Jahrgang 1 / Heft 1 / 2016
Geschäftsführender Herausgeber Michael Schulz Herausgeber/innen Sabine Hahn Bruno Hemkendreis Michael Löhr Dorothea Sauter Gianfranco Zuaboni
Psychiatrische Pflege Themenschwerpunkt Einfluss nehmen
Das gesamte Spektrum psychischer Störungen und Therapieverfahren
Franz Petermann et al. (Hrsg.)
Dorsch – Lexikon der Psychotherapie und Psychopharmakotherapie 2016. 1048 S., Gb € 59.95 / CHF 69.00 ISBN 978-3-456-85572-1
Das Lexikon der Psychotherapie und Psychopharmakotherapie präsentiert kompakt und aktuell das Wissen für das gesamte Spektrum psychischer Störungen und Therapieverfahren. Grundlagen, Konzepte, Definitionen und therapeutische Methoden werden systematisch und zuverlässig in über 4500 Beiträgen von mehr als 400 renommierten Expertinnen und Experten der Psychologie und Psychopharmakologie dargestellt. Eine systematische Darstellung psychischer Störungen: Symptomatik, Psychopathologie, Ätiologie, Klassifikation orientiert an ICD-10 und DSM5, Prävalenz und Verlauf, Diagnostik
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sowie psychotherapeutische und psychopharmakotherapeutische Behandlungsstandards «Hier kann der Fachmann nur applaudieren. Was in diesem knapp 1050 Seiten umfassenden Buch zusammengetragen wurde, ist gigantisch. Ob als Student oder Arzt, das Buch bietet für jeden die richtigen Informationen. Allein die 350 Testverfahren sind ein genialer Praxisleitfaden. Ein Buch, welches man sicher immer mal wieder zum Nachschlagen nutzen wird. Hinzu kommt, dass der Band mit knapp 60 Euro in einem sehr guten Preis-/Leistungsverhältnis steht.» (www.fachbuchkritik.de)
Psychiatrische Pflege
1. Jahrgang / Heft 1 / 2016
Themenschwerpunkt Einfluss nehmen Geschäftsführender Herausgeber Michael Schulz Herausgeber/innen Sabine Hahn Bruno Hemkendreis Michael Löhr Dorothea Sauter Gianfranco Zuaboni
Geschäftsführender Herausgeber
Prof. Dr. Michael Schulz
Herausgeber/innen
Prof. Dr. Sabine Hahn Bruno Hemkendreis Prof. Dr. Michael Löhr Dorothea Sauter Gianfranco Zuaboni
Copy Editing und Koordination
Fabian Bammatter, PsychiatrischePflege@hogrefe.ch
Verlag
Verlag Hogrefe AG, Länggass-Strasse 76, Postfach, CH-3000 Bern 9, Tel. +41 (0) 31 300 45 00, zeitschriften@hogrefe.ch, www.hogrefe.ch
Herstellung
Florian Schneider, Tel. +41 (0) 31 300 45 61, florian.schneider@hogrefe.ch
Anzeigenleitung
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Abonnemente
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Satz
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Druck
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Erscheinungsweise
6 Hefte jährlich (= 1 Band) © 2016 Hogrefe AG, Bern ISSN-L 2297-6965 ISSN 2297-6965 (Print) ISSN 2297-6973 (online) Die Psychiatrische Pflege ist das offizielle Verbandsorgan der Deutschen Fachgesellschaft für Psychiatrische Pflege DFPP Die Psychiatrische Pflege ist das offizielle Mitgliederorgan des Vereins Ambulante Psychiatrische Pflege VAPP
Inhalt Editorial
5
Liebe Leserinnen und Leser Michael Schulz
Brunos Universum
7
Wer nicht fragt, bleibt … Bruno Hemkendreis
Schwerpunkt Einfluss nehmen
Einflussnahme in der psychiatrischen Versorgung – Wünsche aus Betroffenen-Perspektive
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Elke Prestin Adherence: Langfristiges Krankheitsmanagement durch Zusammenarbeit positiv beeinflussen
13
Michael Schulz 19
Leadership Modelle in der psychiatrischen Pflege Regula Lüthi «Wenn schon Psychiatrie, dann wenigsten Arzt» – Personalausstattung in der psychiatrischen Versorgung
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André Nienaber Mitgestalten in Forschung, Lehre und Weiterbildung durch Einbezug der Betroffenenperspektive
25
Caroline Gurtner, Sabine Hahn Freie Beiträge
29
Berufliche Selbstverwaltung für Pflegende – Pflegekammern in Deutschland Frank Vilsmeier
33
Pharmaindustrie und faire Werbung Michael Schulz
37
Verantwortung in der Psychiatrischen Pflege Dorothea Sauter, Jacqueline Rixe Kamingespräch
«Raising Hope» – Sabine Hahn im Kamingespräch mit Mareike Politz zum Thema Hoffnung auf Genesung
41
Sabine Hahn Themen/Meldungen
Meldungen
44
Regine Groß
Kunst und Psyche
Termine/Medien
46
Variationen über ein Gesicht
47
Michael Schulz
© 2016 Hogrefe
Psychiatrische Pflege (2016), 1(1), 3–4
Inhalt
Yesterday
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Gastfreundschaft als Pflegekonzept in der APP – Eine kulturhistorische Betrachtung Günter Meyer
Werkzeuge
Das Recovery-Handbuch «Das Leben wieder in den Griff bekommen»
50
Gianfranco Zuaboni Verbandsseiten
Psychiatrische Pflege (2016), 1(1), 3–4
Mitteilungsseiten der Deutschen Fachgesellschaft Psychiatrische Pflege
52
Mitteilungsseiten des Vereins Ambulante Psychiatrische Pflege
55
© 2016 Hogrefe
Editorial
5
Liebe Leserinnen und Leser
E
ine neue Zeitung ist wie ein neues Leben. Als wir im Dezember 2014 als Herausgeberteam der Psych. Pflege Heute beim Thieme Verlag geschlossen zurückgetreten sind, war die Sache mit der Zeitung für uns eigentlich abgeschlossen. Ein wesentlicher Grund für den Rücktritt war die verdeckte Werbung von Pharmaunternehmen in einer Pflegezeitschrift, und es galt wohl zu akzeptieren, dass die Herstellung einer Fachzeitschrift in der heutigen Zeit zunehmend schwieriger wird. Da wollten oder konnten wir nicht mehr mitspielen. Umso mehr freut es uns, dass nun im Hogrefe Verlag mit der «Psychiatrischen Pflege» eine neue Fachzeitschrift erscheint. Die Entscheidung des Verlages sich für eine solche Zeitschrift zu engagieren ist für die Berufsgruppe von unschätzbarem Wert, zumal diese Zeitschrift garantiert frei von Advertorials sein wird. Zeitschriften sind entstanden, weil die Entwicklung moderner Wissenschaft das Bedürfnis nach Austausch von Erkenntnissen hat entstehen lassen. Dies in Verbindung mit der Erfindung der Drucktechnologie im 15. Jahrhundert machte eine Etablierung von Fachzeitschriften möglich. Bis dahin wurden Erkenntnisse über Briefe weitergegeben.
Vernetzen und Wissen weitergeben Mit der Psych. Pflege Heute wurde im Jahr 1994 eine erste Fachzeitschrift für psychiatrisch Pflegende in Deutschland herausgebracht. Man kann sich fragen, warum die Berufsgruppe so lange gebraucht hat, den Wert eines Organs, welches über diesen Weg Wissen verbreitet, zu erkennen. Nun hat sich die Welt in den letzten 20 Jahren deutlich verändert. Auf der Seite der Fachzeitschriften hat sich eine Online-Konkurrenz entwickelt, die es dem Nutzer heute deutlich leichter macht, auch ohne Fachzeitschriften an Fachinformationen zu gelangen. Auf der Seite der Psychiatrischen Pflege stellen wir fest, dass die Frage nach abgesichertem Wissen an Bedeutung gewinnt und auch Pflege zunehmend unter Druck steht ihr Handeln zu begründen. Die Wissensbasis im deutschsprachigen Raum hat sich durch hier durchgeführte Forschungs-, Entwicklungs- und Praxisprojekte oder durch zugängliche Übersetzungen von relevanten englischsprachigen Erkenntnissen ins Deutsche deutlich erweitert. Innerhalb der Berufsgruppe entwickeln wir zunehmend eine Sensibilität für die Bedeutung von Netzwerken, die über die Grenzen der eigenen Station oder des eigenen Arbeitsbereichs hinausreichen und – wie z. B. im Rahmen der Dreiländerkongresse – Grenzüberschreitend sind.
© 2016 Hogrefe
Wissen mit moderner Informationstechnologie verbreiten Eine Zeitschrift nur auf Papier ist heute kaum noch zielführend. Von daher werden die Inhalte der «Psychiatrischen Pflege» über das Internet abrufbar und über Suchmaschinen auffindbar sein. Damit erreichen wir zweierlei: Zum einen sind die Inhalte breit zugänglich und können als Basis für weitere Arbeiten herangezogen werden, zum anderen baut sich so über die Jahre eine moderne Wissensbasis der Psychiatrischen Pflege auf. Dieses Archiv kann als Echolot dienen, gibt es doch wertvolle Hinweise darauf, was die psychiatrisch Pflegenden zu welchen Zeiten beschäftigt hat und wie sie sich mit ihrem Fach auseinandergesetzt haben. Für die Zukunft ist es unser Ziel, weitere sinnvolle Verbindungen von Print und Internet bzw. Informationstechnologie zu entwickeln, um Nutzbarkeit und Netzwerkarbeit zu verbessern.
Starke Partner für eine starke «Psychiatrische Pflege» Eine Fachzeitschrift wie die «Psychiatrische Pflege» kann in der heutigen Zeit nur bestehen, wenn sich starke Partner zusammenfinden, die ein gemeinsames Ziel verfolgen. Von daher schätzen wir in hohem Maße, dass mittlerweile zwei starke Organisationen der Psychiatrischen Pflege diese Zeitschrift als ihr Verbandsorgan nutzen werden. Zum einen ist das die Deutsche Fachgesellschaft Psychiatrische Pflege – DFPP, zum anderen der Verein Ambulante Psychiatrische Pflege – VAPP in der Schweiz. Die häufig zu Recht erhobene Forderung, dass die Pflege ihre Kräfte bündeln sollte, um Argumenten mehr Kraft zu verleihen, ist also hier sogar länderübergreifend verwirklicht worden. Aber wem gehört eigentlich eine Fachzeitschrift wie die Psychiatrische Pflege? In letzter Konsequenz gehört sie der Berufsgruppe der psychiatrisch Pflegenden. Nur sie entscheiden über die Relevanz der Zeitung. Als psychiatrisch Pflegende entscheiden Sie nicht nur, ob die Zeitschrift gekauft oder gelesen wird, sie entscheiden auch darüber, was darin zu lesen sein wird und haben somit maßgeblichen Einfluss auf den professionsinternen Diskurs. Von daher freuen wir uns, wenn Sie sich der Zeitschrift gegenüber so verhalten, als würde sie Ihnen gehören. Ähnlich wie bei Kindern benötigt die (auf-)wachsende neuen Fachzeitschrift Psychiatrische Pflege Ihr Wohlwollen, Ihre Pflege, und Ihre Begleitung. Wir sind gespannt auf Ihre eigenen Beiträge, mit denen Sie zum Gelingen der Zeitschrift und zur Wertsteigerung des Faches beitragen.
Psychiatrische Pflege (2016), 1(1), 5–6 DOI 10.1024/2297-6965/a000001
Editorial
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Als Herausgeberteam begleitet diese Fachzeitschrift auf ihren ersten Schritten eine auch aus anderen Zusammenhängen bekannte Gruppe an Menschen: Dorothea Sauter (Münster), Sabine Hahn (Bern), Michael Löhr (Bielefeld), Gianfranco Zuaboni (Zürich), Bruno Hemkendreis (Gütersloh).
Als verantwortlicher Herausgeber freue ich mich auf Mails, Anregungen, Artikel, Diskussionen und vor allem auf eine gute gemeinsame Zeit und einen spannende Austausch mit Ihnen. Michael Schulz
Das Herausgeberteam stellt sich vor Sabine Hahn, Leiterin angewandte Forschung & Entwicklung Pflege an der Berner Fachhochschule. Forschungsschwerpunkt Aggression im Gesundheitswesen, Fachkräftemanagement, Lebens- und Pflegequalität.
Dorothea Sauter, BA, RN, Krankenschwester, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Fachhochschule der Diakonie (FHdD), Bielefeld. Projektbeauftragte der LWL-Kliniken und Vizepräsidentin der DFPP e. V. dorothea.sauter@fhdd.de
sabine.hahn@bfh.ch
Bruno Hemkendreis, Stabsgruppe Klinikentwicklung und Forschung, LWL Klinikum Gütersloh, Präsident der Deutschen Fachgesellschaft Psychiatrische Pflege.
Prof. Dr. Michael Schulz ist geschäftsführender Herausgeber der Psychiatrischen Pflege und leitet den Lehrstuhl für Psychiatrische Pflege and der Fachhochschule der Diakonie in Bielefeld.
bruno.hemkendreis@lwl.org michael.schulz@fhdd.de Tel.: 00 (49) 1713318244
Michael Löhr, Lehrstuhl Psychiatrische Pflege an der Fachhochschule der Diakonie in Bielefeld. Forschungsschwerpunkt Intensivbetreuung in der Psychiatrie, Qualitative und quantitative Personalanforderungen im Pflegedienst im Psychiatrischen Krankenhaus, Versorgungsforschung.
Gianfranco Zuaboni, Leiter Pflegeentwicklung & Recovery Beauftragter im Sanatorium Kilchberg, Schweiz g.zuaboni@sanatorium-kilchberg.ch
michael.loehr@fhdd.de
Psychiatrische Pflege (2016), 1(1), 5–6
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Brunos Universum
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Wer nicht fragt, bleibt … Bruno Hemkendreis Diese Geschichte ereignete sich während der Nachtwache auf einer psychiatrischen Akutstation.
I
ch durfte die zweite Hälfte des Nachtdienstes schlafen, während meine Kollegin Ina ihren Dienst versah. Irgendwann, es war – glaube ich – so etwa 3 Uhr, klingelte das Telefon neben dem Bereitschaftsbett, in dem ich schlief. Ina bat mich dringend darum aufzustehen, um sie zu unterstützen. Es hatte spät in der Nacht eine Neuaufnahme, einen uns bisher unbekannten Herrn Kreiner, gegeben. Ich zog mich an und begab mich ins Dienstzimmer. Ina erzählte mir von der Neuaufnahme, ein mysteriöser, sehr düster erscheinender Mann mittleren Alters. Sie sagte, er wirke sehr bedrohlich und unzugänglich, spreche kaum, antworte nur knapp mit ja oder nein und vermeide Blickkontakte. Das schlimmste aber sei, dass er ihr bei jedem Rundgang auf Schritt und Tritt folge, körperlich ganz nah. Ihr sei das absolut unheimlich, sie bekäme schon beim Erzählen wieder eine Gänsehaut, und sie könne jetzt keine weiteren Kontrollgänge mehr machen. Der Mann mache ihr schlicht Angst. Obwohl es mir auch nicht ganz wohl dabei war, haben wir dann abgesprochen, dass ich den nächsten Rundgang über die Station mache. Und tatsächlich bot sich auch mir das gleiche Szenario. Herr Kreiner wirkte tatsächlich sehr unheimlich und man fragte sich, was er wohl im Schilde führe. Als ich das Dienstzimmer für den Rundgang verließ, stand er genau gegenüber der Dienstzimmertür, und er beobachtete mich verstohlen. Er war ganz in schwarz gekleidet, trug auch hier im gut geheizten Haus eine schwarze
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Lederjacke, bis oben zugeknöpft und mit hochgestelltem Kragen. Seine Körperhaltung war leicht gebeugt, die Hände tief in den Taschen versenkt und der Blick zum Boden gerichtet. Ich grüßte ihn freundlich, er nickte nur fast unmerklich und schaute wieder auf den Boden. Ich setzte mich in Bewegung, mit einem komischen Gefühl in der Magengegend, und Herr Kreiner hängte sich augenblicklich an meine Fersen, ganz nah, fast konnte ich seinen Atem in meinem Nacken spüren. Es war tatsächlich richtig grauselig! Ich musste auch in die Patientenzimmer gehen, um zu schauen, ob alles in Ordnung ist. Dann wartete er jeweils vor der Tür, um mir sofort, wenn ich wieder draußen war, auf Tuchfühlung zu folgen. Nach dem vierten oder fünften Zimmer – ich war nun auch schon sehr angespannt – blieb ich stehen, drehte mich langsam und vorsichtig zu Herrn Kreiner um und fragte Ihn: «Warum verfolgen Sie uns die ganze Zeit, und warum kommen Sie mir eigentlich so nah?». Er blickt mir nur ganz kurz und scheu in die Augen und sagte sehr leise: «Weil ich alleine so schreckliche Angst habe, – bitte.»
Bruno Hemkendreis, Stabsgruppe Klinikentwicklung und Forschung, LWL Klinikum Gütersloh, Präsident der Deutschen Fachgesellschaft Psychiatrische Pflege.
Psychiatrische Pflege (2016), 1(1), 7 DOI 10.1024/2297-6965/a000002
Reale Falldarstellungen zur ICD-10 Harald Freyberger / Horst Dilling (Hrsg.)
Fallbuch Psychiatrie Kasuistiken zum Kapitel V (F) der ICD-10 2., überarb. und erw. Aufl. 2014. 456 S., Kt € 34.95 / CHF 46.90 ISBN 978-3-456-85304-8 AUCH ALS E-BOOK
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In diesem Band haben Exper-
nosen
ten aus Psychiatrie, Kinder- und
nosen gemäß aktuellen Diag-
Jugendpsychiatrie und Psycho-
noseschlüsseln erläutert und
somatik 55 interessante Kasu-
therapeutische und prognosti-
istiken zusammengestellt, an-
sche Aspekte diskutiert.
hand derer die diagnostischen
Für die Neuauflage wurden alle
Prinzipien, Konzepte und Mo-
Falldarstellungen
delle illustriert werden.
nosen vor dem Hintergrund
Zu den wichtigsten diagnosti-
aktueller
schen Kategorien finden sich
Diskussionen zu ICD-10 und
umfassende Falldarstellungen,
DSM-5 überarbeitet und neue
im Anschluss werden die Diag-
Fälle hinzugefügt.
und
Differenzialdiag-
und
Diag-
klassifikatorischer
Schwerpunkt
9
Einflussnahme in der psychiatrischen Versorgung Wünsche aus Betroffenen-Perspektive Elke Prestin
Laut Duden online hat das Wort «Einfluss» die folgenden zwei Bedeutungen: 1. (a) beeinflussende, bestimmende Wirkung auf jemanden, etwas; Einwirkung (b) Ansehen, Geltung; 2. (selten) das Einfließen
Zur Bedeutung von Einfluss In der Diskussion über Einflussnahme in der psychiatrischen Versorgung kommen beide Hauptbedeutungen des Wortes zum Tragen, denn dem Wunsch der verschiedenen Interessengruppen nach (Mit-)Bestimmungsmöglichkeiten liegt in aller Regel eine doppelte Motivation zugrunde: Es geht darum, eigene Kompetenzen sinnvoll einzubringen und damit zum Gesamterfolg psychiatrischer Behandlungen beizutragen. Zugleich geht es aber auch um die eigene soziale Stellung und Reputation. Diese im Grunde völlig normale Motivationslage wird dann problematisch, wenn sie zu einem Gegeneinander der Akteure führt. Je stärker die Hierarchie und die Verteilungskämpfe in einer Klinik ausgeprägt sind, umso mehr geraten die Patienten in die Position am untersten Ende. In der Psychiatrie ist dies besonders fatal, denn psychische Erkrankungen gehen ohnehin häufig mit einem verminderten Selbstwertgefühl einher. Insofern sollte es ein zentrales Anliegen sein, der immer noch weit verbreiteten Stigmatisierung (vgl. Angermeyer et al. 2014) und Selbststigmatisierung von Patienten entgegenzuwirken. Ein insgesamt gut funktionierendes, hilfreiches psychiatrisches Versorgungsangebot trägt letztlich zur gleichermaßen guten Reputation der Beteiligten aller Ebenen bei. Vor diesem Hintergrund sind die folgenden Ausführungen nicht als Beitrag zu laufenden Verteilungskämpfen zu sehen, sondern als Plädoyer für ein gemeinsames Vorgehen aller Akteure einschließlich der Patienten.
Einflussnahme von Psychiatriepatienten: Wunsch und Wirklichkeit Meine persönlichen Erfahrungen als Patientin, viele Gespräche mit Mitpatienten sowie diverse Vorträge und Publikationen aus Betroffenensicht (u. a. von Dorothea © 2016 Hogrefe
Buck, Sibylle Prins, Angelika Filius) lassen gleichermaßen auf drei zentrale Anliegen der Einflussnahme schließen: 1. Die große Mehrheit der Psychiatriepatienten möchte in die Planung, Durchführung und Reflexion der eigenen Behandlung aktiv einbezogen werden. Patienten möchten über verschiedene Therapieangebote und Möglichkeiten der Medikation kompetent informiert werden und selbst entscheiden, welche dieser Angebote sie wahrnehmen. 2. Psychiatriepatienten wünschen sich ein Versorgungsangebot und ein therapeutisches Milieu, die unter Nutzung der Erfahrungen Betroffener gestaltet werden. Sie Psychiatrische Pflege (2016), 1(1), 9–12 DOI 10.1024/2297-6965/a000003
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möchten sich in die Planung von Angeboten und Strukturen aktiv einbringen können. 3. Insbesondere Psychiatriepatienten mit chronischen Erkrankungen oder rezidivierenden Krankheitsverläufen möchten als Akteure auf gesellschaftspolitischer Ebene ernst genommen werden und (ggf. über Vertreter von Betroffenenverbänden) an politischen Entscheidungen zur psychiatrischen Versorgung beteiligt werden. Wie sieht nun die derzeitige Realität bzgl. dieser Wünsche aus? Die genauere Betrachtung ergibt ein komplexes Bild: Vieles ist schon in Bewegung, vieles bleibt zu tun.
1: Einbezug in die Planung, Durchführung und Reflexion der eigenen Behandlung Die Analyse meiner eigenen Erfahrungen als Psychiatriepatientin (vgl. Prestin/Schulz 2011) führte zu widersprüchlichen Ergebnissen. Teils habe ich mich als passiver Gegenstand einer standardisierten Behandlung erlebt. Zugleich gab es aber auch einzelne Mitarbeitende, die nach meinen persönlichen Zielen und Bedürfnissen gefragt und sich darauf eingelassen haben. Dieser Widersprüchlichkeit liegt eine im Kern bis heute aktuelle Auseinandersetzung in der Psychiatrie zu Grunde, die Thomas Bock und Dieter Naber bereits vor mehr als zehn Jahren wie folgt beschrieben: «Es gibt neue spannende (…) Kontroversen: Wird ein Patient wie ein Objekt behandelt oder als Subjekt ernst genommen? Ist die therapeutische Beziehung hierarchisch/patriarchalisch angelegt (…)? Oder kommt es zu einer partnerschaftlichen Beziehung, die (…) in jeder Hinsicht auf möglichst weitgehende Eigenverantwortung ausgerichtet ist?» (Bock/Naber 2004, S. 233 f.) Lange Zeit dominierte in der Psychiatrie ein paternalistischer Ansatz, den Ewald Rahn folgendermaßen charakterisiert: «Aus dieser Perspektive wird die seelische Erkrankung als ein Irrweg betrachtet, aus dem der betroffene Mensch nicht mehr allein herausfindet. Deshalb braucht der psychisch Kranke Fürsorge und Leitung – notfalls auch gegen seinen Willen.» (Rahn 2004, S. 204) Eng verbunden mit dem Paternalismus sind in der Regel die therapeutischen Grundannahmen der Lerntheorie, einem «instruktiv-steuernden, kontrollierenden Ansatz» (Elzer/ Sciborski 2007, S. 99), der darauf abzielt, ‹falsche› Denkmuster und Verhaltensweisen der Patienten zu korrigieren. ‹Widerstände› und ‹fehlende Krankheitseinsicht› der Betroffenen gelten als Belege für die Störung, die es zu überwinden gilt. Den entgegengesetzten Pol stellt die humanistische Psychologie dar: «Das humanistische Menschenbild in der Psychiatrie war (…) in Teilen als eine Art Gegenmodell zur paternalistischen Psychiatrie angelegt. Ausgangspunkt war der selbstbestimmte, seine Interessen wahrende Patient (…), dem mit Wertschätzung zu begegnen sei.» (Rahn 2004, S. 205) Vor diesem Hintergrund fanden in den vergangenen Jahrzehnten diverse Ansätze aus dem angloamerikaniPsychiatrische Pflege (2016), 1(1), 9–12
Schwerpunkt
schen Raum Eingang auch in die deutsche Psychiatrie. Mit Blick auf die so genannte ‹Therapietreue› wurde «der Begriff der Compliance (verstanden als einseitige Regelkonformität des Patienten) zunehmend ersetzt durch den Begriff der Adhärenz, der als aktives Verfolgen einer gemeinsam mit dem Patienten getroffenen Therapieentscheidung verstanden wird» (Huber et al., 2015, S. 1). Als hilfreich erwies sich dabei insbesondere die gemeinsame Entscheidungsfindung (shared descision making) von Professionellen und Patienten (vgl. Joosten et al., 2008). Noch stärker auf die Autonomie des Patienten zielen zwei weitere Konzepte ab: Aus der amerikanischen Emanzipationsbewegung (Black-Power-Bewegung) stammt der Begriff Empowerment, der das Recht auf Selbstbestimmung und Teilhabe sowohl im unmittelbaren psychiatrischen Behandlungskontext als auch in gesellschaftlichen Zusammenhängen betont (vgl. Knuf, 2012). Und schließlich ist an dieser Stelle insbesondere auch das RecoveryKonzept zu nennen, «eine Sammlung zentraler Haltungsund Handlungselemente für eine sozialpsychiatrische Praxis» (Knuf 2009, S. 40), die den Professionellen die Rolle als Unterstützer und Begleiter im autonomen Genesungsprozess psychisch kranker Menschen zuschreibt. Insgesamt ist somit festzustellen, dass es mit dem Paternalismus und dem Humanismus zwei gegensätzliche Strömungen gibt, die sich beide in der Gegenwart als wirksam erweisen. Was geschieht nun aber, wenn die Tradition der Bevormundung von Patienten auf das Streben nach Individualität und Selbstbestimmung trifft? Es gibt drei Szenarien, für die sich allesamt auch Praxisbeispiele in bestimmten Kliniken oder in einzelnen Stationen finden lassen. Szenario 1: Die alten Strukturen erweisen sich als veränderungsresistent. Da es keine wirtschaftlichen Anreize für Reformen gibt, fehlt die Motivation zu neuen Denk- und Handlungsweisen in der psychiatrischen Versorgung. Patienten sind nach wie vor Objekte standardisierter Behandlungsverfahren und erhalten de facto kein Mitspracherecht. Lediglich einzelne Mitarbeitende bemühen sich aufgrund ihrer persönlichen Wertvorstellungen um eine Zusammenarbeit mit den Betroffenen auf Augenhöhe, bleiben damit aber Einzelkämpfer – und resignieren oft mit der Zeit. Szenario 2: Die alten Strukturen werden im Kern beibehalten, aber geschmeidiger kommuniziert, sodass auf der Oberfläche ein Eindruck von Partizipation entsteht. Ewald Rahn stellt mit Recht fest, dass einer solchen Praxis «etwas Inkonsequentes, gelegentlich sogar Verlogenes anhaftet» (Rahn 2004, S. 205). Dazu passt die folgende Passage eines Gespräches, das sich am Rande eines Vortrags zwischen einem Pflegemitarbeiter (PM) und mir (EP) ergab: PM: «Also, bei uns wird ja niemand zu etwas gezwungen.» EP: «Heißt das: Wenn ein Patient keine Ergotherapie machen möchte, dann akzeptieren Sie das und sagen, ‹Gut, dann suchen wir für Sie ein passenderes Angebot›?» PM: «Na ja … Ich würde dem dann sagen: Machen Sie einen Vertrag mit sich selbst, dass Sie zur Ergotherapie ge© 2016 Hogrefe
Schwerpunkt
hen. Und wenn Sie diesen Vertrag eingehalten haben, dann belohnen Sie sich.» Szenario 3: Es kommt zu einer umfassenden Neuausrichtung der psychiatrischen Versorgung, die konsequent an den Grundsätzen von Empowerment und Recovery orientiert ist. Erfolgreich wird dies seit Ende 2010 an der Psychiatrischen Universitätsklinik der Charité im St. HedwigKrankenhaus (Berlin, Stadtteil Wedding) umgesetzt. Das dort implementierte sogenannte «Weddinger Modell» folgt den Schlüsselprinzipien «Personenorientierung», «Betroffeneneinbeziehung», «Selbstbestimmung und Wahlfreiheit» sowie Ausrichtung am individuellen «Wachstumspotenzial» (Mahler et al., 2014, S. 51f.). Mit einer ganzen Reihe konkreter Maßnahmen, darunter die Einführung einer verbindlichen Therapieplanung mit Teilnahme des Patienten, wird dieses Konzept mit Leben gefüllt. Derzeit hat das Weddinger Modell noch eine Leuchtturmfunktion in einer Psychiatrie-Landschaft, in der gelebte Partizipation auf viele Widerstände stößt. Aus Patientensicht ist dringend zu wünschen, dass dieses Modell breit rezipiert wird und viele Nachahmer findet.
2: Nutzung der Erfahrungen Betroffener für die Gestaltung psychiatrischer Angebote Mit Blick auf die «Betroffeneneinbeziehung» im Weddinger Modell heißt es: «Das Recht der Mitbestimmung muss nicht nur bei der eigenen Therapie, sondern in der Planung, Organisation und Evaluation psychiatrischer Versorgungsangebote insgesamt eingeräumt werden» (Mahler et al., 2014, S. 52). Es kann nicht überraschen, dass dieses Ansinnen vielerorts auf die gleichen Widerstände stößt wie der Wunsch nach Einflussnahme der Patienten auf die eigene Behandlung. Allerdings ist hier eine nochmals gesonderte Entwicklung zu betrachten, die eigentlich eine ausführlichere Diskussion verdient, an dieser Stelle aber nur kurz angerissen werden kann: Vor rund zehn Jahren entstand auf europäischer Ebene das sozialpsychiatrisch orientierte EX-IN-Projekt (engl. «Experienced Involvement», dt. Einbeziehung Psychiatrieerfahrener). Seitdem können sich Menschen, die schwere psychische Krisen überwunden haben, im Rahmen eines festen Qualifizierungsprogrammes zu EX-IN-Genesungsbegleitern weiterbilden und anschließend ihre Erfahrungen als «Peers» weitergeben (vgl. Psychiatrienetz online) Eine wachsende Zahl von Kliniken und anderen psychiatrischen Leistungserbringern beschäftigt solche Genesungsbegleiter in einer Art Mittlerrolle zwischen Professionellen und Patienten, wobei die spezifischen Aufgaben erheblich differieren können. Die Zusammenarbeit mit Psychiatrieerfahrenen, die sich nicht in der unmittelbaren Patientenrolle befinden, kann im Idealfall paternalistische Strukturen aufbrechen und zur Hinterfragung tradierter Rollenmodelle animieren, stößt aber gerade deshalb in der Praxis auch auf Vorbehalte (vgl. Utaschowski et al. 2009). Insofern bleibt abzuwarten, ob «Peers» als Genesungsbegleiter primär Ansprechpartner und Hoffnungsgeber für die Patienten bleiben (was für sich genommen fraglos verdienstvoll ist und © 2016 Hogrefe
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das Modell rechtfertigt), oder ob sie zudem tatsächlich nachhaltig zur Einflussnahme Betroffener auf die psychiatrische Versorgung beitragen können. Grundsätzlich scheint es mir wichtig zu sein, dass die Psychiatrieerfahrung in der äußeren Wahrnehmung des betreffenden Menschen nicht zum allein definierenden Merkmal wird, sondern den Rang einer wertvollen Lebenserfahrung und Zusatzqualifikation erhält. Bekanntermaßen gibt es in allen gesellschaftlichen Schichten und Berufsgruppen, auch innerhalb der Psychiatrie, Menschen, die psychische Krisen durchlebt haben. Nur trauen sich die wenigsten, diese Erfahrung offenzulegen, weil sie fürchten müssen, stigmatisiert und dauerhaft auf die Patientenrolle reduziert zu werden. Schon mehrfach wurde ich nach Vorträgen und Seminaren über «Kommunikation in der Psychiatrie» von Professionellen angesprochen, die mir unter vier Augen von eigenen psychischen Erkrankungen erzählten. Keiner von ihnen traute sich aber, diese Erfahrung in größerer Runde kundzutun. «Das wollte ich jetzt nicht im Kreis der Kollegen sagen», hieß es dann. Dadurch geht viel Wissen verloren, das für die Psychiatrie ungeheuer wertvoll wäre (vgl. Prins, 2010). Die nachhaltige und umfassende Einflussnahme von Menschen mit Psychiatrieerfahrung wird erst dann gelingen, wenn die Illusion einer dauerhaften festen Grenzziehung zwischen «Kranken» und «Gesunden», zwischen «Betroffenen» und «Professionellen» fällt. Jeder Mensch kann jederzeit von einer psychischen Erkrankung betroffen sein, viele sind es im Laufe ihres Lebens tatsächlich. Damit stehen der Psychiatrie prinzipiell enorm viele Menschen als Mitarbeiter oder Berater mit eigenem Erfahrungshintergrund zur Verfügung: Der Ökonom, der gelernt hat, mit einer bipolaren Erkrankung zu leben. Die Pflegemitarbeiterin, die eine depressive Episode überstanden hat. Der Therapeut, der eine Psychose aus eigenem Erleben kennt. Die Dozentin, die in die Aus- und Weiterbildung psychiatrisch Tätiger eigene Patienten-Erfahrungen einbringen kann usw. Es wäre zu wünschen, dass dieses Potenzial künftig konsequent und ohne Vorbehalte genutzt wird.
3: Politische Mitsprache Abschließend noch eine kurze Anmerkung zur Ebene der (Gesundheits-)Politik. Mit Recht verweisen Mitarbeitende der Psychiatrie auf die schwierigen Rahmenbedingungen ihrer Arbeit. Einschränkende ökonomische Vorgaben, insbesondere das neue «Pauschalierende Entgeltsystem Psychiatrie und Psychosomatik» (PEPP), stehen individuellen und ressourcenorientierten Behandlungsmethoden entgegen. Insofern wäre es zu wünschen, dass Menschen mit Psychiatrieerfahrung (bzw. deren Verbände) in entscheidenden Gremien wie dem Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) künftig nicht nur angehört werden, sondern das Stimmrecht erhalten. Realistisch ist allerdings anzunehmen, dass sich selbst dann der faktische Einfluss auf dieser Ebene in Grenzen halten wird. Psychiatrische Pflege (2016), 1(1), 9–12
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Grundsätzlich ist das politische Engagement von Betroffenen sicher sinnvoll. Dieses sollte aber nicht dazu führen, dass Bedingungen, an deren Veränderung die Interessengruppen der Professionellen gescheitert sind, nun den Patienten angelastet werden, frei nach dem Motto: ‹Dann sorgt ihr (Patienten) doch erst einmal dafür, dass wir (Mitarbeitende) ein anderes Vergütungssystem erhalten.›
Fazit Psychiatriepatienten möchten auf ihre persönliche Behandlung und auf die Gestaltung psychiatrischer Versorgungsangebote Einfluss nehmen. Diesem Wunsch wird derzeit in höchst unterschiedlichem Umfang entsprochen. Dabei gibt es bereits eine ganze Reihe etablierter Ansätze für die verbindliche Beteiligung von Betroffenen. Es ist zu hoffen, dass in einigen Jahren die konsequente Partizipation von Patienten auf allen Ebenen eine Selbstverständlichkeit sein wird.
Schwerpunkt
Joosten, E. A., De Fuentes-Merillas, L., De Weert, G. H., Sensky, T., Van der Staak, C. P., De Jong, C. A. (2008) Systematic review of the effects of shared decision-making on patient satisfaction, treatment adherence and health status. Psychotherapy and psychosomatics, 77: 219–226 Knuf, A. (2012) Empowerment in der psychiatrischen Arbeit. Köln: Psychiatrie-Verlag. Knuf, A. (2009) Recovery, Empowerment und Peer-Arbeit. In: Utaschowski J., Sielaff G., Bock Th. (Hg.): Vom Erfahrenen zum Experten. Wie Peers die Psychiatrie verändern. Bonn: Psychiatrie-Verlag, 33–47. Mahler, L., Jarchov-Jädi I., Montag Ch., Gallinat J. (2014) Das Weddinger Modell. Resilienz- und Ressourcenorientierung im klinischen Kontext. Köln: Psychiatrie-Verlag. Prestin, E., Schulz, M. (2011) «Ich habe mir überlegt, was Ihnen wohl am meisten weh tut» – Kommunikation in der stationären Akut-Psychiatrie. Psych.Pflege 17: 87–98. Prins, S. (Hg.) (2010) Seitenwechsel: Psychiatrieerfahrene Professionelle erzählen. Neumünster: Paranus-Verlag. Psychiatrienetz: Ex-In. http://www.psychiatrie.de/arbeit/ex-in/ (Zugriff am 29. November 2015) Rahn, E. (2004) Anthropologische Dimensionen des BorderlineSyndroms. Entwicklungsaufgaben von Borderline-Patienten. In: Th. Bock, K. Dörner, D. Naber (Hrsg.), Anstöße. Zu einer anthropologischen Psychiatrie. Köln: Psychiatrie Verlag, S. 200–210. Utaschowski, J., Sielaff, G., Bock, Th. (Hg.) (2009) Vom Erfahrenen zum Experten. Wie Peers die Psychiatrie verändern. Bonn: Psychiatrie-Verlag.
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Psychiatrische Pflege (2016), 1(1), 9–12
Dr. Elke Prestin Studierte Linguistik, Anglistik und Soziologie (M. A.), anschließend Promotion im Fach Linguistik (Dr. phil.). Ausbildung und mehrjährige Berufstätigkeit als Redakteurin und Referentin für Öffentlichkeitsarbeit. Arbeit in Forschung und Lehre an Universitäten und Fachhochschulen. Vorträge und Seminare über Kommunikation in der Psychiatrie aus der Sicht der Sprach-/Kommunikationswissenschaftlerin mit Psychiatrieerfahrung. Homepage: http://elke-prestin.de Prestin@web.de
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Adherence: Langfristiges Krankheitsmanagement durch Zusammenarbeit positiv beeinflussen Michael Schulz
Menschen mit psychischen Erkrankungen müssen häufig große Anstrengungen unternehmen, um ihre Krankheit und die Folgen von Krankheit langfristig zu managen. Angesichts der generellen Zunahme von chronischen Erkrankungen lautet eine der zentralen Fragen der Gesundheitsversorgung in der westlichen Welt im 21. Jahrhundert: Wie können Menschen mit langfristigen Gesundheitsproblemen in ihrem Management bestmöglich unterstützt werden und welche Interventionen braucht es, dass Menschen ihr Verhalten so ändern, dass es der Gesundheit förderlich ist?
In the 21st century, health care is increasingly about long-term condition management and thus about health behavior change – those things, people can do to improve their health Rollnick, S., Miller, W. R., Butler, C. (2012)
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us Sicht der Professionellen im Allgemeinen und der Psychiatrischen Pflege im Speziellen kommt hier der Frage nach der Art der Begleitung und der Haltung im Hinblick auf die Zusammenarbeit mit den Betroffenen und den Bezugspersonen eine wichtige Bedeutung zu. In diesem Zusammenhang werden sehr häufig drei Begriffe genannt, die teilweise synonym gebraucht werden, obwohl sie unterschiedliche Bedeutungen haben. Compliance ist der älteste, am meisten verwendete und in der Praxis gebräuchlichste Begriff und meint das Befolgen von Anweisungen durch den Patienten. Haynes, Taylor und Sacket (1979) definieren den Begriff als «the extent to which the patient’s behaviour matches the prescriber’s recommendations». Im Hinblick auf die Versorgungskonzepte für Menschen mit Schizophrenie hat © 2016 Hogrefe
Bock (2011) auf die negativen Folgen des ComplianceBegriffs hingewiesen. Er spricht von zwei Höllenhunden, die den Eingang zur Psychiatrie bewachen, namens Krankheitseinsicht und Compliance. Nur wer beide Forderungen erfülle, so Bock, bekomme – ohne Anwendung von Zwang – Zugang zu den psychiatrischen Hilfsangeboten. Dabei bezeichnet er Krankheitseinsicht als die Bereitschaft des Patienten, die Krankheitskonzepte und Begriffe zu übernehmen, die sein Arzt ihm anbietet. Compliance entspreche der Bereitschaft, zu tun, was der Arzt für richtig hält. Ohne Einsicht und Compliance gebe es keine Behandlung – es sei denn gegen den Willen des Patienten. Bock erhebt die Forderung, den Widerstand und die fehlende Einsicht psychisch kranker Menschen als Ressourcen wahrzunehmen. Er schlägt vor, das Wort NonCompliance aus dem Sprachrepertoire der Profis zu streichen, und plädiert dafür, Non-Compliance als Chance zu begreifen. Bock verweist auf grundlegende Merkmale der Kommunikation: Wenn die Kooperation zwischen zwei Partnern nicht funktioniert, sind beide verantwortlich. Dabei spielt das Interesse für subjektive Erklärungsmuster, für den Eigensinn des Patienten und die Bedeutung der Erkrankung eine große Rolle. Psychiatrische Pflege (2016), 1(1), 13–17 DOI 10.1024/2297-6965/a000004
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Der Begriff Adherence ist Folge eines zunehmend differenzierten Blickes auf das Konzept des Compliance-Begriffs und beschreibt eine Abkehr vom «normativen Paternalismus». Er wurde von Barofsky (1978) in die Diskussion eingeführt und vor allem in der psychologischen und soziologischen Fachliteratur als wichtige Alternative zum Compliance-Begriff gesehen. Anders als dieser betont der Adherence-Begriff die freie Entscheidungsmöglichkeit des Patienten und fordert, im Falle des Scheiterns von Therapieplänen die Schuld nicht einseitig beim Patienten zu suchen, sondern hier ebenso die anordnende Person bzw. die Strukturen des Gesundheitssystems zu berücksichtigen. Adherence folgt dem Verständnis eines Arbeitsbündnisses zwischen Patient und den professionellen Vertretern des Gesundheitssystems. Die Patienten sind die Auftraggeber der ihnen «dienenden» Therapeuten. Mangelnde Adherence belegt vor allem, dass im Rahmen des Arbeitsbündnisses in einer kommunikativ schwierigen Situation keine hinreichende interne Evidence aufgebaut werden konnte. Die fehlende Einnahme und Nutzung der Medikamente bzw. sonstiger therapeutischer Maßnahmen, wie z. B. das Einhalten von Diäten oder konsequentes Sport treiben hat demnach Gründe, die nicht zu verurteilen, sondern erst einmal zu verstehen sind. Die Existenz externer Evidence über die Wirksamkeit eines Medikaments ist nämlich nicht hinreichend, um die Einnahme tatsächlich angezeigt sein zu lassen. Es bedarf der internen Evidence, aus der heraus die externe Evidence erst relevant und nutzbar wird (Behrens/Langer, 2004). Erst wenn im Arbeitsbündnis interne Evidence dafür aufgebaut wird, was gegen die Nutzung der Medikamente spricht, ist es sinnvoll und effektiv, unterstützende Maßnahmen zu vereinbaren für den Fall, dass die Patienten die Medikamente trotzdem nutzen wollen. Adherence erweitert den Compliance-Begriff also um den Aspekt eines gemeinsam entwickelten und vereinbarten Vorgehens im Sinne von «Shared Decision Making»: «Adherence is the extent to which the patient’s behavior matches agreed recommendations from the prescriber». Dem Begriff unterliegt ein personenzentrierter Ansatz, der die Autonomie des Patienten betont und stärkt.
und Rosenheck, 1998). Wie in der bereits an anderer Stelle erwähnten Studie «Clinical Antipsychotic Trials of Intervention Effectiveness» (CATIE) zeigt sich auch hier, dass 74 % der Patienten die Medikamenteneinnahme nach 18 Monaten beendet haben (Lieberman, 2005).
Folgen von Non-Adherence Adhärentes Verhalten kann sich positiv auf das Behandlungsergebnis auswirken. Im Rahmen einer quantitativen Metaanalyse konnten DiMatteo et al. (2002) anhand von 63 eingeschlossenen Studien (N = 19.456) zeigen, dass der Unterschied im Behandlungsergebnis zwischen adhärenten und non-adhärenten Patienten mehr als eine halbe Standardabweichung beträgt. Adherence, so folgern die Forscher, reduziert das Risiko von schlechten Behandlungsergebnissen um 26 %. Bei chronischen Erkrankungen fielen die Ergebnisse deutlicher aus als bei akuten Erkrankungen. Eingeschlossen wurden 63 Studien aus den Themengebieten Krebserkrankungen, Diabetes, Herzerkrankungen, Bluthochdruck, Schlafapnoe, Otitis media sowie Patienten nach Transplantation. Studien zu psychiatrischen Erkrankungen waren nicht eingeschlossen. Non-adhärentes Verhalten kann in der Gesundheitsversorgung der Bevölkerung zu unerwünschten Folgen führen. Demnach ist non-adhärentes Verhalten nach Bosworth et al. (2006) verantwortlich für • 50 % der sog. Therapieversager bei Hypertonie • 700 000 ungewollte Schwangerschaften pro Jahr (USA) infolge von Einnahmefehlern bei oralen Kontrazeptiva • 80 % der Organabstoßungen bei Transplantationen • ca. 30–40 % der Therapieresistenz bei Depression • ca. 30–40 % der Rezidive bei Schizophrenie Auch im Rahmen der Behandlung von Menschen mit einer Schizophrenie wird non-adhärentes Verhalten also mit schlechteren Behandlungsergebnissen in Verbindung gebracht. Dazu gehören ein erhöhtes Risiko von Wiederaufnahmen, die häufigere Inanspruchnahme von Notdiensten und längere Krankenhausaufenthalte. Die Rezidivrate von 30 bis 40 % bei Schizophrenie weist aber andererseits darauf hin, dass es immer auch Betroffe-
Prävalenz und Charakteristika von Non-Adherence Das Problem der Nichteinhaltung von verschriebenen Verhaltensweisen, Therapien und Medikamentenverordnungen ist so alt wie die medizinische Praxis selbst. Bei psychischen Erkrankungen ist der Umsetzungsgrad ähnlich niedrig wie bei anderen Diagnosegruppen. Für die entwickelten Länder kommt die WHO zu dem Schluss, dass ungefähr die Hälfte der Patienten eine langfristig angelegte Therapie nach einem Jahr ohne Absprache mit den Professionsangehörigen selbstständig beendet (WHO, 2003). In systematischen Übersichtsarbeiten zeigt sich eine NonAdherence-Rate von durchschnittlich 40 bis 55 % (Cramer Psychiatrische Pflege (2016), 1(1), 13–17
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ne gibt, die ohne den Einsatz von Psychopharmaka gesund werden. Das bedeutet, dass non-adhärentes Verhalten, z. B. die Ablehnung einer leitlinienkonformen langfristigen Einnahme von Medikamenten zur Rezidivprophylaxe, für den einzelnen Menschen im Hinblick auf den Genesungsprozess auch die richtige Entscheidung sein kann. Hohe Adherence führt demnach nicht unbedingt in jedem Fall zu einem guten Behandlungsergebnis. Nach Weiden (2007) ist Adherence aber nur dann als klinisches Outcome von Interesse, wenn es das Behandlungsergebnis positiv beeinflusst. Von daher lassen sich aus Übersichtsarbeiten Risikowahrscheinlichkeiten ableiten, deren Sinnhaftigkeit im Einzelfall aber zu prüfen ist. Für Aderhold (2008) ist von daher ein gewandeltes Verständnis im Hinblick auf Non-Compliance erforderlich und so fordert er eine Neuinterpretation des Begriffs «Non-Compliance». Da bis zu drei Viertel der Patienten mittelfristig die weitere Einnahme von Neuroleptika ablehne und sich dieses Bild auch mit den atypischen Mitteln nicht geändert habe, brauche es ein neues Verständnis. Es handele sich demnach nicht um mangelnde Krankheitseinsicht, sondern vielmehr um ein berechtigtes Misstrauen gegenüber dem bestehenden Behandlungsangebot. Angesichts der durch den Einsatz von Neuroleptika nachweislich nicht verbesserten Prognose und der erhöhten Mortalität sei es aus seiner Sicht unethisch, dem Patienten keine Alternative anzubieten.
herzusagen. Dies gilt sowohl für sozioökonomische als auch für krankheitsbezogene Faktoren. Die erfolgreiche langfristige Umsetzung von Therapievorgaben ist also nicht nur dem Willen bzw. Unwillen des Patienten geschuldet. Sie ist vielmehr das Resultat vieler verschiedener Faktoren, wobei der Frage nach dem Aufbau einer vertrauensvollen und damit tragfähigen Beziehung zwischen Professionsangehörigen und Patienten eine zentrale Bedeutung zukommt. Nach Osterberg und Blaschke (2005) kommt auch dem Gesundheitssystem im Rahmen des Adherence-Prozesses eine entscheidende Rolle zu, wie in Abbildung 1 dargestellt wird. So können beispielsweise Interaktionen zwischen Patient und professionellen Dienstleistern im Gesundheitswesen die Entscheidung des Patienten, ein Therapieregime zu befolgen, negativ beeinflussen.
• Schlechte Kommunikation zwischen Professionellem und Patienten • Patient versteht nur wenig von der Krankheit • Patient weiß nur wenig über Besserungsmöglichkeiten und Risiken • Patient weiß nur wenig über die richtige Anwendungsweise der Medikamente • Arzt verschreibt nur komplexe Medikamentenregime Professioneller (Arzt/Pflege)
Patient
Determinanten von Non-Adherence Der Prozess der Entwicklung von Adherence bzw. NonAdherence ist ein multifaktorielles Geschehen, das bislang noch nicht vollständig erforscht ist. Ein wesentlicher Grund dafür ist, dass sich Adherence nur sehr schwer definieren und messen lässt (Kyngas et al., 2000). Wie aus dem Bericht der Weltgesundheitsorganisation (World Health Organization, 2003) hervorgeht, wird das Ausmaß adhärenten Verhaltens von verschiedenen Faktoren beeinflusst (siehe Tabelle 1). Vermeire et al. (2001) haben in einem Review drei Jahrzehnte Adherence-Forschung untersucht. Demnach wurden seit 1975 mehr als 200 Faktoren herausgearbeitet, von denen aber keiner geeignet ist, adhärentes Verhalten vor-
Gesundheitssystem • Interaktion des Patienten mit dem Gesundheitssystem • Schlechter Zugang zu Gesundheitseinrichtungen • Verpasste Termine • Schlechter Zugang zu Medikamenten • Umstellung auf ein neues Medikament • Hohe Kosten für Medikamente
• Die Interaktion des Dienstleisters mit dem Gesundheitssystem • Geringes Wissen über Kosten von Medikamenten • Geringe Berufszufriedenheit
Abbildung 1: Barrieren von Adherence (nach Osterberg und Blaschke, 2005, eigene Übersetzung)
Tabelle 1: Faktorgruppen mit Relevanz für die Adherence laut WHO (World Health Organization, 2003) Faktor
Beispiel
Patientenbezogene Faktoren
Ressourcen, Wissen über die Erkrankung, Einstellungen, Überzeugungen, Wahrnehmungen und Erwartungen des Patienten
Gesundheits- und krankheitsbezogene Faktoren
Symptomschwere, Stärke der krankheitsbedingten Funktionseinschränkungen
Therapiebedingte Faktoren
Ungewollte Nebenwirkungen, Komplexität der Medikamentenregime
Gesundheitssystem- und Akteurenbedingte Faktoren
Arzt-Patient-Beziehung, Behandlungsteam, Art der Kommunikation und Kooperation
Soziale und ökonomische Faktoren
Alter, sozioökonomischer Status, Bildungsniveau
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Tabelle 2: Erfolgreiche Maßnahmen zur Compliance-Verbesserung bei Patienten mit Schizophrenie nach Rabovsky und Stoppe (2006) Individuelle Maßnahmen
• Erarbeitung eines tragfähigen und vertrauensvollen therapeutischen Bündnisses • Sensible Wahrnehmung und Thematisierung von therapierelevanten Einstellungen und subjektiv unangenehm empfundenen Medikamenten(neben)wirkungen • Etablierung von persönlich angepassten und alltagstauglichen Erinnerungshilfen • Individuelle Entlassungsplanung nach einem Klinikaufenthalt • Förderung familiärer sozialer Unterstützung
Versorgungsstrukturelle und «kulturelle» Strategien
• Integrierte Versorgungsformen, aufsuchende interdisziplinäre Teams (z. B. sog. «Assertive community treatment teams», intensive Casemanagement-Modelle • Intra- und interinstitutionelle gut vernetzte, auf Behandlungskontinuität fokussierende Versorgungsstruktur
Spezifische therapeutische Interventionen
• Methodenintegrative Konzepte mit Kombination edukativer, verhaltenstherapeutischer und affektiv/sozial unterstützender Elemente • Kognitiv-behaviorale Strategien (v. a. bei Berücksichtigung subjektiver Einstellungen des Patienten) • Compliance-Therapie bzw. Adherence-Therapie
Interventionen zur Verbesserung der Adherence Das Problem mangelnder Adherence wird an manchen Stellen als «Achillesferse der modernen Gesundheitsversorgung» beschrieben. Vor diesem Hintergrund sieht Haynes in der Entwicklung von Interventionen zu Verbesserung der Compliance bzw. Adherence einen bedeutenden Beitrag zur Verbesserung des Gesundheitswesens. «Increasing the effectiveness of adherence interventions may have a far greater impact on the health of the population than any improvement in specific medical treatments» (McDonald et al, 2002). Wenngleich der Begriff der Compliance nicht zum aktuellen Metathema Selbstkontrolle passt, kannte und kennt das Gesundheitswesen bzw. die Gesellschaft natürlich auch heute noch Möglichkeiten, um Compliance notfalls zu erzwingen. Hier handelt es sich keineswegs um ein neues Phänomen in der Gesundheitsversorgung. Je nachdem, wie bedeutsam die Umsetzung eines medizinischen Behandlungskonzepts für die Gesellschaft ist, wurde auch früher schon mit entsprechendem Nachdruck auf die Einhaltung von Therapieplänen gedrungen. Urquhart (1996) beschreibt in diesem Zusammenhang eine Hierarchie von Interventionen, die die Umsetzung von Therapieregimen sicherstellen sollen, und nennt in diesem Zusammenhang ökonomisch wenig aufwendige und die Autonomie des Patienten nicht antastende Interventionen wie Aufklärungsbroschüren und Beratung. Er verweist auch auf aufwendigere und einschneidendere Maßnahmen, z. B. auf die Möglichkeit der Arrestnahme, z. B. im Rahmen einer Tuberkulosebehandlung, um die Ansteckungsgefahr für die Bevölkerung möglichst gering zu halten. Psychoedukative Maßnahmen werden vor allem seit den 80er- und 90er-Jahren als wichtiges Element gesehen, um Adherence positiv zu beeinflussen. Zwischen 2000 und 2003 wurden sechs Reviews zur Frage der Wirksamkeit von Psychoedukation auf den Adherence-Prozess publiziert (Nose et al., 2003; Zygmunt et al., 2002). Sämtliche Autoren kamen zu vergleichbaren Schlussfolgerungen. Demnach sind psychoedukative Interventionen geeignet, die Psychiatrische Pflege (2016), 1(1), 13–17
Krankheitseinsicht des Patienten zu fördern und das Wissen um die Krankheit und deren Behandlung zu erweitern. Kikkert et al. (2010) verweisen auf Studien, wonach psychoedukative Interventionen mehr Erfolg haben, wenn Bezugspersonen in die Intervention miteinbezogen werden. Deutlich besser als psychoedukative Maßnahmen schnitten in den benannten Reviews verhaltenstherapeutische Interventionen ab. Die besten Ergebnisse zeigten sich, wenn aufbauend auf Interventionen für eine gute Beziehungsqualität spezifische therapeutische Methoden, wie z. B. Verhaltenstherapie, zum Einsatz kamen und zudem settingbezogene Aspekte, wie beispielsweise aufsuchende gemeindepsychiatrische Angebote, einbezogen wurden. In der Tabelle 2 nach Rabovsky und Stoppe (2006) sind die verschiedenen Maßnahmen dargestellt. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die Terminologie und die Konzepte zu Adherence und Compliance im Wandel sind. Dabei gewinnen die Autonomie des Patienten und die Erkenntnis, dass es sich bei diesem Prozess um ein multifaktorielles Geschehen handelt, in der Forschung zunehmend an Bedeutung. Wenngleich adhärentes Verhalten aus gesundheitswissenschaftlicher Sicht für die Gesundheitsversorgung der Bevölkerung sinnvoll ist, gilt dies für die einzelne Person nicht unbedingt. Vor diesem Hintergrund darf Adherence nur dann ein Therapieziel sein, wenn es das Behandlungsergebnis verbessert. Unter Berücksichtigung der benannten Aspekte kann Beeinflussung von Betroffenen gelingen und sinnvoll sein.
Literatur Weiterführende Literatur kann beim Autor bezogen werden. Aderhold, V: Zur Notwendigkeit und Möglichkeit minimaler Anwendung von Neuroleptika. http://www.psychiatrie.de/fileadmin/redakteure/dgsp/Texte__Anmeldecoupons_als_PDF/V._ Aderhold_Neuroleptika_minimieren_6.0.pdf (Letzter Zugriff: 25.11.2015) Barofsky, I. (1978) Compliance, adherence and the therapeutic alliance: steps in the development of self-care. Soc Sci Med 12(5A): 369–376 © 2016 Hogrefe
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Prof. Dr. Michael Schulz ist geschäftsführender Herausgeber der Psychiatrischen Pflege und leitet den Lehrstuhl für Psychiatrische Pflege and der Fachhochschule der Diakonie in Bielefeld. Michael.schulz@fhdd.de Tel.: (+49) 1713318244
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Eine revolutionäre Theorie der Kommunikation
Maja Storch / Wolfgang Tschacher
Embodied Communication Kommunikation beginnt im Körper, nicht im Kopf 2., erw. Aufl. 2016. 192 S., 57 Abb., Gb € 19.95 / CHF 26.90 ISBN 978-3-456-85614-8 AUCH ALS E-BOOK
Die Idee, man könne einander verstehen, beruht auf der Vorstellung, die besagt, dass die «richtige» Bedeutung einer Botschaft irgendwo vorhanden ist und nur gefunden werden muss. Diese Ansicht ist falsch. Die Theorie der Embodied Communication postuliert: Es gibt keine fixe Bedeutung einer Botschaft, die verstanden werden kann. Es gibt lediglich das gemeinsam erzeugte Gefühl der Einigung auf eine Sprachgestalt, die aber aus der Interaktion spontan und neu entsteht und die nicht von Anfang an vorhanden ist. Die Psychologen Maja Storch und Wolfgang Tschacher liefern endlich eine neue Kommunikationstheorie, die dem Stand der modernen For-
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schung entspricht – und konkret umsetzbar ist. Die Autoren haben ein Buch geschrieben, das gut verstanden und das sofort im ganz normalen Alltag verwendet werden kann. Neben einem Teil zur Theorie der Embodied Communication bietet das neue Buch von Maja Storch und Wolfgang Tschacher einen ausführlichen Praxis- und Workshopteil. Lesende finden im Praxisteil eine Auswahl an Alltagssituationen, in denen kommunikative Fertigkeiten wünschenswert, ja gefordert sind. Die Methoden, die die Autoren vorschlagen, sind allesamt so angelegt, dass sie sich für das authentische und spontane Handeln in einer Live-Situation eignen.
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Leadership Modelle in der psychiatrischen Pflege Regula Lüthi Wenn Bewerberinnen und Bewerber für Führungsfunktionen in der psychiatrischen Pflege von mir gefragt werden, welchen Führungsstil sie denn anwenden, antworten 95 % mit der Antwort, dass sie einen partizipativen Führungsstil pflegen, und die anderen sind etwas erstaunt ob der Frage.
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it partizipativ wollen sie meistens aufzeigen, dass sie die Mitarbeitenden in die Entscheidungen mit einbinden, dass sie dem Team Sorge tragen und sich nicht einfach als «Chef» gebärden. Das zeigt zwei Themenbereiche auf, die aus meiner Erfahrung her typisch sind für die Führung in der psychiatrischen Pflege: Führungspersonen denken bei ihrer Verantwortung in erster Linie an das Wohl der Teammitglieder und an organisatorische und administrative Aufgaben. Von strategischer und fachlicher Entwicklung des Bereichs ist eher weniger die Rede. Führungspersonen in der psychiatrischen Pflege denken bezogen auf schwierige Teamsituationen auch eher in therapeutischen Termini als in Führungsbegriffen. Beides führt dazu, dass die Auslegeordnung der generellen Führungsaufgaben zu kurz kommt und dass daher Führungspersonen der psychiatrischen Pflege auch nicht immer genügend Einfluss auf die Ausprägung ihrer Institutionen, geschweige denn auf die Gesundheitsversorgung ihres Kantons oder ihres Landes nehmen. Wenn wir heute eine Palette an Führungsmodellen zur Verfügung haben, dann gefallen mir die drei folgenden Modelle besonders gut. Es gilt, sich mit allen auseinanderzusetzen und sich zu überlegen, in welchem Bereich denn die besondere Verantwortung liegt. Ein Modell, das die gemeinsame Verantwortung stärkt, ist «Shared Governance». Ein anderes Modell, das die Vision in den Vordergrund rückt und die Veränderungsbereitschaft ankurbelt, ist «Transformational Leadership» Das dritte Modell, das stark die Konzentration auf die Auseinandersetzung mit den Patientinnen und Patienten stärkt, ist «Lean Management». Allen gemeinsam ist es, dass wir weniger in berufsgruppenspezifischen Leitungsfunktionen unterwegs sind, sondern für interdisziplinäre Teams Verantwortung überneh© 2016 Hogrefe
men. Ebenfalls gemeinsam ist die Ausrichtung auf Partizipation aller Expertinnen und Experten. Das heisst, dass nicht nur von den Führungspersonen, sondern auch von allen Mitarbeitenden die Bereitschaft zur Veränderung, die aktive Mitgestaltung sowie die Überprüfung alter Ansichten gefordert ist. Allen gemeinsam ist auch die Überzeugung, dass die Führung von Expertinnen und Experten nicht alleine durch Zielvorgaben oder aktive Teilhabe gelingt. Die Balance zwischen den Autonomieansprüchen von Mitarbeitenden, den wirtschaftlichen Vorgaben und dem Fachwissen ist für heutige Führungspersonen manchmal eine Quadratur des Kreises. In diesem Zusammenhang gewinnt auch der Begriff der Resilienz in Führungspersonen an Bedeutung. Wir sollen agil und robust zugleich sein, um in unseren Führungsaufgaben standhaft und anpassungsfähig sein zu können.
Weg vom hierarchischen Führungsmodell Führung auf Zeit ist ebenfalls eine Kompetenz, die an Bedeutung gewinnt. Hier gilt es, sich von alten Karrieremodellen zu verabschieden, die davon ausgingen, dass man im Laufe seines Arbeitslebens Karriereschritt um Karriereschritt durchlaufen soll, um immer «höher» zu steigen. Heutiges Führungsverständnis denkt auch zirkulär: Verantwortungsübernahme und Leitungsfunktionen werden für einige Zeit übernommen und wieder abgegeben oder sie werden auf verschiedene Schultern verteilt. Die größte Psychiatrische Pflege (2016), 1(1), 19–20 DOI 10.1024/2297-6965/a000005
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Auseinandersetzung hierzu in der Schweiz findet nun sicher zwischen den pflegerischen Managementpersonen und den Pflegewissenschaftlerinnen und dort insbesondere den Advanced Practice Nurses (APN) statt. Die Managementpersonen wollen sich nicht auf reine administrative Zurverfügungstellung von guten Arbeitsbedingungen reduzieren lassen und die APN wollen auch in personellen Belangen Einfluss gewinnen. Geteilte Verantwortung, wechselseitiges Loslassen von alten Traditionen, immer wieder neue Verhandlungen über die Aufgabenbereiche – daran sind wir zur Zeit und müssen von alten Rollenvorstellungen zu Führungsverantwortung Abschied nehmen, gewinnen aber auch neue Freiheiten. Oder wie es Barbara Heitger an der Tagung «Menschen im Spannungsfeld von Macht, Innovation und Resilienz» (Bonn 2014) gesagt hat: «Es geht darum, nicht unterzugehen, auch nicht nur zu überleben sondern zu gedeihen in seinen Führungsaufgaben.» Wir wissen, dass gute Mitarbeitende wegen den Institutionen an unseren Arbeitsort kommen, aber wegen schlechten Vorgesetzen wieder gehen. Wenn wir die gut
qualifizierten Fachpersonen aller Disziplinen, inklusive unserer Peers, an unsere Organisation binden wollen, dann ist ein transformationales Führungsverständnis notwendig, das gemeinsame Erfahrungen in etwas Neues wandelt. Damit das geschehen kann, ist «Zeit haben» ein wesentlicher Faktor. Ebenso wichtig sind die fachliche Neugier und die Vernetzung in die psychiatrischen Institutionen und die Gesundheitspolitik generell. Leadership heisst für mich weit in die Zukunft zu schauen, Unmögliches in Erwägung zu ziehen, viel in den Beginn einer neuen Idee zu stecken, weit zu kreisen und viele Debatten zu führen, Entscheidungen zu treffen und den Mut lange zu bewahren. Also ganz grundsätzlich eine tüchtige Portion Courage, gepaart mit Sorgfalt und Ausdauer.
Statt einer Literaturliste: Transformationales Leadership (sowie alle weiteren wichtigen Leadershipmodelle): «Nurse Leader», das offizielle Journal der amerikanischen Pflegedirektorinnen und –direktoren, www. nurseleader.com
Lean Management: www.lean-management-institut.ch Shared Governance: www.sharedgovernance.org
Regula Lüthi, MPH, Direktorin Pflege, MTD, Soziale Arbeit an den universitären Psychiatrischen Kliniken Basel Wilhelm Klein Strasse 27 CH-4012 Basel regula.luethi@upkbs.ch
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«Wenn schon Psychiatrie, dann wenigstens Arzt» Personalausstattung in der psychiatrischen Versorgung André Nienaber
«Wenn schon Psychiatrie, dann wenigstens Arzt.» Das Zitat stammt aus dem 1983 veröffentlichten Roman «Irre» des letztjährigen Büchnerpreisträgers Rainald Goetz. Gesagt wird der Satz von einem Arzt, und die Rolle der Pflegenden, so wie Goetz sie in seinem Roman beschreibt, wird eher als paternalistisch dargestellt und steht in Verbindung mit Aufgaben wie dem Reinigen der Station von Exkrementen. Die Pflegenden sind halt diejenigen, die immer auf der Station sind und eher die häufig unliebsamen Hilfstätigkeiten verrichten.
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as Zitat spielgelt meiner Ansicht nach eine leider noch weit verbreitete Auffassung von Psychiatrie bzw. psychiatrischer Pflege wider. Es fasst das in Worte, was auch von Jansen und Venter in ihrem Artikel mit dem Titel «Psychiatrische Pflege – eine unbeliebte Wahl» ausgedrückt wird (Jansen/Venter, 2015). Im Folgenden möchte ich deshalb auf das Thema der Personalausstattung in der stationären psychiatrischen Versorgung eingehen und hoffe, das oben beschriebene Bild etwas korrigieren zu können. Weltweit werden Stellen von Pflegenden in der psychiatrischen Versorgung abgebaut (Jansen/Venter, 2015). Studien in den USA, dem UK, Neuseeland und Australien zufolge wird die Tätigkeit als psychiatrische Pflegeperson von jungen Menschen nicht als eine zukunftsweisende und attraktive Karrieremöglichkeit angesehen bzw. ausgewählt. Den Zahlen des Mental Health Atlas 2013 der OECD zufolge liegt Deutschland mit 56 psychiatrisch Pflegenden bezogen auf 100 000 Einwohner im europäischen Vergleich auf dem elften Platz und damit deutlich hinter Ländern wie Australien, dem UK oder auch der Schweiz, die 80 bis 89 psychiatrisch Pflegende pro 100 000 Einwohner verzeichnen (OECD, 2013). Uneinholbar an der Spitze der Tabelle liegen die Niederlande mit 132 psychiatrisch Pflegenden bezogen auf 100 000 Einwohner. Damit weisen sie das 2,3-Fache des für Deutschland verzeichneten Wertes auf. © 2016 Hogrefe
Die Frage, die sich im Hinblick auf diese Zahlen unmittelbar aufdrängt, ist: Gibt es in Deutschland im Vergleich zu den anderen Ländern einen geringeren Bedarf an psychiatrischen Pflegepersonen? Wohl eher nicht. Die Antwort ist wahrscheinlich eher in der Organisation des Gesundheitswesens zu finden. In einer Bestandsaufnahme im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) zur Ausbildung in den Gesundheitsfachberufen im europäischen Vergleich kommen die Autoren zu dem Fazit, dass eine Ausweitung von Handlungskompetenz und Verantwortung für die Gesundheitsfachberufe einschließlich der Pflege in den Ländern eher langsamer voranschreitet, in denen die ärztliche Profession eine besonders ausgeprägte Autonomie hervorbringen konnte Psychiatrische Pflege (2016), 1(1), 21–24 DOI 10.1024/2297-6965/a000006
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(Lehmann et al., 2014). Zu diesen Ländern mit einer starken ärztlich ausgeprägten Autonomie ist auch Deutschland zu zählen. Dabei stehen doch eine erweiterte Handlungskompetenz und Verantwortungsübernahme direkt mit der Leistungserstellung in Verbindung und wirken sich unmittelbar auf die Verteilung von Ressourcen sowohl im Hinblick auf Personal als auch Finanzen aus. An dieser Stelle lohnt ein Blick auf die 2004 eingeführte Systematik der Diagnosis Related Groups (DRG) als leistungsbezogenes Vergütungssystems in der Versorgung von somatisch kranken Menschen im Bereich des SGB V. Obwohl die Pflege unbestreitbar und allgemein anerkannt einen wichtigen und unerlässlichen Beitrag in der Versorgung leistet, kommt ihr im Bereich der Leistungsabrechnung vornehmlich eine Rolle als Kostenverursacher zu, deren Leistungen im Vergleich zu denen z. B. der Mediziner nicht unmittelbar, sondern nur mittelbar zu einer Erlössteigerung beitragen. Damit ist die Pflege für sich kein erlösrelevanter Leistungserbringer. In einem leistungsbezogenen Vergütungssystem, das ausdrücklich auf der Leistungserstellung basiert, ist das ein folgenschwerer Umstand und führt zu fatalen Auswirkungen für die Pflege. Diese Situation ist mit dafür verantwortlich, dass in den letzten Jahren immer wieder über den Abbau von Pflegestellen und eine zunehmende Leistungsverdichtung auch in anderen Bereichen berichtet wurde. Mit Blick auf die stationäre psychiatrische Versorgung lassen sich für die zurückliegenden Jahre gerade für Bereiche der Akutversorgung sinkende Verweildauern und steigende Patientenzahlen verzeichnen. Löhr, Schulz und Kunze (2014) zeigen in ihrem Artikel «Wegfall der PsychPV – was dann?» auf, dass die Anzahl der psychiatrisch Pflegenden in Deutschland in den vergangenen Jahren nicht angestiegen, sondern trotz einer nachweisbaren Zunahme der Inanspruchnahme und einer damit einhergehenden Leistungsverdichtung in dem Bereich fast gleich geblieben ist. Auch Wolff et al. konnten in ihrer Untersuchung zeigen, dass der tatsächliche Personaleinsatz in den Kliniken mit 10 % unter den Vorgaben der Psychiatrie Personalverordnung (Psych-PV) liegt und damit direkte negative Auswirkungen auf die Arbeitszeit je Patient und Woche hat (Wolff et al., 2015). Nicht wirklich verwunderlich, dass die Autoren die größte absolute Differenz im Bereich der Pflege feststellen. Dies bedeutet in der Konsequenz eine deutliche Zunahme der Arbeitsbelastung für die psychiatrisch Pflegenden vor Ort (Löhr et al., 2014). Hinzu kommen immer komplexer werdende Behandlungsregime aufgrund einer zunehmend älter werdenden Bevölkerung und, besonders bei Menschen im höheren Lebensalter, komplizierender Begleiterkrankungen (Meyer, 2015).
Aufgabe der Pflegenden Delaney und Johnson (2014) beschreiben die Aufgaben der Pflegenden in der stationären psychiatrischen Versorgung u. a. mit: Psychiatrische Pflege (2016), 1(1), 21–24
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• Der Förderung von Einbeziehung der Patienten • Dem Gewährleisten von Sicherheit • Der Durchführung von Interventionen zum Empowerment und zur Psychoedukation Die Pflege stellt die größte Berufsgruppe im Gesundheitswesen dar. Doch nach wie vor ist sie sowohl auf Seiten der Politik, die für die Schaffung von entsprechenden Rahmenbedingungen verantwortlich ist, als auch auf Seiten der Institutionen selbst nicht wirklich als Potenzialträger im Blick. Stratmeyer (2002) kommt zu dem Schluss, dass in den Krankenhäusern das therapeutische Potenzial der Pflegenden nicht gesehen, nicht genutzt und vor allem nicht strategisch entwickelt wird. Und dies, obwohl seinen Ausführungen zufolge gerade in der Pflege mit den häufigen und andauernden Kontaktzeiten zu den Patientinnen und Patienten sowie der Kenntnis über diese gute Ausgangsbedingungen vorliegen. Darüber hinaus sind wir in Deutschland von einer umfassenden Akademisierung der Pflege weit entfernt, obwohl diese an verschiedenen Stellen als wichtiger Baustein der gesundheitlichen Versorgung angesehen wird (Wissenschaftsrat, 2012). Die Anforderungen im Rahmen immer komplexer werdender Versorgungssituationen besonders an die Pflege steigen. Eine viel beachtete Studie von Aiken et al. in der renommierten Zeitschrift The Lancet zeigt, dass eine bessere Ausbildung direkt in Verbindung mit besseren Ergebnissen gebracht werden kann (Aiken et al., 2014; Meyer et al., 2013). Im Hinblick auf die Personalausstattung in der stationären psychiatrischen Versorgung scheuen sich allerdings alle Beteiligten, verbindliche Rahmenbedingungen für die Pflege festzuschreiben.
Beispiel im englischsprachigen Ausland Hier kann sich ein Blick in die USA oder nach Australien als lohnenswert erweisen. Er zeigt, dass in diesen Ländern konkrete Aussagen dazu getroffen werden, wie ein minimales Verhältnis von Pflegenden zu Patienten in der stationären psychiatrischen Versorgung aussehen muss. So plädiert das Parlament von Victoria in Australien für ein © 2016 Hogrefe
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minimales Verhältnis von Pflegenden zu Patienten von 1:4 (Parliament of Victoria, 2015). Für Kalifornien in den USA findet sich ein beschriebenes Verhältnis von Pflegenden zu Patienten im Bereich der psychiatrischen Versorgung von 1:6 (AMN Healthcare, 2008; Spetz et al., 2000). Für den Bereich des UK spricht sich das King’s College in London in einem 2012 veröffentlichten Statement ebenfalls für die Definition einer minimalen Besetzung von 1:5 registrierten Pflegenden (RN) pro Patient auf Stationen der Akutversorgung aus und verweist auf die Erfolge des australischen Programms wie eine bessere Patientenversorgung oder eine höhere Arbeitszufriedenheit (National Nursing Research Unit, 2012). Unter der Überschrift: «Better Nurse-to-Patient Ratios a Must for Psychiatric Hospitals» forderte die amerikanische Ausgabe der Huffington Post vom 15.02.2013 (Shattell, 2013) ein minimales Verhältnis von 1:6 Pflegenden zu Patienten. Dies sind nur einige Beispiele dafür, dass sich auch international Empfehlungen für eine definierte Personalausstattung finden lassen. Bowers und Flood (2008) haben die Personalausstattung im Bereich des United Kingdom auf 136 Akutstationen in 26 NHS Trusts verglichen. Die Stationen verfügen im Mittel über 20,93 stationäre Behandlungsplätze (Min. = 16; Max = 26). Im Hinblick auf die personelle Besetzung kommen sie auf einen Mittelwert von 1,18 Pflegenden pro Bett, wobei der minimale Wert bei 0,84 und der maximale Wert bei 1,45 Pflegenden pro Bett liegt. Was bedeuten jetzt alle diese Zahlen? Sie können zeigen, dass für eine individuelle und an den Bedürfnissen der Patienten orientierte Versorgung, wie sie auch von verschiedenen internationalen Organisationen gefordert wird (Mezzich, 2010; Thornicroft/Tansella, 2013), nur zu realisieren ist, wenn dafür auch die notwendigen Ressourcen zur Verfügung stehen. Eine bessere personelle Ausstattung der Stationen und ein reichhaltigerer Skill- und Grade-Mix können zu besseren Ergebnissen in der Versorgung führen (Han et al., 2015; Lankshear et al., 2005). Ebenfalls ist evident, dass psychiatrische Versorgung nicht durch eine Berufsgruppe allein geleistet werden kann, sondern dass dafür eine Zusammenarbeit aller Beteiligten erforderlich ist (Martin et al., 2010; Thornicroft/Tansella, 2004). Der Artikel hat mit einem Zitat begonnen und vor diesem Hintergrund möchte ich ebenfalls mit einem Zitat schließen. Es ist ein Satz des amerikanischen Psychiaters Prof. Gerald Caplan, einem der Begründer der gemeindenahen Psychiatrie, aus seinem Standardwerk «An Approach to Community Mental Health» aus dem Jahr 1961, das aus meiner Sicht nichts von seiner Gültigkeit verloren hat: «Eine Pflegeperson hat einen bestimmten Auftrag, für den sie oder er ein Spezialist ist. Und keine andere Berufsgruppe befasst sich mit diesen Problemen auf diese Weise.»(Caplan, 1961).
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Literatur Weiterführende Literatur kann beim Autor bezogen werden. Aiken, L. H., Sloane, D. M., Bruyneel, L., Van den Heede, K., Griffiths, P., Busse, R., . . . consortium, R. C. (2014) Nurse staffing and education and hospital mortality in nine European countries: a retrospective observational study. Lancet, 383(9931), 1824–1830. AMN-Healthcare (2008) RN-to-Patient Hospital Staffing Ratios Update. Abruf am: 10. Dez. 2015. Unter: http://www.amnhealth care.com/latest-healthcare-newsrn-to-patient-hospital-staffingratios-update/ Bowers, L., Flood, C. (2008) Nurse staffing, bed numbers and the cost of acute psychiatric inpatient care in England. J Psychiatr Ment Health Nurs, 15(8), 630–637. Caplan, G. (1961) An Approach to Community Mental Health. New York: Grune & Stratton. Delaney, K. R., Johnson, M. E. (2014) Metasynthesis of research on the role of psychiatric inpatient nurses: what is important to staff? J Am Psychiatr Nurses Assoc, 20(2), 125–137. Han, K. T., Kim, S. J., Jang, S. I., Hahm, M. I., Kim, S. J., Lee, S. Y., Park, E. C. (2015) The outcomes of psychiatric inpatients by proportion of experienced psychiatrists and nurse staffing in hospital: New findings on improving the quality of mental health care in South Korea. Psychiatry Res, 229(3), 880–886. Jansen, R., Venter, I. (2015) Psychiatric nursing: an unpopular choice. J Psychiatr Ment Health Nurs, 22(2), 142–148. . Lankshear, A. J., Sheldon, T. A., Maynard, A. (2005) Nurse staffing and healthcare outcomes: a systematic review of the international research evidence. ANS Adv Nurs Sci, 28(2), 163–174. Lehmann, Y., Beutner, K., Karge, K., Ayerle, G., Steffen, H., Behrens, J., Landenberger, M. (2014) Bestandsaufnahme der Ausbildung in den Gesundheitsfachberufen im europäischen Vergleich. In: Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) (Hrsg.). Abruf am: 10. Dez. 2015. Unter: https://www.bmbf.de/pub/ berufsbildungsforschung_band_15.pdf Löhr, M., Schulz, M., Kunze, H. (2014) Wegfall der Psych-PV - was dann? Psych Pflege, 20(3), 140–155. Martin, J. S., Ummenhofer, W., Manser, T., Spirig, R. (2010) Interprofessional collaboration among nurses and physicians: making a difference in patient outcome. Swiss Med Wkly, 140, w13062. Meyer, G. (2015) Ein evidenzbasiertes Gesundheitssystem: die Rolle der Gesundheitsfachberufe. Z Evid Fortbild Qual Gesundhwes, 109(4–5), 378–383. Meyer, G., Balzer, K., Kopke, S. (2013) Evidenzbasierte Pflegepraxis--Diskussionsbeitrag zum Status quo. Z Evid Fortbild Qual Gesundhwes, 107(1), 30–35. Mezzich, J. E. (2010) World Psychiatric Association perspectives on person-centered psychiatry and medicine. Int J Integr Care, 10 Suppl, e003. National Nursing Research Unit (2012). Is it time to set minimum nurse staffing levels in English hospitals? Abruf am: 10. Dez. 2015. Unter: http://www.kcl.ac.uk/nursing/research/nnru/policy/ Policy-Plus-Issues-by-Theme/Whodeliversnursingcare(roles)/ PolicyIssue34.pdf OECD (2013) Psychiatrists and mental health nurses. Health at a glance. Abruf am: 10. Dez. 2015. Unter: http://dx.doi. org/10.1787/health_glance-2013–26-en Parliament of Victoria (2015) Safe Patient Care (Nurse to Patient and Midwife to Patient Ratios) Bill 2015. Abruf am: 10. Dez. 2015. Unter: http://www.anmfvic.asn.au/news-and-publications/publications/2015 /09/03 /the-safe-patient-carenurse-to-patient-and-midwife-to-patient-ratios-bill-2015 Shattell, N. (2013) Better Nurse-to-Patient Ratios a Must for Psychiatric Hospitals. Abruf am: 10. Dez. 2015. Unter: http://
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Wolff, J., Berger, M., Normann, C., Godemann, F., Hauth, I., Klimke, A., Löhr, M. (2015) Wohin führt die Konvergenz der Psychiatriebudgets? : Ein Vergleich von Psych-PV-Vorgaben und tatsächlichen Personalressourcen. Nervenarzt.
André Nienaber ist Gesundheitsund Pflegewissenschaftler am LWLKlinikum Gütersloh und Leiter des Referats Psychiatrische Pflege in der DGPPN. andre.nienaber@lwl.org
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Mitgestalten in Forschung, Lehre und Weiterbildung durch Einbezug der Betroffenenperspektive Caroline Gurtner, Sabine Hahn
Die aktive Mitgestaltung durch Betroffene (Patientinnen und Patienten) beispielsweise im Umgang mit der eigenen Erkrankung und in der Gesundheitsversorgung wird in der Schweiz zwar zunehmend gefordert, aber bisher wenig gefördert. Die Berner Fachhochschule fokussiert nun auf die bisher wenig genutzte Ressource der Betroffenenperspektive, um die Qualität der Ausbildung und der Forschung zu steigern und die Gesundheitsversorgung nachhaltig zu verbessern.
Einbezug von Erfahrungswissen In den letzten Jahren hat sich im Gesundheitswesen, insbesondere im Bereich der psychiatrischen Versorgung, ein Wandel vollzogen. Während in Allgemeinkrankenhäusern fast ausschliesslich von «Patientinnen und Patienten» gesprochen wird, finden in der Psychiatrie weniger paternalistisch geprägte Formulierungen, wie: «Betroffene», «Nutzende» oder «Menschen mit Krankheitserfahrung» Beachtung. Im englischsprachigen Raum hat sich der Begriff «service user» durchgesetzt, was in etwa so viel bedeutet wie «Person, die Gesundheitsdienstleistungen nutzt». Dies ist Ausdruck einer sich verändernden Haltung der Gesundheitsfachpersonen gegenüber den Patientinnen und Patienten. Die erkrankte Person wird mit ihren individuellen Erfahrungen und Ressourcen ins Zentrum gestellt und stärker in Entscheidungs- und Behandlungsprozesse involviert (Niedermann, 2012; Schmid/Wang, 2003)
Mitgestalten und verändern Doch ihr Erfahrungswissen im Umgang mit der eigenen Erkrankung können Betroffene («service user») nicht nur im direkten Behandlungsprozess nutzen, sondern sie können dieses auch in die Forschung, die Entwicklung von in© 2016 Hogrefe
novativen Angeboten oder in die Ausbildung von Gesundheitsfachpersonen einbringen. Besonders in Kanada, Australien und in England ist der Einbezug der Betroffenenperspektive in die Forschung und Lehre im Gesundheitswesen schon deutlich weiter fortgeschritten als im deutschsprachigen Raum und wurde in England durch eine nationale Gesundheitsstrategie explizit gefördert (McKeown/Malihi-Shoja/Downe, 2010; Sibitz/Swoboda/ Schrank/Priebe/Amering, 2008).
Erweiterung des Blickwinkels Studien aus dem angloamerikanischen Raum zeigen einen positiven Nutzen durch den Einbezug der Betroffenenperspektive auf. Sie ermöglicht den Forschenden neue Sicht- und Herangehensweisen bei ihren Forschungsvorhaben. Betroffene können die Forschenden dabei unterstützen, sogenannte «blind spots» aufzudecken (Niedermann, 2012). Dabei wird diese Form der partizipativen Zusammenarbeit von den Forschenden sowohl als herausfordernd aber auch als inspirierend erlebt (Smith et al., 2008). Menschen mit Krankheitserfahrung profitieren ihrerseits, indem sie sich durch den Einbezug persönlich weiterentwickeln, ihr Selbstwertgefühl stärken und sich neue Fähigkeiten aneignen können (McKeown et al., 2010; Schmid & Wang, 2003). Psychiatrische Pflege (2016), 1(1), 25–27 DOI 10.1024/2297-6965/a000007
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Situation in der Schweiz Gemäss der Schweizer Agenda für klinische Pflegeforschung (SRAN, 2007 bis 2017), sollen die Perspektive der Betroffenen einbezogen und verschiedene Möglichkeiten der partnerschaftlichen Zusammenarbeit mit Patienten und deren Angehörigen innerhalb des Forschungsprozesses entwickelt und evaluiert werden (Imhof et al., 2008). Auch der Schweizer Bundesrat prüft Maßnahmen, wie die Stellung der Patienten gestärkt und in welcher Form ihre Interessen in die gesundheitspolitischen Prozesse einbezogen werden können (Schweizerische Eidgenossenschaft, 2015). Trotz dieser Bemühungen existieren in der deutschsprachigen Schweiz gemäß unseres Wissens nur vereinzelte Projekte und Umsetzungsbeispiele zum Einbezug von Betroffenen in die Forschung und Entwicklung von Gesundheitsdienstleistungen. Im Bereich der stationären psychiatrischen Versorgung werden Betroffene heute vorwiegend als «Peers» oder «Genesungsbegleiter» eingesetzt. Peers sind Personen, die selber Erfahrung mit einer psychischen Erkrankung gemacht und eine entsprechende Ausbildung absolviert haben.
Innovation durch gemeinsame Arbeit Die angewandte Forschung & Entwicklung/Dienstleistung Pflege der Berner Fachhochschule möchte nun die Zusammenarbeit mit Betroffenen über die Peer-Arbeit hinaus weiterentwickeln und implementieren. Die Integration der Betroffenenperspektive wird als entscheidender Faktor gesehen, um die Umsetzung von Forschungsergebnissen bzw. Evidenz in die Praxis durch stärkere Anpassung an die Realität der Betroffenen zu verbessern. Mit dem Aktionsforschungsprojekt PIONEERS soll die Zusammenarbeit mit Personen mit Krankheitserfahrung im Bereich der Lehre und der Forschung systematisch entwickelt, aufgebaut und evaluiert werden. Dabei lehnt sich das Vorgehen an ein erfolgreiches Beispiel zur Integration von «service usern» an der Universität von Central Lancashire (UCLAN) in England an. Das Vorgehen im Projekt PIONEERS ist mehrstufig und orientiert sich am zyklischen Prozess der Aktionsforschung nach Stringer (2007). Die partizipative Aktionsforschung eignet sich besonders, um Fragestellungen für und mit Betroffenen zu erarbeiten und einen gemeinsamen Veränderungsprozess durch die Kombination von Untersuchung, Intervention und Evaluation zu schaffen (Stringer, 2007).
Das Spektrum an Erfahrung nutzen Das Projekt fokussiert in der Startphase auf den Einbezug von Personen mit Krankheitserfahrung im psychiatrischen Bereich. Später soll das Spektrum erweitert werden, indem Personen mit Krankheitserfahrung im somatischen Bereich und Angehörige einbezogen werden. Im Sinne der
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echten Partizipation werden die Perspektiven aller Beteiligten (Nutzende, Forschende, Dozierende) von Anfang an involviert und somit wird eine Verbindung zwischen Theorie und Praxis hergestellt. Im Projektteam arbeiten zwei Personen mit Krankheitserfahrung als wissenschaftliche Assistierende der Forschung mit, um die Betroffenenperspektive einzubringen.
Reflexion vorantreiben Erfahrungen aus dem Ausland zeigen, dass ähnliche Projekte zum Abbau von Stigmatisierung und zum Aufbau von Expertise bei krankheitserfahrenen Personen beitragen. Im Projekt PIONEERS wollen wir einen Schritt weiter gehen. Der Wissens- und Erfahrungsgewinn der Betroffenen und die Stärkung des Selbstwertgefühls sowie der Selbstkompetenz ist eine gewollte Entwicklung. Es geht jedoch darum, dass alle am Prozess Beteiligten profitieren, um die Forschung und Lehre voranzutreiben. Die Zusammenarbeit soll die methodologische und inhaltliche Reflexion in Forschung und Lehre anregen und Selbstverständliches hinterfragen. Mitarbeitende aus allen Bereichen der Hochschule mit den unterschiedlichsten Erfahrungen sollen in diese Entwicklung miteinbezogen werden. Erste Projektresultate werden Ende 2016 erwartet. Das Projekt wird finanziell unterstützt vom Eidgenössischen Büro für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen, von der Berner Fachhochschule/Fachbereich Gesundheit und einer Stiftung.
Literatur Weiterführende Literatur kann bei den Autorinnen bezogen werden.
Imhof, L., Abderhalden, C., Cignacco, E., Eicher, M., Mahrer-Imhof, R., Schubert, M., Shaha, M. (2008) Swiss Research Agenda for Nursing (SRAN) Die Entwicklung einer Agenda für die klinische Pflegeforschung in der Schweiz. Pflege, 21, 4: 252–261. McKeown, M., Malihi-Shoja, L., Downe, S. (2010) Service User and Carer Involvement in Education for Health and Social Care. Wiley-Blackwell. Niedermann, K. (2012) Patient Research Partner – der Einbezug von Betroffenen in der Forschung. physioscience, 8, 1: 1–2. Schmid, M., Wang, J. (2003) Der Patient der Zukunft: Das Arzt-Patienten-Verhältnis im Umbruch. Schweizerische Ärztezeitung, 84, 41: 2133–2135. Schweizerische Eidgenossenschaft (2015) Patientenrechte und Patientenpartizipation in der Schweiz. Bern. Sibitz, I., Swoboda, H., Schrank, B., Priebe, S., Amering, M. (2008) Einbeziehung von Betroffenen in Therapie-und Versorgungsentscheidungen: professionelle HelferInnen zeigen sich optimistisch. Psychiat Prax, 35, 3: 128–134. Smith, E., Ross, F., Donovan, S., Manthorpe, J., Brearley, S., Sitzia, J., Beresford, P. (2008) Service user involvement in nursing, midwifery and health visiting research: a review of evidence and practice. International journal of nursing studies, 45, 2: 298–315. Stringer, E. T. (2007) Action research. London: Sage.
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Prof. Dr. Sabine Hahn (PhD) Mitherausgeberin der Psychiatrischen Pflege, Diplomierte Pflegefachfrau Psychiatrie, Pflege- und Gesundheitswissenschaftlerin; leitet am Fachbereich Gesundheit der Berner Fachhochschule die Disziplin Pflege und die angewandte Forschung & Entwicklung/Dienstleistung Pflege.
Caroline Gurtner (BSc), RN; arbeitet auf der Abteilung angewandte Forschung & Entwicklung/Dienstleistung Pflege an der Berner Fachhochschule und leitet das Projekt PIONEERS. E-Mail: caroline.gurtner@bfh.ch
E-Mail: sabine.hahn@bfh.ch
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Das Beste von Paul Watzlawick – in einem Band!
Trude Trunk (Hrsg.) / Paul Watzlawick
Man kann nicht nicht kommunizieren Das Lesebuch Zusammengestellt von Trude Trunk und mit einem Nachwort von Friedemann Schulz von Thun. 2., unveränderte Auflage 2016. 376 Seiten € 19.95 / CHF 26.90 ISBN 978-3-456-85600-1 AUCH ALS E-BOOK
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Kein Satz hat Paul Watzlawick so berühmt gemacht wie dieser: Man kann nicht nicht kommunizieren. Auch ohne Worte stehen wir jederzeit im Austausch mit unseren Mitmenschen – ob wir wollen oder nicht.
schriftstellerischen Talent. Viele seiner beispielhaften Geschichten sind ebenso ins kollektive Bewusstsein übergegangen wie jener Satz über die Unmöglichkeit des Nichtkommunizierens.
Der Philosoph und Psychoanalytiker hat mit seinen Axiomen und Theorien unser Verständnis über Kommunikation radikal und nachhaltig verändert. Auf unerreichte Weise verbindet Watzlawick dabei wissenschaftliche Erkenntnisse mit einem großen
Ergänzt wird der schmucke Band durch ein Nachwort von Friedemann Schulz von Thun sowie durch ein ausführliches Gespräch mit dem Meister, geführt und mit einer biografischen Notiz versehen von Bernhard Pörksen.
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Berufliche Selbstverwaltung für Pflegende Pflegekammern in Deutschland Frank Vilsmeier
Die berufliche Pflege in Deutschland ist ein anerkannter Heilberuf. Sie besitzt gegenüber anderen Heilberufen (Ärzten, Zahnärzten, Psychologischen Psychotherapeuten etc.) bisher keine Organisation, die ihre eigenen beruflichen Angelegenheiten selbstständig regeln kann.
F
ür die Pflegefachberufe (Altenpflege, Gesundheitsund Krankenpflege sowie Gesundheits- und Kinderkrankenpflege) werden nunmehr in drei Bundesländern konkrete Gesetzesvorhaben umgesetzt, die eine rechtliche Gleichstellung zu den anderen Heilberufen herstellen. In Heilberufekammergesetzen wird die eigenständige Vertretung der Pflegeberufe geregelt. In diesem Artikel werden die Grundlagen, die Ziele und Aufgaben sowie die derzeitige Entwicklung der Pflegekammern in Deutschland dargestellt.
Verspannt im Wenn und Aber Seit mehr als dreißig Jahren werden immer wieder Forderungen laut, Pflegekammern in den Bundesländern zu errichten. Bereits Agnes Karll hat 1903 die zentrale Aussage zur Autonomie und Professionalisierung der Pflegeberufe getroffen (s. Kasten). In Europa haben sich weitgehend in allen Ländern eigenständige Organisation aller Pflegenden gegründet (Hanika, 2012). In Deutschland haben jeweils Oppositionsparteien in den 90er-Jahren verkündet, dass sie eine Pflegekammer errichten würden. Im Falle eines Wahlsieges konnten sie sich meist nicht mehr daran erinnern. Immer wieder wurde versucht, das Thema in den Länderparlamenten zu platzieren. In dieser Zeit gründeten sich in einigen Bundesländern Fördervereine zur Gründung einer Pflegekammer und daraus die Nationale Konferenz zur Errichtung einer Pflegekammer in Deutschland. Gutachten von RA Dr. M. Plantholz (1997), Prof. Dr. O. Seewald und Prof. G. Igl (1998) bestätigten die Gesetzeskonformität von Pflegekammern. Bis 2003 wurde die Ablehnung der Kammer für Pflegende u. a. mit der fehlen© 2016 Hogrefe
den Anerkennung der dreijährigen Pflegeausbildungen als Heilberuf begründet. Nachdem diese Anerkennung erfolgte (BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 24. Oktober 2002 – 2 BvF 1/01 – Rn. (1–392)), wurden gegen eine Errichtung von Pflegekammern wiederum verfassungsrechtliche Gründe oder die vermutete fehlende Akzeptanz bei Pflegenden angeführt. Federführend in der Kritik waren und sind die Gewerkschaft ver.di und vorwiegend private Trägerverbände von Pflegeinrichtungen.
«Wir, die als selbständige, selbstverantwortliche Menschen dem Leben gegenüberstehen, sind selbst schuldig, wenn wir nicht die rechtlichen Wege suchen und bahnen helfen, um fähig für unsere Lebensaufgabe zu werden. Wer soll uns denn unseren Beruf aufbauen, wenn wir es nicht selbst tun. Wir haben gar kein Recht zu verlangen, dass andere das tun.» Agnes Karll (25.3.1868– 12.2.1927)
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Die Pflegeberufsverbände haben mit ihren Kooperationen im Deutschen Pflegerat und in den Landespflegeräten 2003 intensiv begonnen, die Landespolitik in Deutschland zur Errichtung von Pflegekammern aufzufordern. Hierzu haben sie u. a. ein erneutes Gutachten in Auftrag gegeben, das die grundsätzlichen rechtlichen Bedingungen zur Gründung von Pflegekammern darstellen sollte (Igl, 2008). Weitere Gutachten fordern eine Verselbstständigung des Pflegeberufes. Der «Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen» (SVR) hat 2007 die Entwicklung der Zusammenarbeit der Gesundheitsberufe als Beitrag zu einer effizienten und effektiven Gesundheitsversorgung dargestellt. Für die Erfüllung der dort zugeschriebenen Aufgaben für Pflegende ist die Pflegekammer als Selbstverwaltung notwendig. Dies bekräftigt der SVR auch in den weiteren Gutachten von 2012 und 2014. In einer Abhandlung zum Thema schreibt Prof. Roßbruch (2001) hierzu: «Die Bundes- und Landespolitik übernimmt sich, wenn sie meint, jeden berufspolitischen Sachverhalt […] regeln zu können. Dazu ist die berufliche Selbstverwaltung eher imstande. Eine Selbstverwaltungskörperschaft, die sich ihrer sozialen Verantwortung bewußt [sic!] ist, kann Subsidiarität und Solidarität miteinander verknüpfen und dazu beitragen jenseits vom freien Markt und von zentraler Verwaltungswirtschaft ein dezentral vernetztes, national wie regional kooperierendes, preiswertes und wirksames Gesundheitssystem in die Praxis umzusetzen. Wie könnte dies wirklichkeitsnäher und dynamischer gestaltet werden als durch ein Gesetzeswerk, das mit Hilfe von Körperschaften öffentlichen Rechts nicht die aktuellen Probleme jeweils unmittelbar löst, sondern einen Regelmechanismus etabliert, der durch ordnungspolitische Rahmengesetzgebung nicht die Tatbestände und Vorgänge selbst regelt, sondern die Dynamik der Entwicklung ordnet?». Fazit seiner Betrachtung ist: «Zusammenfassend ist daher festzustellen, daß [sic!] es keine verfassungsrechtlichen Bedenken hinsichtlich der Errichtung von Pflegekammern gibt, sondern das es in erster Linie vom politischen Willen der jeweiligen Landesparlamente abhängt, ob entsprechende Pflegekammern eingerichtet werden oder nicht.» Pflegekammern werden von vielen Organisationen an vielen Stellen gefordert. Verantwortlich für die Umsetzung war und ist ausschließlich die Landespolitik. Nur sie kann die gesetzlichen Grundlagen hierfür schaffen und ist der richtige Adressat dafür.
Ziele und Aufgaben der Pflegekammer Nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts sollen durch die Übertragung hoheitlicher Funktionen auf eine Kammer «die gesellschaftlichen Kräfte aktiviert werden». Sie soll «den entsprechenden gesellschaftlichen Gruppen die Regelung solcher Angelegenheiten, die sie selbst betreffen und die sie in überschaubaren Bereichen am sachkundigsten beurteilen können, eigenverantwortlich überPsychiatrische Pflege (2016), 1(1), 29–32
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lassen und dadurch den Abstand zwischen Normgeber und Normadressat […] verringern» (BVerfGE 33, 125 ff.). Die Pflegekammer hat den Auftrag, den Beruf eigenständig zu organisieren, zu vertreten und die fachlich und sachlich angemessene Versorgung der Menschen sicherzustellen. Die Bürger haben ein Recht auf eine bedarfsgerechte und qualitativ hochwertige pflegerische Dienstleistung. Aufgabe der Pflegekammer ist es insofern, diese professionelle pflegerische Versorgung der Bevölkerung nach aktuellen Erkenntnissen zu gewährleisten. Dazu gehört u. a. die Erstellung einer Berufsordnung, mittels derer festgestellt werden kann, ob Pflegeleistungen angemessen oder unangemessen stattfinden. Die Pflegekammer legt durch ihre Mitglieder diese Bedingungen fest, sorgt nach innen dafür, dass die Kompetenzen, Fähigkeiten und Fertigkeiten entwickelt werden können und fordert nach außen gegenüber Politik, Kosten- und Einrichtungsträger die dazu erwarteten und notwendigen Rahmenbedingungen. Beruflich Pflegende partizipieren aktuell nicht an demokratischen und beruflich freiheitssichernden Rechten. Es gibt für sie keinen gesetzlichen Anspruch darauf, in den sie betreffenden Fragen, Regelungen, Verordnungen und Gesetzen angehört zu werden. Eine Pflegekammer sichert diese Beteiligungs- und berufsständischen Rechte. Dazu dienen folgende Aufgaben und Rechte: • Die Pflegekammer nimmt Selbstverwaltungsaufgaben als Körperschaft öffentlichen Rechtes eigenverantwortlich unter staatlicher Rechtsaufsicht wahr (Analog Ärztekammer). • Sie ist als berufsständische Körperschaft verpflichtet, sich bei allen sie betreffenden Entscheidungen im Gesundheits- und Pflegewesen zu beteiligen. Damit wird sie für die Entwicklung zukünftiger pflegerischer Versorgung vor dem Hintergrund der notwendigen Kompetenzen und des erforderlichen Fachkräftebedarfs einen substanziellen Beitrag leisten können. Gesetzgebende Organe erhalten Beratung und Information aus der Pflegewirklichkeit. • Sie erhält die rechtliche Legitimation zur Übernahme hoheitlicher Aufgaben (z. B. Erlass von Ausführungsbestimmungen bzw. Verordnungen gesetzlicher Regelungen für die Berufsgruppe). Das Land kann bisherige Aufgaben des Ministeriums an die Pflegekammer übertragen (z. B. Weiterbildungsordnungen, Prüfungskommissionen, Erteilung von Zertifikaten etc.). Bei der Übertragung hoheitlicher Aufgaben ist eine Kostenerstattung vom Land möglich. • Die Pflegekammer erlässt eine Berufsordnung, entwickelt eine Berufsethik und richtet eine Ethikkommission ein oder beteiligt sich an einer. • Sie stellt als Selbstverwaltungspartner ihre Fachexpertise in allen Gremien zu Fragen der pflegerischen Versorgung zur Verfügung und benennt Sachverständige. • Sie erstellt Gutachten in Streitfragen und zum fachlich angemessenen pflegerischen Handeln. • Mit der Pflegekammer erhält die Pflege eine anerkannte Schiedsstelle, die vor einem gerichtlichen Verfahren eingesetzt wird. © 2016 Hogrefe
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• Durch die Mitgliedschaft aller pflegerischen Heilberufe, deren Registrierung und ggf. Ausgabe von Heilberufsausweisen wird erstmals eine eindeutige und umfassende Bestandserhebung aller im Beruf Tätigen im Bundesland möglich. Pflegerelevante Daten können erhoben und ausgewertet werden. • Eine Kooperation der Pflegekammer(-mitglieder) mit allen Beteiligten der gesundheitlichen Versorgung (z. B. Ärztekammer) fördert die Interprofessionalität der Akteure und die Einbeziehung der Pflegeexpertise in Theorie und Praxis. • Die gesellschaftliche und politische Anerkennung des Pflegeberufes wird durch die Errichtung einer Pflegekammer unter dem Gesichtspunkt der Beteiligung an berufsbezogenen Fragestellungen allen derzeitigen und auch zukünftigen Berufsangehörigen vermittelt. Diese Aufwertung durch Beteiligung und Mitsprache wird Anziehungskraft auf bereits jetzt und zukünftig noch dringender benötigte Fachkräfte ausüben und die Attraktivität des Berufsstandes fördern. Die Pflegekammer kann selbst und authentisch für den Pflegeberuf werben. • Sie wird sich an den Prüfungsausschüssen des Pflegexamens gem. AltPflAPrV und KrPflAPrV bzw. zukünftig nach dem Pflegeberufegesetz beteiligen. • Eine Kammer vertritt die Interessen der Pflegenden nach außen und betreibt Öffentlichkeitsarbeit.
Kritik im eigenen Interesse Ein wesentliches Merkmal unserer politischen Organisation ist die Übertragung hoheitlicher, also gesetzlicher Aufgaben auf sogenannte Selbstverwaltungspartner. In der Selbstverwaltungspartnerschaft im Gesundheitswesen spielte die berufliche Pflege bisher keine eigene Rolle. Dafür waren zu viele Ansprechpartner zu berücksichtigen. Weit über 20 Pflegeberufsverbände können in Betracht gezogen werden. Erst mit dem Deutschen Pflegerat und den Landespflegeräten konnte ein größerer Einbezug der Pflegeexpertise in den Gremien erreicht werden. Ein Mandat, für alle beruflich Pflegenden sprechen zu können, ergab sich aber auch daraus nicht. So versuchten also Pflegeverbände, Trägerverbände und Gewerkschaften gleichermaßen, die Interessen der beruflichen Pflege zu vertreten. Wozu das geführt hat, ist an der Entwicklung des Pflegeberufes in den letzten 20 Jahren abzulesen. Sowohl Träger(verbände) als auch Gewerkschaften und pflegepolitisch engagierte Politiker haben den Anspruch erhoben die berufliche Pflege in allen fachlichen Gremien zu vertreten. Dabei haben sie kein vollständiges Mandat zur Vertretung der beruflichen Pflege, da sie nicht alle von den Ergebnissen der Verhandlungen, Regelungen, Verordnungen und Gesetze berührten Pflegenden vertreten können, sondern eigentlich nur ihrer Mitglieder. Diese setzen sich bei Trägern aus den Inhabern der Einrichtungen zusammen und bei den Gewerkschaften aus Mitgliedern der sozialen Berufe. Die Inhaber der Einrichtungen verfolgen © 2016 Hogrefe
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in erster Linie institutionelle Interessen, in zunehmenden Maße auch Gewinnerzielungsabsichten. Die Gewerkschaften fokussieren die Arbeitsbedingungen und können nur stark auftreten, wenn sie genügend Mitglieder haben. Dies ist bei den Pflegeberufen leider nicht sehr ausgeprägt. Die Selbstverwaltung der beruflichen Pflege (Pflegekammer) stellt für diese Organisationen eine Konkurrenz dar. Träger fürchten eine starke und eigenständig auftretende Berufsgruppe, Gewerkschaften fürchten Mitglieder zu verlieren. Gemeinsam ist ihnen die Befürchtung, an Macht und Einfluss zu verlieren. Aber auch beruflich Pflegende selbst üben Kritik an der Pflegekammer. Dabei werden Regelungen befürchtet, die auf die Berufsausübung Einfluss nehmen, und die Pflichtmitgliedschaft sowie der Kammerbeitrag kritisiert. In diesem Zusammenhang wird auch mit überzogenen Argumenten versucht, Pflegekammern zu verhindern. Z. B. wird rechtlich unhaltbar und in keinem Zusammenhang stehend behauptet, dass eine Nichtzahlung des Kammerbeitrages die Aberkennung der Berufserlaubnis zur Folge haben werde. Die Pflichtmitgliedschaft sichert jedoch die gesetzlichen Selbstverwaltungsrechte, eigene Regelungen für die Pflegeberufe zu schaffen. Nur wenn alle von den Regelungen berührten Menschen einen demokratischen Einfluss auf das Zustandekommen von Regelungen nehmen können, ist eine Selbstverwaltung legitimiert gesetzlich zu handeln. Für die Aufgabenerfüllung bedarf es finanzieller Mittel. Sie bedingen einen Kammerbeitrag, der einkommensabhängig gestaffelt sein wird und sich am notwendigen Haushalt der Kammer orientiert. Beides wird von der Vertretung der Pflegenden, der Kammerversammlung, festgelegt und wird sich aus jetziger Sicht in einem vertretbaren Rahmen bewegen. Perspektivisch kann eine gute berufliche Vertretung auch deutlich machen, welchen Wert die erbrachten Leistungen haben. Hieraus kann sich eine bessere Vergütung ergeben, die einen Kammerbeitrag kompensieren könnte.
Die föderale Herausforderung Das erste Bundesland, in dem eine Regierungspartei die Errichtung einer Pflegekammer ausgerufen hat, war zum Erstaunen der Pflegefachwelt das Land Bayern. Der CSU
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Gesundheitsminister Söder versprach im Januar 2011, dass Bayern das erste Bundesland sein werde, das eine Pflegekammer errichte. Er gründete ein Bündnis zur Gründung einer Pflegekammer mit Beteiligung der Pflegeberufsverbände. Dabei hat er nicht die Rechnung mit dem Wirt seiner Regierungsfraktion gemacht. Die FDP bremste das Vorhaben aus. Ein erneuter Anlauf nach der Landtagswahl, in der die FDP nicht mehr dem Parlament angehörte, wurde unterbrochen, nachdem er in das Wirtschaftsministerium wechselte. Auf Initiative seiner Nachfolgerin, Gesundheitsministerin Huml, soll nur noch eine vielfach kritisierte Organisation namens Pflegering, in der auch Träger von Einrichtungen Mitglied werden sollen, Aufgaben vom Land übertragen bekommen. 2016 soll dieser Pflegering begründet werden. Es ist einhellige Meinung der pflegerischen Berufsverbände, dass der Pflegering in dieser Zusammensetzung kein Mandat hat, für die Pflegenden zu sprechen und auch keine Legitimation erhält, die mit einer Pflegekammer zu vergleichen ist. Andere Bundesländer haben an der Pflegekammer festgehalten. Am 14.12.2012 wurde in Schleswig-Holstein der erste parlamentarische Beschluss zur Errichtung einer Pflegekammer gefasst. Nachdem, wie zuvor auch in Bayern, repräsentative Umfragen die Pflegekammer befürworteten, wurden in Rheinland-Pfalz und in Schleswig-Holstein die Vorbereitungen dazu aufgenommen. Niedersachsen folgte unmittelbar. Auch in Berlin wird nach positiven Umfragen bei Pflegenden und zusätzlich bei Auszubildenden um die Pflegekammer gerungen. Sind es in Rheinland-Pfalz, Schleswig-Holstein und Niedersachsen SPD geführte Regierungen, kämpft in Berlin der CDU Senator gegen den Widerstand der SPD um die Errichtung der Kammer. Auch in Nordrhein-Westfalen gilt es, die SPD Regierung zu überzeugen. In Mecklenburg-Vorpommern hat eine Umfrage ergeben, dass 73 % der beruflich Pflegenden eine Pflegekammer begrüßen würden. Bis auf Hamburg, wo eine Umfrage negativ ausgefallen ist, machen alle bisherigen Befragungen eine breite Zustimmung deutlich. Am 25.01.2016 hat sich die erste Pflegekammer, nach vorheriger Wahl der Kammerversammlung, in Rheinland-Pfalz konstituiert. Im dortigen Parlament haben alle Parteien für die Pflegekammer gestimmt. Schleswig-Holstein konstituierte am 13.01.2016 den Errichtungsausschuss und Niedersachsen will in 2016 das Pflegekammergesetz verabschieden. Für eine bundesweite Vertretung der beruflichen Pflege wird es jedoch wichtig sein, in möglichst allen Bundesländern Pflegekammern zu haben. Hierzu bedarf es weiterer Anstrengungen der Pflegeberufsverbände und der Pflegenden selbst, in jedem Bundesland für die einzig legitimierte Organisation der beruflich Pflegenden einzutreten – die Pflegekammer.
Literatur Weiterführende Literatur kann beim Autor bezogen werden Albrecht, J. (2005) Die Pflegekammer als Instrument für die qualitativ hochwertige Sicherung des gesellschaftlichen Pflegebedarfs. Pflegenetz, 02/05, S. 4–8 Deutscher Pflegerat (Hrsg.); Igl, G. (2008) Weitere öffentlich-rechtliche Regulierung der Pflegeberufe und ihrer Tätigkeiten. Voraussetzungen und Herausforderungen. München: Verlag Urban & Vogel Förderverein zur Errichtung einer Pflegekammer in Niedersachsen e. V. (2006) Pflege – ein gesellschaftlicher Auftrag. Gute Argumente für die Verkammerung der Pflegeberufe. http://www. pflegekammer-nrw.de Komba Gewerkschaft (2012) komba unterstützt Forderung nach einer Pflegekammer. Info 3/2012 Hanika, H., Mielsch, M., Schönung, M. (2005) Pflegekammern in Deutschland – Durchbruch oder endlose Warteschleife?! Betrachtungen aus aktueller rechtlicher und gesellschaftspolitischer Sicht. PflegeRecht 9(5): 203–16. Hanika, H. (2012) Pflegekammern im europäischen Kontext. Heilberufe SCIENCE 3;6 Hessisches Sozialministerium (2007) Positionspapier des Fachbeirates Pflege zur Errichtung einer Kammer für Pflegeberufe in Hessen. Igl, G. (1998) Öffentlich-rechtliche Grundlagen für das Berufsfeld Pflege im Hinblick auf vorbehaltene Aufgabenbereiche. Hrsg.: ADS, BKK, BA, BALK, DBfK. Druckhaus Göttingen Rossbruch, R. (2001) Sind Pflegekammern verfassungsrechtlich zulässig und berufspolitisch notwendig? Pflege Recht, 4. Jahrgang, S.10 Neuwied: Wolters Kluwer Deutschland Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen (2012). Wettbewerb an der Schnittstelle zwischen ambulanter und stationärer Gesundheitsversorgung. Sondergutachten. http://www.svr-gesundheit.de Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen (2007). Kooperation und Verantwortung, Voraussetzungen einer zielorientierten Gesundheitsversorgung. http://www.svr-gesundheit.de Seewald, O. (1998) Rechtsgutachten über «Die Verfassungsmäßigkeit der Errichtung einer Kammer für Pflegeberufe im Freistaat Bayern», Förderverein zur Gründung einer Pflegekammer in Bayern Sielaff, R. (2001) Pflegekammern als Instrument zur Professionalisierung der Pflege. PflegeRecht 2/2001, S.58 - S.67 SPD Landtagsfraktion Schl.-Holst. (2011) Änderungsantrag der Fraktion der SPD «Bessere Anerkennung und Rahmenbedingungen in der Pflege», DS 17/2007/DS 17/ 1963 (neu) Plantholz, M. (1994) Pflegekammer – Gutachten über die rechtlichen Probleme und Möglichkeiten der Einrichtung einer Pflegekammer auf Landesebene. Im Auftrage der Bündnis 90/Grüne (AL) / UFV – Fraktion im Abgeordnetenhaus von Berlin, Hamburg. Frank Vilsmeier ist als Pflegedienstleiter im Psychiatrischen Zentrum in Rickling tätig. Er ist Vorsitzender der BFLK (Bundesfachvereinigung Leitender Krankenpflegepersonen der Psychiatrie) Landesverbände Hamburg und Schleswig-Holstein und Mitglied im Bundesvorstand der BFLK; Mitglied im Deutschen Pflegerat und Vorsitzender des Landespflegerates Schleswig-Holstein; seit 09.12.2015 Mitglied im Errichtungsausschuss für die Pflegekammer Schleswig-Holstein. E-Mail: vilsmeier@pflegerat-sh.de
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Pharmaindustrie und faire Werbung Michael Schulz
Michael Schulz interviewt Hedwig Diekwisch von der Buko Pharmakampagne, einer pharmakritischen Organisation mit Sitz in Bielefeld.
«Hierzulande finanziert die Pharmaindustrie zum weitaus größten Teil die Forschung im Bereich Arzneimittel. Inwiefern ist das hilfreich, inwiefern problematisch?» Zunächst einmal muss man sagen, dass ein großer Teil der Grundlagenforschung zu Arzneimitteln in öffentlichen Einrichtungen (z. B. Universitäten) stattfindet. Erst in einem späteren Stadium der Entwicklung kommt die Pharmaindustrie ins Spiel. Sie bringen dann das Produkt zur Marktreife. Sie forscht vor allem in Bereichen, bei denen große Gewinne zu erwarten sind. Im Fokus stehen chronische Krankheiten wie Krebs, Herz-Kreislauferkrankungen oder Diabetes, die für Märkte in den USA, Europa und Japan, aber auch in sogenannten Pharmerging Countries wie Indien oder China bedeutsam sind. Dagegen werden andere Bereiche, die nicht so gewinnträchtig erscheinen, nur äußerst wenig beforscht. Ich denke z. B. an die Forschungslücke, die es im Bereich Antibiotika gibt. Ein neues Antibiotikum muss äußerst sparsam eingesetzt werden, dies widerspricht aber den Gewinnerwartungen der Pharmaindustrie. So haben wir weltweit dramatisch steigende Tuberkulosezahlen mit resistenten Erregern, aber kaum neue Antibiotika in Sicht. Meiner Ansicht nach bedarf es hier einer Umsteuerung, sowohl was die Forschungsausrichtung als auch die Anreizsysteme für Forschung angeht, damit Therapien entwickelt werden, die für die Weltbevölkerung wirklich notwendig sind. «Welche Möglichkeiten haben Pharmakonzerne hierzulande, auf das Verschreibeverhalten von Ärzten Einfluss zu nehmen – und welche davon sind kritisch zu sehen?» Generell ist die Einflussnahme auf ÄrztInnen kritisch zu sehen. Eine Therapieentscheidung sollte auf medizinischer Evidenz basieren. Das bedeutet, PatientInnen auf Basis der besten zur Verfügung stehen Daten zu versorgen. Deshalb sollten MedizinerInnen auf unabhängige Quellen der Arzneimittelinformation zurückgreifen. Ich nenne hier als Beispiel die Cochrane-Collaboration, die systematische Übersichtsarbeiten zur Bewertung von medizinischen Therapien erstellt. Für Deutschland kann man auch © 2016 Hogrefe
unabhängige Arzneimittelzeitschriften wie «Arzneimittelbrief» oder «arznei-telegramm» als Quelle heranziehen. Die Pharmakonzerne haben aber eine Vielzahl von Einflusswegen gefunden, die sich auf das Verschreibeverhalten von ÄrztInnen auswirken, von denen ich aber nur einige exemplarisch nennen kann. Das sind zum einen Besuche von PharmareferentInnen in Haus- und Facharztpraxen oder Krankenhäusern. Hier werden ÄrztInnen auf neue (gerne auch als innovativ bezeichnete) Produkte aufmerksam gemacht. Man kann davon ausgehen, dass in solchen Gesprächen vor allem die Vorzüge der neuen Therapie, keine Nachteile und vor allem keine fairen Vergleichsstudien präsentiert werden. Ähnliches gilt für von Pharmakonzernen gesponserte Fortbildungen. Hier werden zwar bei Vorträgen keine Produktnamen genannt, aber das Schlechtreden von Konkurrenzpräparaten oder Psychiatrische Pflege (2016), 1(1), 33–35 DOI 10.1024/2297-6965/a000009
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das Übertreiben des therapeutischen Potenzials eines neuen Mittels wird seine Wirkung nicht verfehlen. Problematisch sind auch die sogenannten Anwendungsbeobachtungen. Pharmakonzerne bezahlen ÄrztInnen für das Umstellen von PatientInnen auf neue Arzneimittel. Dazu muss ein Beobachtungsbogen ausgefüllt werden. Pro Patient/Bogen erhält der Arzt eine feste Summe. Da ist der finanzielle Anreiz natürlich groß, mehr PatientInnen auf neue Mittel einzustellen. Hier handelt es sich um ein reines Marketinginstrument, das der Einführung des neuen Präparates dient, der wissenschaftliche Wert der Beobachtungen tendiert dagegen gegen Null. Neu oder innovativ heißt aber nicht automatisch besser für PatientInnen. Ein Arzneimittel ist dann eine echte Innovation, wenn es deutlich mehr nützt als etablierte Medikamente. Dies trifft aber nur auf etwa 1 % aller neuen Arzneiwirkstoffe zu. (Prescrire International, 2015) «Was verbirgt sich hinter Advertorials und was ist aus Ihrer Sicht problematisch daran?» Der Begriff «Advertorial» kommt aus der Werbesprache und setzt sich aus den Begriffen Advertisement (Werbung) und Editorial (redaktioneller Text) zusammen. Nach deutschem Pressekodex müssen Werbung und redaktionelle Texte deutlich voneinander getrennt sein. Werbung muss demnach mit dem Wort «Anzeige» gekennzeichnet sein. Diese Transparenz wird durch Advertorials untergraben. Die Marketing-Zeitschrift «PR Praxis» schreibt zu den Vorteilen von dieser versteckten Form der Werbung für den Anbieter: Der Leser erhält die «Botschaft […] innerhalb des redaktionellen Umfelds und ist wesentlich aufnahmebereiter als für eine reine Werbeanzeige.» (Steinbach, 2013) Welche Vorteile hat ein Advertorial gegenüber Werbung? PR Praxis Nr. 6, S. 6 Und auch wenn ein Text zwar mit dem Wort «Anzeige» gekennzeichnet ist (dabei ist dieses oft klein und kann leicht übersehen werden), aber ähnlich gestaltet ist wie der übrige redaktionelle Text, kann das in die Irre führen. Für den Werbetreibenden ist es wichtig, dass die LeserInnen dem Anzeigentext die Glaubwürdigkeit eines redaktionellen Beitrags zumessen und damit offen für die Werbebotschaften werden. So wird geschickt die Gestaltung eines Artikel imitiert, aber auf ein bestimmtes Produkt hingewiesen und der Markenname im Text eingeflochten. «Bezüglich Psychopharmaka sind unterschiedliche Einschätzungen von Nutzen und Schaden besonders ausgeprägt – auch innerhalb der Forschergemeinschaft und innerhalb der Ärzteschaft. Greift die Pharmaindustrie in diese Debatte ein; wie?» Die Pharmaindustrie greift dann in die Debatte ein, wenn es um ihre Märkte und somit um Gewinninteressen geht. Der Bereich psychischer Erkrankungen ist ein solches Feld. Vor einigen Jahren hat es eine Untersuchung zur Darstellung von Therapieoptionen im Bereich Schizophrenie gegeben. Mit einer einfachen Google bzw. Yahoo-Suche wurden Webseiten zum Thema gesucht und als pharmagesponserte und unabhängige Webseiten klassifiziert. Psychiatrische Pflege (2016), 1(1), 33–35
In der Gegenüberstellung der Kernaussagen zeigte sich dann, dass Pharma-gesponserte Informationen über die Schizophrenie den besonderen Schweregrad der Krankheit, ihren degenerativen Verlauf betonten und Begriffe wie «schwerwiegend», «ernsthaft», «bedrohlich» usw. sehr viel häufiger vorkamen. Bei 70 % der pharma-gesponserten Texte war dies der Fall, bei den unabhängigen Seiten nur bei 26 %. Eine biologisch-genetische Ursache wurde auf Webseiten, die mit Pharmaunternehmen in Verbindung standen, deutlich häufiger genannt und psycho-soziale Faktoren der Krankheitsentstehung seltener. Zudem verwiesen pharmagesponserte Webseiten sehr viel häufiger auf den Erfolg medikamentöser Therapien und eher selten auf psychotherapeutische Möglichkeiten. Für VerbraucherInnen ist das Internet zur Informationsquelle Nummer eins geworden. Ein entsprechendes Bewusstsein, auf den Absender der Information zu achten, ist aber häufig nicht ausgeprägt, sodass der Informationsgehalt häufig nicht kritisch nachgeprüft wird. Es findet also schon vor einem Behandlungsgespräch bei PatientInnen und/oder deren Angehörigen eine Beeinflussung statt. Der im Jahr 2013 in den USA erschienene Diagnosekatalog Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM 5) ist mit massivem Einfluss der Pharmaindustrie entstanden. Besonders kritisch ist es etwa zu sehen, dass Zustände wie Trauer nach dem Tod eines geliebten Menschen, die mehr als zwei Monate andauert, zur behandlungsbedürftigen Krankheit erklärt wurde. Dies ist nur ein Beispiel, wie die Industrie bestimmte Krankheitsbilder neu entwickelt bzw. formt. Besonders erfolgreich ist dies im Englischen «Disease Mongering» genannte Phänomen bei Zuständen, die im natürlichen Ablauf eines Menschenlebens vorkommen können, aber zu Krankheiten umdefiniert werden, wie Testosteronmangel, Glatze oder Schüchternheit. Immer wieder lassen sich namhafte ForscherInnen von der Industrie kaufen und machen dies nicht öffentlich. So war der renommierte Wissenschaftler Charles Nemeroff 2008 Hauptverantwortlicher für eine Studie zu Antide© 2016 Hogrefe
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pressiva der National Institutes of Health (NHI). In dieser Zeit nahm er vom Konzern GlaxoSmithKline mehr als 1,2 Millionen US$ an, entgegen des Kontraktes mit den NIH, der ihm nur die Annahme von Pharmageldern in Höhe von maximal 10 000 US$ pro Jahr erlaubte. Als das aufflog, musste er die Leitung der Psychiatrieabteilung an der Emory Universität/Atlanta abgeben. Nur ein Jahr später wurde er aber als Leiter der Psychiatrie an der Universität von Miami berufen (Gornall, 2013). Es drängt sich förmlich auf, dass hier eine Beeinflussung der wissenschaftlichen Debatte stattfindet, ohne dass dies bemerkt wird. Wenn solche Einflüsse nicht öffentlich gemacht werden, dann entsteht ein sogenannter Bias und der hat langfristige Auswirkungen auf Bewertung von Therapien und der Ausgestaltung von Behandlungsleitlinien.
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und möchten auf diese Weise das Menschenrecht auf Gesundheit Wirklichkeit werden lassen. Dafür arbeiten wir weltweit vernetzt und mischen uns in gesundheitspolitische Debatten – in Brüssel oder Berlin, in Bangkok oder Brasilia – ein. Zudem bieten wir unabhängige Arzneimittelinformationen und stärken den VerbraucherInnenschutz mit unseren unabhängigen Zeitschriften «Pharma-Brief» und «Gute Pillen – Schlechte Pillen» (einem Kooperationsprojekt mit drei anderen unabhängige Arzneizeitschriften). Sie bieten kompakte Informationen rund um internationale Arzneimittel und Gesundheitspolitik und Arzneimittel.
Literatur «Was ist die BUKO Pharma-Kampagne?» Die BUKO Pharma-Kampagne ist eine deutsche Nichtregierungsorganisation mit Sitz in Bielefeld. Seit mehr als 30 Jahren liegt unser Arbeitsschwerpunkt auf Gesundheit und Arzneimittel in Süd und Nord. Wir setzen uns für eine global gerechte Arzneimittelversorgung und eine bedarfsgerechte Arzneimittel- und Gesundheitsforschung ein. Mit unseren Kampagnen und Aktionen fördern wir den Zugang zu lebenswichtigen Arzneimitteln und zur Gesundheitsversorgung. Dafür analysieren und hinterfragen wir kritisch die weltweite Patentpolitik, Freihandelsabkommen wie TTIP oder neue EU-Gesetzesvorschläge. Wir werben für alternative Modelle zur Forschungsförderung
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Prescrire International (2015) New Drugs and Indications in 2014. 24, p 107 Steinbach, M. (2013) Welche Vorteile hat ein Advertorial gegenüber Werbung? PR Praxis Nr. 6, S. 6 Gornall, J. (2013) DSM 5 – a fatal diagnosis. BMJ 346:f3256
Prof. Dr. Michael Schulz ist geschäftsführender Herausgeber der Psychiatrischen Pflege und leitet den Lehrstuhl für Psychiatrische Pflege and der Fachhochschule der Diakonie in Bielefeld.
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Das Standardwerk der Gartentherapie
Renata Schneiter-Ulmann (Hrsg.)
Lehrbuch Gartentherapie Inkl. 6 Faltpläne und CD-ROM Unter Mitarbeit von Trudi Beck / Martina Föhn / Jürgen Georg / Regina Hoffmann / Karin Höchli / Susanne Karn / Gabriele Vef Georg / Martin Verra / Renata Schneiter-Ulmann. 2010. 343 S., 160 Abb., 51 Tab., Gb € 69.95 / CHF 118.00 ISBN 978-3-456-84784-9 AUCH ALS E-BOOK
Das von Prof. Renata SchneiterUlmann herausgegebene «Lehrbuch Gartentherapie» ist ein geeignetes Lehrmittel, welches die Grundlagen, Praxis und Forschung zu diesem Gebiet erstmals verständlich und anschaulich zusammenfasst. Es richtet sich an Garten-, Ergo-, Aktivierungsund Physiotherapeuten, Pflegende und Ärzte, spricht aber auch andere am Thema interessierte Kreise an, wie Biologen, Gärtner, Landschaftsarchitekten und Entscheidungsträger von Rehabilitationskliniken und Alterszentren.
www.hogrefe.com
«Das Lehrbuch ist ein inspirierendes Grundlagenwerk für Einsteiger und Fortgeschrittene.» Ergopraxis
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Verantwortung in der Psychiatrischen Pflege Dorothea Sauter, Jacqueline Rixe
Verantwortung ist ein Schlüsselkonzept in der Pflege, die Übernahme von Verantwortung im Pflegealltag wird jedoch sehr unterschiedlich gelebt und gestaltet. In Deutschland hat Tewes (2002) ihre Dissertation der Erforschung von Pflegeverantwortung gewidmet, für die psychiatrische Pflege hat Meyer (2001) die Praxis der Verantwortung untersucht. Beide liefern eher ernüchternde Befunde. Dieser Beitrag beschreibt Faktoren, die Art und Ausmaß der Verantwortungsübernahme beeinflussen, und zeigt Handlungsmöglichkeiten auf.
Begriff und Konzept Verantwortung Der Verantwortungsbegriff stammt ursprünglich aus der Gerichtssprache und bedeutet die Rechenschaftslegung für das eigene Handeln einer Institution (dem Richter) gegenüber. Die Ethik behandelt unter dem Begriff Verantwortung moralische Prinzipien, der Mensch ist an Werte und Normen gebunden. Die Pädagogik betont den Aspekt der Entwicklung von Verantwortung hin zur Mündigkeit, die Psychologie die Entwicklung von Ich und Moral, die Sozialwissenschaft die Interaktion. Die Philosophie verknüpft Verantwortung mit Freiheit und diskutiert, dass menschliche Freiheit in verantwortlichem Sinn ausgeübt werden soll (Natour, 2005; Tewes, 2002). Der Mensch ist Träger der Verantwortung. Diejenigen Lebensbereiche, in denen er Entscheidungsfreiheit hat, prägen seinen Verantwortungsbereich. Er muss sich einer übergeordneten Instanz oder einem Wertesystem gegenüber rechtfertigen (vgl. Tewes, 2002). Verantwortung entsteht als Ergebnis einer Selbstverpflichtung oder einer sozialen Zuschreibung. Sie ist mehr als reine Pflichterfüllung und die Übertragung von Verantwortung setzt Vertrauen voraus (Kaufmann, 1992). Verantwortung antizipiert die Folgen von Handlungen, um möglichen Schaden, Risiken oder Gefährdungen zu vermeiden oder zu mindern und Nutzen zu fördern. Je stärker risikobehaftet eine Situation ist, umso lauter der Ruf nach Verantwortung (ebd.). Durch Ausdehnung der Verantwortungsbereiche sollen die Risiken unter Kontrolle gebracht werden; die Zuschreibung © 2016 Hogrefe
von Verantwortung an Dritte dient der eigenen Entlastung. Dabei werden nicht selten die Grenzen menschlicher Verantwortungsfähigkeit missachtet (ebd.).
Rechtliche, Institutionelle und ethische Vorgaben Im Rechtswesen liegt der Schwerpunkt von Verantwortung auf dem Schuld- und Strafaspekt, v. a. Haftungsrecht fragt sehr explizit nach der Verantwortung bezüglich der Verursachung eines Schadens. Das Berufsrecht konkretisiert den formalen Verantwortungsbereich. So gibt das Krankenpflegegesetz von 2004 in §3 Abs. 2 die Bereiche eigenverantwortlichen Handelns in der Pflege vor: die Verantwortung für den Pflegeprozess und die Pflegeevaluation, sowie für die Beratung, Anleitung und Unterstützung der zu pflegenden Menschen und ihrer Bezugspersonen (u. a.). Weiterhin soll Pflege «im Rahmen der Mitwirkung» ärztlich veranlasste Maßnahmen eigenständig durchführen. Im Geltungsbereich des Sozialgesetzbuchs V (SGB V) stehen pflegerische Handlungen unter ärztlicher Gesamtverantwortung, das heißt, dass sie «vom Arzt angeordnet und überwacht werden» (Igl, 1998, zit. in Tewes, 2002: 48). Diese beiden Rechtsregelungen schaffen nicht nur Abgrenzungsprobleme pflegerischer Verantwortung, sie frustrieren auch Pflegende, Psychiatrische Pflege (2016), 1(1), 37–40 DOI 10.1024/2297-6965/a000010
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wenn diese andere Vorstellungen von der fachlich richtigen Vorgehensweisen haben. In der noch nicht abgeschlossenen Debatte zum Thema «Übertragung ärztlicher Tätigkeiten auf Pflegende» bringen die ärztlichen Standesorganisationen auch klar zum Ausdruck, dass sie der Pflege keine weiteren Verantwortungsräume zugestehen wollen (vgl. DFPP, 2012). Dabei liefert ein systematisches Review von Laurant et al. (2005) Hinweise darauf, dass gut ausgebildete Pflegende eine vergleichbar hohe Versorgungsqualität und ebenso gute Gesundheitsoutcomes erreichen können wie Ärzte. Neben der individuellen Verantwortung gibt es die kollektive Verantwortung, die mehr oder weniger formalisierten Gruppen oder Institutionen zugeschrieben wird. Innerhalb dieser Gruppen oder Organisationen müssen die Verantwortungsstrukturen gut geklärt werden, denn wenn Einzelpersonen sich nicht als beteiligt an den Handlungsfolgen erleben, werden sie Verantwortung von sich weisen. Unklare Verantwortungsstrukturen, ungelöste Interessenkonflikte oder autoritäre Strukturen behindern die Klärung der individuellen Verantwortung (Borsi/Schröck, 1995). Die Diffusion von Verantwortung ist ein häufiges Phänomen kollektiver Verantwortung (Tewes, 2002). Verantwortung ist an ethische Normen gebunden; Pflegehandeln und Pflegeentscheidungen müssen auf dem Hintergrund ethischer Theorien und Prinzipien reflektiert werden. Die moralischen Regeln in der Pflege finden sich in Ethik-Kodizes (Lay, 2012). Für die Pflege sind national und international viele solcher Kodizes formuliert, von denen der bekannteste der ICN-Code (http://icn.ch/ethics. htm; vgl. Fry, 1995) sein dürfte. Allerdings sind solche Kodizes Pflegepraktikern oft nicht genügend bekannt und/ oder zu abstrakt, um für konkrete Handlungssituationen Hilfe zu bieten (Lay, 2012).
Berufliche Verantwortung und Profession Professionelles Handeln beinhaltet, Entscheidungen zu treffen und diese zu begründen (Isfort, 2005; vgl. Peplau, 1999). Nach dem handlungsorientierten Professionsmodell von Oevermann (1978, zit. in Weidner, 1995: 49) ist professionelles Handeln eine Kombination aus der Anwendung von Regeln (die auf wissenschaftlichem Wissen basieren) und dem besonderen Verstehen des jeweiligen Falls («hermeneutisches Fallverstehen»). Professionelles Handeln lässt sich nur teilweise standardisieren. Demnach liegt der Schwerpunkt des beruflichen Verantwortungsbereichs professioneller Pflege darin, Entscheidungen (und Handlungen) mit dem Patienten über die Abwägung von Regelwissen und Fallverstehen zu begründen und zu vertreten. Die konkrete pflegerische Verantwortung bezieht sich dann auf den Nachweis der rechtmäßigen Pflege – «es wird also im besten Sinne des Patienten gehandelt» (Tewes, 2002: 37). Pflegerische Verantwortung ist kontextgebunden und beinhaltet individuelle und kollektive Aspekte (ebd.). Psychiatrische Pflege (2016), 1(1), 37–40
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Pflege ist ein komplexes Geschehen und der Gegenstand der Pflege kann nur schwer definiert und eingegrenzt werden (Fung et al., 2014; Robert Bosch Stiftung, 1996). Außerdem sind viele Aspekte kompetenter Pflege unsichtbar. Damit ist die exakte Eingrenzung des Verantwortungsbereichs kaum möglich (Tewes, 2002). Pflegetheoretische oder konzeptionelle Vorstellungen von Pflege sowie Vorgaben und Traditionen einer Organisation entscheiden mit, was Pflegende als ihren Handlungsbereich im Rahmen des Pflegeprozesses ansehen. Gefordert wird, dass bereits in der Ausbildung die Auseinandersetzung mit Verantwortung und Rollenfindung erfolgen sollte (Mendes et al., 2015; auch Robert Bosch Stiftung, 2000, S. 43 ff.). Pflegerische Verantwortung bezieht sich nicht nur auf das Handeln mit dem Patienten. Pflegende haben auch Verantwortung für die eigene persönliche und berufliche Entwicklung sowie die Aneignung von Kompetenzen und Fachwissen, für die Mitwirkung bei Forschung und die Weiterentwicklung der Pflegepraxis, für Unterstützung von Kollegen und Mitwirkung an der Weiterentwicklung der Organisation, für das Abwenden von Schaden und Gefährdungen (u. a. wenn Kollegen verschiedener Berufsgruppen falsch handeln) und in der Psychiatrie für die Weiterentwicklung der psychiatrischen Versorgung (z. B. Turku-Deklaration: Horatio, 2011; Kodex für professionelles Verhalten: Nationale Konferenz, 2012).
Pflegebeziehung und Pflegeverständnis Hildegard Peplau hat als erste psychiatrische Pflegetheoretikerin den Verantwortungsbereich psychiatrischer Pflege konkret beschrieben (Peplau 1999). Für sie ist die Übernahme von Verantwortung nicht nur an formale Rahmenbedingungen, sondern vordergründig an eine bestimmte Haltung gekoppelt. Auch eine qualitative Studie aus Neuseeland, in der untersucht wurde, wie psychiatrisch Pflegende ihre klinische Verantwortung und deren Einfluss auf ihre Praxis erleben, liefert interessante Ergebnisse (Manuel 2012). In dieser Studie wurden drei Hauptkomponenten der klinischen Verantwortung identifiziert und anschließend publiziert (Manuel/Crowe, 2014). Demnach beinhaltet die klinische Verantwortung in der psychiatrischen Pflege die Komponenten Rechenschaftspflicht als Resultat eigenverantwortlicher Entscheidungen, das Fördern der Patientenverantwortung und das Abwälzen von Verantwortung als defensive Strategie, die durch die Kultur in der Organisation deutlich beeinflusst wird. Als Hauptergebnis der Studie wird klinische Verantwortung als Abwägungsprozess zwischen den Patientenbedürfnissen, den Bedürfnissen der Gesundheitseinrichtung (und deren Risiko-Management) und dem Bedürfnis, sich selbst zu schützen, dargestellt. Dieser wird von den befragten Pflegekräften als Herausforderung erlebt. Auch hierdurch wird wie durch Peplau formuliert deutlich, dass die Übernahme von Verantwortung nicht nur an formale Bedingungen, sondern auch an die Haltung gekoppelt ist. © 2016 Hogrefe
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Im Klinikalltag ist ein patientenorientiertes Pflegeorganisationsmodell Voraussetzung, um die Verantwortung für die Patienten klar konkreten Pflegepersonen zuzusprechen. Umgekehrt ist Verantwortung der Grundstein von Primary Nursing (PN; Manthey, 2011). Tewes (2002) bestätigte in ihrer Studie den Zusammenhang von Bezugspflegesystemen und Verantwortungsübernahme. Nachgewiesen ist sowohl der positive Zusammenhang zwischen Patienten- und Mitarbeiterzufriedenheit und PN (Sellick et al. 2003) als auch der Anstieg von Autonomie und Patientenorientiertheit durch PN (Melchior et al., 1999). Eine deutsche Studie zeigt, dass psychiatrische Patienten die Übernahme von Verantwortung durch die PN begrüßen (Nienaber et al., 2013).
Voraussetzungen gelebter Verantwortung im Pflegealltag Laut Tewes (2002) gibt es vier Voraussetzungen für Verantwortung, die im Hinblick auf den Pflegealltag betrachtet werden.
Autonomie Autonomie heißt, selbstbestimmt Entscheiden und Handeln können, sie basiert auf Sicherheit und Selbstvertrauen sowie dem «Interesse am Ziel» (Sauter, 2011). Eine Studie aus England belegt, dass psychiatrisch Pflegende hinsichtlich ihrer rechtlichen Verantwortlichkeit unsicher sind und mehr Hintergrundwissen benötigen (Mitchell, 2001). Autonomie braucht weiter organisatorisch angemessene Rahmenbedingungen. Recht zornig stellt Schnepp (2006) fest, dass Pflege aufgrund der schlechten Bildungs- und Arbeitsbedingungen gar nicht professionell handeln kann, selbst wenn sie es will.
Autorität und Befugnisse Entscheidungsträger brauchen anerkannte Befugnisse und Kompetenzen, ihre Entscheidungen und ihre Konsequenzen müssen akzeptiert werden. Die problematischen
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gesetzlichen Vorgaben, die Führungsstrukturen und die Teamprozesse innerhalb der Organisationen engen den Rahmen ein, in dem Pflegende verantwortlich handeln dürfen (Tewes, 2002).
Berufliche Kenntnisse und Kompetenzen Sichere Entscheidungen in schwierigen und/oder schwer einschätzbaren Situationen zu treffen ist ein Kennzeichen von Expertise (Benner, 1994; Benner et al., 2000; Reuschenbach, 2008). Nach Benner et al. (2000) gehört zum klinischen Urteilsvermögen eine gute persönliche Ethik, eine praktische Umsichtigkeit, die innere Anteilnahme an der Situation und die Vertrautheit mit den Patienten u. a. durch Erfahrung und fachliche Kompetenz. Berufliche Kenntnisse sind also nur ein kleiner Teil der Kompetenz. Aktuelles Forschungswissen muss in das berufliche Handeln einfließen. Im ärztlichen Bereich sind die Behandlungsleitlinien ein etabliertes Instrument, um Evidenzwissen für die Praxis verfügbar zu machen. Für die deutschsprachige psychiatrische Pflege sind diese Entscheidungshilfen für die Praktiker nicht vorhanden (Ahrens/Sauter, 2013).
Interpersonelle Kompetenz Das Thema Verantwortung muss in der Arbeitsbeziehung zwischen Pflegenden und Nutzern sorgsam geklärt werden: in der Krise kann es notwendig sein, den Betroffenen von Verantwortung zu entlasten. Dann muss jedoch die Rückgabe der Verantwortung an die Nutzer schnell erfolgen, um Empowermentprozesse nicht zu beeinträchtigen (Richter et al., 2014; Knuf, 2006;). Pflegende, die sich für die Pflegeergebnisse persönlich verantwortlich fühlen, können Empowermentprozesse besser unterstützen (Knuf, 2006; Kuokkanen/Leino-Kilpi, 2000 und 2001).
Fazit und Forderungen Verantwortungsübernahme in der Pflege bedarf klarer Vorstellungen. Durch die Reflexion von Beziehungen, Erfahrungen und Einstellungen sowie durch die Erweiterung beruflicher Kompetenzen können Pflegende zu dieser Klärung beitragen. Organisationen und Verbände können inhaltlich (z. B. über Leitlinien, Kodizes, Arbeitshilfen, etc.) und formal (durch die Festlegung von Zuständigkeiten, Abläufen und Kommunikationswegen) Unterstützung geben. Weiter brauchen Pflegende einen hilfreichen Rahmen hinsichtlich (Personal-)Ressourcen, Kultur und Atmosphäre. Dies kann nicht allein durch die Leitungsebene in der Institution hergestellt werden, sondern braucht entsprechendes politisches Handeln (Scott et al., 2014). Für die Konkretisierung von Einzelaspekten ist weitere Forschung gefragt.
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Literatur Weiterführende Literatur kann bei den Autorinnen bezogen werden. Ahrens, R., Sauter, D. (2013) Das aktuell bestmögliche Pflegeangebot gewährleisten. Psych Pflege 19 (03), 145–148. Benner, P. (1994) Stufen zur Pflegekompetenz. From novice to expert. Bern, Göttingen, Toronto, Seattle: Huber. Benner, P., Tanner, C. A., Chesla, C. A., Dreyfus, H. L. (2000) Pflegeexperten. Pflegekompetenz, klinisches Wissen und alltägliche Ethik. Bern: Huber. Borsi, G. M., Schröck, R. (1995) Pflegemanagement im Wandel. Perspektiven und Kontroversen. Berlin, New York: Springer. Deutsche Gesellschaft Psychiatrische Pflege (DFPP e. V.) und Bundesinitiative Ambulante Psychiatrische Pflege (Bapp e. V.) (2012). Besitzstandswahrung oder patientenorientierte Zusammenarbeit? Gemeinsame Position zur Delegation von Aufgaben. http:// dfpp.de/index.php/download/download-dfpp.html; Zugriff am 08.12.2015 Fry, S. T. (1995) Ethik in der Pflegepraxis. Anleitung zur ethischen Entscheidungsfindung. Eschborn: Dt. Berufsverband für Pflegeberufe (DBfK). Fung, Y. L., Chan, Z., Chien, W. T. (2014) Role performance of psychiatric nurses in advanced practice: a systematic review of the literature. Journal of psychiatric and Mental Health Nursing, 21, 698–714. DOI: 10.1111.ipm.12128 HORATIO - European Association for Psychiatric Nurses (2011) Deklaration von Turku. http://www.horatio-web.eu/downloads/ The_Turku_Declaration_-_German.pdf. Zugriff am 08.03.2015. Igl, G. (1998) Öffentlich-rechtliche Grundlagen für das Berufsfeld Pflege im Hinblick auf vorbehaltende Ausgabenbereiche. Gutachten. Göttingen: Druckhaus Göttingen. International Council of Nurses (ICN) (2012). Code of Ethics for Nurses. http:icn.ch//ethics.htm. Zugriff am 08.03.2015. Isfort, M. (2005) Professionelles Handeln in der Pflege: dem Besonderen Beachtung schenken. Pflegezeitschrift, 1, 11–14. Knuf, A. (2006) Empowerment in der psychiatrischen Arbeit. Bonn: Psychiatrie-Verl. (Basiswissen, 9). Kuokkanen, L., Leino-Kilpi, H. (2000) Power and empowerment in nursing: three theoretical approaches. Journal of Advanced Nursing, 31(1), 235–241. PMID: 10632814 Kuokkanen, L., Leino-Kilpi, H. (2001) The qualities of an empowered nurse and the factors involved. Journal of Nursing Management.,9, 273–280. PMID: 11879470 Laurant, M., Reeves, L. M., Hermens, R., Braspenning, J., Grol, R., Sibbald, B. (2005) Substitution of doctors by nurses in primary care (Review). Cochrane Database of Systematic Reviews, Issue 2. DOI: 10.1002/14651858.CD001271.pub.2 Lay, R. (2012) Ethik in der Pflege. Ein Lehrbuch für die Aus-, Fortund Weiterbildung. 2., aktualisierte Aufl. Hannover: Schlütersche Verlagsgesellschaft Manthey, M. (2011) Primary Nursing. Ein personenbezogenes Pflegesystem. 3., überarbeitete und ergänzte Auflage. Herausgegeben von Maria Mischo-Kelling. Bern: Huber Manuel, J., Crowe, M. (2014) Clinical responsibility, accountability, and risk aversion in mental health nursing: A descriptive, qualitative study. International Journal of Mental Health Nursing, 23, 336–343. DOI: 10.1111/inm.12063 Manuel, J. (2012) Clinical responsibility: The mental Health Perspective. Masterthesis. University of Otago: Faculty of health sciences. Melchior, M. E. W., Halfens, R. J. G., Abu-Saad, H. H., Philipsen, H., Van den Berg, A. A., Gassmann, P. (1999) The effects of primary nursing on work-related factors. Journal of Advanced Nursing, 29(1), 88–96. Mendes, M. A., Da Cruz, D. A. L. M., Angelo, M. (2015) Clinical role of the nurse: concept analysis. Journal of Clinical Nursing, 24, 318–331. DOI: 10.1111/jocn.12545
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Meyer, B. (2001) Ethische Entscheidungsfindung in der psychiatrischen Pflege unter besonderer Berücksichtigung des Umgangs mit Psychosen. Diplomarbeit. Norderstedt: GRIN Verlag GmbH. Mitchell, G. J. (2001) A qualitative study exploring how qualified mental health nurses deal with incidents that conflict with their accountability. Journal of Psychiatric and Mental Health Nursing, 8, 241–248. Natour, U (2005) Pflegerische Verantwortung. Studienarbeit. Norderstedt: Grin-Verlag. Nienaber, A., Kaemmer, W., Noelle, S., Rohde, S., Schulz, M. (2013) «… find´ ich gut, dass die jetzt Kompetenzen haben». Eine Evaluation von Primary Nursing in einer psychiatrischen Klinik. Pflegezeitschrift, 66(3), 150–154. Oevermann, U. (1978) Probleme der Professionalisierung in der berufsmäßigen Anwendung sozialwissenschaftlicher Kompetenz: einige Überlegungen zu Folgeproblemen der Einrichtung berufsorientierter Studiengänge für Soziologen und Politologen. Frankfurt: unveröffentlichtes Manuskript. Peplau, H. (1999). The Psychiatric Nurse- Accountable? To Whom? For What? Perspectives of Psychiatric Care, 35(3), 20–25. Reuschenbach, B. (2008) Einfluss von Expertise auf Problemlösen und Planen im komplexen Handlungsfeld Pflege. Berlin: Logos-Verlag. Richter, D., Schwarze, T., Hahn, S. (2014) Was ist gute Psychiatrische Pflege? Psych Pflege 20(03), 125–31. Robert Bosch Stiftung (1996) Pflegewissenschaft. Grundlegung für Lehre, Forschung und Praxis: Denkschrift. Gerlingen: Bleicher (Materialien und Berichte / Robert Bosch Stiftung GmbH, 46: Förderungsgebiet Gesundheitspflege). Robert Bosch Stiftung (2000) Pflege neu denken. Zur Zukunft der Pflegeausbildung. Stuttgart: Schattauer. Sauter, D. (2011a) 38. Kapitel: Autonomie. In: Sauter, D., Abderhalden, C., Needham, I., Wolff, S. (Hrsg) (2011) Lehrbuch Psychiatrische Pflege (S. 652–668). 3., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage. Bern: Verlag Hans Huber, Hogrefe AG. Schnepp, W. (2006) Verantwortlichkeit und professionelle Pflege. Die Schwester Der Pfleger, 45, 639–641. Scott, P. A., Matthews, A., Kirwan, M. (2014) What is nursing in the 21st century and what does the 21st century health system require of nursing? Nursing Philosphy, 15, 23–34. DOI: 10.1111/ nup.12032 Sellick, K. J., Rusell, S., Beckmann, J. L. (2003) Primary nursing: an evaluation of its effects on patient perception of care and staff satisfaction. International Journal of Nursing Studies, 40, 545– 551. DOI. 10.1016.S0020–7489(03)00064–6 Tewes, R. (2002) Pflegerische Verantwortung. Reihe Pflegewissenschaft. Bern: Verlag Hans Huber. Weidner, F. (1995) Professionelle Pflegepraxis und Gesundheitsförderung. Eine empirische Untersuchung über Voraussetzungen und Perspektiven des beruflichen Handelns in der Krankenpflege. Frankfurt am Main: Mabuse-Verlag.
Dorothea Sauter, BA, RN, Krankenschwester, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Fachhochschule der Diakonie (FHdD), Bielefeld. E-Mail: Dorothea.Sauter@fhdd.de
Jacqueline Rixe, BA, Fachkrankenschwester für psych. Pflege, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der FHdD und Mitarbeiterin psychiatrische Pflegeforschung, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Ev. Krankenhaus in Bielefeld. E-Mail: Jacqueline.Rixe@evkb.de
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Kamingespräch
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«Raising Hope» Sabine Hahn im Kamingespräch mit Mareike Politz zum Thema Hoffnung auf Genesung Sabine Hahn
Mareike Politz (Altenpflegerin für Psychiatrie) arbeitet im Zentrum für Psychiatrie im Klinikum Schloss Winnenden auf einer Psychotherapiestation, Baden-Württemberg, Deutschland und ist seit 2007 in der Psychiatrie tätig. Sie sucht das Thema Hoffnung und Hoffnungsförderung in der psychiatrischen Pflege mehr in den Fokus zu rücken und hoffnungsfördernde Interventionen zu entwickeln. Im Kaminfeuer soll die vermeintliche Annahme verbrennen, stets zu wissen, was das Beste für einen Menschen ist und das Recht, das sich oft herausgenommen wird, über den Genesungsverlauf zu urteilen.
Liebe Frau Politz, Sie haben ihre Weiterbildung Psychiatrie an der Akademie im Park in Wiesloch absolviert. Da ist ein ganz spezielles Projekt entstanden. Wie kam es dazu? Im Rahmen der Projektarbeit stellte uns unsere Kursleitung Frau Ahrens mögliche Themen im Bereich der Gesundheitsprävention vor, die es fortan «mit Leben zu füllen» galt. «Raising Hope», ein Projekt der Sekundärprävention zum Thema Hoffnung auf Genesung bei psychischer Erkrankung war eines davon. Dieses Thema begeisterte mich und meine Projektkollegen sofort, da uns auffiel, dass Menschen mit psychischen Erkrankungen resignieren können. Es erschien uns deshalb von großer Bedeutung Strategien zu entwickeln, mit denen der Hoffnungslosigkeit begegnet werden kann, und die Hoffnung und Hoffnung auf Genesung in den Mittelpunkt unserer Interventionen zu stellen, um auf diese Weise die Wiedererlangung von psychischer Gesundheit zu fördern. Worum geht es bei «Raising Hope»? «Raising Hope» ist ein hoffnungs- und genesungsorientiertes Gruppenangebot, das Menschen mit psychischen Lebensproblemen Mut machen will und die Hoffnung und Hoffnung auf Genesung in den Mittelpunkt stellt. Das Angebot fokussiert auf Stärken, Fähigkeiten und Selbst© 2016 Hogrefe
hilfemöglichkeiten und soll die Teilnehmenden darin unterstützen Hoffnung aus den eigenen Ressourcen heraus zu entwickeln. Das tönt sehr verlockend, aber ist das wirklich so einfach umsetzbar, haben Sie da schon Erfahrungen? Ja, wir haben mit «Raising Hope» ein Gruppenangebot für früh- und ersterkrankte Menschen mit Psychosen aus dem schizophrenen Spektrum aufgebaut, das auf sehr große Resonanz traf, in der Praxis gut umsetzbar war und für uns alle eine neue und bereichernde Erfahrung war. Was fasziniert Sie an der Hoffnung und der Arbeit mit der Hoffnung? Hoffnung ist die treibende Kraft in unserem Leben und hat einen ganz wesentlichen Einfluss auf die Gesundheit und den Verlauf von psychischen Erkrankungen. Letztendlich entscheidet sie darüber, ob ein Weiterleben vorstellbar ist. Hoffnung kann sowohl den Pflegeprozess als auch die eigene Tätigkeit bedeutend bereichern und dieser einen tieferen Sinn verleihen. «Raising Hope» ist ein Gruppenangebot, das modular durchgeführt wird. Was beinhalten die Module? Das 1. Modul bietet Raum für die Persönliche Geschichte der Teilnehmenden und die Möglichkeit sich mit Psychiatrische Pflege (2016), 1(1), 41–43 DOI 10.1024/2297-6965/a000011
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ihrer individuellen Krisen- und Krankheitserfahrung auseinanderzusetzen, Erfahrungen zu reflektieren, besser zu verstehen, sie einordnen und als Erfahrung im Lebensschatz sinnhaft verarbeiten zu können. Das 2. Modul fokussiert auf Selbsthilfemöglichkeiten, persönliche Stärken, Fähigkeiten und Ressourcen der Teilnehmenden, welche Hilfreiches im Umgang mit Krisen voneinander lernen können. Auf Grundlage individueller Erfahrungen können hoffnungsfördernde Faktoren, Kraftund Sinnquellen identifiziert und entwickelt werden. Es kann hilfreich sein, ein Objekt der Hoffnung zu finden. Dieser «Koffer der Hoffnung» beinhaltet individuell Möglichkeiten, die Kraft, Zuversicht und «seelischen Halt» in Krisen schenken. Das 3. Modul, die Kreativwerkstatt bietet Raum für Stärkung, Wachstum und Wandlung sowie die Möglichkeit sich auf vielfältigste kreative Art und Weise mit dem Thema Hoffnung auseinanderzusetzen, wie z. B. mit Schreiben, Zeichnen, kreativem Werken, Erstellen von Collagen oder Fotografien. Die gesammelten Werke wurden im Rahmen einer Ausstellung «Hope – Wege zur Hoffnung» präsentiert und in Form eines «Mutmachbuches» zusammengefasst und mit der Möglichkeit der weiteren Ergänzung auf der Station ausgelegt. Sie haben das Angebot nun weiterentwickelt «Raising Hope bei Menschen mit einer Borderline-Erkrankung». Was ist an diesem Angebot speziell? Das Projekt ist speziell auf Menschen mit einer Borderline Erkrankung ausgelegt, die in der Pflege immer noch als schwer therapierbar gelten. Einige von ihnen kommen immer wieder in die Klinik und bei jedem Aufenthalt kann die Hoffnung auf Genesung geringer werden – sowohl bei den Betroffenen wie auch bei den professionell Tätigen. Da Hoffnung ein wechselwirksames Konzept ist, kann sich die Hoffnungslosigkeit Pflegender auf die Patientinnen und Patienten übertragen. Das Projekt beschäftigt sich mit Interventionen, die sowohl die Hoffnung auf Genesung der Betroffenen selbst verbessern sollen, als auch mit einer Micro-Schulung Pflegender von allgemeinpsychiatrischen Aufnahmestationen, welche Patientinnen und Patienten in das Projekt entsandten, die Interesse an der Teilnahme hatten. Das Projekt soll dazu beitragen Vorurteile zu reduzieren, auf die gesunden Anteile und Stärken dieser Menschen fokussieren und das Thema Hoffnung und Hoffnung auf Genesung in den Mittelpunkt stellen. Ich selbst habe für das Projekt lediglich das Gruppenkonzept geschrieben. Die Planung, Umsetzung und Auswertung erfolgte mit sehr viel Herzblut und Engagement von Frau Ahrens und einigen Fachweiterbildungsteilnehmerinnen des nachfolgenden Kurses. Im 1. Modul «Im Sturm des Lebens einen sicheren Hafen finden» geht es darum, wieder Halt und Sicherheit zu spüren, Kontrolle über das eigene Leben zurückzuerlangen und zu sehen, dass wir den Stürmen des Lebens nicht hilflos ausgeliefert sind, es Wege aus der Krise, Hoffnung auf Besserung bzw. Genesung und einen sicheren Hafen und Halt im Leben gibt, den es zu entdecken gilt. Das MoPsychiatrische Pflege (2016), 1(1), 41–43
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dul beinhaltet einen Erfahrungsaustausch über das Thema «Borderline», eine Einführung in Recovery und die Arbeit mit Selbsthilfebögen. Das 2. Modul «Land in Sicht» stellt das Thema Hoffnung und Zuversicht in den Mittelpunkt und die Teilnehmenden haben die Möglichkeit, einen individuellen «Baum der Hoffnung» für sich zu gestalten, der Kraft und Wachstum symbolisiert und Hoffnung auf Durststrecken spendet. Stützen, Stärken und Ressourcen werden visualisiert sowie Erfolgserlebnisse, Träume, Wünsche und Zukunftsvorstellungen. Diese (neu entdeckten) persönlichen Schätze können in einem Kästchen, einem «Koffer der Hoffnung» oder einem «Hoffnungsbuch» aufbewahrt werden, um nicht in Vergessenheit zu geraten. Das 3. Modul «Auf zu neuen Ufern» fokussiert mit dem Einsatz der Recovery-Pläne darauf, «wie es nach einer Krise weitergehen kann» und die Teilnehmenden erhalten eine Zusammenstellung an Unterstützungsmöglichkeiten und Tipps zur Selbsthilfe. Ermutigende Texte, «Hoffnungskarten» und Hausaufgaben in Form von selbstfürsorglichen Aspekten runden das Gruppenangebot ab. Werten Sie die Wirkung des Angebots aus? Wie sind die Ergebnisse? Die Rückmeldungen der Teilnehmer waren sehr positiv. Viele schienen sehr berührt über dieses Angebot und konnten nach langer Zeit ihre Stärken und Ressourcen wieder erkennen und benennen, was als sehr hilfreich beschrieben wurde. Auf diese Weise wurde es ihnen möglich, neue Perspektiven zu entdecken und Hoffnung auf Genesung zu entwickeln. Eine Borderline Betroffene kam sogar trotz Entlassung zum letzten Modul. Bei dem Folgeprojekt fand erstmalig eine Untersuchung zur Wirksamkeit hoffnungsfördernder Pflege-Interventionen statt. Beide Gruppen, die Betroffenen wie auch die Pflegenden, wurden vor und nach den Interventionen zu ihrer Einstellung gegenüber Hoffnung befragt. Durch die Evaluation mit der Hoffnungsskala (Snyder, 1999) wurde deutlich, dass die Wechselwirksamkeit von Hoffnungslosigkeit einen erheblichen Einflussfaktor für die Gestaltung der Pflege-Interventionen darstellt. Im Angebot geht es darum Sicherheit und innere Stärke zu finden. Ist dies ein Schlüssel zur Genesung? Diese Faktoren sind sicherlich sehr relevant und tragen einen großen Teil zur Genesung bei. Wieder Halt und Sicherheit zu spüren, Kontrolle über das eigene Leben zurückzuerlangen, Einfluss zu haben und zu sehen, dass wir den Stürmen des Lebens nicht hilflos ausgeliefert sind, kann helfen, die eigene innere Stärke zu spüren und wieder Zutrauen in sich selbst zu haben, was sich wiederum förderlich auf das Selbstbild auswirken und die Selbstannahme erleichtern kann. Welche Kompetenzen sind für Pflegende wichtig, die das Angebot «Raising Hope» umsetzen möchten? Pflegende sollten über das Wissen verfügen, dass Genesung möglich ist und sich im Klaren darüber sein, dass ihre © 2016 Hogrefe
Kamingespräch
Hoffnung etwas zählt. Um anderen Menschen Hoffnung geben zu können ist es von elementarer Bedeutung, selbst Hoffnung in sich zu tragen. Hoffnung ist ansteckend, ebenso aber auch Hoffnungslosigkeit. Botschaften von Hoffnungslosigkeit und Stigma können sich in einer Person zutiefst schädigend festsetzen und eine große Barriere für Hoffnung und Genesung darstellen. So wie ich den anderen in seiner Lebenskraft durch negative Botschaften schwächen kann, so kann ich ihn aber auch stärken durch das Gegenteil. Es kann enorm viel Kraft geben und Energie freisetzen, wenn da jemand ist, der an dich glaubt, dir etwas zutraut, der Hoffnung in sich trägt, diese auch ausstrahlt und dich zu ersten Schritten ermutigt, wie das sicher jeder von uns bestätigen kann. Hoffnung kann in nährender Umgebung gedeihen, dem sollten wir uns immer bewusst sein. Hilfreich für eine hoffnungsvolle und von Mitmenschlichkeit geprägte Grundhaltung ist es sicherlich auch, die Dimensionen des Carings, die Grundannahmen von Linehan und die 10 Verbindlichkeiten des Gezeitenmodells zu beherzigen und uns auf Gemeinsamkeiten zu konzentrieren, darauf, was uns Menschen miteinander verbindet Gibt es Patienten oder Patientengruppen, für die das Angebot «Raising Hope» nicht geeignet ist? Nein, das denke ich nicht, jeder kann von Hoffnung und Hoffnungsförderung profitieren. Hoffnung ist ein zentrales Thema für alle Menschen! Das Gruppenangebot kann natürlich verändert und individuell angepasst werden. Für weitere Angebote müssten wir die Männer stärker «in den Blick» nehmen, da diese zum Teil das Angebot als recht weiblich ausgelegt empfanden. Es scheint hier also im Umgang und der Pflege von Hoffnung einen genderspezifischen Unterschied zu geben.
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Das finde ich sehr spannend und wäre ja ev. auch ein Thema für die Forschung. Sind Sie bei der Umsetzung auf weitere Widerstände gestoßen? Kleinere Hürden mussten zwar überwunden werden, aber insgesamt ließen sich die Projekte gut umsetzen. Bei dem Folgeprojekt gab es jedoch leider Fachpersonen, die sich weigerten an der Mitarbeiterschulung teilzunehmen. Viele Menschen in unserer Gesellschaft leiden unter Burn-Out, Depressionen, Ermüdungserscheinungen etc. Kann «Raising Hope» auch diesen Personen etwas bieten? Hoffnung ist ein zentrales Thema für jeden Menschen! Es kann für uns alle hilfreich sein, sich mit diesem Thema auseinanderzusetzen. Ich kann mir z. B. selbst einen «Koffer der Hoffnung» zusammenstellen, ein «Mutmachbuch» kreieren oder eine «Hoffnungsecke» im Alltag gestalten. Auch kann ich mir überlegen, was für mich selbst ein «Sicherer Hafen» im Sturm des Lebens sein könnte, wie ich selbst wieder Kraft schöpfen und meinem Leben eine neue Perspektive geben kann, um letztendlich wieder «Land in Sicht» zu sehen und mich mit der wiedergewonnenen inneren Stärke «zu neuen Ufern» aufmachen zu können. Vielen Dank Frau Politz für diesen spannenden Ausblick auf die Hoffnung, die für alle Menschen in der gesamten Lebensspanne von Bedeutung ist. Prof. Dr. Sabine Hahn (PhD) ist Mitherausgeberin der Psychiatrischen Pflege, Diplomierte Pflegefachfrau Psychiatrie, Pflege- bzw. Gesundheitswissenschaftlerin; leitet am Fachbereich Gesundheit der Berner Fachhochschule die Disziplin Pflege und die angewandte Forschung & Entwicklung/Dienstleistung Pflege. E-Mail: sabine.hahn@bfh.ch
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Themen/Meldungen
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Meldungen Regine Groß
Zukunftspreis Herausforderungen begegnen Das «Projekt Lernnetz» der LWL-Klinik Paderborn bereitet psychiatrisch Pflegende durch Fortbildungs- und Qualifizierungsprogramme, die den jeweiligen Kompetenzen der Teams und Mitarbeiter entsprechen, auf zukünftige berufliche Herausforderungen vor. In Konflikt- und Stressmanagementtrainings, Rollenspielen und disziplinübergreifenden Fortbildungen werden die Pflegenden geschult, um eine zukunftsweisende Versorgung meistern zu können. Daher wurde das Projekt mit dem Zukunftspreis des Verbandes der Ersatzkassen e. V. ausgezeichnet. Quelle: Pressemitteilung Landschaftsverband Westfalen-Lippe vom 05.11.2015
Tagung Frauengesundheit Gewalt und Deeskalation Sucht und Gewalt Die Begegnung mit Gewalt sowie deeskalierende Maßnahmen stellen für Mitarbeiter in Sozial- und Gesundheitseinrichtungen stets eine Herausforderung und ein zentrales Fortbildungsthema dar. Unter dem Titel «high noon?» findet am 20. und 21. Oktober 2016 im Hotel Schloss Wilhelmsburg in Wien eine Tagung zu diesem Thema statt. Das Programm umfasst neben Vorträgen auch Workshops zu Erfahrungen, Umgang und Prävention von Aggression.
Studie Pflegende Angehörige Siebzig Prozent der zirka 2,6 Millionen Pflegebedürftigen in Deutschland werden laut aktuellem DAK-Pflegereport 2015 zu Hause betreut. Die Angehörigen sind überwiegend Frauen, wobei der Anteil der Männer leicht zugenommen hat. Viele fühlen sich mit der Pflege körperlich, psychisch oder zeitlich überfordert. Die Studie zeigt auf, dass zirka 20 Prozent der Angehörigen, die die Pflege durchführen, unter Depressionen leiden. Ängste, Schlafstörungen und weitere psychische Problematiken betreffen rund die Hälfte der pflegenden Angehörigen. Quelle: Agenturmeldung BKK-Dachverband vom 24.09.2015 Psychiatrische Pflege (2016), 1(1), 44–45 DOI 10.1024/2297-6965/a000012
In der aktuell erschienenen Broschürenreihe des Genderund Frauenforschungszentrums der Hessischen Hochschulen zum Thema «Frauen, Sucht und Gewalt: Chancen und Risiken bei der Suche nach Hilfen und Veränderungen» wird eine Studie der Frankfurt University zur Lebenssituation von Frauen mit Suchterkrankungen und Gewalterfahrungen in der Kindheit dargestellt. Neben einer generellen Analyse und einer Befragung der Frauen wird das Augenmerk auf die formellen und informellen Hilfen für die Klientel und die Beziehungsmuster der Frauen gelegt. Es zeigt sich unter anderem, dass die Frauen aufgrund von Stigmatisierungen im formellen Hilfesystem und daraus resultierenden Selbststigmatisierungen behindert werden, Hilfen zu nutzen. Quelle: University of Applied Science Frankfurt
Schwangerschaft Folgen von Stress Das Zentralinstitut für seelische Gesundheit in Mannheim untersucht seit 2010 in der Poseidon/DiaMOND-Studie die Auswirkungen von Stress in der Schwangerschaft auf die kindliche Entwicklung und die Erbinformationen. 410 Frauen und deren Kinder wurden im dritten Trimenon, © 2016 Hogrefe
Themen/Meldungen
nach der Geburt und im sechsten Lebensmonat des Kindes untersucht. Neben Interviews und Fragebögen wurden in der vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Studie der Cortisolspiegel gemessen und der körperliche und geistige Entwicklungsstand analysiert. Erste Ergebnisse zeigen je nach Ausmaß des frühkindlichen Stresslevels «Unterschiede in den epigenetischen Mustern» – der Genexpression – der Kinder. Quelle: Pressemitteilung des ZI vom 30.10.2015
Flüchtlinge
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ordnung Grundpflegeleistungen mit den Krankenkassen abrechnen können. Die Änderung soll auf sechs Jahre befristet und zur Kostenkontrolle an flankierende Maßnahmen gebunden sein. Die Abrechnung ist nur nach vorab geschlossenem Zulassungsvertrag zwischen Krankenkasse und Pflegefachperson möglich. Dies könnte jedoch die Aufhebung des Kontrahierungszwangs der freiberuflichen Pflegefachpersonen bedeuten. Der Schweizer Berufsverband der Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner (SBK) hinterfragt diese Entscheidung, die im Rahmen der parlamentarischen Initiative 11418 getroffen wurde. Die Belange den Kontrahierungszwang betreffend werden laut Verband zu Lasten der Pflegenden ausgetragen. Quelle: SBK Mitteilung vom 25.01.2016
Psychiatrische Versorgung Neue Herausforderungen für das Gesundheitssystem und insbesondere die psychiatrische Versorgung entstehen in der Begleitung von traumatisierten Flüchtlingen. Die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) teilt mit, dass die Menschen, die an Depressionen, Angststörungen und Posttraumatischen Belastungsstörungen leiden, beim Zugang zu psychiatrischen Hilfen kulturellen, sprachlichen und administrativen Barrieren gegenüberstehen. Die DGPPN fordert für die hilfesuchenden Menschen von der Politik einen Zugang zum Gesundheitssystem sowie Sprach- und Kulturmittler, um eine gelingende Versorgung zu gewährleisten. Quelle: Pressemitteilung der DGPPN vom 23.09.2015
Depression Spielerisch erklärt Über Gefühle zu sprechen fällt oft nicht leicht. Um Kindern und Jugendlichen, die an depressiven Verstimmungen leiden, zu helfen über ihre Gedanken- und Gefühlswelt zu sprechen, ist nun das Spiel «Die vier Yetis» im Manfred Vogt Spieleverlag erschienen. Kreative Psychotherapie ist das Ziel der Entwickler Melanie Gräßer, Eike Hoverman und Ralf Rehberg. Es eignet sich laut der Stiftung Deutsche Depressionshilfe für therapeutische Zwecke, aber auch für Selbsthilfegruppen junger Menschen mit Depressionen. Quelle: www.deutsche-depressionshilfe.de Newsletter vom Februar 2016
Gesetzesnovellierung Pflegekompetenz stärken Die nationalrätliche Kommission für Soziale Sicherheit und Gesundheit SGK-N hat mit der Intention, die Kompetenzen Pflegender zu stärken und den Pflegeberuf attraktiver zu machen, eine «Gesetzliche Anerkennung der Verantwortung der Pflege» beschlossen. Freiberuflich Pflegende, Pflegeheime und Spitex-Organisationen sollen entsprechend dem Gesetzesentwurf ohne ärztliche Ver-
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Regine Groß Stabsstelle Pflegeentwicklung bei LWL-Klinik Lengerich
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Themen/Meldungen
Termine/Medien 11.4.–13.4.2016 BFLK Jahrestagung in Göttingen. www.bflk.de 26.4.2016 Young People’s Mental Health in Europe in Brüssel. http://www.publicpolicyexchange.co.uk/events/GD26-PPE2?ss=em&tg=1a 9.6.–10.6.2016 3. Internationaler Recovery Kongress in Bern. www.recovery-psychiatrie.eu 1.5.–4.5.2016 21. Internationale Fachtagung für Psychotherapie und Psychosomatik in der Pflege im Kloster Irsee. www.bildungswerk-irsee.de 30.5.–1.6.2016 Pflegerischer Umgang mit Suizid und Suizidalität im Kloster Irsee. www.bildungswerk-irsee.de 9.6.–10.6.2016 Fachtagung Tagesklinik Winnenden. www.zfp-winnenden.de 15.6.2016 Pflegefachtagung «Selbstwirksamkeit» in Herten. www.lwl-klinik-herten.de 16.6.–18.6.2016 ISPS-GERMANY-Jubiläums-Tagung (Psychosen-Psychotherapie u. a.) in Marburg. www.zsp-salzwedel.de/isps-germany 14.9.–16.9.2016 5th European Conference of Mental Health in Prag. http://www.ecmh.eu/registration-and-fees/ 17.9.–19.9.2016 Jahreskongress der SGPP & SGKJPP mit iks, NPG und PMS in Basel. https://organizers-congress.org/frontend/index.php?sub=46 22.9.–23.9.2016 13. Dreiländerkongress Psychiatrische Pflege: «Fremdsein überwinden» In der Fachhochschule der Diakonie und Evangelisches Krankenhaus Bielefeld. www.evkb.de/dreilaenderkongress 28.9.2016 Pflegeforschung 10.0 – «Ein Jahrzehnt Pflegeforschung, die wirkt» – 10 Jahre Fachbereich Gesundheit an der Berner Fachhochschule Gesundheit in Bern. https://www.gesundheit.bfh.ch/de/ueber_uns/jubilaeumsjahr_2016.html 23.11.–26.11.2016 DGPPN Kongress 2016 in Berlin. http://www.dgppn.de/kongress.html
Psychiatrische Pflege (2016), 1(1), 46 DOI 10.1024/2297-6965/a000013
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Kunst und Psyche
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Kunst und Psyche Michael Schulz Kunstarbeit schafft es, den ganzen Menschen zum Ausdruck zu bringen, ihn zu stärken, ihn Selbstbewusst zu machen, ihm zu helfen, seinen Platz zu finden. Gerade auch in Krisen stellt die Möglichkeit des künstlerischen Ausdrucks für viele Menschen ein wichtiges Medium dar. Während man über weite Strecken des letzten Jahrhunderts noch unsicher war, ob die Werke psychisch kranker Menschen überhauptzur Kunst im eigentlichen Sinne gerechnet werden sollten, hat die zeitgenössische Arbeit in Künstlerhäusern eine Trennung zwischen psychisch kranken und gesunden Menschen längst über Bord geworfen. Kunst stellt eine mögliche Form menschlichen Ausdrucks dar und psychische Krankheit stellt in diesem Rahmen eine beeinflussende Größe unter vielen anderen dar. Das war noch etwas anders, als es in Großkrankenhäusern Patienten gab, die kunstschaffende waren, ohne darüber mit der Außenwelt in Kontakt zu treten. Der Arzt und Kunsthistoriker Hans Prinzhorn hat in Heidelberg ca. 6000 Kunstwerke psychiatrischer Patienten gesammelt und mit dem Werk «Bildnerei der Geisteskranken» einen bedeutenden Überblick über die Sammlung gegeben. Von ihm stammt der Satz:
«‹Der Maßstab krank – gesund› hat für die künstlerische Wertung eines Werkes weder ein Recht noch einen Sinn, so wenig wie der andere – künstlerisch gut – schlecht – für die psychiatrische Meinung eines Seelenzustandes eines Menschen. Das Werk entsteht nicht aus Gesundheit sondern aus Gestaltungskraft.»
Auf der Titelseite der Zeitschrift «Psychiatrische Pflege» erscheinen Abbildungen von Kunstwerken. Da sich die Kunst nicht aufteilen lässt in Kunst von psychisch kranken Menschen und psychisch gesunden Menschen, stehen diese Dimensionen bei der Auswahl auch hier nicht im Vordergrund. Die Auswahl der Exponate erfolgt in Kooperation mit Jürgen Heinrich vom Künstlerhaus Lydda in Bielefeld. In der jeweiligen Ausgabe finden sich einige weitere Informationen zum Künstler oder/und vom Künstler. Der Künstler Uldis Graubins hat das Bild «Variationen über ein Gesicht» geschaffen. Er schreibt zu seiner Kunst:
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Es geht nicht um Wirkung, sondern um Wirksamkeit
«Es geht in meiner Kunst nicht um Zerstörung, es geht auch nicht um ‹innerer› Zerrissenheit; es geht nicht um eine Definition; allenfalls geht es um oder gegen den Aspekt der bequemen Sichtweise, und automatisierten Kategorisierung des Gesehenen Darum geht es letztendlich auch um Störung; Störung einer Vorstellung von ‹was› und ‹wie›, und folglich eine ‹Entstellung› entgegen setzen; gegen die Erwartung. Vor allen Dingen geht es nicht um einen Effekt mittels einer bestimmten Technik Es geht nicht um Wirkung, sondern um Wirksamkeit. Die Technik soll als effektives Mittel nur eines erzeugen helfen: Spürbarkeit. Um mehr geht es nicht, aber auch nicht um weniger.» Uldis Graubins Januar 2016
Uldis Graubins Geb.: 1953 in Detmold Lebt seit mehr als 20 Jahren in Bielefeld Malt seit 1983 Ist seit 2010 im Künstlerhaus Lydda aktiv Künstlerisch Autodidakt Viele Reisen ins europäische Ausland Arbeitet auch literarisch
Psychiatrische Pflege (2016), 1(1), 47 DOI 10.1024/2297-6965/a000014
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Gastfreundschaft als Pflegekonzept in der APP Eine kulturhistorische Betrachtung Günter Meyer
Die Charakterisierung der Pflegekraft als Gast wird in der ambulanten Pflege gern als ein Kernelement des Pflegekonzepts hervorgehoben. Besonders in der ambulanten psychiatrischen Pflege wird dieser Gaststatus als ein besonderes Merkmal verstanden, um sich damit komplementär zur stationären Arbeit abzugrenzen.
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enn die Pflegekraft als Gast verstanden wird, ist der Patient Hausherr in seiner eigenen Häuslichkeit und kann mit dem Instrument des Hausrechts die Bedingungen der Pflege selbst bestimmen. Im Zeitalter von Empowerment und Recovery wird der Gaststatus damit zum Werkzeug für die Autonomie des Patienten, was mit der Forderung nach Selbstbestimmung in der psychiatrischen Pflege zu korrespondieren scheint. Die Pflegekraft muss sich auf die Bedingungen des Patienten einlassen und sich der Hausordnung des Gastgebers fügen. Bei der Verwendung des Gastbegriffes als Pflegekonzept stellt sich die Frage, ob der Begriff aus seiner historischen Entwicklung heraus in der abendländischen Kultur überhaupt geeignet ist, den besonderen Status der Pflegekräfte terminologisch und konzeptionell zu erfassen. In einer Ausgabe der Zeitschrift «Nursing Philosophy» wird diese Umschreibung im Kontext von Jacques Derridas Philosophie der Gastfreundschaft problematisiert (Öresland et al., 2013: 117–126). Bereits in den Metamorphosen bei Ovid finden wir das Motiv der Gastfreundschaft in der Sage von Philemon und Baucis: einen Fremden gilt es zu beherbergen, ihm Schutz zu gewähren und ihm nicht feindlich zu begegnen. Das Gebot der Gastfreundschaft ist aus dieser Perspektive heraus in erster Linie eine Weisung für den Gastgeber, den Gast angemessen zu bewirten. In dem Ausdruck «Gastwirt» hat sich diese Gleichung bis heute manifestiert. Kant übersetzt denn auch in seiner Schrift «Zum ewigen Frieden» den lateinischen Begriff «Hospitalität» mit dem deutschen Wort «Wirthbarkeit» (Kant, 1795: 357). Im MittelPsychiatrische Pflege (2016), 1(1), 48–49 DOI 10.1024/2297-6965/a000015
alter entwickelt sich die Forderung nach Gastfreundschaft zu einem christlichen Gebot. Aus diesem Anspruch heraus entstanden in vielen Klöstern die Hospitäler, die als Vorläufer der gegenwärtigen Kliniken betrachtet werden dürfen – und der Begriff ist ja auch heute noch gebräuchlich (Berger, 1999: 36 ff.). Während nun aber in der Klinik der Patient als Gast «fungiert», dreht sich das Verhältnis in der ambulanten Pflege diametral um: der Patient ist Gastgeber, jedoch soll die Pflegekraft nicht etwa bewirtet werden, sondern eine Dienstleistung erbringen. Bei Thomas Mann finden wir in dem Roman «Joseph und seine Brüder» folgende Passage über Jaakobs Stellung bei seinem Onkel Laban: «Du bist auf mich angewiesen, und daraus habe ich die Folgerungen zu ziehen. Nicht Gast bist du in meinem Hause, sondern Knecht» (Mann, 1991: 239). Hier wird auf den Punkt gebracht, dass der Hausherr eine Dienstleistung erwartet, keinen Gast zum Kaffeekränzchen. Es wird jedoch pointiert deutlich, dass hier eine Gefahr besteht, die Pflegekraft als Dienstpersonal zu betrachten. Für die ambulante Pflege lässt sich folgende Forderung ableiten, um mit den Worten von Öresland etc. zu sprechen: «The patient may not expect a guest, but a nurse» (Öresland et al., 2013: 25). In diesem Sinne bedarf es einer sorgsamen Anwendung der Begrifflichkeiten. © 2016 Hogrefe
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Literatur Öresland, S., Lutzén, K., Norberg, A., Rasmussen, B. H., Määttä, S. (2013) Nurses as ‘guests’– a study of a concept in light of Jacques Derrida’s philosophy of hospitality. Nursing Philosophy 14, 117–126. Kant, I. (1795) AA VIII, Zum ewigen Frieden . Ein philosophischer Entwurf. Korpora.org, Bereitstellung und Pflege von Immanuel Kants Werken in elektronischer Form, URL: http://www.korpora.org/Kant/aa08/357.html (25.11.2015) S. 357. vgl. ebenfalls Derrida, J. (1996) Die Gesetze der Gastfreundschaft. Rede zur Eröffnung des Heinrich-von-Kleist-Instituts für Literatur und Politik an der Europa-Universität Viadrina. Siehe URL: https://www.kuwi.europa-uni.de/de/lehrstuhl/lw/ westeuropa/Haverkamp/publikationen/rara/Derrida_in_FFO. pdf (25.11.2015) S. 2.
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Berger, J. M. (1999) Die Geschichte der Gastfreundschaft im hochmittelalterlichen Mönchtum. Die Cistercienser. Berlin, S. 36 ff. Mann, T. (1991) Joseph und seine Brüder. Die Geschichten Jaakobs. Frankfurt/Main, S. 239.
Dr. phil. Günter Meyer ist Geschäftsführer der Pflegestation Meyer & Kratzsch GmbH & Co. KG
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Das Recovery-Handbuch «Das Leben wieder in den Griff bekommen» Gianfranco Zuaboni
Das frei verfügbare, downloadbare Manual kann von Betroffenen in der Planung der eigenen Recovery verwendet werden. Es verfügt über drei Elemente: Das Handbuch mit Erläuterungen und praktischen Hinweisen, ein Persönlicher Recovery-Plan und eine Vorlage für eine Vorausverfügung.
Hintergrund Die gelebte Erfahrung nutzbar machen kann als Motto dieses Manuals bezeichnet werden. Menschen mit eigenen Krankheitserfahrungen haben ihr Wissen in die Entwicklung dieses Manuals eingebracht. Was sie in ihrer eignen Recovery als hilfreich erlebt haben, ist die Grundlage für dieses Instrument und dient nun dazu, Menschen mit vergleichbaren Erfahrungen zu unterstützen, ihre eigene Recovery Reise zu gestalten. «Wir haben entdeckt, dass wir als Menschen mit psychischen Behinderungen Experten in unserer Selbstpflege werden können, wieder die Kontrolle über unser eigenes Leben übernehmen und verantwortlich für unseren eigenen Recovery-Weg sein können.» – so wird Patricia Deegan, eine Pionierin der Recovery-Bewegung, im Vorwort des Handbuchs zitiert. Die ursprüngliche Fassung wurde in England unter dem Titel «taking back control: a guide to planning your own recovery» von den Autorinnen Rahel Perkins und Miles Rinaldi publiziert (2007). Im Rahmen des Dreiländerkongresses Pflege in der Psychiatrie 2008 wurde die Idee geboren, eine deutsche Übersetzung zu erarbeiten. An der UPD Bern wurde das Manual ins Deutsche übertragen, modifiziert und im Jahre 2009 publiziert.
Was kann mit dem Instrument erreicht werden, wozu dient es? Das Manual ist ein Ratgeber von erfahrenen Menschen für Menschen mit Krankheitserfahrungen. Es dient dazu, dass betroffene Menschen ihre Krisen besser handhaben können. Zentrale Aspekte sind Hoffnung/Zuversicht, Selbstsorge und soziale Teilhabe. Psychiatrische Pflege (2016), 1(1), 50–51 DOI 10.1024/2297-6965/a000016
Wie sieht die Durchführung aus? «Das Leben wieder in den Griff bekommen» ist wie bereits erwähnt dreiteilig aufgebaut. Das Handbuch ist in einer einfachen Sprache verfasst und bietet eine gute Einführung ins Thema Recovery und die Verwendung der einzelnen Elemente, wie die Nutzung des «Persönlichen Recovery-Plans» und der «Vorausverfügung». Durch diesen Aufbau kann das Manual von betroffenen Person selbstständig genutzt werden. Es kann aber auch in der pflegerischen Bezugsarbeit oder als Grundlage zur Gestaltung von Gruppenangeboten eingesetzt werden.
Welche Personengruppen könnten davon profitieren? Profitieren können alle Menschen mit psychischen Erschütterungen, da man bereits einzelne Hinweise und Elemente daraus für sich persönlich nutzen kann. © 2016 Hogrefe
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Unter welchen Voraussetzungen kann die Anwendung erfolgen, was muss bedacht sein?
Wo kann das Tool bezogen werden, entstehen Kosten? Wo gibt es weitere Informationen?
«Das Leben wieder in den Griff bekommen» ist vorerst nur auf Deutsch erhältlich. Das englische Original wurde aber bereits in zahlreichen weiteren Sprachen übersetzt. So können über die unten aufgeführte Adresse von Julie Repper, Programmdirektorin der ImROC, weitere Informationen zu Übersetzungen bezogen werden.
Es kann als PDF über die Homepage www.pflege-in-derpsychiatrie.eu gratis heruntergeladen werden. Die gedruckte Version (Handbuch mit zwei Broschüren in einer Plastikmappe) ist für Sfr. 30.–/Euro 25.– (wechselbedingte Anpassungen vorbehalten) erhältlich. Bestelladresse: Abteilung Forschung/Entwicklung Pflege und Pädagogik, Universitäre Psychiatrische Dienste UPD Bern, Bolligenstrasse 111, CH-3000 Bern 60, Schweiz, Email: anna. hegedues@gef.be.ch Für Informationen zur Übersetzung des englischen Originals in weitere Sprachen kann Julie Repper kontaktiert werden, Email: julie.repper@nottingham.ac.uk
Was sind mögliche Probleme und Risiken? Für Menschen mit psychischen Erschütterungen kann die Auseinandersetzung mit dem Manual krisen-oder phasenbedingt einer Überforderung gleichkommen, die dadurch akzentuiert wird, wenn man als Fachperson das Manual bloß aushändigt, ohne weitere Unterstützung anzubieten. Gerade für Menschen in akuten Krisen hat sich bewährt, über das Manual gemeinsam ins Gespräch zu kommen.
Wer hat welche Erfahrungen damit gemacht?
Literatur Perkins, R., Rinaldi, M. (2007) Taking back control: A guide to planning your own recovery. 2nd edition. London: South West London & St George’s Mental Health NHS Trust.
Mittlerweile hat sich das Manual in Deutschland, Österreich und der Schweiz über die Fachgemeinde der Psychiatrischen Pflegefachpersonen und den ExpertInnen aus Erfahrung rege verbreitet.
Gianfranco Zuaboni ist Leiter Pflegeentwicklung & Recovery Beauftragter im Sanatorium Kilchberg, Schweiz.
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Verbandsseiten
Mitteilungensseiten der Deutschen Fachgesellschaft Psychiatrische Pflege Editorial Einfluss nehmen erfordert Handlung und Haltung
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sehr herzlich möchten wir an dieser Stelle unsere Mitglieder und Sie alle als interesserte Leser begrüßen. Wir freuen uns, dass die DFPP nahtlos ein neues Verbandsorgan hat. Eine Mitgliederzeitschrift ist weit mehr als eine Option der Kommunikation (dieser Aspekt verliert in der digitalen Zeit ohnehin an Bedeutung). Vielmehr gilt: • Sie bietet allen Mitgliedern regelmäßige und aktuelle Fachinformationen. • Sie hilft dem Verband als Fachgesellschaft öffentlich wahrgenommen zu werden. • Sie belegt, wofür die DFPP steht – denn sie hat das selbe Anliegen: die Weiterentwicklung der Psychiatrischen Pflege voranzubringen. Die DFPP und die «Psychiatrische Pflege» wollen Beiträge für die Reflexion, die Entwicklung und die Erforschung beruflichen Handelns liefern. Dafür haben ein Verband und eine Zeitschrift unterschiedliche Handlungsweisen. Die Zeitschrift als Fachorgan belegt die Schnittmenge. Der Verlagsvertrag sieht vor, dass der Verband eine Person in den Beirat bestellt (sofern nicht ohnehin wie aktuell gegeben Präsidiumsmitglieder im Herausgeberteam sind) und das der Verband wesentliche Aspekte der inhaltlichen Ausrichtung der Zeitschrift mitgestalten kann. Diese erste Ausgabe hat als Schwerpunkt das Thema «Einfluss nehmen» gewählt, damit verpflichtet sich diese Zeitschrift sich selbst. Die Beiträge beschreiben, wo und wie Patienten Einfluss auf ihre Behandlung und Pflege brauchen und wollen. Und wie die Pflege die Zusammenarbeit mit den Patienten und damit auch die Genesungsverläufe beeinflusst. Weitere Beiträge zeigen, wie Pflegende ihr Arbeitsfeld und ihre beruflichen Handlungsmöglichkeiten positiv beeinflussen können. Von allen diesen Formen der Einflussnahme brauchen wir sehr viel mehr! Wir als Angehörige des Berufs wissen sehr gut, wie bedeutsam gute Pflegeangebote für die von psychischen Krisen betroffenen Menschen sein können (und zurecht sind wir stolz darauf). Wir wissen auch, dass wir noch viele weiPsychiatrische Pflege (2016), 1(1), 52–54 DOI 10.1024/2297-6965/a000017
tere Forschungserkenntnisse, Praxiskonzepte, Arbeitshilfen und somit auch intensivere Praxisreflexion, breitere Bildungsangebote, mehr Forschung und Wissenschaft (und auch mehr interdisziplinären Dialog auf Augenhöhe) brauchen, um die Pflegeangebote zu verbessern. Wir wissen sehr leidvoll, dass die Rahmenbedingungen bei weitem nicht das ermöglichen, was gute psychiatrische Pflege braucht um wirksam handeln zu können. Das berufliche Standing der bundesdeutschen (psychiatrischen) Pflege in Politik und Öffentlichkeit ist nicht gut, die Gesetze sind nicht ausreichend (eine übersichtliche Zusammenfassung der Hintergründe bietet z. B. Hofmann, 2012). Es fehlt an verbindlichen Vorgaben für die Sicherstellung ambulanter psychiatrischer Pflege, für die Einführung von advanced nursing practice und/oder einer Annäherung an die vom Wissenschaftsrat (2012) geforderten 20 % Pflegepraktiker mit akademischen Abschluss. Es fehlen fachliche Leitlinien für die Pflege und konkrete auf wissenschafliche Evidenz gestützte Praxisempfehlungen (Ahrens, Sauter, 2013). International fast schon beschämend ist der Stand der psychiatrischen Pflegeforschung in Deutschland (Schulz & Sauter, 2015). Die letzten Jahrzehnte belegen, dass die Pflege nicht darauf warten darf, dass sie von Politik und Öffentlichkeit freundlich um Mitwirkung bezüglich ihrer Situation gebeten wird. Wenn Pflege Einfluss haben will und ihre Rahmenbedingungen mitgestalten will, dann müssen Pflegende laut ihre Belange artikulieren und sich in fachöffentliche © 2016 Hogrefe
Verbandsseiten
und politische Diskussionen aktiv und selbstbewusst mit sehr konkreten Beiträgen und Forderungen einmischen, gerade auch dann, wenn (zunächst) niemand zuhören will. Das gilt für Themen wie Entgeltgestaltung und Personalbesetzung, Qualitätsvorgaben und Leitlinienentwicklung, Versorgungsplanung und Gesetzgebung – um nur Beispiele zu nennen. Und gleiches gilt natürlich auch vor Ort, in den Hilfeinstitutionen oder Kommunen, auf der Ebene des Managements wie auch auf der Ebene der Praktiker in den multiprofessionellen Teams. Bezüglich des geforderten Handelns in Politik und Fachöffentlichkeit sieht sich die DFPP in der Pflicht – gemeinsam mit anderen Pflegeverbänden, mit denen erfreulicherweise gute Zusammenarbeit besteht. Bezüglich des Handelns vor Ort will die DFPP Impulse geben. Einflussnahme braucht starke Akteure. Und sie braucht vor allem viele Akteure! Wir freuen uns auf die Zusammenarbeit mit dem Herausgeberteam und dem Verlag. Wir freuen uns auf eine weitere engagierte Zusammenarbeit mit Ihnen als Mitglieder der DFPP und als Leserin und Leser der Zeitschrift und der Verbandsseiten.
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Psychiatrischer Pflegepreis Die Psychiatrische Pflege hat vielen Menschen in Vergangenheit und Gegenwart viel zu verdanken. Eine Entwicklung vom Expertentum hin zur Verbesserung der Versorgung von Menschen in seelischen Krisen wird wesentlich von den Pionieren und den jeweiligen Akteuren der Berufsgruppe geprägt. Mit dem «Psychiatrischen Pflegepreis» sollen Menschen, die starken Einfluss auf die Psychiatrische Pflege und Hilfe hatten, für ihr Werk geehrt werden; ihre Projekte sollen eine Würdigung und Anerkennung erfahren. Zusammen mit der Bundesinitiative Ambulante Psychiatrische Pflege (BAPP e. V., www.bapp. info ) sowie dem Verein Ambulante Psychiatrische Pflege (VAPP; www.vapp.ch ) vergibt die DFPP daher diesen Ehrenpreis für außergewöhnliche Leistungen und Engagement im Kontext der Psychiatrischen Pflege. Der Preis wird jährlich im Rahmen einer DFPP-Tagung verliehen, erstmals im Februar 2016. Mit der Preisverleihung ist eine Ehrenmitgliedschaft in der DFPP verbunden.
Aus den Arbeitsgruppen AG «State of the Art»
Bruno Hemkendreis, Uwe Genge, Dorothea Sauter vorstand@dfpp.de
Beim Treffen am 12. November 2015 wurde der Entwurf einer Stellungnahme zum Thema «Pflege und freiheitseinschränkende Maßnahmen» vertiefend diskutiert. Nach einer Verabschiedung über den Vorstand soll eine detailliertere Praxisempfehlung zu diesem Thema erstellt werden. Weiter will die AG eine Stellungnahme zum Thema «Pflege und Peer-involvement» auf den Weg zu bringen. Aktuell werden noch Mitwirkende gesucht: zum einen Peers, die in der Begleitung von anderen Betroffenen Erfahrung haben, wie auch Pflegende, die in ihrer Einrichtung Peer-projekte durchführen. Interessierte melden sich bitte unter ag-stateart@dfpp.de oder direkt unter peerprojekt@dfpp.de
Literatur Hofmann, I: Die Rolle der Pflege im Gesundheitswesen. Historische Hintergründe und heutige Konfliktkonstellationen. Bundesgesundheitsblatt 2012 (55): 1161–1167 Sauter, D, Ahrens, R: Das aktuell bestmögliche Pflegeangebot gewährleisten. Psych. Pflege Heute 2013 (19): 145–148 Schulz, M, Sauter, D: Ein langer Weg. Zur wissenschaftlichen Fundierung der psychiatrischen Pflege. Mabuse 126; Juli/August 2015: 34–35 Wissenschaftsrat: Empfehlungen zu hochschulischen Qualifikationen für das Gesundheitswesen. http://www.wissenschaftsrat. de/download/archiv/2411-12.pdf (Zugriff am 07.12.15) Korrekturexemplar: Veröffentlichung (auch online), Vervielfältigung oder Weitergabe nicht erlaubt. – Proof copy: publication (also online), reproduction and further transmission
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AG Öffentlichkeitsarbeit diese AG wird neben den aktuellen Aufgaben künftig stärker in Kongressvorbereitungen mit eingebunden werden. Wer sich einbringen möchte: pr@dfpp.de.
AG Ambulante Pflege nächstes Treffen am 16. April 2016 in Nürnberg. Aktuell abschließende Arbeit an einem Grundsatzpapier zur ambulanten psychiatrischen Pflege. Info über: ag-app@dfpp.de.
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AG Entgelt Die letzte Arbeitssitzung der AG war am 19. Januar 2016. Infos oder Newsletterbestellung unter: bflk.de/netzwerk/ entgelt.
AG «Forum Pflegewissenschaft in der Psychiatrie (BY/BW)» Die im letzten September gegründete AG wird ihr erstes Treffen am 5. April 2016 im Rahmen einer Tagung im Bildungswerk Irsee abhalten. Verantwortlich zeichnen sich Michael Mayer von der AllgäuAkademie, Uwe Schirmer von der Akademie Südwest, Jürgen Hollick vom Bildungswerk Irsee und Vorstandsmitglied Uwe Genge. Die AG ar-
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beitet in Kooperation mit den beiden Landesgruppen der Bundesfachvereinigung Leitender Krankenpflegepersonen der Psychiatrie e. V. Bayern und Baden-Württemberg.
Aktuelle Meldung: Mitgliederrabatt beim Dreiländerkongress Die DFPP ist in diesem Jahr Mitausrichterin des Dreiländerkongresses Pflege in der Psychiatrie, der am 22. und 23. September 2016 in Bielefeld stattfindet. Wir freuen uns allen Mitgliedern den sensationellen Tagungspreis von € 200.– anbieten zu können (regulärer Tagungspreis € 320.–) und hoffen zahlreiche DFPP-Mitglieder begrüßen zu dürfen!
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Mitteilungsseiten des Vereins Ambulante Psychiatrische Pflege
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ir, der Vorstand «Verein Ambulante Psychiatrische Pflege» (VAPP), freuen uns, Sie mit dem ersten Heft der «Psychiatrischen Pflege» als Vereinsorgan des VAPP zu begrüssen. Der VAPP vertritt in der deutschsprachigen Schweiz die ambulant tätigen Psychiatriepflegefachpersonen in fachlichen Fragen gegenüber Bund, Kantonen, Krankenkassen in Zusammenarbeit mit den anderen Pflegeverbänden, namentlich dem Schweizerischen Berufsverband Krankenpflege (SBK) und dem Verband der freiberuflichen Pflege, Curacasa. Zu den Aufgabengebieten gehört die Information der Öffentlichkeit über ambulante psychiatrische Pflege, das Zurverfügungstellen von Anbieteradressen und das Erarbeiten von fachlichen Inhalten und Tools. Unisono zum Editorial von der DFPP können wir feststellen: Die «Psychiatrische Pflege» stellt unseren Mitgliedern vertieftes, aktuelles Fachwissen zur Verfügung. Die Artikel werden in einer Datenbank den Lesern weiter zur Verfügung stehen. • Die Anliegen der APP werden im ganzen deutschsprachigen Raum, aber insbesondere in der Schweiz wahrgenommen. Ebenso gilt dies für den Verein als solchen. • Eingebettet in dieses Umfeld können wir unseren Mitgliedern und der interessierten Öffentlichkeit die VAPP relevanten News mitteilen. • Und so können wir, in Bezug zum Thema dieses Heftes, Einfluss nehmen, uns hörbar machen, die Zukunft der (ambulanten) psychiatrischen Pflege aktiv mitgestalten.
sche) Pflege dies spüren. Erste Vorboten sind zum Beispiel das E-log, welches bei der Einführung für freiberufliche Pflegefachpersonen verpflichtend sein wird (der Bezug dieser Zeitschrift wird im E-Log Punkte wirksam sein).
Fachinhaltliche Entwicklung Die Arbeit in der ambulanten psychiatrischen Pflege orientiert sich an den Ressourcen unserer Klienten. Recovery und Empowerment dienen als Grundlage. Ziel ist es, psychische Erschütterungen im Lebensprozess einzubinden und sinnerfüllende und erreichbare Lebensperspektiven mit den Betroffenen zu entwickeln. Dieser Prozess steht teilweise im Widerspruch mit den Anforderungen an die ambulante Pflege. Die bisherige Praxis in der Gesundheitsversorgung ist defizitorientiert und sucht nach Lösung von Problemen. Der Verein VAPP will sich dieser Herausforderung stellen. Viel Aufklärung und Information ist erforderlich, um unsere Arbeit in diesem Spannungsfeld zu erklären und zu definieren. Der Vorstand plant 2016 zu diesem Zweck eine Arbeitsgruppe, um die ambulante psychiatrische Pflege zu definieren und beschreiben. Die Webseite des VAPP (www.vapp.ch) lebt davon, dass sie mit Informationen gefüllt ist. Bereits vorliegende Arbeiten, CAS, MAS, etc. sind herzlich willkommen und werden gerne auf der Webseite auf geschalten.
Deutschsprachige Vernetzung Entwicklung APP Die Tendenz in der Schweiz ist unübersehbar: Im Rahmen des neuen Gesundheitsberufegesetzes (GesBG) und in der Folge der Motion Joder wird die Pflege mit neuen, erweiterten Kompetenzen ausgestattet, aber die Pflege wird auch vermehrt in die Verpflichtung genommen. Unsere Arbeit muss transparenter werden (Dokumentation), die Qualität unserer Arbeit wird intensiver eingefordert und überprüft, und die Pflegenden werden zu nachgewiesenem lebenslangen Lernen verpflichtet. All diese Änderungen werden sukzessive eingeführt, und als erstes Arbeitsfeld wird die ambulante (psychiatri© 2016 Hogrefe
Dem Vorstand des VAPP war die Vernetzung mit ambulant Pflegenden im gesamten deutschsprachigen Raum immer wichtig. Nicht nur, um an den Erfahrungen anderer zu partizipieren, sondern auch, um festzustellen, wie sich die Situation in der Schweiz von der in Österreich oder Deutschland unterscheidet. Ähnlich wie das Engagement des VAPP am Dreiländerkongress Pflege in der Psychiatrie und im Referat Pflege am jährlichen Kongress des DGPPN in Berlin beabsichtigen wir mit dieser Zeitschrift, Wissen und Erfahrung der deutschsprachigen Pflegenden zu bündeln und allgemein verfügbar zu machen. Psychiatrische Pflege (2016), 1(1), 55–56 DOI 10.1024/2297-6965/a000018
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Einladung zum selber schreiben
Hinweis Tagung
Für diese Bündelung brauchen wir natürlich Autoren. Wir möchten alle Mitglieder des VAPP einladen, ihre Konzepte, Projekte, Arbeiten von Weiterbildungen, Ansammlungen speziellen Fachwissens (z. B. Migration, Kinder – und Jugendliche, Sucht) in Artikeln zusammenzufassen und hier zur Diskussion zu stellen.
Wir laden zur diesjährigen Fachtagung Ambulante Psychiatrische Pflege in den Universitären Psychiatrischen Diensten Bern am 24. Juni 2016 zum Thema «Fremde – Heimat – Migration» ein. Anmeldung und weitere Informationen unter www. fachtagung-app.ch.
Pflegepreis
Agenda
Zusammen mit der Fachgesellschaft Psychiatrische Pflege (DFPP) und der Bundesinitiative Ambulante Psychiatrische Pflege (BAPP) schreiben wir den Psychiatrischen Pflegepreis aus. Die 1. Ausschreibung und genaue Beschreibung erfolgt im nächsten Heft.
• GV VAPP 21.4.2016 19.00 in Olten (www.vapp.ch) • Fachtagung APP, UPD Bern 24.6.2016 (www.fachtagung-app.ch) • Dreiländerkongress in Bielefeld 22./23.9.2016 (www.pflege-in-der-psychiatrie.eu) • DGPPN in Berlin 23.-26.11.2016 (www.dgppn.de)
Hinweis GV Die Generalversammlung des VAPP findet wieder im Kongresshotel Olten am 21. April 2016 statt. Jahresbericht und Traktanden sollten alle Mitglieder erhalten haben (im Zweifelsfall bitte beim Vorstand melden). Anschliessend lädt der Verein zu einem reichhaltigen Apéro ein.
Psychiatrische Pflege (2016), 1(1), 55–56
Udo Finklenburg Präsident VAPP
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Essentials für die Praxis Horst Dilling / Werner Mombour / Martin H. Schmidt / WHO (Hrsg.)
Internationale Klassifikation psychischer Störungen ICD-10 Kapitel V (F) – Klinisch-diagnostische Leitlinien (10., überarb. Aufl. 2016. 456 S., Kt € 36.95 / CHF 45.90 ISBN 978-3-456-85560-8
Die Einführung für praktisch tätige Psychiater und Psychotherapeuten – Neuauflage entsprechend der ICD-10-GM 2015. Im Gesamtwerk der Internationalen Klassifikation der Krankheiten (ICD) der WHO kommt den psychischen Störungen eine Sonderstellung zu. Aufgrund der besonderen Anforderungen bei der Klassifikation psychischer und Verhaltensstörungen gibt die WHO diese offizielle Publikation heraus, mit den für die praktische Arbeit notwendigen klinischen Beschreibungen und diagnostischen Leitlinien.
www.hogrefe.com
Horst Dilling / Harald J. Freyberger / WHO (Hrsg.)
Taschenführer zur ICD-10Klassifikation psychischer Störungen Mit Glossar und Diagnostischen Kriterien sowie Referenztabellen ICD-10 vs. ICD-9 und ICD-10 vs. DSM-IV-TR 8., überarb. Aufl. entsprechend ICD-10-GM 2016. 528 S., Gb € 36.95 / CHF 45.90 ISBN 978-3-456-85595-0
Die kompakte Übersicht der ICD-10-Diagnosen – Neuauflage entsprechend der ICD-10-GM 2014. Der «Taschenführer» enthält die diagnostischen Kriterien für die einzelnen psychischen Störungen und Störungsgruppen in kommentierter Form. Nach einem kurzen Einführungsabschnitt zu jeder Störung werden die für die Diagnose relevanten Kriterien aufgeführt und mit Hinweisen zur Differenzial- und Ausschlussdiagnostik ergänzt. Damit umfasst dieser Ansatz sowohl die pragmatische Darstellung der Diagnosen entsprechend den ICD-10-Forschungskriterien als auch, anstelle der ausführlicheren diagnostischen Leitlinien, die kompakte Definition und Beschreibung der einzelnen Störungen.
Die neue Fachzeitschrift für Psychiatrische Pflege Michael Schulz et al.
g
g
Psychiatrische Pflege großer Pflegezeitschriften verpflich-
chen Weiterentwicklung der verschie-
tet, deren vornehmliche Aufgabe Re-
densten Handlungsfelder von Pfle-
flektion, Erforschung und Entwicklung
genden in der Psychiatrie. Die Inhalte
beruflichen Handelns ist. Ein intensi-
sind stark auf die Pflegepraxis bezo-
ver Diskurs mit Pflegefachpersonen,
gen. Aktuelle und bestmögliche Me-
mit angrenzenden Berufsgruppen wie
thoden werden dargestellt und unter-
auch mit Betroffenen und deren Ange-
stützen die fachlich fundierte Pflege
hörigen wird angestrebt.
Jahrgang 1 / Heft 1 / 2016
g y
Die Zeitschrift widmet sich der fachli-
Geschäftsführender Herausgeber Michael Schulz Herausgeber Sabine Hahn Bruno Hemkendreis Michael Löhr Dorothea Sauter Gianfranco Zuaboni
Psychiatrische Pflege
und deren Weiterentwicklung. Psychiatrische Pflege ist VerbandsEin
www.hogrefe.ch
erfahrenes
Herausgeberteam
organ der VAPP (Verein Ambulante
setzt Impulse und ermöglicht ein Re-
Psychiatrische Pflege) und der DFPP
flektieren der gelebten Praxis. Die
(Deutsche Fachgesellschaft Psychia-
Herausgeber sehen sich der Tradition
trische Pflege e.V.).
Ja, ich bestelle 1 Jahresabonnement (= 6 Hefte) Psychiatrische Pflege für Private (€ 98.00 + € 12.00 für Porto und Versandgebühren) für Institutionen (€ 198.00 + € 12.00 für Porto und Versandgebühren) für Lernende (€ 48.00 + € 12.00 für Porto und Versandgebühren) Die Bezugsdauer verlängert sich jeweils um ein weiteres Jahr, wenn nicht 8 Wochen vor Ende der Laufzeit des Abonnements gekündigt wird.
Bestellschein Tel. +41 300 45 00 Fax +41 300 45 91 zeitschriften@hogrefe.ch www.hogrefe.ch Zu beziehen über:
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