe, dass nicht allein die psychischen Erkrankungen ausschlaggebend sind, sondern die damit einhergehenden Belastungen in der Eltern-Kind-Beziehung, wie die elterliche Vernachlässigung.

Körperliche Misshandlung Ob ein Kind oder Jugendlicher von seinen Eltern körperlich misshandelt wurde, scheint im Kontext der anderen Risikofaktoren in dieser Studie kein bedeutsamer Prädiktor für ein erhöhtes Auftreten von externalisierenden Verhaltensauffälligkeiten zu sein. Cicchetti und Kollegen (2010) zeigten auf, dass der Zeitpunkt der körperlichen Misshandlung für die Entwicklung von internalisierendem oder externalisierendem Verhalten eine entscheidende Rolle spielt. Bei einem frühen Auftreten körperlicher Misshandlung kommt es zur Entwicklung internalisierender Verhaltensprobleme. Zu einem späteren Zeitpunkt werden externalisierende Verhaltensauffälligkeiten wahrscheinlicher. Die Befunde deuten darauf hin, dass die Jugendlichen dieser Untersuchung einer körperlichen Misshandlung in der frühen Kindheit ausgesetzt gewesen sein könnten, wodurch dieser Faktor eher das Risiko für internalisierende Störungsbilder erhöht. Unabhängig vom © 2016 Hogrefe

Grenzen der Studie Die Stichprobe, welche die Grundlage dieser Arbeit bildet, setzt sich aus den behandelten Bremer Jugendlichen der Einrichtungen des Klinikverbundes Bremen von 2010 bis 2012 zusammen. Die erhobenen Fälle bilden daher eine anfallende Stichprobe aus der klinischen Praxis ab und keine Stichprobe, die realistische Prävalenzen widerspiegelt. In der statistischen Grundlage dieser Studie konnten nur die Jugendlichen berücksichtigt werden, die Hilfe in einer klinischen Einrichtung in Anspruch genommen haben. Grenzen der hier vorliegenden Studie liegen im methodisch-statistischen Bereich. Der aufgeklärte Varianzanteil der beiden Modelle muss als gering angesehen werden, was sich aus dem Mangel der Informationen der Patientendokumentation ergibt. Möglicherweise kam es zu Verzerrungen bei der Einteilung der bestimmten Mili-

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eus, da durch die Dokumentationsbasis lediglich Postleitzahlen angegeben wurden, die sich jedoch in den Stadtgebieten überschneiden. Des Weiteren muss kritisch angemerkt werden, dass die Einteilung der Stadtteile in die jeweiligen Abstufungen des sozialen Milieus anhand von Sozialindikatoren (Derzak, 2010) durch den Mittelwert der Ortsteile erfolgte, die sich untereinander sehr heterogen darstellen. Dabei könnte es zu möglichen Verzerrungen der Angabe über sozial problematische und positive Milieus gekommen sein. Die Dokumentationsbasis enthielt zudem keine Erläuterungen zu Ausprägung und Schweregrad bei elterlicher Vernachlässigung, Mangel an Wärme in der Eltern-Kind-Beziehung, körperlicher Misshandlung sowie psychischer Erkrankung eines Elternteils. Außerdem liegen keine Informationen über die standardisierte Erhebung zu diesen Faktoren vor. So könnte beispielsweise die Angabe über die spezielle psychische Erkrankung der Eltern eine entscheidende Rolle spielen. Daneben könnten die Angaben zu den Patienten von der Motivation und Erfahrung der beurteilenden Ärzte und Psychologen abhängig sein.

Schlussfolgerungen für die klinische Praxis Die Ergebnisse weisen darauf hin, dass das soziale Milieu einen bedeutsamen Einfluss auf externalisierende Verhaltensauffälligkeiten ausübt. In der therapeutischen Arbeit sollte daher besonders an diesen Punkten angesetzt werden. Dies unterstreicht die Notwendigkeit die einzelnen Jugendlichen, die Familien und die Nachbarschaft als Faktoren bei der Bewertung der Risiken mit einzubeziehen. In der therapeutischen Arbeit mit Jugendlichen mit einer externalisierenden Störung müssen wiederum vermehrt die sozialen Umgebungsfaktoren berücksichtigt und thematisiert werden, um die aufrechterhaltenden Faktoren der Erkrankung angemessen zu verringern. Nur die aktuelle Problematik des Jugendlichen zu behandeln, wäre eine Behandlung von Symptomen und nicht der eigentlichen krankmachenden Lebenssituation. Generell unterstreicht die Tatsache, dass elterliche Vernachlässigung, körperliche Misshandlungen und die psychische Erkrankung eines Elternteils einen Einfluss auf die Entwicklung einer externalisierenden Vershaltensstörung bei Jugendlichen haben, die starke Bedeutung der Elternarbeit für die Psychotherapie mit Jugendlichen mit externalisierenden Verhaltensauffälligkeiten (vgl. Petermann, Petermann & Franz, 2010). Die Notwendigkeit von sozialen Diensten in benachteiligten Stadtteilen wird in betroffenen Großstädten durch

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die vorliegenden Ergebnisse deutlich. Auf der einen Seite kann das Leben in einem Benachteiligungsgebiet zu vermehrtem externalisierendem Verhalten führen und zunehmend die familiäre Situation belasten. Auf der anderen Seite wirkt sich das negative familiäre Umfeld von Jugendlichen möglicherweise verstärkend auf die externalisierende Symptomatik aus. Die Festlegung des starken Benachteiligungsindexes impliziert für Bremer Schulen bereits mehr Fördergelder im Vergleich zu Schulen in Stadtteilen mit weniger Benachteiligungen. Die vorliegenden Ergebnisse können allerdings als Hinweis gelten, dass die bisherigen Präventionsangebote an Schulen in diesen stark benachteiligten Stadtteilen noch nicht ausreichend sind. So sollten vermehrt soziale und emotionale Kompetenzen von Kindern und Jugendlichen aus benachteiligten Stadtteilen gefördert werden.

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Dipl. Psych. Henrike Biermann Prof. Dr. Franz Petermann Zentrum für klinische Psychologie und Rehabilitation der Universität Bremen Grazer Straße 6 28359 Bremen Deutschland henrike.biermann@yahoo.com

CME-Fragen zu Biermann et al.: Die Bedeutung des sozialen Milieus bei Jugendlichen mit externalisierenden Verhaltensauffälligkeiten: Analyse einer Bremer kinderund jugendpsychiatrischen Inanspruchnahmepopulation 1. Zu den externalisierenden Verhaltensauffälligkeiten gehören: a. Störungen des Sozialverhaltens b. Soziale Phobie c. Autoaggression d. Selbstverletzendes Verhalten e. Artifizielle Störungen

4. Ein belastendes soziales Milieu ist durch folgende Faktoren gekennzeichnet: a. Materielle Armut b. Wenige Sozialkontakte c. Ländliches Wohnumfeld d. Viele Geschwisterkinder e. Keine Freunde

2. Welche psychischen Störungen bei Kindern und Jugendlichen sind von sozialen Faktoren weitgehend unabhängig? a. Depression b. Zwangsstörungen c. Angststörungen d. Essstörungen e. ADHS

5. Unter elterlicher Vernachlässigung versteht man? a. Mangelnde Beaufsichtigung b. Zu wenig Unterstützung in schulischen Belangen c. Zu wenig Zeit in familiäre Aktivitäten investieren d. Wenig Unterstützung bei Problemen mit Gleichaltrigen e. Zu wenig materielle Unterstützung

3. Welche Faktoren minimieren das Risiko für aggressives Verhalten? a. Körperliche Bestrafung b. Mütterliche Wärme c. Psychische Erkrankungen der Eltern d. Positive Beziehung zu den Eltern e. Fehlende Feinfühligkeit Zeitschrift für Psychiatrie, Psychologie und Psychotherapie (2016), 64(1), 55–66

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H. Biermann et al.: Die Bedeutung des sozialen Milieus bei Jugendlichen

Um Ihr CME-Zertifikat zu erhalten (min. 3 richtige Antworten), schicken Sie bitte den ausgefüllten Fragebogen mit einem frankierten Rückumschlag bis zum 10.3.2016 an die nebenstehende Adresse. Später eintreffende Antworten können nicht mehr berücksichtigt werden.

Marie Louise Cox-Hammersen Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters Neuenhofer Weg 21 52074 Aachen Deutschland

Fortbildungszertifikat Die Ärztekammer Niedersachsen erkennt hiermit 2 Fortbildungspunkte an.

«Die Bedeutung des sozialen Milieus bei Jugendlichen mit externalisierenden Verhaltensauffälligkeiten»

Stempel

Die Antworten bitte deutlich ankreuzen! 1

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Ich versichere, alle Fragen ohne fremde Hilfe beantwortet zu haben. Name Berufsbezeichnung, Titel Straße, Nr. Datum

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PLZ, Ort

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Kurzbeitrag

Wir brauchen eine Grundhaltung der vorurteilsfreien Begegnung im öffentlichen Raum, auch in Zeiten des «Wutbürgers» Ein sozialpsychiatrischer Debattenbeitrag Sven Speerforck1, Georg Schomerus1,2 und Harald J. Freyberger1,2 1 2

Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universitätsmedizin Greifswald, Standort Greifswald Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universitätsmedizin Greifswald, Standort am HELIOS Hanseklinikum Stralsund

Zusammenfassung: Vor dem Hintergrund des Zusammenhangs zwischen politischer Gesellschaftsgestaltung, der Prävalenz psychischer Erkrankungen und dem Organisationsgrad des psychosozialen Hilfesystems stellt sich die Frage nach einer politischen Rolle der Sozialpsychiatrie. In einer offenen Gesellschaft ist die vorurteilsfreie und solidarische Begegnungskultur eine wichtige Voraussetzung, um die Interessen von Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen zu vertreten. Nicht zuletzt im Kontext der PEGIDA-Bewegung und «Asylkritiker» offenbart sich jedoch eine unübersichtliche Gemengelage von simplifizierenden Stereotypen, Sorgen und teils menschenfeindlichen Auswüchsen von Wut und Hass. Hier kann die Sozialpsychiatrie einen politischen Beitrag leisten: Indem sie Eskalationsspiralen frühzeitig benennt und erklärt, kann sie eine kritische Begegnung im öffentlichen Raum beeinflussen. Stereotype können das Selbstkonzept eines Bürgers kurzfristig stabilisieren. Eine schnelle und nicht diskursive Abwertung von Stereotypen im öffentlichen Raum kann zu deren Immunisierung sowie Wut und Hass führen. «Angst» und «Wutbürger» sind diminutive Ferndiagnosen mit entlastender Funktion, die diesen Prozess katalysieren. Akteure des öffentlichen Raumes wie Politiker und Journalisten nutzen ebenfalls Stereotype und sind häufig gezwungen, zwischen Wählbarkeit, wirtschaftlichen Interessen und der Kontrolle einer gesellschaftsspaltenden Eskalationsdynamik abzuwägen. Politik im Sinne einer engagierten Sozialpsychiatrie sollte einen reflektierten und hartnäckigen Diskurs auf Augenhöhe zum Abbau von Unbehagen, Wut und Stereotypen moderieren. Das aktive und selbstbewusste Werben für die Zumutung des diskursiven Aneinanderwachsens sollte ein Teil des Selbstverständnisses einer politisch engagierten Sozialpsychiatrie sein. Schlüsselwörter: Politik, Sozialpsychiatrie, Stereotype, Wut, Öffentlicher Raum, Wutbürger, PEGIDA, Asyl

Abstract: Given a relationship between political shaping of society, the prevalence of mental illnesses and the organization of mental health care, the question of a possible political participation by social psychiatry arises. An unprejudiced and supportive encounter in an open society is an important requirement to represent the interests of people with severe mental illnesses and to provide a functional structure of mental health care. Not least in the context of the German PEGIDA-Movement and “asylum critics”, a confusing mixture of simplistic stereotypes, concerns, anger and hate unfolded. An attempt to explain underlying and escalating mechanisms could be a possible political initiative taken by social psychiatry. Stereotypes are able to stabilize a civic self-concept in the short term. A quick and non-discursive devaluation of stereotypes in the public sphere might lead to immunization, anger and hate. “Angst” (fear) and “Wutbürger” (enraged citizen) are diminutive diagnoses with a relieving character, catalyzing the process of escalation. Ambassadors of the public sphere like politicians or journalists are using stereotypes as well, balancing electability, economic interests and the management of escalation leading to a growing social divide. Politics in terms of a dedicated social psychiatry could moderate a reflected and adamant discourse at eye level, reducing fear, anger and stereotypes. It should be part of a political social psychiatric self-conception to promote a genuine discursive encounter in the public sphere of an open society. Keywords: politics, social psychiatry, stereotypes, anger, public sphere, Wutbürger, enraged citizen, asylum, PEGIDA, Germany

Politik und Psychiatrie – eine gute Idee? Bei vielen klinisch tätigen Psychiatern ist in den letzten Jahren der Eindruck entstanden, die aktuelle neurobiolo-

gische Forschung habe kaum noch Relevanz für den klinischen Alltag (Priebe, 2012). Vor diesem Hintergrund rückt der gesellschaftliche Kontext psychischer Erkrankungen wieder stärker in den Fokus der Debatte um eine gute psychiatrisch-psychotherapeutische Versorgung

Zeitschrift für Psychiatrie, Psychologie und Psychotherapie (2016), 64(1), 67–71 DOI 10.1024/1661-4747/a000261

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S. Speerforck et al.: Vorurteilsfreie Begegnungen im öffentlichen Raum

(Priebe, Burns & Craig, 2013). Auch wenn politische Probleme wie z. B. Kriege, Armut, niedriger Bildungsstand, Arbeitslosigkeit sowie soziale Ungleichheit und Isolation gesicherte gesellschaftliche Risikofaktoren für das Auftreten psychischer Erkrankungen sind, fehlt es an engagierter praktischer Umsetzung dieser Erkenntnisse in Form von politischen Initiativen seitens der psychiatrisch und psychotherapeutisch tätigen Berufe (Priebe, 2015). Aber hat «das Soziale in der Psychiatrie» nicht auch eine politisch gestaltende Dimension (Brieger, 2014)? Bräuchten wir nicht z. B. ein lauteres Werben für inklusive und belastungsbegrenzte Arbeitsverhältnisse im Wettstreit mit globalisierten ökonomischen und geopolitischen Interessen (vgl. Brieger et al., 2015)? Wie könnten Alternativen einer politischen Partizipation der Psychiatrie aussehen? Eine wichtige Grundlage für politische Veränderungen im Sinne von Menschen mit psychischen Erkrankungen ist eine tolerante und solidarische Grundhaltung im öffentlichen Raum. Diese Grundhaltung ist für die Durchsetzung der Rechte von Minderheiten und Menschen mit geringer politischer Lobby elementar. Im öffentlichen Raum finden Meinungsbildungsprozesse und Mehrheitsbildungen statt, die im optimalen Fall ihren Ausdruck in neuen Gesetzen wie z. B. der Aufhebung der Strafbarkeit von Homosexualität – 1969/1973, der Psychiatrie Enquete – 1975, dem Gesetz zur Gleichstellung behinderter Menschen – 2002 und dem allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz – 2006 finden. Das engagierte Werben für eine solidarische Grundhaltung kann sich also legislativ auszahlen. Bedarf nun die Grundhaltung im öffentlichen Raum unserer Gesellschaft aktuell überhaupt einer psychiatrischen Initiative und wenn ja warum? Verfolgt man öffentliche und zuletzt medial sehr präsente Debatten (beispielsweise «PEGIDA» oder «Flüchtlingskrise»), bemerkt man eine, in weiten Teilen der Gesellschaft zunehmende Polarisierung zwischen partizipativen Positionen und dem sogenannten «Wutbürger» (Kurbjuweit, 2010). Als Ursachen dieser polarisierenden Debatten wurde eine zuweilen unübersichtliche Kombination von ökonomischer Verunsicherung und Abstiegsangst (Bude, 2014) mit der Angst vor dem Fremden und damit zusammenhängender Überfremdung angeführt (Hebel, Knaack & Sydow, 2014), von simplifizierenden Stereotypen bis zu menschenfeindlichen Auswüchsen von Wut und Hass (Encke, 2014). Der Ökonom und Soziologe Oliver Nachtwey interpretiert diese Befunde als «Produkt einer nervösen Gesellschaft» mit «verwilderter Affektkontrolle» sowie als Ausdruck «eines regressiven Aufbegehrens gegen eine marktkonforme Demokratie, in der die Ökonomie zur sozialen Instanz geworden ist» (Nachtwey, 2015, S. 81). Vielleicht bietet diese unübersichtliche, aufgeladene Situation eine Möglichkeit, aus psychiatri© 2016 Hogrefe

scher Perspektive zu einer Ausgewogenheit des Diskurses beizutragen und einem potentiell gefährlichen «Extremismus der Mitte» (Lipset, 1981) frühzeitig entgegenzuwirken.

Ein Erklärungsversuch In den Zeiten einer globalisierten Informationsgesellschaft scheint der gesellschaftliche Zusammenhalt von Zerrkräften allgegenwärtiger und überfordernder Anforderungen und von einer beschleunigten Komplexität gesellschaftlicher Entwicklungen bedroht (vgl. hierzu Bude, 2014). Neue Informationen und Ausdrucksformen auf allen Ebenen sind potentiell jederzeit und an jedem Ort verfügbar und müssen gegebenenfalls immer wieder in das Selbstkonzept eines Menschen integriert werden. Diese hochfrequente Konfrontation mit Neuem und Fremdem stellt hohe Ansprüche an die politische Identität eines Bürgers. Oskar Negt fasst in seiner Einführung zur Praxis der interkulturellen Psychiatrie zusammen, wie «das Fremde gewöhnlich als etwas betrachtet [wird], das Identität und Ich-Bildung blockiert und bedroht; weil das so wahrgenommen wird, baut das Subjekt eine Abwehrfront mit Vorurteilen auf, die dem Ich Schutz gewähren sollen. Das erweist sich jedoch als Irrtum. Ohne das Fremde gibt es kein erfahrungsfähiges Eigenes; denn dieses Fremde in einem selbst und im Angst bereitenden Außen ist die ständige Herausforderung, die begrenzten Näheverhältnisse der gesicherten Wagenburg zu verlassen und sich auf Wege neuen Lernens einzulassen.» (zitiert nach Machleidt & Heinz, 2011, S. 3). Die Auseinandersetzung mit der sich hinter diesen Vorurteilen verbergenden Abwehr und das Werben für ein offenes und erfahrungsfähiges Selbstkonzept eines Bürgers kann eine politische Aufgabe der Psychiatrie sein. Eine politisch ambitioniertere Psychiatrie könnte versuchen, einen möglichst unverstellten Blick auf politische Verhältnisse zu ermöglichen. Sie könnte dazu beitragen «vorurteilsbesetzte Suchbewegungen nach Ersatzschuldigen» innerhalb der Gesellschaft, häufig das Andere oder das Fremde, einzudämmen und «Strukturprobleme einer von Markt und Kapital dominierten Gesellschaft» klar zu benennen (Machleidt & Heinz, 2011, S. 12 und S. 10).

Stereotype und «Wutbürger» Kritisch werden diese Abwehrprozesse vor allem dann, wenn diese zu vorurteilsaufgeladenen Gruppenprozessen beitragen (Tajfel & Turner, 1986). Diese Spaltung in Sub-

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gruppen findet zum Beispiel einen empirischen Ausdruck in dem Konzept der «gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit» (Heitmeyer, 2011). Heitmeyer und Kollegen prangern eine «rohe Bürgerlichkeit (nicht zu verwechseln mit Bürgertum)» an, die «sich bei der Beurteilung sozialer Gruppen an den Maßstäben der kapitalistischen Nützlichkeit, der Verwertbarkeit und der Effizienz orientiert und somit die Gleichwertigkeit von Menschen sowie ihre psychische wie physische Integrität antastbar macht und zugleich einen Klassenkampf von oben inszeniert». Jüngere deutsche empirische Bevölkerungsstudien beschreiben eine Abnahme des manifesten Rechtsextremismus, jedoch eine Zunahme potentiell menschenfeindlicher Ressentiments und Stereotype (Decker, Kiess & Brähler, 2015; Zick & Klein, 2014). Stereotype sind häufig Ausdruck wichtiger gesellschaftlicher und psychodynamischer Prozesse. Sie können aus der «Zurückdrängung von Entladungen gewisser Gemütsbewegungen und Affekten» (Scheler & Frings, 2004, c1978) oder aus einer Rebellion gegen ein als verunmöglicht empfundenes Leben (vgl. «Usurpator-Komplex» in Adorno, 1995, c1973) resultieren. Als Teil der Abwehr sind diese Stereotype für die Stabilisation eines angeschlagenen Bürger-Selbstkonzeptes so wesentlich, dass sie sich durch neue Informationen oft nur noch oberflächlich hinterfragen lassen. Und wird ein Hinterfragen wirksam, erweist sich die Abwehr als stabil mit dann oft sichtbar werdenden «ja, aber-Relativierungen» (Nachtwey, 2015). Eine Erklärung für die große Vielfalt der Stereotype (und in geringerem Maße deren Immunisierung gegenüber einer sachlichen Diskussion) ist wahrscheinlich im Prozess der Meinungsbildung im öffentlichen Raum zu finden. Der öffentliche Raum einer repräsentativen Demokratie weist die grundgesetzkonforme Tendenz auf, sozial diskriminierendes Verhalten zumindest auf einer übergeordneten Ebene zu sanktionieren. In den Austauschprozessen der unterschiedlichen Meinungen laufen die reflexhaften Antworten auf rassistische Positionen häufig ebenso zuverlässig und kompromisslos im Sinne einer «Gegendiskriminierung» ab, um betroffene Menschen und Minderheiten zumindest formal zu schützen. Im öffentlichen Raum birgt diese Diskriminierung durch ebenfalls ausgrenzende Stereotype («Thilo Sarrazin ist ein Faschist». «PEGIDA ist eine Schande für Deutschland») jedoch ein hohes Risiko für langfristig negative Entwicklungen im Sinne wechselseitig induktiver Effekte. Dies führt zu einer Verlagerung aufgeladener Inhalte in den halböffentlichen oder privaten Raum. Diese Diskriminierung ist zumeist für den aktiv Diskriminierenden und dessen vermeintliche Bezugsgruppe entlastend, führt aber eben gar nicht zu einer Abnahme der Stereotype, sondern lediglich zu einem «verbittertem Verstummen» (Der Soziologe Heinz Bude im Februar 2015 zu der sinkenden

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Teilnehmerzahl bei «PEGIDA»-Demonstrationen aus Hesse & Bude, 2015).

Wut und «Wutbürger» Die angenommene Ungerechtigkeit und vermutete Unfähigkeit, die Realitäten zu ändern und diesen schutzlos ausgeliefert zu sein (Nachtwey, 2015, S. 83) erzeugt Wut. Engagiert sich der «Wutbürger» aufgrund seiner Stereotype, ob verbal oder in Bürgerbewegungen, erntet er häufig im öffentlichen Raum eine Abwertung (vgl. Beispiele zur ausgrenzenden «Gegendiskriminierung» im öffentlichen Raum). Hier kann also kein politisches Unbehagen reduziert werden. Das unsichere und stereotypbeladene politische Selbstkonzept eines «Wutbürgers» war über die vergangenen Jahre in den Parlamenten deutlich unterrepräsentiert. Die Wahrnehmung von «politischer Korrektheit» und «Gutmenschen» traf auf ein starkes Bedürfnis nach sozialer Sicherung und Ressentimentverbalisation. Hier stellen die «Wutbürger» eine Art Prototyp der Entfremdung vom dem «politischen Establishment» dar und, da es sich um eine repräsentative Demokratie mit Politikern als «Projektionsankern für politische Affekte» (Bude, 2014, S. 127) handelt, geht damit auch eine Entfremdung vom politischen System einher. Diese Entfremdung von der repräsentativen Demokratie durch eine inhaltliche Repräsentationslücke (vgl. hierzu «Angst und Politik» S. 184–215 aus Neumann, 1967) beinhaltet konsequenterweise auch die Entfremdung von den systemimmanenten Medien und endet in der «Demokratieverdrossenheit». Markiert man zusätzlich immer wieder Versuche der Verbalisation der stabilisierenden Stereotype als Populismus und wertet zarte Versuche der Teilhabe am öffentlichen Raum reflexhaft und lückenlos ab, entsteht eine scharfe und anhaltende Antipathie gegenüber allen beteiligten Akteuren.

Eine öffentliche Eskalation Der medienpräsente Typus des «Wutbürgers» sieht sich in öffentlichen Auseinandersetzungen regelhaft mit zwei «Gefühlsdiagnosen» konfrontiert: Die namensgebende Wut und die zu Grunde liegende Angst. Beide Begriffe sind Ferndiagnosen mit diminutivem und instrumentellem Charakter («PEGIDA – Eure Angst nervt» Spiegel Online, 2015). Die Verwendung solch infantilisierender Gefühlszuschreibungen und die reflexhafte Abwertung durch Akteure des öffentlichen Raumes («PEGIDA ist eine Schande für Deutschland» aus Frankfurter Allgemeine Zeitung,

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2014) beschleunigen eine Eskalationsspirale (Klose & Patzelt, 2015). Für Journalisten als Gestalter des öffentlichen Raumes ist es besonders wichtig, verantwortungsvoll mit unzulässigen Pauschalisierungen in Form von gefährlichen Stereotypen umzugehen, um einer eskalierenden Dynamik frühzeitig entgegenzuwirken. Selbstgefällige und affirmative Plattitüden wie «Populismus» (Linden, 2015), «Rattenfänger» (Schönau, 2013) oder «PEGIDAVersteher» (Gathmann, 2015) bedienen lediglich die eigene Klientel und erschweren eine diskursive Annährung (vgl. hierzu Karakoyun, 2014).

Und nun? Politiker können sich kein neues Volk suchen, aber eine Gemeinschaft prägen und entwickeln. Andauernde und gezielte Angriffe im Sinne einer «Gegendiskriminierung» führen jedoch meist zu einer Unterentwicklung. Im gesamtgesellschaftlichen Interesse sollte daher eine Entschärfung der Eskalationsspirale stehen. Das bloße Etikettieren von Stereotypen als Vorurteile hilft nicht weiter. Nun sind Politiker keine Therapeuten, aber Ihnen obliegt doch das Eintreten für Verfassung, Gewaltmonopol und Grundgesetz. Nimmt man diese Aufgabe ernst, muss man die Idee eines reflektierten und hartnäckigen Diskurses auf Augenhöhe zum Abbau von Unbehagen, Wut und Stereotypen politisch moderieren. Potentiellen Kanalisierungsmöglichkeiten wie Bürgerbewegungen oder der Formation neuer Interessevertretungen sollte nicht reflexhaft aus machtpolitischem Kalkül mit zivilisiertem Abscheu und Entwertung, sondern mit einer klaren Definition eigener Inhalte begegnet werden. Dieses diskursive Zeitfenster gilt es so lange wie möglich offenzuhalten. Unter Verteidigung der historisch gewachsenen großen roten Linien eines freien gesellschaftlichen Miteinanders könnten soziologische und politiktheoretische Identifikationskonzepte wie zum Beispiel der «Verfassungspatriotismus» (Habermas, 1987, S. 159–179; Sternberger, 1990) sozialpsychiatrisch aufgearbeitet werden. Folgt man einem anderen bewährten Glaubenssatz, beginnt die Arbeit an einer Gemeinschaft mit einer Arbeit an sich selbst. An der fortwährenden und anstrengenden Aktualisierung des eigenen Bürger-Selbstkonzeptes ohne Stereotype kristallisiert sich die bundespräsidiale Leitidee, die «offene Gesellschaft immer wieder neu zu verteidigen». Es gibt kein theoriegeborenes Bürger-Selbstkonzept für Jedermann. Das eigene, sichere Selbstkonzept entsteht aus Reibung und der Arbeit aneinander. Diese Zumutung ist der Preis einer solidarischen und offenen Gesellschaft, die von Voraussetzungen lebt, die sie selbst nicht garantieren kann (Böckenförde, 1976, S. 60). Das © 2016 Hogrefe

aktive und selbstbewusste Werben für diese Zumutung sollte ein Teil des Selbstverständnisses einer politisch engagierten Psychiatrie sein.

Literatur Adorno, T. W. (1995, c1973). Studien zum autoritären Charakter. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Böckenförde, E. W. (1976). Staat, Gesellschaft, Freiheit. Studien zur Staatstheorie und zum Verfassungsrecht. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Brieger, P. (2014). Das Soziale in der Psychiatrie. Sozialpsychiatrische Informationen, 44, 12–14. Brieger, P., Eink, M., Elgeti, H., Haselbeck, H., Kruse, G. & Reichel, K. (Hrsg.) (2015). Inklusion kontrovers. Sozialpsychiatrische Informationen, 45, Themenheft 2. Bude, H. (2014). Gesellschaft der Angst. Hamburg: Hamburger Edition, HIS. Decker, O., Kiess, J. & Brähler, E. (2015). Rechtsextremismus der Mitte und sekundärer Autoritarismus. Gießen: PsychosozialVerlag. Encke, J. (2014). Konjunktur des Ressentiments. Der Siegeszug eines Gefühls. Online: http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/konjunktur-des-ressentiments-der-siegeszug-eines-gefuehls-12978404.html. Frankfurter Allgemeine Zeitung (15.12.2014). Maas: Pegida-Proteste eine «Schande für Deutschland». Deutsche Presse Agentur. Gathmann, F. (2015). Dresdner Theologe Frank Richter: Der PegidaVersteher. Online: http://www.spiegel.de/politik/deutschland/ dresdner-theologe-frank-richter-der-pegida-verstehera-1013994.html. Habermas, J. (1987). Eine Art Schadensabwicklung. Geschichtsbewußtsein und posttraditionale Identität. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Hebel, C., Knaack, B. & Sydow, C. (2014). Pegida-Faktencheck: Die Angstbürger. Online: http://www.spiegel.de/politik/deutschland/ pegida-die-thesen-im-faktencheck-a-1008098.html. Heitmeyer, W. (2011). Deutsche Zustände. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Hesse, M. & Bude, H. (2015, 15. Februar). Pegida war eine Art Lackmus-Test, Frankfurter Rundschau. Zugriff am 27.04.2015. Verfügbar unter http://www.fr-online.de/kultur/gesellschaft--pegida-war-eine-art-lackmus-test-1472786,29862424.html. Karakoyun, E. (2014, 12. Dezember). Mund auf, bevor es brennt. Die deutschen Medien haben einen Anteil an den Demonstrationen gegen Ausländer, Flüchtlinge und Islam. Online: http://www.theeuropean.de/ercan-karakoyun/9346-pegida-und-die-berichterstattung-deutscher-medien. Klose, J. & Patzelt, W. J. (2015). Die Ursachen des Pegida-Phänomens. Online: http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/ warum-sich-die-pegida-protestbewegung-hartnaeckighaelt-13585583.html?printPagedArticle=true#pageIndex_2. Kurbjuweit, D. (2010). Der Wutbürger. Stuttgart 21 und SarrazinDebatte: Warum die Deutschen so viel protestieren. Online: http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-74184564.html. Linden, M. (2015). Im Netz der Wutbürger und Verschwörungstheoretiker.Online: http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/medien/ medialer-populismus-im-netz-der-wutbuerger-und-verschwoerungstheoretiker-13404738.html. Lipset, S. M. (1981). Political man. The social bases of politics. Baltimore: Johns Hopkins University Press.

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S. Speerforck et al.: Vorurteilsfreie Begegnungen im öffentlichen Raum

Machleidt, W. & Heinz, A. (Hrsg.) (2011). Praxis der interkulturellen Psychiatrie und Psychotherapie. Migration und psychische Gesundheit. München: Elsevier, Urban & Fischer. Nachtwey, O. (2015). Rechte Wutbürger. Pegida oder das autoritäre Syndrom. Online: https://www.blaetter.de/archiv/jahrgaenge/ 2015/maerz/rechte-wutbuerger. Neumann, F. (1967). Demokratischer und autoritärer Staat. Beiträge zur Soziologie der Politik (Basis). Frankfurt am Main: Europ. Verl.-Anst. Priebe, S. (2012). Wo ist der Fortschritt? Psychiatrische Praxis, 39, 55–56. Priebe, S. (2015). The political mission of psychiatry. World psychiatry: Official Journal of the World Psychiatric Association (WPA), 14, 1–2. Priebe, S., Burns, T. & Craig, T. K. (2013). The future of academic psychiatry may be social. British Journal of Psychiatry, 202, 319–320. Scheler, M. & Frings, M. S. (2004, c1978). Das Ressentiment im Aufbau der Moralen. Frankfurt/Main: Klostermann. Schönau, B. (2013). Die ehrenwerte Gesellschaft von Siena. Italien vor der Wahl. Online: http://www.tagesspiegel.de/politik/italienvor-der-wahl-die-ehrenwerte-gesellschaft-von-siena/7791412. html.

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Spiegel Online (Hrsg.) (2015). PEGIDA- Eure Angst nervt. Fotografie. Online: http://www.spiegel.de/fotostrecke/koeln-koegidaprotest-mit-grosser-gegendemo-fotostrecke-122876–4. html. Sternberger, D. (Hrsg.) (1990). Verfassungspatriotismus. Frankfurt/M.: Insel Verlag. Tajfel, H. & Turner, J.C. (1986). The social identity theory of intergroup behavior. In S. Worchel & W.G. Austin (Hrsg.), Psychology of intergroup relations (S. 7–24). Chicago, IL: Nelson-Hall. Zick, A. & Klein, A. (2014). Fragile Mitte, feindselige Zustände. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2014. Bonn: Verlag J. H. W. Dietz Nachf. GmbH.

Sven Speerforck Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Universitätsmedizin Greifswald Ellernholzstraße 1–2 17475 Greifswald Deutschland sven.speerforck@uni-greifswald.de

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Begutachtung von Leistungsfähigkeit und Kausalität Wolfgang Schneider et al. (Hrsg.)

Begutachtung bei psychischen und psychosomatischen Erkrankungen Autorisierte Leitlinien und Kommentare 2., überarb. und erw. Aufl. 2016. 664 S., 22 Abb., 51 Tab., Gb € 49.95 / CHF 65.00 ISBN 978-3-456-85565-3 AUCH ALS E-BOOK

Die Begutachtung der beruflichen Leistungsfähigkeit bei psychischen und psychosomatischen Erkrankungen in unterschiedlichen Versicherungs- und Rechtskontexten hat in den letzten zehn Jahren erheblich an Bedeutung zugenommen. Jedoch weist die Begutachtung von psychischen und psychosomatischen Krankheiten inhaltlich und methodisch erhebliche Probleme auf, die sich insbesondere auf die Validität der gutachterlichen Bewertung auswirken.

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Die Autoren des vorliegenden Buches haben im Rahmen einer interdisziplinären und multizentrischen Kooperation Standards zur Begutachtung der beruflichen Leistungsfähigkeit und von Kausalitätsfragen bei psychischen und psychosomatischen Erkrankungen mit dem Ziel entwickelt und evaluiert, die Begutachtung zukünftig methodisch einheitlicher, valider und den Prozess der Entscheidungsfindung transparenter zu gestalten. Diese Standards sind von den relevanten Fachgesellschaften der Arbeitsgemeinschaft Wissenschaftlicher Medizinischer Fachgesellschaften (AWMF) als Leitlinie autorisiert worden.


Klinische Untersuchungsverfahren

State-Trait-ÄrgerausdrucksInventar – 2 (STAXI-2) Franz Petermann Zentrum für Klinische Psychologie der Universität Bremen

Testart STAXI-2 stellt die deutschsprachige Version des StateTrait Anger Expression Inventory – 2 (STAXI-2; Rohrmann et al., 2013) dar. Das Konzept basiert auf Arbeiten von Charles Spielberger (1988). Spielberger unterschied zwischen aktuellen Zustandsärger (State-Ärger) und der habituellen Neigung, situationsübergreifend häufig und intensiv Ärger zu empfinden. Der Fragebogen umfasst 51 Fragen im Sinne eines Selbstbeurteilungsverfahrens. Der STAXI-2 ist im Einzel- und Gruppensetting ab 16 Jahren durchführbar. Der Fragebogen findet Anwendung in der Klinischen Psychologie, Psychosomatik und der Forensik. Es lassen sich auch persönlichkeits- und sozialpsychologische Fragestellungen damit untersuchen.

Anwendungsbereich Der Fragebogen umfasst drei Teile: A. State-Ärger (= situationsabhängiger Ärgerzustand), B. Trait-Ärger (= situationsunabhängiger Ärgerzustand im Sinne einer Persönlichkeitseigenschaft) und C. Ärger (= drei Ärgerausdrucksformen) Im Detail wird die Art erfasst, in einer bestimmten Form mit Ärger umzugehen (= offen äußern, unterdrücken oder kontrollieren). Diese drei Formen werden als dispositionelle (also anlagebedingte) Neigungen und Verhaltensweisen definiert (= dispositionelle Skalen). Besonders interessant und stark untergliedert ist die Erhebung der drei Ärgerausdrucksformen. Hier misst die Skala Ärger-Out die Neigung, Ärger gegen andere Personen oder Objekte in Form von psychischen oder verbalen Attacken zu richten. Die Skala Ärger-In bezieht sich auf das Ausmaß der Unterdrückung bzw. des Nichtäußerns von erlebtem

Ärger. Schließlich bildet die Skala Ärger-Kontrolle das dispositionelle Ausmaß ab, inwieweit eine Person versucht, die Entstehung und den Ausdruck von Ärger zu kontrollieren bzw. ihn in sozial angemessener Weise zu äußern. Teil A des Fragebogens (State-Ärger) umfasst 15 Fragen, die das Ausmaß des Ärgers zu einem bestimmten Zeitpunkt oder in einer spezifischen Situation erheben. Dieser Skala werden drei Subskalen zugeordnet mit jeweils fünf Fragen: Ärgergefühl, verbaler Ärgerimpuls und physischer Ärgerimpuls. Der Befragte schätzt bei diesen Fragen auf einer vierstufigen Skala mit folgenden Antwortmöglichkeiten sein Befinden ein: (1) überhaupt nicht, (2) ein wenig, (3) ziemlich und (4) sehr. Im Teil B des Bogens wird der Trait-Ärger spezifiziert. Die zehn Fragen dieser Skala messen die Neigung einer Person, in einer ärgerprovozierenden Situation mit Ärger zu reagieren. Die Skala Trait-Ärger wird mit den Subskalen Ärger-Temperament und Ärger-Reaktion untergliedert. Die Antwortmöglichkeiten sind: (1) fast nie, (2) manchmal, (3) oft und (4) fast immer. Der Teil C des Fragebogens umfasst 26 Fragen, die die dispositionelle Neigung spezifizieren, Ärger auf eine bestimmte Weise auszudrücken oder gezielt zu kontrollieren. Die Skala Ärger-Out misst anhand von acht Fragen die Häufigkeit nach außen gerichteten Ärgers. Die Skala Ärger-In erfasst ebenfalls mit acht Fragen wie oft Personen Ärgergefühle unterdrücken. Mit der dritten Skala ÄrgerKontrolle werden anhand von zehn Fragen die Versuche der Person erfasst, ihren Ärger zu kontrollieren (z. B. durch Beruhigung oder Selbstkontrolle).

Auswertung und Interpretation Die Auswertung des Fragebogens wird mit einer Schablone vorgenommen. Zur Interpretation der Testergebnisse werden die Normtabellen im Manual und ein Auswer-

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Klinische Untersuchungsverfahren

tungsbogen benötigt. Zunächst werden die Itemwerte für die einzelnen Skalen und Subskalen addiert und so die Skalenrohwerte berechnet. Diese Werte werden in den Auswertungsbogen eingetragen. Dann werden die Rohwerte zur besseren intra- und interindividuellen Vergleichbarkeit in standardisierte Skalen umgewandelt. Die entsprechenden T-Werte und Prozentränge lassen sich aus den Normtabellen entnehmen und in den Auswertungsbogen übertragen. Hier ist auch die Erstellung eines Profils anhand der T-Werte zur optischen Verdeutlichung der Ergebnisse möglich.

Test Normierung Die Normierung fand im Jahre 2012 statt und umfasst eine repräsentative deutsche Stichprobe mit 1889 Personen (972 Frauen und 917 Männer) im Alter von 16 bis 90 Jahren. Die Normtabellen sind in drei Altersgruppen gegliedert: 16 bis 39 Jahre, 40 bis 59 Jahre, 60 Jahre und ältere Menschen. Für die dispositionellen Skalen werden T-Werte und Prozentrangnormen berichtet.

Kritik Insgesamt liegt ein sehr interessantes und konsequent aktualisiertes Erhebungsverfahren vor, was auf dem ursprünglichen State-Trait-Modell von Cattell (1950) basiert. Die deutsche Autorengruppe hat besonders umfassend Validierungsstudien vorgelegt, was verdeutlicht, wie vielfältig das Verfahren angewandt werden kann. Das Verfahren ist zudem sehr ökonomisch, so beträgt die Bearbeitung des Fragebogens ca. 10 Minuten und die Auswertung 5 Minuten. Das Verfahren ist in der klinischen Praxis sehr gut anwendbar und stellt ein wichtiges Verfahren der letzten Jahre dar, das sich sehr gut in den Kontext anderer Verfahren zur Aggressionsdiagnostik einordnen lässt (vgl. z. B. Petermann, 2014).

Literatur

Gütekriterien Die Durchführungs- und Auswertungsobjektivität ist vollständig gegeben. Die Angaben zur Reliabilität sollten kurz zusammengefasst werden. Die Retest-Reliabilität der State-Ärger-Skalen liegt zwischen .14 und .29. Bei den TraitÄrger-Skalen variiert die interne Konsistenz nach Cronbachs Alpha zwischen .79 und .91. Die Retest-Reliabilität bei diesen Skalen liegt erwartungsgemäß deutlich höher als die der State-Ärger-Skalen, d. h. zwischen .67 und .78. Für die Ärgerausdrucks- und Ärgerkontrollskalen konnten folgende Kennwerte bestimmt werden: Die interne Konsistenz für diese Skalen nach Cronbachs Alpha schwankt zwischen .80 und .90; die Retest-Reliabilität variiert zwischen .63 und .81. Zur Validität des Fragebogens werden umfangreiche Ergebnisse berichtet. Explorative und konfirmatorische Faktorenanalysen konnten die faktorielle Validität des STAXI-2 belegen. Studien zur Konstruktvalidität wiesen entsprechende Zusammenhangsmuster mit konstruktna-

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hen und konstruktfernen Merkmalen nach. Es werden auch Untersuchungen zu klinischen und forensischen Stichproben im Manual mitgeteilt, die die Validität und Nützlichkeit des Verfahrens gut belegen.

Cattell, R. B. (1950). Personality: A systematical theoretical and factual study. New York: McGraw Hill. Petermann, F. (2014). Hare Psychopathy Checklist: Youth Version – Deutsche Version (PCL: YV). Zeitschrift für Psychiatrie, Psychologie und Psychotherapie, 62, 297–298. Rohrmann, S., Hodapp, V., Schnell, K., Tibubos, A. N., Schwenkmezger, P. & Spielberger, C. D. (2013). Das State-Trait-Ärgerausdrucks-Inventar - 2 (STAXI-2). Bern: Huber. Spielberger, C. (1988). State-Trait Anger Expression Inventory (STAXI). Palo Alto: Consulting Psychologist Press.

Prof. Dr. Franz Petermann Zentrum für Klinische Psychologie und Rehabilitation der Universität Bremen Grazer Straße 6 28359 Bremen Deutschland fpeterm@uni-bremen.de

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Buchbesprechung Mischel, W. (2015). Der Marshmallow-Test. Willensstärke, Belohnungsaufschub und die Entwicklung der Persönlichkeit. München: Siedler, 400 Seiten, 24.99 Euro, ISBN 978-3827500434 Das vorliegende Buch stellt eine Übersetzung eines USamerikanischen Fachbuches dar, das sich mit der Entwicklung der Selbstkontrolle und den Auswirkungen beschäftigt, die Selbstkontrolle auf unser Handeln und unsere Persönlichkeit besitzt. Wie der Haupttitel («Der Marshmallow-Test») andeutet, basiert der Grundgedanke des Buches auf Experimenten des Autors, die dieser vor rund 50 Jahren an der Stanford University mit Kindern durchführte. Die Versuchsanordnung war einfach: Ein Kind hatte sich dafür zu entscheiden, sofort einen Marhmallow zu erhalten oder eine kurze Zeit abzuwarten und dafür zwei Marhmallows zu bekommen. Die Kinder des «Stanford Marshmallow Experiments» waren zwischen vier und sechs Jahren alt. Untersucht wurde die Zeitspanne, für die Kinder in der Lage waren, die sofortige Belohnung zugunsten einer verzögerten, attraktiveren aufzuschieben. Die Wartezeit wurde dabei als Maß für die Selbstkontrollfähigkeit und Willensstärke genommen. Die Leistung besteht im Geduldhaben und Abwarten können. Beim Abwarten muss ein Impuls, ein unangenehmes Gefühl also, kurzfristig aufgeschoben werden; diese Handlung setzt eine gewisse Willensstärke voraus. Eine Willensstärke, die in vielfältiger Weise die weitere Entwicklung eines Kindes positiv beeinflusst. Walter Mischel bringt in seinem Buch viele Alltagsbeispiele zur Erläuterung seiner Überlegungen und Studien. Vor dem Hintergrund der Forschung von Walter Mischel konnte man das Persönlichkeitsmerkmal «Belohnungssensitivität» herausarbeiten (vgl. Gray & McNaughton, 2000), mit dem man Personen danach unterscheiden kann, wie stark sie auf bestimmte Belohnungsreize ansprechen. Selbstkontrolle, Handlungskontrolle und Willensstärke sind Begriffe, die der Autor weitgehend identisch verwendet, um damit die entscheidende Kompetenz zu kennzeichnen, die es uns ermöglicht, langfristige Ziele zu verfolgen. Belohnungsaufschub (Selbstkontrolle), so die Position von Walter Mischel, ist die Basis für eine größere Anzahl von Wahlmöglichkeiten in unserem Leben. Zu den Inhalten des Buches im Detail. Das Buch gliedert sich in drei Teile: Teil 1 (Belohnungsaufschub und

Selbstkontrolle), Teil 2 (von Marshmallow im Kindergarten zur Altersvorsorge) und Teil 3 (Vom Labor ins Leben). Das Buch weist zudem einen Anhang von 50 Seiten auf; die verarbeitete Literatur ist auf 35 Seiten gut dokumentiert; ein Personen- und Sachregister ist vorhanden. Teil 1 geht auf die entwicklungs- und motivationspsychologischen Grundlagen des Belohnungsaufschubs ein. Walter Mischel zeigt auf der Basis seiner Studien an der Stanford University, welche Vorhersagekraft das Merkmal «Belohnungsaufschub» für die Persönlichkeitsentwicklung, berufliche Leistungsfähigkeit und psychische Robustheit besitzt. Der Autor verdeutlicht eine epigenetische Sicht, bei der die persönliche Willensstärke gegenüber einer genetisch nachteiligen Ausstattung punktet. Teil 2 verdeutlicht an vielen Beispielen, wie der Lebensweg vom Kindergarten bis zum Alter durch Selbstkontrolle beeinflusst wird oder werden kann. In diesem Teil wird zwar für die verschiedenen Lebensphasen des Menschen die Energie beschrieben, die durch die Selbstkontrolle «freigesetzt» wird. Allerdings warnt Walter Mischel schon in der Einleitung zu seinem Buch auch von den Grenzen der Selbstkontrolle mit den einfachen Worten (S. 19): «Zu viel Selbstkontrolle lässt unser Leben ebenso unerfüllt erscheinen wie zu wenig.» Teil 3 fasst nochmals Walter Mischel Ergebnisse zusammen – vor allem bezogen auf die Konsequenzen für die Politik. Er gibt auch Hinweise wie man durch pädagogische Maßnahmen, die bereits im Kindergarten ansetzen sollten, Schaden (unkontrollierbaren Stress) von Kindern abwenden kann. An diesen Beispielen merkt man, dass Walter Mischel seine Laufbahn als Klinischer Kinderpsychologe begonnen hat. Und naheliegenderweise wird die Fähigkeit zum Belohnungsaufschub durch den Typ der Eltern-Kind-Bindung beeinflusst. Viele Studien konnten nämlich zeigen, dass sicher gebundene Kinder am längsten auf Belohnungen warten konnten; Kinder mit einer desorganisierten Bindung weisen die größten Schwierigkeiten im Belohnungsaufschub auf (vgl. Ziegenhain et al., 2014). Bewertung: Das Buch von Walter Mischel stellt wichtige Aspekte der Schaffensbilanz des Autors von mehr als 50

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Buchbesprechungen

Jahren dar. Das Buch ist sehr gut lesbar, empirisch untermauert und enthält vielfältige Anregungen, um über die Dinge nachzudenken, was im Leben Erfolg ausmacht. Klinische Psychologen und Psychotherapeuten erhalten Hinweise, was Selbstkontrolle und Willensstärke ausmacht und erhalten eine Vorstellung davon, warum manche Patienten Therapiefortschritte nicht langfristig aufrechterhalten können. Das Buch von Walter Mischel vermittelt aber auch ein Menschenbild, in dem der Belohnungsaufschub mit einem (uneingeschränkten) Vertrauen in die Zukunft korrespondiert und damit Optimismus ausstrahlt.

Literatur Gray, J. A. & McNaughton, N. (2000). The neuropsychology of anxiety: An enquiry into the function of the septo-hippo-campal system (2nd ed.). Oxford: Oxford University Press. Ziegenhain, U., Fegert, J. M., Petermann, F., Schneider-Haßloff, H. & Künster, A. K. (2014). Inobhutnahme und Bindung. Kindheit und Entwicklung, 23, 248–259.

Prof. Dr. Franz Petermann Zentrum für Klinische Psychologie und Rehabilitation der Universität Bremen Grazer Straße 6 28359 Bremen Deutschland fpeterm@uni-bremen.de

© 2016 Hogrefe

Zeitschrift für Psychiatrie, Psychologie und Psychotherapie (2016), 64(1), 75–76


Kongresskalender 25. Rehabilitationswissenschaftliches Kolloquium Deutscher Kongress für Rehabilitationsforschung Thema: Gesundheitssystem im Wandel – Perspektiven der Rehabilitation Termin: 29. Februar – 2. März 2016, Aachen, Deutschland Ansprechpartner: Deutsche Rentenversicherung Bund, Berlin Tagungsbüro Frau Seidel Tel. +49 30 865-39336 E-Mail: kolloquium@drv-bund.de Internet: www.reha-kolloquium.de

66. Kindertherapietage an der Universität Bremen am 05./06. März 2016 und 67. Kindertherapietage an der Universität Bremen am 10./11. September 2016 Veranstalter ist der Förderverein der Universitätskinderambulanz und Patientenschulungszentrum e. V. im Namen der Universität Bremen, am Zentrum für Klinische Psychologie und Rehabilitation (Prof. Dr. Franz Petermann) der Universität Bremen. Nähere Informationen erhalten Sie unter der Rufnummer: 0421/218-68603, Fax: 0421/218-68629, E-Mail: todisco@uni-bremen.de, oder der Anschrift: Frau Eva Todisco, Zentrum für Klinische Psychologie und NOKI-Ausbildungsambulanz für Kinder und Jugendliche der Universität Bremen, Grazer Straße 6, 28359 Bremen oder auf unserer Homepage: www.zkpr. uni-bremen.de

Zeitschrift für Psychiatrie, Psychologie und Psychotherapie (2016), 64(1), 77 DOI 10.1024/1661-4747/a000264

© 2016 Hogrefe


American Psychiatric Association

Diagnostische Kriterien DSM-5®

Deutsche Ausgabe herausgegeben von Peter Falkai und Hans-Ulrich Wittchen mitherausgegeben von Manfred Döpfner, Wolfgang Gaebel, Wolfgang Maier, Winfried Rief, Henning Saß und Michael Zaudig

American Psychiatric Association

Diagnostische Kriterien DSM-5® Deutsche Ausgabe herausgegeben von Peter Falkai und Hans-Ulrich Wittchen, mitherausgegeben von Manfred Döpfner, Wolfgang Gaebel, Wolfgang Maier, Winfried Rief, Henning Saß und Michael Zaudig

Das AMDP-System

Arbeitsgemeinschaft für Methodik und Dokumentation in der Psychiatrie (AMDP) (Hrsg.)

Das AMDP-System Arbeitsgemeinschaft für Methodik und Dokumentation in der Psychiatrie (AMDP) (Hrsg.)

Manual zur Dokumentation psychiatrischer Befunde

Manual zur Dokumentation psychiatrischer Befunde

9., überarbeitete und erweiterte Auflage

2015, LIX/467 Seiten, Kleinformat, € 59,95 / CHF 75,– ISBN 978-3-8017-2600-3 / Auch als E-Book erhältlich

9., überarb. Auflage 2016, 204 Seiten, Kleinformat, € 24,95 / CHF 32,50 ISBN 978-3-8017-2707-9 / Auch als E-Book erhältlich

Die diagnostischen Kriterien des Diagnostischen und Statistischen Manuals Psychischer Störungen (DSM) dienen als Leitlinie für die Diagnosestellung und klinische Beurteilung. Das vorliegende Taschenbuch enthält die diagnostischen Kriterien für alle offiziellen Störungsbilder gemäß der aktuellen Fassung des DSM-5.

Das AMDP-System dient der Dokumentation psychiatrischer Befunde und anamnestischer Daten. Es kann erfolgreich zur Ausbildung in Psychopathologie eingesetzt werden. In der Neubearbeitung wurden der Psychische und Somatische Befund gründlich überarbeitet. Zudem wurden Zusatzmerkmale als Ergänzung zu den bisherigen Symptomen eingeführt.

Leitfaden zur Erfassung des psychopathologischen Befundes

Erdmann Fähndrich Rolf-Dieter Stieglitz

Halbstrukturiertes Interview anhand des AMDP-Systems 4., überarbeitete und erweiterte Auflage

Erdmann Fähndrich Rolf-Dieter Stieglitz

Leitfaden zur Erfassung des psychopathologischen Befundes Halbstrukturiertes Interview anhand des AMDP-Systems

Diagnostik von Suizidalität

Thomas Forkmann Tobias Teismann Heide Glaesmer

Diagnostik von Suizidalität

Thomas Forkmann Tobias Teismann Heide Glaesmer

Kompendien Psychologische Diagnostik

4., überarb. und erw. Auflage 2016, 135 Seiten, Kleinformat, € 24,95 / CHF 32,50 ISBN 978-3-8017-2727-7 / Auch als E-Book erhältlich

(Reihe: „Kompendien Psychologische Diagnostik“, Band 14). 2016, 162 Seiten, € 24,95 / CHF 32,50 ISBN 978-3-8017-2639-3 / Auch als E-Book erhältlich

Der Interviewleitfaden ist für die Arbeit mit dem AMDP-System entwickelt worden und dient der Erfassung des psychopathologischen Befundes. Die Neubearbeitung berücksichtigt die aktuellen Veränderungen im AMDP-System.

Dieses Buch bietet erstmals für den deutschen Sprachraum einen umfassenden Überblick über diagnostische Techniken und Instrumente zur Erfassung von Suizidalität und stellt somit ein wichtiges Nachschlagewerk für die diagnostische Praxis dar.

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Die Elemente des psychoanalytischen Arbeitens

Christian Kläui

Psychoanalytisches Arbeiten Für eine Theorie der Praxis 3., unveränd. Aufl. 2015. 233 S., Kt € 26.95 / CHF 35.90 ISBN 978-3-456-85548-6

Praxisnah und gut verständlich werden in diesem Buch wesentliche Elemente des psychoanalytischen Arbeitens dargestellt und dessen besondere Fragestellung und Methode herausgearbeitet. Klinische Beispiele aus Therapien und Psychoanalysen, Kommentare und theoretische Überlegungen werden zusammengeführt in eine Theorie der Praxis, die faszinierende und neuartige Einblicke in die Begriffswelt von Freud und Lacan gibt.

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Theoretische Konzepte werden nicht vorausgesetzt, vielmehr aus den Gegebenheiten und Notwendigkeiten der klinischen Arbeit selbst entfaltet. So entsteht ein aktuelles und lebendiges Bild von Sinn und Nutzen der Psychoanalyse. Der Autor, selbst ein erfahrener Psychoanalytiker und Psychiater, wendet sich gleichermaßen an Fachleute wie an interessierte Laien.


Das gesamte Spektrum psychischer Störungen und Therapieverfahren Franz Petermann et al. (Hrsg.)

Dorsch – Lexikon der Psychotherapie und Psychopharmakotherapie 2016. 1048 S., Gb € 59.95 / CHF 69.00 ISBN 978-3-456-85572-1

Das Lexikon der Psychotherapie und

«Hier kann der Fachmann nur applau-

Psychopharmakotherapie präsentiert

dieren. Was in diesem knapp 1050

kompakt und aktuell das Wissen für

Seiten umfassenden Buch zusam-

das gesamte Spektrum psychischer

mengetragen wurde, ist gigantisch. Ob

Störungen

Therapieverfahren.

als Student oder Arzt, das Buch bietet

Grundlagen, Konzepte, Definitionen

für jeden die richtigen Informationen.

und therapeutische Methoden werden

Allein die 350 Testverfahren sind ein

systematisch und zuverlässig in über

genialer Praxisleitfaden. Ein Buch,

4500 Beiträgen von mehr als 400 re-

welches man sicher immer mal wieder

nommierten Expertinnen und Exper-

zum Nachschlagen nutzen wird. Hinzu

ten der Psychologie und Psychophar-

kommt, dass der Band mit knapp 60

makologie dargestellt.

Euro in einem sehr guten Preis-/Leis-

und

tungsverhältnis steht.» Eine systematische Darstellung psychischer

Störungen:

Symptomatik,

Psychopathologie, Ätiologie, Klassifikation orientiert an ICD-10 und DSM5, Prävalenz und Verlauf, Diagnostik sowie

psychotherapeutische

und

psychopharmakotherapeutische Behandlungsstandards

www.hogrefe.com

(www.fachbuchkritik.de)


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