Leseprobe SSM 2019

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Jahrgang 2 / Heft 1 / 2018

Schmerz und Schmerzmanagement

Herausgeberinnen und Herausgeber Andre Ewers Irmela Gnass Nadja Nestler Nadine Schüßler Erika Sirsch

Themenschwerpunkt Schmerz und Behinderung Verantwortliche Herausgeberinnen Nadine Schüßler Erika Sirsch


Eine effiziente Behandlungsmethode von Schmerzen

Berndt Scholz

Hypnotherapie bei chronischen Schmerzerkrankungen Von der Planung zur Durchführung 2., überarb. Aufl. 2013. 280 S., Kt € 29,95 / CHF 39.90 ISBN 978-3-456-85257-7 Auch als eBook erhältlich

Hypnotherapie hilft bei chronischen Schmerzerkrankungen. Das vorliegende Buch bietet eine umfassende Darstellung dieser effizienten Behandlungsmethode. Es werden: • die Krankheitsbilder von sieben chronischen Schmerzsyndromen beschrieben. • die Erlebnis- und Verhaltensbesonderheiten der hypnotherapeutischen Arbeit mit den Patienten erläutert. • Hilfestellung für die somatische, psychologische und therapiebezogene Diagnostik gegeben. • zahlreiche Fragen und Probleme bei der Therapieplanung diskutiert und mit vielen praktischen Tipps illustriert.

www.hogrefe.com

• Anleitungen und Beispiele für die Konstruktion und den Vortrag von hypnotherapeutsichen Texten dargestellt. • anhand von Hypnosetexten das praktische Vorgehen im Behandlungsverlauf vorgeführt. • zahlreiche Hinweise für den angemessenen Umgang mit dem Patienten und seinem Krankheitsbild gegeben. • das therapeutische Vorgehen anwendungsbezogenen auf eine rationale Grundlage gestellt.


Schmerz und Schmerzmanagement

Jahrgang 2 / Heft 1 / 2018

Themenschwerpunkt Schmerz und Behinderung Verantwortliche Herausgeberinnen Nadine SchĂźĂ&#x;ler Erika Sirsch


Herausgeber/innen

Ass.-Prof. PD Dr. Andre Ewers, Salzburg Ass.-Prof. Dr. Irmela Gnass, Salzburg Ass.-Prof. Dr. Nadja Nestler, Salzburg Nadine SchĂźĂ&#x;ler, Hamburg Jun.-Prof. Dr. Erika Sirsch, Vallendar

Redakteurin

Barbara MĂźller, Hogrefe AG, Bern Tel. +41 (0) 31 300 45 46 barbara.mueller@hogrefe.ch

Verlag

Hogrefe AG, Länggass-Strasse 76, 3000 Bern 9, Tel. +41 (0) 31 300 45 00 zeitschriften@hogrefe.com, www.hogrefe.ch

Herstellung

Reto Mastria, Hogrefe AG, Bern Tel. +41 (0) 31 300 45 73 reto.mastria@hogrefe.ch

Anzeigenleitung

Josef Nietlispach, Hogrefe AG, Bern Tel. +41 (0) 31 300 45 69 inserate@hogrefe.com

Abonnemente

Tel. +41 (0) 31 300 45 74, zeitschriften@hogrefe.ch

Satz

punktgenau GmbH, BĂźhl, Deutschland

Druck

Kraft Premium GmbH, Ettlingen, Deutschland

Bezugsbedingungen

Jahresabonnement Institute: ₏ 145,–/CHF 160.– Private: ₏ 69,–/CHF 75.– Lernende: ₏ 49,–/CHF 54.– Porto und Versandgebßhren: Europa ₏ 15.–/Schweiz CHF 14.– Einzelheft: ₏ 24.–/CHF 27.–

Erscheinungsweise

4 Hefte jährlich Š 201 Hogrefe AG ISSN-L 2504-1037 ISSN 2504-1037 (Print) ISSN 2504-1320 (online)

Elektronischer Volltext

Schmerz und Schmerzmanagement 1/18

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Š 2018 Hogrefe


Inhalt Editorial

Schmerzmanagement bei Menschen mit Behinderung

5

Nadine Schüßler und Erika Sirsch Schwerpunkt

Schmerzen erkennen bei Menschen mit kognitiver Behinderung, eingeschränkter Lautsprache und reduziertem Sprachverständnis

7

Alexandra Boll Schmerzassessment bei Menschen mit geistiger Behinderung Lena Höffel Schmerz und Schwerbehinderung: Eine problematische „Verbindung“

12

16

Heike Norda Schmerzerfassung bei Kindern und Jugendlichen mit globaler Retardierung

19

Tim Szallies Freie Beiträge

Schmerzen bei Kindern mit schwersten Behinderungen

24

Andreas Fröhlich 29

Verletzlichkeit miteinander teilen Diana Staudacher Interview

33

Perspektive Schmerzforschung Deutschland – Ein Interview mit PD Dr. Regine Klinger Nadine Schüßler

Praxisbeispiel

35

Die Migräne einer autistischen Erwachsenen Nadine Schüßler

Aktuelle Praxisfrage

Spezielle Herausforderungen des Schmerzmanagements

40

Katharina Blank und Nadine Schüßler Journal Club

Was bedeutet Schmerzintensität aus Sicht der Patienten?

42

Erika Sirsch Schmerz medial

Selbstbeobachtung durch digitalisierte Schmerztagebücher

45

Isabelle Bürrig und Janine Willm Rätsel/Vorschau

© 2018 Hogrefe

48

Schmerz und Schmerzmanagement 1/18


Aktuelle Sachbücher und Ratgeber Claudia Clos

Allan Guggenbühl

Gesund im Job

Die vergessene Klugheit

So stärken Sie Ihre körperliche und psychische Gesundheit am Arbeitsplatz 2016. 208 S., 21 Abb., 2 Tab., Kt € 19,95 / CHF 26.90 ISBN 978-3-456-85578-3 Auch als eBook erhältlich

Mit Fokus auf die Ressourcenaktivierung gibt Claudia Clos in diesem kompakten Ratgeber praktische und konkrete Tipps, wie Berufstätige ihren Arbeitsalltag bewusst aktiv gestalten können, um zu mehr körperlicher und psychischer Gesundheit am Arbeitsplatz zu gelangen.

2016. 272 S., Gb € 24,95 / CHF 32.50 ISBN 978-3-456-85239-3 Auch als eBook erhältlich

Trotz Ausbildung und Renommee leiden wir in gewissen Situationen unter einer eklatanten Denkschwäche. Allan Guggenbühl geht im vorliegenden Buch den Handlungen auf den Grund, die aus nüchterner Perspektive nicht nachvollziehbar sind – und unsere Intelligenz, Kompetenzen und unseren Ausbildungsgrad in Frage stellen.

Manfred Ruoss

Marti Olsen Laney

Zwischen Flow und Narzissmus

Die Macht der Introvertierten

Die Psychologie des Bergsteigens

Der andere Weg zu Glück und Erfolg

2., überarb. u. erg. Aufl. 2017. 304 S., Gb € 24,95 / CHF 32.50 ISBN 978-3-456-85668-1 Auch als eBook erhältlich

Übersetzt von Karsten Petersen. 2., unveränd. Aufl. 2016. 304 S., Gb € 24,95 / CHF 32.50 ISBN 978-3-456-85602-5

Die psychologische Analyse der Bergsehnsucht – vom Freizeitwanderer bis zum Extremkletterer: Was treibt die Menschen wirklich an, auf hohe Berge zu steigen? Die zweite Auflage wurde überarbeitet und um ein Doppelporträt der polnischen Extrembergsteiger Wanda Rutkiewicz und Jerzy Kukuczka ergänzt.

www.hogrefe.com

Wie Normen uns am Denken hindern

Marti Olsen Laney ist Psychologin und Expertin für Introversion. In diesem Ratgeber klärt sie darüber auf, was es heißt introvertiert zu sein, und zeigt mit vielen praktischen Tipps für alle Lebenslagen, wie Sie als introvertierter Mensch erfolgreicher und glücklicher leben können.


Editorial

5

Schmerzmanagement bei Menschen mit Behinderung Liebe Leserinnen, liebe Leser Mit dem vorliegenden Heft beginnt das zweite Jahr für die Zeitschrift Schmerz und Schmerzmanagement; auch wenn damit der Status des Neuen verlassen wird und so etwas wie Normalität einkehrt, bleibt die Arbeit rund um das Thema „Schmerz und Schmerzmanagement“ spannend. Wir, die Herausgeberinnen und Herausgeber, freuen uns sehr, mit dieser Ausgabe einen Fokus auf einen bisher eher vernachlässigten Themenbereich im Schmerzmanagement zu werfen. Der Schwerpunkt liegt auf dem Schmerz, beziehungsweise dem Schmerzmanagement bei Menschen mit Behinderung. Nicht nur bei Kindern und jungen Menschen mit Behinderung ist dies von großer Bedeutung, wie wir in einigen der Beträge erfahren. Dazu führt ein Beitrag von Alexandra Boll ein, der sich mit der Schmerzerkennung bei Menschen mit einer kognitiven Behinderung befasst, die zudem eine stark eingeschränkte Lautsprache und reduziertes Sprachverständnis haben. Dem folgt ein Beitrag zu einer studentischen Forschungsarbeit, in der Lena Höffel im Rahmen ihrer Masterarbeit die Nutzung von Schmerzassessmentinstrumenten bei Menschen mit einer geistigen Behinderung in Deutschland untersucht hat. Besonders freuen wir uns über einen Betrag von Betroffenen selber, dazu ist in dieser Ausgabe ein Betrag von Heike Norda zur Verbindung von Schmerz und Schwerbehinderung zu lesen. Darin werden auch formale Regularien wie zur Zuerkennung eines Grades der Behinderung (GdB) bzw. Grades der Schädigung (GdS) beschrieben. Dass Schmerz insbesondere bei Jugendlichen mit globaler Retardierung ein großes Problem ist, wird durch Tim Szallies ausgeführt. Ein grundlegender Beitrag zu Schmerz bei Kindern mit schwerster Behinderung von Andreas Fröhlich weist auf Besonderheiten in der Begleitung und Betreuung hin. Die Artikelfolge wird abgerundet durch einen Beitrag zum Behinderung und Menschenbild von Diana Staudacher. Und – was wäre eine Ausgabe von Schmerz und Schmerzmanagement ohne die Praxisfrage beziehungsweise ohne das Praxisbeispiel. Diesmal werden dabei im Praxisbeispiel eine ausbleibende Therapie bei autistischen Erwach-

© 2018 Hogrefe

senen mit Migräne aufgrund von diagnostischen Problemen durch Nadine Schüßler in Zusammenarbeit mit Heike Galeja beleuchtet. Bei chronischen Schmerzpatientinnen und -patienten in der operativen Versorgung besteht bei wiederholten Operationen das Risiko einer Übertherapie in der frühen postoperativen Phase, diesem Umstand widmen Katharina Blank und Nadine Schüßler die Praxisfrage. Und last but not least wird im Journal Club der Artikel „Was bedeutet Schmerzintensität aus Sicht der Patienten?“ von Neustadt, Deckert, Kopkow, Preißler, Bosse, Funke, Jacobi, Mattenklodt, Nagel, Seidel, Sittel, Steffen, Sabatowski, Schmitt und Kaiser (2017) durch Erika Sirsch vorgestellt. Ein besonderes Schmankerl haben wir im Interview, dort wird sich Regina Klinger aus Hamburg unter anderem auch zur Agenda Schmerzforschung äußern, die auf dem Schmerzkongress 2017 in Mannheim vorgestellt wurde. Wir hoffen, dass Sie beim Lesen ebenso viel Freude haben, wie wir beim Zusammenstellen der Beträge für die erste Ausgabe 2018. Nadine Schüßler und Erika Sirsch

Nadine Schüßler, MScN, ist Pain Nurse und Krankenschwester und arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der HAWK Hamburg, Departement Pflege & Management. Sie ist Herausgeberin der Schmerz und Schmerzmanagement. nadine.schuessler@haw-hamburg.de

JProf. Dr. Erika Sirsch, BScN, MScN, ist Professorin an der PhilosophischTheologischen Hochschule Vallendar, Fakultät für Pflegewissenschaft und Herausgeberin der Schmerz und Schmerzmanagement. esirsch@pthv.de

Schmerz und Schmerzmanagement 1/18


Anmeldung

Kontakt Anfahrt

Bitte achten Sie auf folgende Bewerbungsunterlagen:

n Bewerbungsschreiben mit aktuellem Arbeitsschwerpunkt

n Kopie Abschlusszeugnis Pflegeausbildung/Studium

n Kopie der Erlaubnis zur Führung der Berufsbezeichnung/staatl. Anerkennung

n Nachweis berufliche Erfahrung im Bereich der Neonatologie/ Pädiatrie

n Foto erwünscht Unterbringung Es stehen in einer begrenzten Anzahl einfache, preisin der Wannsee- werte Gästezimmer zur Verfügung. Bitte melden Sie Akademie Ihren Bedarf mit Ihrer Bewerbung an.

Anschrift Wannsee-Akademie

Zum Heckeshorn 36 14109 Berlin Infotelefon (0 30) 80 68 6 – 4 12/ – 0 5o / – 0 4o Fax (0 30) 80 68 6 – 4 04 Web E-Mail

Teilnahmebedingungen: Teilnahmebedingungen: Mit der schriftlichen Bestätigung durch die Wannsee-Akademie wird die AnmelMit der schriftlichen Bestätigung durch die Wannsee-Akademie wird die Anmel-

dung rechtsverbindlich. Die Wannsee-Akademie behält sich vor, aus dringenden

dung rechtsverbindlich. Die Wannsee-Akademie behält sich vor, aus dringenden

Gründen vom Schulungsvertrag zurückzutreten. Eine Absage seitens des Kursteil-

Nahverkehrs- S-Bahn S1 oder S7 bis S-Bhf. Wannsee, dann verbindungen Bus 114 bis Haltestelle „Zum Heckeshorn“ Zertifiziertes Qualitätsmanagement

Gründen vom Schulungsvertrag zurückzutreten. Eine Absage seitens des Kursteil-

nehmers muss grundsätzlich schriftlich erfolgen. Geht die Absage bis spätestens

6 Wochen vor Kursbeginn ein, wird eine Bearbeitungsgebühr in Höhe von 25 €

erhoben. Erfolgt der Rücktritt zu einem späteren Zeitpunkt und bis zu 10 Tage vor

erhoben. Erfolgt der Rücktritt zu einem späteren Zeitpunkt und bis zu 10 Tage vor

Beginn des Lehrgangs, sind neben der Bearbeitungsgebühr zusätzlich 25 % der ge-

Beginn des Lehrgangs, sind neben der Bearbeitungsgebühr zusätzlich 25 % der ge-

Pflegeexperte für pädiatrische und neonatologische Schmerztherapie 21. August – 28. September 2018

nehmers muss grundsätzlich schriftlich erfolgen. Geht die Absage bis spätestens 6 Wochen vor Kursbeginn ein, wird eine Bearbeitungsgebühr in Höhe von 25 €

Zusatzqualifikation

www.wannseeakademie.de akademie@wannseeschule.de

Bildungsurlaubs- Für den Kurs ist Bildungsurlaub gemäß § 11 des gesetz Berliner Bildungsurlaubsgesetzes beantragt.

samten Kursgebühr zu zahlen. Bei einer Abmeldung, die weniger als 10 Tage vor

samten Kursgebühr zu zahlen. Bei einer Abmeldung, die weniger als 10 Tage vor

Kursbeginnerfolgt, erfolgt,wird wirddie dievolle volle Kursgebühr in Rechnung gestellt. Maßgebend Kursbeginn Kursgebühr in Rechnung gestellt. Maßgebend für für die genannten genanntenZeitpunkte Zeitpunkteististder der Posteingangsstempel. gesamte Kursgebühr die Posteingangsstempel. DieDie gesamte Kursgebühr wird auch auchbei beiNichtantreten Nichtantretenoder oder vorzeitiger Beendigung Teilnahme fällig. wird vorzeitiger Beendigung derder Teilnahme fällig. Aus Gründen Gründendes desUmweltschutzes Umweltschutzes bitten Verwendung PlastikAus bitten wirwir vonvon derder Verwendung vonvon Plastikmappen,-umschlägen -umschlägenund undEinlegemappen Einlegemappen jeglicher abzusehen, vielen Dank. mappen, jeglicher ArtArt abzusehen, vielen Dank.

Unsere Mitgliedshäuser sind: HELIOS Klinikum Emil von Behring · Evangelische Elisabeth Klinik ·

Unsere Mitgliedshäuser sind: HELIOS Klinikum Emil von Behring · Evangelische Elisabeth Klinik · Ev. Krankenhaus Hubertus · Immanuel-Krankenhaus · Kliniken im Th.-Wenzel-Werk/ Waldhaus-Klinik · Ev. Krankenhaus Hubertus · Immanuel-Krankenhaus · Kliniken im Th.-Wenzel-Werk/ Waldhaus-Klinik · Paulinenkrankenhaus · Gemeinschaftskrankenhaus Havelhöhe · Ev. Geriatrie Zentrum Berlin · Paulinenkrankenhaus · Gemeinschaftskrankenhaus Havelhöhe · Ev. Geriatrie Zentrum Berlin · Johannesstift Wichernkrankenhaus gGmbH · Krankenhaus Bethel Berlin gGmbH · Ev.Ev. Johannesstift Wichernkrankenhaus gGmbH · Krankenhaus Bethel Berlin gGmbH · Bundeswehrkrankenhaus Berlin · Friedrich Bodelschwingh-Klinik · RICAM Hospiz gGmbH · Bundeswehrkrankenhaus Berlin · Friedrich von von Bodelschwingh-Klinik · RICAM Hospiz gGmbH · Björn-Schulz-Stiftung / Kinderhospiz „Sonnenhof“ · Gemeinschaftshospiz Christophorus · Björn-Schulz-Stiftung / Kinderhospiz „Sonnenhof“ · Gemeinschaftshospiz Christophorus · S+A Klinik MIC GmbH · Vitanas Krankenhaus für Geriatrie S+A Klinik fürfür MIC GmbH · Vitanas Krankenhaus für Geriatrie

Wannsee-Akademie des Wannsee-Schule e.V.

Zusatzqualifikation Pflegeexperte für pädiatrische und neonatologische Schmerztherapie Die Weiterbildung zur/zum pädiatrischen und neonatologischen Schmerzexperten vermittelt Ihnen das Grundwissen über die physiologischen, pathologischen und pathophysiologischen Vorgänge der Schmerzleitung und -wahrnehmung in jeder Altersstufe, denn die moderne multimodale Schmerztherapie erfordert ein umfangreiches Wissen, um Therapien zielgerichtet einsetzen und evaluieren zu können. Sie lernen mit validierten Assessmentinstrumenten Schmerzen zu erfassen, sie werden dazu befähigt altersgerechte nicht-medikamentöse und medikamentöse Verfahren einzuleiten bzw. diese im interprofessionellen Team vertreten zu können. Hierzu zählen auch gezielte Ablenkungsstrategien, die in der Pädiatrie eine enorme Bedeutung haben.

Zielgruppe

n Gesundheits- und Krankenpfleger/innen pfleger/innen

n Absolventen von Pflegestudiengängen n Mitarbeiter aus Hospizen, Schmerzambulanzen etc., die sich dem Schmerzmanagement in der Neonatologie und Pädiatrie widmen

n Mitarbeiter ambulanter/stationärer neonatologischer/pädiatrischer Bereiche Zielsetzung Qualifikation zum Pflegeexperten in der

pädiatrischen/neonatologischen Schmerztherapie

Durch das Wissen über die Chronifizierung von Schmerzen und deren komplexe Behandlung, sind Sie in der Lage Behandlungsdefizite zu erkennen und Alternativmaßnahmen anzuregen. Das kann z. B. die Konsultation eines Schmerztherapeuten oder die Verlegung in ein spezielles Schmerzzentrum sein.

n Schmerzentstehung, -wahrnehmung, n n n

n n n n n n

-formen (inkl. Besonderheiten bei Früh- und Neugeborenen) Expertenstandard Schmerz akut/chronisch (für die Pädiatrie/Neonatologie) Schmerzchronifizierung Medikamentöse/nichtmedikamentöse Schmerztherapie (inkl. Besonderheiten bei Früh-/Neugeborenen, Säuglingen und Kindern) Prä-, peri-, postoperatives Schmerzmanagement (Pädiatrie/Neonatologie) Tumorschmerzen (Pädiatrie/Neonatologie) Schmerzpsychologie Schmerzerfassung und -dokumentation Pflegerische Schmerzlinderung Gesprächsführung mit pädiatrischen Patienten und deren Angehörigen

Dauer Der Unterricht erfolgt in Unterrichts-

blöcken mit insgesamt 64 theoretischen Stunden.

So genannte „Überleitungsskills“ helfen Ihnen, das Schmerzmanagement in Ihrer Einrichtung (unterstützend) zu überprüfen und gegebenenfalls (unterstützend) zu optimieren. Der modulare Aufbau des Kurses sowie die multimediale und interaktive Gestaltung ermöglichen Ihnen einen schnellen Lernerfolg. Ihr Engagement und die vermittelte Expertise legen den Grundstein für eine „schmerzarme Zukunft“ von Kindern und Jugendlichen.

Inhaltliche Schwerpunkte

n Gesundheits- und Kinderkranken-

Termine 1. Block

2. Block

21. – 24. August 2018 25. – 28. September 2018

Unterrichts- jeweils von 8.30 bis 16 Uhr zeiten Curriculum und Der Kurs fokussiert das SchmerzmanageZertifizierung ment in der Neonatologie und Pädiatrie

bis hin zum Jugendlichen. Das Curriculum orientiert sich an den Vorgaben der Deutschen Schmerzgesellschaft e. V. Die Zertifizierung durch die Fachgesellschaft ist beantragt.

Ort Wannsee-Akademie, Berlin Ihre 800 € (ermäßigt* 720 €) Investition *ermäßigte Gebühr für Mitgliedshäuser des Wannsee-Schule e. V. und die Mitglieder der Deutschen Schmerzgesellschaft e. V.

Ratenzahlung kann vereinbart werden. Fortbildungs- Für diese Veranstaltung können im Rahmen der punkte Registrierung beruflich Pflegender 20 Punkte angerechnet werden.


Schwerpunkt

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Schmerzen erkennen bei Menschen mit kognitiver Behinderung, eingeschränkter Lautsprache und reduziertem Sprachverständnis Alexandra Boll

Die Aussage von Margo McCaffery „Schmerz ist, wenn die Patienten sagen, dass sie Schmerzen haben.“ hat für die Schmerzbehandlung eine elementare Bedeutung. Was ist aber, wenn der Patient sein Schmerzempfinden nicht kommunizieren kann? „Es ist wichtig, das Leid, das sich logischer© Martin Glauser

weise durch die Existenz oder den physischen Schmerz legitimiert, nicht mit einer geistigen, psychologischen oder psychiatrischen Pathologie oder Erkrankung zu verwechseln.“ (Belot, in: MaierMichalitsch 2012, S. 94)

I

n diesem Artikel geht es um die Schmerzerkennung bei Menschen mit einer kognitiven Behinderung, die eine stark eingeschränkte Lautsprache und ein stark eingeschränktes Sprachverständnis haben. In den Expertenstandards Schmerzmanagement in der Pflege bei akuten sowie chronischen Schmerzen ist dieser Personenkreis nur unzureichend berücksichtigt worden. Der Bundesverband für körper- und mehrfachbehinderte Menschen e. V. hat einen „Bogen zur Evaluation der Schmerzzeichen bei Jugendlichen und Erwachsenen mit Mehrfachbehinderung“ (EDAAPSkala) herausgegeben1; dieser wird hier vorgestellt.

Definitionen Nach SGB IX, § 2 sind „Menschen […] behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist.“ (SGB IX, § 2) Artikel 1 und 2 der der UN-Behindertenrechtskonvention2 definiert behinderte Menschen als: „Menschen, die langfristige körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, welche sie in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen, wirksa© 2018 Hogrefe

men und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können.“ Anhand der Definitionen ist unschwer zu erkennen, dass Menschen auf sehr unterschiedliche Weise behindert sein beziehungsweise werden können. Besonders schwer ist es für Menschen, die mehrere Behinderungen gleichzeitig haben und sich gegenüber anderen nicht oder nur sehr diffus äußern können. Dies ist der Fall, wenn ein teilweiser oder vollständiger Verlust der verbalen Sprache vorliegt beziehungsweise eine sogenannte Kommunikationsbeeinträchtigung. „Eine Kommunikationsbeeinträchtigung kann durch Schädigungen des zentralen, peripheren Nervensystems, der Atemwege, der Stütz- und Bewegungsorgane, der Kau-, Schluck- und Sprechorgane, des Ohres und der Augen entstanden sein. Die Folgen für die betroffenen Menschen lassen sich beispielhaft wie folgt darstellen: • nicht vorhandene oder stark eingeschränkte Lautsprache • nicht vorhandenes oder stark eingeschränktes Sprachverständnis

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2

Entwickelt von Dr. Michel Belot, Philippe Marrimpoey, Fabienne Rondi und M-A Jutand. Artikel 1 Satz 2 UN-Behindertenrechtskonvention, https://www. behindertenrechtskonvention.info/definition-von-behinderung3121/(letzter Zugriff: 01.11.2017) Schmerz und Schmerzmanagement 1/18


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Schwerpunkt

• Unfähigkeit oder Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben • nicht frei wählbare Situationen zur Kommunikation • keinen ausreichenden Einfluss auf ihr unmittelbares Umfeld nehmen können.“ (Maier-Michalitsch, Grunick 2010, S. 236–237) Eine Kommunikationsbeeinträchtigung kann viele Ursachen und weitreichende Schwierigkeiten und Folgen mit sich bringen. Um die Brisanz des Themas zu verdeutlichen, sollte nicht versäumt werden auf die Charta der Rechte hilfe- und pflegebedürftiger Menschen Bezug zu nehmen: • „Sie haben das Recht auf Beachtung Ihrer Willens- und Entscheidungsfreiheit sowie auf Fürsprache und FürFallbeispiel (Teil 1) Schwerstmehrfachbehinderter Bewohner, 63 Jahre alt, BMI 22,5, medizinische Diagnosen: Morbus Korsakow, cerebrales Multiinfarktsyndrom, PAVK, Z. n. Unterschenkelamputation bds., insulinpflichtiger Diabetes mellitus Typ II, chron. Niereninsuffizienz Grad 2, SPK-Anlage, Z. n. Dekubitus am Kreuzbein, PEG-Anlage. Pflegediagnosen (nach Schulze Höing 2012): • Sondenernährung mit Diabetes-Kost und Arzneimittelgabe über PEG, Anlage nach häufigem Verschlucken durch Herunterschlingen von Flüssigkeit und Nahrung • gelegentlich Irritation der Mundschleimhaut durch Abwehrverhalten bei der Mundhygiene und geringe orale Nahrungs-/Flüssigkeitsaufnahme • Unterstützungsbedarf bei der Körperpflege durch beeinträchtigte Kognition und Verweigerung • aktuell: Dekubitus Grad I (am Kreuzbein) durch Druck nach häufigem „Ent-Lagern“ und viel Eigenbewegungen auf dem Rücken im Bett • Harn- und Stuhlinkontinenz durch Wahrnehmungsstörungen und Immobilität • Körperliche Mobilität ist teilweise unselbständig durch beeinträchtigte Koordination und Wahrnehmung • eingeschränkte Sprachfähigkeit und Verwirrtheit durch Morbus Korsakow. Zur Pflegediagnose akuter und/oder chronischer Schmerz kann hier noch keine Aussage getroffen werden. Laut Dokumentation treten immer wieder Rötungen an den Amputationsstellen auf, sowie gelegentliche Rötungen in der Kreuzbeingegend. Der Bewohner schreit/ schimpft in unregelmäßigen Zeitabständen, wobei er teilweise lautiert oder Schimpfwörter benutzt. Besonders Pflegesituationen wehrt er verbal und nonverbal ab. Ein Zusammenhang zwischen dem Schreien/ Schimpfen und konkreten Situationen wurde bisher nicht hergestellt. Es könnte durchaus ein akuter oder gar chronischer Schmerz vorliegen. Schmerzmedikamente sind nicht verordnet. Schmerz und Schmerzmanagement 1/18

sorge. … Das gilt auch, wenn Sie sich sprachlich nicht artikulieren können und Ihren Willen beispielsweise durch Ihr Verhalten zum Ausdruck bringen. Menschen, deren geistige Fähigkeiten eingeschränkt sind, müssen ihrem Verständnis entsprechend in Entscheidungsprozesse, die ihre Person betreffen, einbezogen werden.“ (Artikel 1) • Sowohl Ihre akuten als auch Ihre chronischen Schmerzen und belastenden Symptome wie beispielsweise Atemnot und Übelkeit müssen fachgerecht behandelt und so weit wie möglich gelindert werden. Dazu gehört, dass im Rahmen Ihrer Pflege und Behandlung Anzeichen von Schmerzen sowie belastende Symptome erkannt und adäquate Therapien koordiniert bzw. durchgeführt werden.“ (Artikel 4) Dieses Fallbeispiel verdeutlicht schon die Schwierigkeiten von Schmerzerkennung durch Pflegende, die den Bewohner täglich sehen und erleben. Wenn sich im zunehmenden Krankheitsverlauf chronische Schmerzen entwickeln, wird man ein verändertes Verhalten möglicherweise nicht mit Schmerzen, sondern mit dem Fortschreiten des Morbus Korsakow in Zusammenhang bringen. Das Schreien und Abwehrverhalten wird im vorliegenden Fall i. d. R . mit dem Hirnabbauprozess in Verbindung gebracht und nicht mit möglichen Schmerzen. Noch schwieriger wird es für Pflegende, die den Bewohner aufgrund einer akuten Erkrankung im Krankenhaus kennenlernen. Dort kennt man seine „üblichen“ Verhaltensweisen sowie seine Lautäußerungen nicht. Dies kann zu einer Über- oder Unterversorgung mit Schmerzmedikamenten führen. Beides sollte vermieden werden.

Fremdeinschätzungsskalen für Schmerz Im Expertenstandard Schmerzmanagement in der Pflege bei chronischen Schmerzen werden folgende Skalen für Menschen, bei denen eine Selbstauskunft nicht mehr möglich ist, empfohlen: • BESD-Skala: Die Fremdeinschätzung wird hinsichtlich der Atmung, negativen Lautäußerungen, Gesichtsausdruck, Körpersprache und der Trostspendung durch die Pflegeperson vorgenommen. Den verschiedenen Kategorien können max. 2 Punkte zugeordnet werden, die im Anschluss addiert werden. Selbst bei einem Punktwert 0 werden Schmerzen nicht ausgeschlossen und ab einem Punktwert von 2 wird vermutet, dass Schmerzen vorliegen könnten. • BISAD-Skala: Hier werden Schmerzanzeichen im Ruhezustand und während einer Mobilisation eingeschätzt. Vor der Mobilisation werden der Gesichtsausdruck, eine spontane Ruhehaltung (Schonhaltung), eigenen Bewegungen und die Beziehungsgestaltung zu Anderen einer Bewertung unterzogen. Danach werden die ängstliche Erwartung bei der Pflege, Reaktionen während der Mobilisation, der Pflege sowie vorgebrachten Klagen mit ihren verschiedenen Ausprägungen mit Punkten von 0–4 bewertet. Ein Zusammen© 2018 Hogrefe


Schwerpunkt

hang zwischen den ermittelten Punktwerten und dem möglichen Vorliegen von Schmerzen wird nicht fest zugeordnet. Es bleibt der pflegefachlichen Einschätzung überlassen. Beide Skalen werden ausschließlich für Menschen mit einer Demenz empfohlen. Es liegen keine gesicherten Erkenntnisse vor, diese auch bei anderen kognitiv eingeschränkten Personen anzuwenden! • ZOPA©-Skala: Diese Skala unterstützt die Schmerzeinschätzung durch eine systematische Objektivierung von Verhaltensmerkmalen. In den vier Kategorien Lautäußerungen, Gesichtsausdruck, Körpersprache und physiologische Indikatoren werden 13 Merkmale erfasst. Danach obliegt es den Pflegefachpersonen eine Schmerztherapie einzuleiten. Die Wirksamkeit von Schmerzmittelgaben wird anhand dieser Skala in festzulegenden Zeitintervallen erneut durchgeführt. Diese Skala ist für beatmete, sedierte und temporär kognitiv beeinträchtigte Personen entwickelt worden. Im vorgenannten Expertenstandard werden des Weiteren die Assessment-Instrumente PACSLAC, DOLOPLUS 2 sowie FLACC aufgeführt, die aber nicht (validiert) in einer deutschsprachigen Version vorliegen. Im Expertenstandard für akuten Schmerz werden bei kognitiv eingeschränkten Menschen ebenfalls die vorgenannten Skalen BESD, BISAD, ZOPA© empfohlen; darüber hinaus die „Checklist of nonverbal pain indicators“ (HCGNE) und PACSLAC sowie die Screening-Instrumente PADE und NOPPAIN, die nur englisch-sprachig vorliegen. Allen Instrumenten gemein ist, dass mehr oder weniger umfangreiche Verhaltensebenen zur Beobachtung vorgegeben und mit dichotomen oder skalierten Rangoptionen versehen werden. Bei der EDAAP-Skala (Evaluation der Schmerzzeichen bei Jugendlichen und Erwachsenen mit Mehrfachbehinderung) nähert man sich einer möglichen Schmerzerkennung durch eine andere Herangehensweise3: 1. Es wird eine Eingangsevaluation, in der der Betroffene keine Schmerzen hat, von mindestens zwei Pflegekräften vorgenommen. 15 unterschiedliche Äußerungen im somatischen und psychomotorischen bzw. körperlichen Bereich werden mit Punkten zwischen 0 und 4 bewertet. Nötigenfalls werden Besonderheiten genau beschrieben. 2. Bei Verdacht auf Schmerzen (Tage, Wochen oder Monate später) wird auf einem zweiten Evaluationsbogen eine erneute Dokumentation der Äußerungen vorgenommen und mit der Eingangsevaluation verglichen. Weichen die Werte in den Evaluationsbögen voneinander ab oder wird der Punktwert von 7 überschritten, besteht der Verdacht auf Schmerzen. Eine Schmerztherapie ist einzuleiten und deren Wirksamkeit mit Hilfe weiterer Evaluierungen zu beobachten. Kehrt der Betroffene zu den Äußerungen in seiner Eingangsevaluation zurück, bestätigt dies das Vorhandensein von Schmerzen. © 2018 Hogrefe

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Diese Fremdeinschätzungs-Skala ist speziell für die Schmerzeinschätzung von schwerstmehrfach-behinderten Menschen entwickelt worden, die das Schmerzempfinden nicht ausreichend kommunizieren können. Sie misst als Hypothese den Ausdruck von Schmerz – ausgehend von dem üblichen Ausdruck der Person. Die Entwickler der Skala setzen bei der Schmerzbehandlung nicht alleine auf die somatische Linderung von Schmerzen, sondern weisen auf weitere Aspekte hin: • Körper und Geist sind unzertrennbar, denn körperlicher Schmerz und das daraus folgende psychische Leid sind miteinander verwoben. „Personen mit Mehrfachbehinderung, die nicht verbal kommunizieren können, drücken sich über den Körper aus, und das unter erschwerten Bedingungen.“ • Schmerz ist inakzeptabel. • Schmerz ist mit geeigneten Instrumenten zu evaluieren. Außerdem muss die Ursache identifiziert und umgehend eine analgetische Therapie eingeleitet werden. • Begleitend sollten Aktivitäten mit Ausdrucksmöglichkeiten zur Linderung und Ablenkung von Schmerzen ermöglicht werden. Snoezelen, Musik und Ausflüge sind Beispiele für solche Aktivitäten mit unterschiedlicher Intensität der aktiven Teilnahme. • „Man sollte die Selbstwahrnehmung fördern und ein Vertrauensverhältnis schaffen. Man geht besser mit Schmerz um, wenn man sich selbst besser kennt, sich verstanden und geborgen fühlt. … Regelmäßige Massagen, Vibrationsstimulation, vestibuläre und motorische Stimulation, Bäder … Basale Stimulation, die Behandlung nach Affolter, neurosensorische Integration, helfen der Person mit Mehrfachbehinderung, ihre Mitte und Einheit zu spüren.“ (Maier-Michalitsch 2012, S. 100–101) Die ganzheitliche Sichtweise der Autoren ist deshalb einzigartig, weil sie in der EDAAP-Skala Berücksichtigung findet.

Fazit Die EDAAP-Skala kann als Instrument zur Fremdeinschätzung von Schmerzen bei Menschen mit einer kognitiven Behinderung, die eine stark eingeschränkte Lautsprache und ein stark eingeschränktes Sprachverständnis haben, empfohlen werden. Begründet ist dies durch eine Vorher-/ Nachher-Analyse von Verhaltensweisen, die möglicher-

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Dr. Michel Belot, Psychologe im Krankenhaus Hôpital de Lannemezan, Frankreich, entwickelte die Schmerz-Skala unter Mitarbeit von Philippe Marrimpoey, ärztlicher Leiter HAD Pays de Saint Malo et Dinan, AUB Santé France, Fabienne Rondi, Hôpital Marin AP-HP de Hendaye, M-A Jutand, Institut de santé publique, ‚épidémiologie et de développement, Université Victor-Ségalens, Bordeaux-2. Übersetzung aus dem Französischen von Caroline Haberl. Sonderdruck aus dem Buch: Nicola J. Maier-Michalitsch (Hrsg.): „Leben pur – Schmerz bei Menschen mit schweren und mehrfachen Behinderungen. verlag selbstbestimmtes Leben, Düsseldorf 2009, 284 S., ISBN: 978-3-910095-74-8. www.bvkm.de” Schmerz und Schmerzmanagement 1/18


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Schwerpunkt

Die EDAAP-Skala

Datum

Somatische Äußerungen

Wert

SOMATISCHE BESCHWERDEN

1. Lautäußerungen (rudimentäre Sprache) u./o. Weinen u./o. Schreien: – fehlen bzw. im üblichen Ausmaß – wie üblich, aber ausgeprägter bzw. Auftreten von Weinen u./o. Schreien – auslösbar beim Versorgen – völlig unbekannter Art – u./o. neurovegetative Symptome

0 1 2 3 4

SCHONHALTUNG IN RUHE

2. Schonhaltung: – keine – wird gesucht – wird spontan eingenommen – wird durch die Pflegekraft festgelegt – Benommenheit aufgrund von Schmerzen

0 1 2 3 4

IDENTIFIKATION SCHMERZHAFTER KÖRPERREGIONEN

3. Schmerzhafte Körperregion: – keine – umschriebene empfindliche Region im Rahmen der Körperpflege (Gesicht – Füße – Hände – Bauch) – druckschmerzempfindlich – zeigt sich bei Beobachtung im Rahmen der Untersuchung – wird spontan angezeigt – Untersuchung wegen Schmerzen nicht möglich

0 1 2 3 4 5

SCHLAF

4. Schlafstörungen: – normales Schlafverhalten – unruhiger Schlaf – Ein- oder Durchschlafstörungen – Zerstörung der Schlafarchitektur (Störung Wach-/Schlaf-Rhythmus)

0 1 2 3

Psychomotorische und körperliche Äußerungen MUSKELTONUS

Wert

1. Muskeltonus: – in der Regel normoton – hypoton – hyperton – wie üblich, aber Zunahme bei potentiell schmerzhaften Pflegemaßnahmen oder Bewegungen – spontane Zunahme in Ruhe – gleiche Zeichen wie unter 3. + schmerzverzerrte Mimik – gleiche Zeichen wie unter 2. + Schreien und Weinen

0 1 2 3 4

2. Schmerzverzerrte Mimik: Gesichtsausdruck, der Schmerz vermittelt: – in der Regel kaum Mimikspiel – entspannter oder bekannter ängstlicher Gesichtsausdruck – unbekannter ängstlicher Gesichtsausdruck – schmerzverzerrte Mimik bei den Pflegemaßnahmen – spontan schmerzverzerrte Mimik – gleiche Zeichen wie unter 1., 2. und 3. + neurovegetative Symptome

0 0 1 2 3 4

3. Beobachtung der Spontanbewegungen ((un-)willkürlich, (un-)koordiniert): – kann sich wie gewohnt über den Körper ausdrücken oder agieren – in der Regel kaum Möglichkeiten, sich über den Körper auszudrücken oder zu agieren – Stereotypien oder Hyperaktivität (entsprechend den motorischen Fähigkeiten) – Verminderung der Spontanbewegungen – unbekannte Bewegungsunruhe oder Kollaps – gleiche Zeichen wie unter 1. und 2. + schmerzverzerrte Mimik – gleiche Zeichen wie unter 1.und 2. oder 3. + Schreien und Weinen

0 0 0 1 2 3 4

INTERAKTION BEI DER PFLEGE

8. Fähigkeit, mit der pflegenden Person zu interagieren. Arten der Beziehung: – akzeptiert Kontakt oder hilft teilweise mit bei der Pflege (Anziehen, Transfers, …) – reagiert wie gewohnt ängstlich bei Berührung – ungewöhnliche ängstliche Reaktion bei Berührung – reagiert mit Abwehr oder Wegziehen – Rückzugsreaktion

0 0 1 2 3

KOMMUNIKATION

9. Sprachliche oder nichtsprachliche Kommunikation: – wenig kommunikative Ausdrucksmöglichkeiten – verfügt über kommunikative Ausdrucksmöglichkeiten – verlangt mehr: sucht ungewöhnlich viel Aufmerksamkeit – vorübergehende Kommunikationsschwierigkeiten – feindlich gestimmte Abwehr jeglicher Kommunikation

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MIMIK

KÖRPERAUSDRUCK

Schmerz und Schmerzmanagement 1/18

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Schwerpunkt

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Die EDAAP-Skala

Datum

Psychomotorische und körperliche Äußerungen

Wert

SOZIALLEBEN INTERESSE AN DER UMWELT

10. Beziehung zur Umwelt: – Interesse an der Umwelt beschränkt auf eigene Bedürfnisse – interessiert sich ein wenig für die Umwelt – interessiert sich und versucht die Umwelt zu kontrollieren – vermindertes Interesse, muss aufgefordert werden – reagiert ängstlich auf akustische (Geräusche) und visuelle (Licht) Reize – völliges Desinteresse an der Umwelt

0 0 0 1 2 3

VERHALTENSSTÖRUNGEN

11. Verhalten und Persönlichkeit: – harmonische Persönlichkeit = emotionale Stabilität – vorübergehende Destabilisierung (Schreien – Flucht – Vermeiden – Stereotypie – (auto-)aggressiv) – anhaltende Destabilisierung (Schreien – Flucht – Vermeiden – Stereotypie – (auto-)aggressiv) – Panikreaktion (Brüllen, neurovegetative Reaktionen) – Selbstverstümmelung

0 1 2 3 4

SUMME

Fallbeispiel (Teil 2) Im vorgenannten Praxisbeispiel wurde bereits bei der Eingangsevaluation ein Score von 8 Punkten erreicht: • Somatische Beschwerden (rudimentäre Sprache/ Schreien): auslösbar beim Versorgen (2) • Identifikation schmerzhafter Körperregionen: umschriebene empfindliche Region im Rahmen der Körperpflege an beiden Amputationsstellen sowie in der Kreuzbeingegend (1) • Interaktion bei der Pflege: reagiert mit Abwehr oder Wegziehen bei der Pflege der vorgenannten empfindlichen Regionen (2) • Kommunikation: vorübergehende Kommunikationsschwierigkeiten (2) • Verhaltensstörungen: vorübergehende Destabilisierung – Schreien in unregelmäßigen Abständen (1) Durch eine Schmerzmedikation eine Stunde vor der pflegerischen Versorgung morgens und abends konnte die Werte in folgenden Items reduzieren: • Somatische Beschwerden (rudimentäre Sprache/ Schreien): fehlen bzw. im üblichen Ausmaß (0) • Identifikation schmerzhafter Körperregionen: keine (0) • Interaktion bei der Pflege: reagiert wie gewohnt ängstlich bei Berührung (0) • Kommunikation: vorübergehende Kommunikationsschwierigkeiten (2) • Verhaltensstörungen: vorübergehende Destabilisierung – Schreien in unregelmäßigen Abständen (1) Der Score konnte hier durch die eingeleitete Schmerzbehandlung von 8 auf 3 Punkte reduziert werden. Die Schmerzassessment-Instrumente BESD, BISAD und ZOPA sind durch weniger Items schneller auszufüllen und somit vielleicht leichter akzeptiert. Abgesehen davon, dass sie jeweils für einen anderen Perso-

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nenkreis entwickelt wurden, sollten wir Pflegenden uns für die schwerstmehrfachbehinderten Menschen mehr Zeit für die Schmerzeinschätzung nehmen, damit sie gelingen kann. Dies ist nicht nur für die Lebensqualität der Betroffenen elementar. Auch die Pflegenden leiden durch Gefühle der Machtlosigkeit und den unterschiedlichen Verhaltensweisen (z. B. häufiges Schreien), wenn sie sich dem Schmerzerleben ohnmächtig gegenüber sehen.

weise auf eine Schmerzsymptomatik zurück zu führen ist. Die pflegefachliche Expertise und eine reflektierte Aufmerksamkeit aller Pflegenden ist zudem weiterer unabdingbarer Bestandteil der Schmerzerkennung und -behandlung.

Literatur Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2015). Charta der Rechte hilfe- und pflegebedürftiger Menschen. Artikelnr. 3BR06. Publikationsversand der Bundesregierung Deutsches Netzwerk für Qualitätsentwicklung in der Pflege (DNQP) (2015). Expertenstandard Schmerzmanagement in der Pflege bei chronischen Schmerzen. Schriftenreihe des DNQP, Osnabrück Deutsches Netzwerk für Qualitätsentwicklung in der Pflege (DNQP). 2011. Expertenstandard Schmerzmanagement in der Pflege bei akuten Schmerzen. Schriftenreihe des DNQP, Osnabrück Maier-Michalitsch, N. J.(2012). Leben pur – Schmerz. Verlag Selbstbestimmtes Leben. S. 94. Maier-Michalitsch, N. J., Grunick, G. (2010). Leben pur – Kommunikation. Verlag Selbstbestimmtes Leben Schulze Höing, A. (2012). Pflege von Menschen mit geistigen Behinderungen. Verlag W. Kohlhammer. Sozialgesetzbuch (SGB) Neuntes Buch (IX), § 2 Behinderung Alexandra Boll ist BA Innovative Pflegepraxis, Heim- und Pflegedienstleitung und Studierende im Masterstudiengang „Versorgung von Menschen mit Demenz und chronischen Einschränkungen“. Schmerz und Schmerzmanagement 1/18


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Schwerpunkt

Schmerzassessment bei Menschen mit geistiger Behinderung Eine Umfrage zur Nutzung von Assessmentinstrumenten in Deutschland Lena Höffel

Die vorliegende Arbeit wurde im Rahmen einer Masterarbeit im Studiengang Lehramt für Berufsbildende Schulen (mit dem Fach Pflege an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Vallendar) bearbeitet. Das Interesse daran wurde durch eine Tätigkeit in einer Wohngemeinschaft für Menschen mit Behinderung geprägt und durch die Auseinandersetzung mit dem Thema im Schmerz während

S

chmerzerfassung ist ein relevantes Thema, fast jeder hat schon einmal Schmerzen erfahren und kann nachvollziehen, wie unangenehm diese werden können. Eine adäquate Schmerzbehandlung ist daher von großer Bedeutung, nicht zuletzt, da aus akutem Schmerz ein chronischer Schmerz entstehen kann. Problematisch wird es besonders dann, wenn Menschen mit geistiger Behinderung sich nicht (verbal) äußern können und dadurch gegebenenfalls adäquate Maßnahmen zur Schmerzreduktion unterbleiben. Insbesondere Menschen mit geistiger Behinderung sind oft nicht in der Lage, auch wenn sie sprechen können, ihre Schmerzen einzuordnen, geschweige denn diese zu artikulieren oder ihre Schmerzempfindungen zu deuten (Maier-Michalitsch 2012 S. 27 ff). Menschen mit geistiger Beeinträchtigung sind – möglicherweise auch der deutschen Historie geschuldet – immer noch eine Gruppe, die in der Gesundheitsversorgung nicht adäquat in den Blick genommen wird (Maier-Michalitsch 2012). Individuelle Lösungen für die Schmerzerfassung und Behandlung bei dieser speziellen Gruppe sind erforderlich und müssen in den Fokus der Gesundheitsversorgung von Menschen mit geistiger Behinderung gerückt werden. Durch eine der Umfrage vorausgegangenen Literaturanalyse konnte ein Überblick über vorhandene Assessmentinstrumente gewonnen werden (Höffel 2017). Im zweiten Teil der Masterarbeit, der hier vorgestellt wird, erSchmerz und Schmerzmanagement 1/18

© Martin Glauser

des Studiums gefördert.

folgte eine Umfrage zum Nutzerverhalten beim Schmerzassessment. Dazu wurde eine teilstandardisierte Fragebogen eingesetzt. Mit den Ergebnissen sollen Möglichkeiten und Barrieren beim Assessment von Schmerz in der Betreuung von Menschen mit geistigen Beeinträchtigungen aufgezeigt werden.

Assessmentinstrumente Die vorangegangene Literatursuche ergab, dass (inter-) national vier Assessmentinstrumente beschrieben werden, die im Zusammenhang mit der Schmerzerfassung für Menschen mit geistiger Behinderung genutzt werden könnten. Erwähnenswert hierbei ist, dass die EDAPPSkala (aus Deutschland) die einzige Skala ist, die speziell auf Menschen mit geistiger Behinderung ausgerichtet ist. Die r-FLACC (= revised Face, Legs, Activity, Cry, Consolability), als auch die NCCPC-PV (= Non-Communicating Children’s Pain Checklist-Postoperative Version) sind Skalen, die aus anderen Einsatzgebieten übertragen werden können. Alle drei sind Fremdeinschätzungsinstrumente, © 2018 Hogrefe


Schwerpunkt

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das bedeutet, dass eine andere Person die Schmerzen einschätzten muss. Die vierte Skala, die in der Literatur identifiziert werden konnte, ist die INRS (= individualized Numeric Rating Scale), welche sich an die NRS (= Nummeric Rating Scale) anlehnt und zu den Selbsteinschätzungsinstrumenten gehört (Höffel 2017).

ven Eigenschaften der Methode selbst unterstützt, dadurch können ohne erhöhten Aufwand viele Menschen erreicht werden. Zudem sprachen neben der Möglichkeit anonyme Antworten zu geben, der fehlende zeitliche Druck während der Befragung für die Methode (RaabSteiner & Michael Benesch 2015).

Forschungsfrage

Durchführung

Der Umfrage lag die folgende Forschungsfrage zugrunde:

Der Fragebogen war vom 21.03.2017 bis 28.06.2017 online geschaltet. Er wurde an Personen adressiert, die mit Menschen mit geistiger Behinderung in Kontakt sind. Hierbei wurde nicht unterschieden, ob dies Eltern waren oder ehrenamtlice beziehungsweise professionell Pflegende. Bei der Distribution des Fragebogens wurde auf Kontakte über die Universität und die Arbeitsstätte zurückgegriffen sowie Kontakte der betreuenden Professorinnen miteinbezogen. Zusätzlich erfolgte ein Aufruf zur Teilnahme in der Zeitschrift Schmerz und Schmerzmanagement,

Wie werden die Schmerzerfassungsinstrumente in Deutschland von Personen, die mit geistig behinderten Menschen arbeiten, genutzt?

Methodik Zur Anwendung kam dabei ein teilstandardisierter Fragebogen, der über eine Onlineplattform (SoScisurvey) genutzt werden konnte. Ein online-gestütztes Verfahren eignet sich gut, um Personen in unterschiedlichsten Regionen und Einrichtungen direkt zu erreichen. Die elektronische Umfrage wurde ergänzt durch ein Anschreiben, das die Kontaktdaten der Autorin enthielt, sowie ein Informationsschreiben zur Forschungsarbeit und eine Anleitung zum Vorgehen. Zunächst erfolgte ein Pretest mit zehn Probandinnen und Probanden, die den Fragebogen auf inhaltliche Stimmigkeit und Praktikabilität prüften. Beteiligt waren daran Personen, die mit der Thematik vertraut als auch unvertraut waren. Die Anmerkungen aus dem Pretest flossen in die Modifikation des endgültigen Fragebogens ein. Die Analyse der Umfrageergebnisse erfolgte deskriptiv (beschreibend).

Ergebnisse An dieser Stelle werden exemplarische Ergebnisse im Detail vorgestellt, im Resümee werden die übergreifende Auswertung des Fragebogens und eine methodische Bewertung der Befragung beschrieben. Der Rücklauf war weniger gut als erhofft, 33 Personen nahmen insgesamt teil. Allerdings füllten 16 Probanden (n=33) den Fragebogen vollständig aus. Die Einstiegsfrage in den Survey lautete: Nutzen Sie einrichtungsinterne Standards oder Leitlinien in ihrer Einrichtung zum Schmerzassessment bei Menschen mit geistiger Behinderung?

Ethisches Clearing Vor Beginn der Arbeit erfolgte eine Anfrage an die EthikKommission der Deutschen Gesellschaft für Pflegewissenschaft e. V. (DGP). Ein Ethik-Votum war nicht erforderlich, da Fachexpertinnen und -experten befragt wurden, die Teilnahme am elektronischen Fragebogen aktiv selbst gesteuert werden konnte und auf die Erhebung personenbezogenen Daten in der Befragung verzichtet wurde.

Es war eine geschlossene Frage, die fünf Antwortmöglichkeiten zuließ. Die Probanden konnten auch mehrere Antworten ankreuzen. Von den befragten 33 Personen gaben elf an, keine Standards und Leitlinien in der Einrichtung zu haben. Zwei Personen gaben an, Standards in der Einrichtung zu verwenden.

Ausschnitt aus dem Fragebogen

Fragebogen Als Grundlage des Fragebogen konnte der Fragebogen des Surveys von Sirsch, Zwakhalen und Gnass (2015) zum Thema Schmerzassessment bei älteren Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung genutzt werden. Der teilstandardisierte Fragebogen zum Thema Schmerzassessments bei geistig behinderten Menschen wurde adaptiert und enthielt letztlich 22 Fragen, ein Ausschnitt aus dem Fragebogen ist nachfolgend dargestellt (Tabelle 1). Die Wahl eines elektronischen Fragebogens wurde durch die positi© 2018 Hogrefe

1.

Nutzen Sie einrichtungsinterne Standards oder Leitlinien in Ihrer Einrichtung zum Schmerzassessment bei Menschen mit geistiger Behinderung? (Mehrfachantwort möglich)

2.

Bitte beschreiben Sie, welche Inhalte die Standards oder Leitlinie enthalten.

19.

Haben Sie nach ihrer beruflichen Ausbildung an Fort- oder Weiterbildungen zum Schmerzassessment bei Menschen mit geistiger Behinderung teilgenommen?

22.

Für die Zukunft würde ich mir in Bezug auf Schmerzassessments für Menschen mit geistiger Behinderung wünschen?

Schmerz und Schmerzmanagement 1/18


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Schwerpunkt

Durch die zweite Filterfrage sollte ursprünglich die Frage vertieft werden und der Inhalt der genutzten Standards zur Kenntnis gebracht werden. Dazu wurde die Frage formuliert: Bitte beschreiben Sie welche Inhalte die Standards oder Leitlinie enthalten? Zu dieser Frage wurde von keiner Person Angaben gemacht. Bei einer weiteren Frage nach dem Ausbildungs, bzw. Fortbildungsstatus machten zwei Personen Angaben: Haben Sie nach ihrer beruflichen Ausbildung an Fortoder Weiterbildungen zum Schmerzassessment bei Menschen mit geistiger Behinderung teilgenommen? Zwei Personen gaben an, interne und externe Fortbildungen bereits absolviert zu haben. Die Frage bot auch ein Feld für die individuelle Angabe der Fortbildung. Dieser Punkt wurde von drei Probanden ausgefüllt und es wurden Fortbildungen zur Pain Nurse/Pain Nurse Plus, sowie eine spezielle Fortbildung zur Demenz bei Menschen mit geistiger Behinderung beschrieben. Die Fragen 21 und 22 bezogen sich auf Verbesserungsvorschläge und Wünsche der betreuenden Personen. Für die Zukunft würde ich mir in Bezug auf Schmerzassessments für Menschen mit geistiger Behinderung wünschen? Hier wurden die unterschiedlichsten Wünsche eingebracht, die in die folgenden Themenbereiche eingeordnet werden können: • Nutzen der Instrumente muss erkennbarer sein • Verbesserung und Effektivitätssteigerung der Einschätzungsskalen • Vermehrte Fortbildungen in unterschiedlichsten Bereichen zum Thema Schmerzeinschätzung bei Menschen mit geistiger Behinderung • Standards in den Einrichtungen und eine verbesserte Versorgungstruktur für die betroffenen Personen • Anspruch an die Wissenschaft, Menschen mit geistiger Beeinträchtigung mehr Beachtung zu schenken und vermehrt Forschungsaktivitäten zu widmen. Die zeitliche Komponente beim Schmerzassessment wurde ebenfalls nachgefragt, dabei gaben acht der Teilnehmenden an, dass sie sechs oder mehr Minuten für ein Assessment von Schmerz bei Menschen mit geistiger Behinderung benötigen. Wobei das Assessment von Mitarbeitenden unterschiedlicher Berufsgruppen durchgeführt wird, meist von Fachkräften aus dem pflegerischen Bereich. Jedoch auch Ärztinnen und Ärzte sowie Angehörige zählen zu den durchführenden Personen. Die dabei gewonnenen Ergebnisse werden von neun der Befragten mit anderen Personen besprochen, wobei der Austausch meist zwischen Fachkräften, Ärztinnen/Ärzten und Angehörigen stattfindet. Schmerz und Schmerzmanagement 1/18

Der Abschluss der Befragung fokussierte auf die Zufriedenheit der Befragten mit ihrem eigenen Wissen zum Thema. Hierbei antworteten fünf der Befragten, dass sie eher unzufrieden mit ihrem Wissen sind. Die Befragten äußerten daher auch Verbesserungsvorschläge, die sich meist auf die Verbreitung von Standards und Leitlinien mit einem standardisierten Assessment beziehen. Aber es war ebenso Wunsch, dass eine einheitliche Dokumentation sowie ein interdisziplinärer Austausch vermehrt eingesetzt werden sollten.

Inhaltliches Resümee Zusammenfassend kann man sagen, dass in der Befragung als zentraler Punkt angegeben wurde, dass keine Assessmentinstrumente für Menschen mit geistiger Beeinträchtigung empfohlen bzw. angewendet werden. Lediglich zwei (n=33) Personen nutzen im Alltag Schmerzassessmentinstrumente. Dies liegt zum einen am Nichtvorhandensein von Leitlinien, Standards oder aber auch an fehlenden Fort- und Weiterbildungen speziell zu diesem Thema (Höffel 2017). Daran schließen sich die Schwierigkeiten der betreuenden Personen an, wie z. B. exakte Beobachtungen zu machen oder die Interpretation der Ausdrucksformen von Schmerzäußerungen bei Fremd- und Selbsteinschätzungsinstrumenten vorzunehmen (Höffel 2017). Dies trägt zur Unsicherheit der Anwenderinnen und Anwender bei und somit auch zu Limitierungen bei der Nutzung der Assessmentinstrumente. Bei den Selbsteinschätzungsinstrumenten liegt die Hauptschwierigkeit darin, dass sie bei Menschen eingesetzt werden, die nicht in der Lage sind, diese adäquat verbal zu nutzen, beziehungsweise auf die Fragen zu antworten. Im Gegensatz dazu liegen die Schwierigkeiten bei den Fremdeinschätzungsinstrumenten eher im Bereich der Anwenderinnen und Anwender, somit bei denjenigen, die das Assessment durchführen. Denn diese müssen die Fähigkeit besitzen, Veränderungen im Verhalten der Betroffenen zu erfassen, gegebenenfalls mithilfe eines Assessment zu interpretieren und die Ergebnisse dieser Einschätzungen zu dokumentieren. Die Verbesserungsvorschläge spiegeln zum Teil die Wünsche der betreuenden Personen wieder. Zusätzlich werden sie ergänzt vom Wunsch nach vermehrten Fortbildungen und dem Anliegen an die Wissenschaft, das Thema der Schmerzerfassung von geistig beeinträchtigten Menschen verstärkt zu berücksichtigen.

Methodisches Resümee Während der Durchführung der Forschungsarbeit kam es immer wieder zum Austausch zwischen Befragten und Befragender. Hierbei wurde nie über Ergebnisse oder ähnliches gesprochen. Es waren vielmehr formale Nachfragen zum Fragebogen. Dabei kam oft die Frage auf: „Was ist eigentlich ein Assessment?“ Daher stellt sich im © 2018 Hogrefe


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Nachgang die Frage, ob der Fragebogen für die Zielgruppe richtig formuliert war oder ob zu viel fachliches Wissen zur Schmerzeinschätzung vorausgesetzt wurde. Rückwirkend kann man dazu sagen, dass je nach Zielgruppe Unterscheidungen in der Formulierung der Fragen vorgenommen werden müssten, um alle Personen, (z. B. Pflegefachkräfte und Angehörige) ansprechen zu können. Die meisten Teilnehmenden haben sich durch die Formulierungen in dem teilstandardisierten Fragebogen nicht angesprochen gefühlt. Vielleicht hätte dies mit einem veränderten Anschreiben und/oder einer anderen Wortwahl erreicht werden können. Ein Hinweis darauf zeigte sich dadurch, dass von den 67 Personen, die sich den Fragebogen angeschaut haben, nur 33 Menschen diesen teilweise oder vollständig ausgefüllt haben. Nun stellt sich die Frage, woran die geringe Teilnahme an der Umfrage lag. Genau kann man dies nicht nachvollziehen, lediglich die Rückmeldungen, die persönlich von Probanden gegeben wurden, wiesen darauf hin, dass sich viele nicht angesprochen gefühlt hatten und sich somit nicht zur Zielgruppe gezählt haben. Diese Arbeit hat nicht nur inhaltliche Ergebnisse erbracht, zudem wurde deutlich, dass unabhängig vom Thema, Fragen in Forschungsarbeiten zielgerichteter gestellt werden müssen. Zu untersuchen wäre nun, wie die Fragestellungen beziehungsweise die Formulierungen lauten müssten, um eine adäquate Antwort zu erhalten. Daher

kann diese Arbeit nicht nur, wie anfangs angedacht, auf die geringe Verwendung von speziellen Schmerzassessments für Menschen mit geistiger Behinderung aufmerksam machen, sondern auch als methodischer Ansatzpunkt für andere Forschungen dienen.

Literatur Raab-Steiner, E.; Benesch, M. (2015). Der Fragebogen, Von der Forschungsidee zur SPSS-Auswertung. Wien: Facultas Verlag 2015 International Association for Study of Pain: https://www.iasppain.org/(Zugriff am 13.12.2017) Höffel, L. (2017). Existenz von Schmerzassessments für Menschen mit geistiger Behinderung: ein internationaler Vergleich – Begutachtung des Nutzungsverhalten in Deutschland –; Philosophisch-Theologische Hochschule Vallendar und Universität Koblenz-Landau, Campus Koblenz (unveröffentlicht) Maier-Mivhaltisch, N. J. (Hrsg.) (2012). Leben pur-Schmerz, bei Menschen mit schweren und mehrfachen Behinderungen. Düsseldorf: Verlag selbstbestimmtes Leben Sirsch, E., Zwakhalen, S. & Gnass, I. (2015). Schmerzassessment und Demenz – Deutschsprachige Ergebnisse eines europäischen Surveys“ Beltz Juventa. Pflege & Gesellschaft 20 (4): 316–332.

Lena Höffel, gelernte Krankenpflegehelferin, Master of Education Pflege & Ethik, studiert an der Philosophisch Theologische Hochschule Vallendar und ist zurzeit im Referendariat in Rheinland Pfalz.

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Schmerz und Schwerbehinderung: Eine problematische „Verbindung“ Heike Norda

In Deutschland waren Ende 2016 etwa 7,6 Millionen Menschen schwerbehindert, das entspricht ungefähr 9,3 Prozent der Bevölkerung. Die meisten Schwerbehinderten waren über 55 Jahre alt1. (Statistisches Bundesamt). Wie viele Menschen mit chronischen Schmerzen sich darunter befinden, lässt sich nicht genau ermitteln, weil chronische Schmerzen als eigenständiges Krankheitsbild noch gar nicht in der entsprechenden Verordnung erfasst sind.

E

ine Behinderung im Sinne des Schwerbehindertengesetzes liegt vor, wenn die Gesundheitsstörung (körperlich, geistig und/oder seelisch) seit mindestens sechs Monaten besteht und von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht. Dadurch entstehen Beeinträchtigungen der Teilhabe an der Gesellschaft. Auf Antrag des behinderten Menschen stellt die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes zuständige Behörde (Versorgungsamt beziehungsweise Amt für soziale Dienste) das Vorliegen und den Grad der Behinderung fest. Den gesetzlichen Rahmen für die Zuerkennung eines Grades der Behinderung (GdB) bzw. Grades der Schädigung (GdS) bildet die Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV). GdB und GdS unterscheiden sich lediglich durch die Ursache der Gesundheitsstörung. Beim GdS geht diese auf eine erworbene Schädigungsfolge zurück, also eine kausale Bewertung. Beim GdB werden alle Gesundheitsstörungen final bewertet2. Die VersMedV wurde bisher fünfmal geändert bzw. ergänzt3. Der GdB legt fest, wie stark sich die Behinderung des Einzelnen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft auswirkt, unabhängig von einer beruflichen Tätigkeit und Ursache der gesundheitlichen Beeinträchtigung. Der GdB wird in Zehnerschritten bis 100 festgestellt und muss mindestens GdB ab 20 betragen. Es werden im Wesentlichen Funktionsbeeinträchtigungen bewertet, die sich auf alle Lebensbereiche (Alltag) und nicht speziell auf das Erwerbsleben beziehen. Der Maßstab für die Bewertung dieser Funktionsbeeinträchtigungen ist der gesunde, gleichaltrige Mensch.

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Gesamt-GdB Bei mehreren Funktionsbeeinträchtigungen werden die Einzel-GdB nicht rechnerisch addiert, sondern die Funktionsbeeinträchtigung mit dem höchsten Einzel-GdB setzt den Maßstab. Bei allen weiteren Funktionsbeeinträchtigungen wird geprüft, ob sie das Ausmaß der Behinderung erhöhen, also eine Erhöhung des GdB von 10 bis 20 bedingen. Maßgebend sind die Auswirkungen der einzelnen Funktionsbeeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen zueinander. Für die Zuerkennung der Schwerbehinderteneigenschaft ist ein GdB von 50 erforderlich. Ab einem GdB von 30 bis unter 50 ist auf Antrag bei der Arbeitsagentur eine Gleichstellung mit Schwerbehinderten unter bestimmten Voraussetzungen möglich. Diese wirkt sich nur auf den beruflichen Bereich aus und umfasst nicht alle Nachteilsausgleiche, die Schwerbehinderten zustehen4. Wichtige GdB-abhängige Nachteilsausgleiche sind: • Ab GdB 30: Steuerfreibetrag im Rahmen der Einkommenssteuer • Ab GdB 50 zusätzlich: Bevorzugte Einstellung bzw. Beschäftigung, Kündigungsschutz, Begleitende Hilfen im Arbeitsleben, eine Woche Zusatzurlaub, vorgezogene Altersrente bzw. Pensionierung.5

Merkzeichenabhängige Nachteilsausgleiche Merkzeichen G: Erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr Dies bedeutet: Eine ortsübliche Strecke (in der Regel 2 km) kann nicht ohne Schwierigkeiten zurückgelegt werden,

1

2

3

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https://www.destatis.de/DE/PresseService/Presse/Pressemittei lungen/2016/10/PD16_381_227.html (Zugriff am 12.11.2017 http://www.bmas.de/SharedDocs/Downloads/DE/PDF-Publikationen/k710-versorgundsmed-verordnung.pdf?__blob=publicationFile (Zugriff am 01.08.2017) http://www.bmas.de/DE/Themen/Soziale-Sicherung/aenderungsverordnung-versorgungsmedizin.html;jsessionid=96229924F3A70 C4C51C8357C9C148B18 (Zugriff am 01.08.2017) https://www.integrationsaemter.de/Bundesagentur-fuer-ArbeitDer-Weg-zur-Gleichstellung/531c7264i1p62/index.html Zugriff am 01.08.2017) http://www.betanet.de/betanet/soziales_recht/Nachteilsausgleiche-bei-Behinderung-665.html Zugriff am 01.08.207), hier auch ergänzende Informationen © 2018 Hogrefe


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z. B. nicht innerhalb von 30 Minuten. Voraussetzung: mind. GdB 50 bei Funktionsstörungen der Lendenwirbelsäule (LWS) und/oder der unteren Gliedmaßen oder anderen Krankheiten (z. B. Herzleiden). Merkzeichen G ist das am häufigsten erteilte Merkzeichen. Nachteilsausgleich: unentgeltliche Beförderung im öffentlichen Nahverkehr nach Erwerb einer Wertmarke (zur Zeit € 80,-/Jahr) oder KFZ-Steuerermäßigung. Gegebenenfalls sind eine Mehrbedarfserhöhung bei der Sozialhilfe und andere Nachteilsausgleiche möglich.

Merkzeichen aG: Außergewöhnliche Gehbehinderung Voraussetzung: Man kann sich nur mit fremder Hilfe, oder nur mit großer Anstrengung außerhalb des Kraftfahrzeugs bewegen. Das Gehvermögen ist auf das Schwerste eingeschränkt. Beispiele: Querschnittsgelähmte oder Doppeloberschenkelamputierte usw. Bei der Nutzung eines Rollstuhles gilt folgende Regelung: Es reicht nicht aus, dass ein Rollstuhl verordnet wurde, sondern die Betroffenen müssen ständig darauf angewiesen sein, weil sie sich sonst nur mit fremder Hilfe oder unter großer Anstrengung fortbewegen können. Nachteilsausgleiche: unentgeltliche Beförderung im Nahverkehr in ganz Deutschland, KFZ-Steuerbefreiung, KFZKosten werden anerkannt für behinderungsbedingte Privatfahrten (im Rahmen des EStG), Parkerleichterung (Blauer Parkausweis, Parken auf Parkplätzen mit Rollstuhlsymbol), Parkplatzreservierung, kostenloser Fahrdienst in vielen Gemeinden, Schlüssel für Behindertentoilette

Merkzeichen B: Berechtigung für eine ständige Begleitung Voraussetzung: Bei schwer behinderten Menschen, die bei der Benutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln infolge ihrer Behinderung regelmäßig auf fremde Hilfe angewiesen sind. Beispiele: Querschnittsgelähmte oder Blinde Nachteilsausgleiche: unentgeltliche Beförderung der Begleitperson (nicht des Schwerbehinderten) im öffentlichen Nah- und Fernverkehr. Merkzeichen B ist das zweithäufigste Merkzeichen.

Merkzeichen GI: Gehörlosigkeit Dies betrifft Hörbehinderte mit einer an Taubheit grenzenden Schwerhörigkeit beidseits. Nachteilsausgleiche: unentgeltliche Beförderung im öffentlichen Nahverkehr nach Erwerb einer Wertmarke oder KFZ-Steuerermäßigung, Befreiung oder Ermäßigung der Rundfunkgebührenpflicht, ab GdB 90: Sozialtarif beim Telefon © 2018 Hogrefe

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Merkzeichen BI: Blindheit Nachteilsausgleiche: unentgeltliche Beförderung im Nahverkehr, KFZ-Steuerbefreiung, Befreiung von den Rundfunkgebühren, Parkerleichterungen, in den meisten Gemeinden auch die Befreiung von der Hundesteuer

Merkzeichen RF: Rundfunk- und Fernsehgebührenermäßigung Voraussetzung: bei schweren Seh- oder Hörbehinderungen oder wenn Besuch von Veranstaltungen unmöglich ist, GdB von 50–80 ist Voraussetzung Nachteilsausgleiche: Befreiung oder Ermäßigung von der Rundfunkgebührenpflicht

Merkzeichen H: Hilflosigkeit Voraussetzung: Hilfe muss nötig sein bei regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen zur Sicherung der persönlichen Existenz (z. B. bei der Körperpflege), ab zwei Stunden Grundpflege täglich Nachteilsausgleiche: unentgeltliche Beförderung im Nahverkehr und Befreiung von der KFZ-Steuer, evtl. Befreiung von der Hundesteuer Weitere Parkerleichterungen: Unter bestimmten Voraussetzungen erteilt die zuständige Stadt-, Gemeinde- oder

6

http://www.betanet.de/betanet/soziales_recht/Parkerleichterun gen-292.html (Zugriff am 01.08.2017), hier auch weitere Informationen erhältlich Schmerz und Schmerzmanagement 1/18


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Kreisverwaltung bzw. Verkehrsbehörde einen bundeseinheitlichen orangen Parkausweis für sonstige Parkerleichterungen, die aber nicht das Parken auf Parkplätzen mit Rollstuhlsymbol beinhalten.6

Antragsverfahren Der Antrag ist bei der zuständigen Behörde (Versorgungsamt bzw. Amt für soziale Dienste) zu stellen. Darin sollten alle Funktionsstörungen nachvollziehbar angegeben werden. Es können auf einem formlosen Ergänzungsblatt Notizen, wie zum Beispiel der Tagesablauf mit den durch den chronischen Schmerz bedingten Einschränkungen oder ein längerfristiges Schmerztagebuch mit eingereicht werden. Antragsteller sollten sich von allen eingereichten Unterlagen Kopien anfertigen und alle im Antrag genannten Ärzte über den Antrag informieren. Die Behörde führt eine Sachaufklärung und medizinische Prüfung durch. Dabei besteht für den Antragsteller eine Mitwirkungspflicht. Der Antragsteller muss alle Tatsachen angeben, die für die Leistung erforderlich sind. Der Erteilung der erforderlichen Auskünfte durch Dritte muss zugestimmt werden. Die behandelnden Ärzte und Dritte sind von der Schweigepflicht zu entbinden. Der Antragsteller muss der Aufforderung zur Untersuchung nachkommen und gutachterliche Termine wahrnehmen. Im Anschluss erhält der Antragsteller einen Bescheid. Ab einem GdB von 50 wird ein Schwerbehindertenausweis (befristet oder unbefristet) ausgestellt. Es besteht keine Verpflichtung, anderen Personen Einsicht in diesen Bescheid zu gewähren. Nach einem negativen Bescheid ist innerhalb einer Frist von vier Wochen ein Widerspruch möglich. Bewährt hat sich, den Widerspruch zunächst fristgerecht abzugeben und diesen nach Akteneinsicht zu begründen. Nach Erteilung eines Widerspruchsbescheids ist innerhalb einer Frist von ebenfalls vier Wochen eine gebührenfreie Klage vor dem zuständigen Sozialgericht möglich. Dafür wird bisher keine anwaltliche Vertretung benötigt. Hilfreich ist es, sich an die großen Sozialverbände, z. B. den Sozialverband VdK Deutschland e. V. (VdK) oder den Sozialverband Deutschland e. V. (SoVD), zu wenden.

Schwerpunkt

üblicherweise vorhandenen Schmerzen bereits in den GdB-Tabellen der entsprechenden Erkrankungen enthalten sein sollen. Lediglich bei einer über das übliche Maß hinausgehende Schmerzhaftigkeit, die nachgewiesen sein muss durch Ort und Ausmaß der pathologischen Veränderungen, die eine ärztliche Behandlung erfordert, können höhere Werte angesetzt werden. Das kommt zum Beispiel bei Kausalgien und bei stark ausgeprägten Stumpfbeschwerden nach Amputationen (Stumpfnervenschmerzen, Phantomschmerzen) in Betracht7. Dies führt nicht selten zu rechtlich unklaren Situationen. Manche Gutachter und auch Richter setzen für eine Anerkennung voraus, dass der Antragsteller in Behandlung bei einem Schmerztherapeuten sein muss. Solche Therapieplätze sind in Deutschland aber immer noch viel zu rar. Wartezeiten von vielen Monaten auf einen ambulanten oder auch stationären Therapieplatz sind für Schmerzpatienten keine Seltenheit. Auch dadurch wird es Schmerzpatienten erschwert, eine Einstufung in die GdB-Tabelle mit ihrer Schmerzerkrankung zu bekommen. Außerdem bildet die Versorgungsmedizin-Verordnung nicht das bio-psycho-soziale Krankheitsbild des chronischen Schmerzes ab. Bei anderen Erkrankungen werden die Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft berücksichtigt. Beim chronischen Schmerz bisher nicht. Die Versorgungsmedizin-Verordnung wird auf der Basis der Beschlüsse eines beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales angesiedelten, unabhängigen Ärztlichen Sachverständigenbeirats entwickelt. Seit Mai 2017 gehören diesem Gremium auch zwei Vertreter des Deutschen Behindertenrats an8. Es gibt einen bisher nicht öffentlich zugänglichen Entwurf für eine umfassend überarbeitete VersorgungsmedizinVerordnung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales. Deswegen muss abgewartet werden, ob sich durch eine Überarbeitung Verbesserungen für Schmerzpatienten ergeben.

Heike Norda ist Lehrerin an einer Grund- und Gemeinschaftsschule in Neumünster, Vorsitzende der Unabhängigen Vereinigung aktiver Schmerzpatienten in Deutschland SchmerzLOS e. V. und ehrenamtliche Richterin am Landessozialgericht Schleswig

Eine „problematische“ Verbindung: Die Tücken der Versorgungsmedizin-Verordnung Die ICD-10-Kodierung, nach der Ärzte die Krankheiten kodieren und abrechnen, wurde 2009 um die Diagnose „Chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren“ erweitert, weil die bisherige diagnostische Klassifikation den biopsychosozialen Charakter chronischer Schmerzen nicht wiedergegeben hat. Bisher fehlt jedoch eine entsprechende Bearbeitung der Versorgungsmedizin-Verordnung. Dort ist die Krankheit Chronischer Schmerz bislang noch nicht ausdrücklich enthalten. Es gibt nur eine Kann-Formulierung, nach der die Schmerz und Schmerzmanagement 1/18

UVSD SchmerzLOS e. V., Ziegelstr.25a, 23556 Lübeck norda@schmerzlos-ev.de

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8

http://www.bmas.de/SharedDocs/Downloads/DE/PDF-Publikatio nen/k710-versorgundsmed-verordnung.pdf?__blob=publicationFile (Zugriff am 01.08.2017) http://www.bmas.de/SharedDocs/Downloads/DE/mitgliederlistebeirat-versorgungsmedizin.html (Zugriff am 01.08.2017) © 2018 Hogrefe


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Schmerzerfassung bei Kindern und Jugendlichen mit globaler Retardierung Eine anspruchsvolle Aufgabe für das multiprofessionelle Team Tim Szallies

Die Erfassung von Schmerzen bei schwerstmehrfach behinderten Kindern und Jugendlichen stellt Pflegende, Ärzte sowie Angehörige und Begleitpersonen vor eine große Herausforderung. Häufig schmerzhafte Begleiterkrankungen und Eingriffe sorgen jedoch grade bei diesem Patientenklientel für wiederkehrende bzw. chronische Schmerzen. Durch kognitive oder kommunikative Beeinträchtigungen wird eine Schmerzäußerung oft schwierig

doch auch in der aktuellen Literatur findet sich keine klare Klassifizierung. So beschreiben Messerer et al. ([II] 2011, S. 256) beispielsweise, dass der Begriff intellektuell behinderter Menschen von Land zu Land variiert und nach Einschränkungen im Handlungsvermögen je Altersgruppe unterschieden werden kann, allerdings keine Grundlage zur einheitlichen Differenzierung zur Verfügung steht. Da es sich nachfolgend um die Erfassung von Schmerzen bei Kindern mit globaler Retardierung handelt, werden Synonyme verwendet, die schwere physische und psychische Einschränkungen einschließen.

oder gar unmöglich. Wie auch im Säuglings- und Kindesalter gilt es hier, durch ein adäquates Schmerz-

Problemstellung

management, Schmerzen frühzeitig zu erkennen und entsprechend zu intervenieren.

E

rst mit Beginn des 20. Jahrhunderts wird der Begriff der Behinderung mit Menschen in Verbindung gebracht (Hellrung 2017, S. 51). Unter dem Wort „Menschen mit Behinderung“ sind vorerst alle Menschen mit bestehender mentaler bzw. kognitiver Einschränkung als auch Menschen mit physischer Beeinträchtigung zusammengefasst (ebd., S. 51 f). Im Laufe des letzten Jahrzehnts wurde versucht, diesen Begriff zu spezifizieren;

Neben der oft eingeschränkten Kommunikationsfähigkeit sind schwerstmehrfach behinderte Kinder und Jugendliche, bedingt durch ihre Grunderkrankung und ihre Hauptund Begleitsymptomatik, prädestiniert für die Entwicklung akuter sowie chronischer Schmerzen. So erleben beispielsweise 60 Prozent der Kinder mit spastischer Parese bis zu ihrem achten Lebensjahr einen schmerzhaften orthopädisch-invasiven Eingriff (Chicoine et al. 1997, S. 35 f). Die Besonderheiten in der Erfassung von Schmerzen bei global retardierten Patientinnen und Patienten lassen sich aus den Hauptpflegeproblemen dieser Gruppe ableiten (Tabelle 1):

Tabelle 1. Hauptpflegeprobleme bei schwerstretardierten Patientinnen und Patienten (vgl. Teising & Jipp 2009, S. 120 f) Lokalisation

Pflegeproblem

Bewegungsapparat

– Schmerzhafte Kontrakturen und/oder Spastiken durch unzureichende Mobilisation und eingeschränkte Motorik – Knocheninstabilität und sekundäre Osteoporose durch unterentwickelte Skelettmuskulatur – Neurologische Einschränkungen wie Dystonien

Respirationstrakt

– Neigung zur erhöhten Infektanfälligkeit (Gefahr pulmonaler/respiratorischer Infektionen) – Tracheostoma versorgte Patientinnen und Patienten (Gefahr pulmonaler/ respiratorischer Infektionen)

Verdauungstrakt

– Motilitätsstörungen und Obstipationen

Harnableitendes System

– Aufsteigende Harnwegsinfektionen – Harnwegsinfektion durch regelmäßiges oder dauerhaftes Katheterisieren

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Inzidenz Bedingt durch die eingangs beschriebene, fehlende einheitliche Definition ist eine exakte Darstellung der Inzidenz von Kindern mit globaler Retardierung, die unter Schmerzen leiden, auch unter Einbezug der aktuellen Literatur nicht möglich. Bezogen auf die Daten von Chicoine et al. (1997) spiegelt die folgende Erhebung des statistischen Bundesamtes jedoch eine hohe Relevanz wieder. Laut den Zahlen des Statistischen Bundesamtes gab es Ende 2015 in Deutschland insgesamt 7,6 Millionen Menschen mit einer ausgewiesenen Schwerstbehinderung, was einem Anteil von 9,3 Prozent der Gesamtpopulation entspricht. Mit Blick auf den Demographischen Wandel ist der Anteil schwerstretardierter Kinder mit 2 Prozent entsprechend hoch. Achtet man weiterhin auf den Anstieg von 0,9 Prozent gegenüber dem Jahre 2013 und die stetige Verbesserung der Gesundheitsversorgung, vorallem in der Neonatologie, ist davon auszugehen, dass die Inzidenz weiter steigt (Statistisches Bundesamt 2016).

Schmerzerfassung Die vier übergeordneten Möglichkeiten zur Erfassung von Schmerzen lauten nach Messerer et al. ([I] 2011, S. 245): 1. Selbsteinschätzung (ab ca. drei Jahren möglich) 2. Fremdeinschätzung (Beobachtung durch therapeutisches Team und/oder Angehörige) 3. Erfassung physiologischer Parameter (Herzfrequenz etc.) 4. Erfassung hormoneller Parameter (Messung der Freisetzung von Stresshormonen wie Kortikosteroide, Katecholamine etc.) In Anbetracht der Pathophysiologie bei Kindern und Jugendlichen mit globaler Retardierung sollte die Möglichkeit der Selbsteinschätzung, die in der Erfassung von Schmerzen als Goldstandard gilt, genau überdacht werden; denn auch kognitiv weniger eingeschränkten Patientinnen und Patienten wird zumeist fälschlicherweise die Selbsteinschätzung zugesprochen, wobei eine Selbsteinschätzung in der Regel nicht möglich ist (Fanurik et al. 1998, S. 121). Die Messung hormoneller Parameter, so beschreiben Messerer et al. selbst, ist auf Grund des hohen Aufwands der laborchemischen Bestimmungen zur routinemäßigen Schmerzmessung ungeeignet ([II] 2011, S. 256). Somit erfolgt die Schmerzeinschätzung hauptsächlich durch das Pflegepersonal bzw. die Angehörigen, anhand von Skalen und der Erfassung physiologischer Parameter. Um eine adäquate Erhebung durchführen zu können, benötigt es nach dem Expertenstandard Schmerz des Deutschen Netzwerks für Qualitätsentwicklung in der Pflege zum einen eine Pflegefachkraft, die über aktuelles Wissen zur systematischen Schmerzeinschätzung verfügt und zum anderen den PatientInnen angepasste und valide Einschätzungsinstrumente (DNQP, S. 25). Aus Praktikabilitätsgründen wird die Schmerzerfassung der benannten Patientengruppe im klinischen Alltag häufig Schmerz und Schmerzmanagement 1/18

Schwerpunkt

anhand der Numerische Rangskala (NRS) durchgeführt. Da diese jedoch nicht für den Einsatz bei schwerst mehrfach behinderten Kindern und Jugendlichen validiert ist, soll im Folgenden auf validierte Erfassungsinstrumente verwiesen werden (Zernikow 2015, S. 98): • Non-Communicating Childrens Pain Checklist – Revised (NCCPC-R): Die NCCPC-R besteht aus 30 Items zur intensiven Schmerzbeobachtung. Der Wertebereich liegt zwischen 0 und 90 Punkten und der Cut-off-Wert ist 7. Die Checkliste weist eine hohe Sensitivität und Spezifität auf. Ihr Nachteil liegt im langen Beobachtungszeitraum von zwei Stunden. (siehe Tabelle 2): • Individual Numerical Rating Scale (INRS): Der Wertebereich der INRS liegt zwischen 0 und 10 Punkten und bietet somit eine einfache Zahlenfolge zur Einschätzung. Er weist eine gute Reliabilität auf. Bisher gibt es keine Validitätsprüfung der deutschen Übersetzung. • Pediatric Pain Profil (PPP): Das PPP ist ein sehr umfangreiches Instrument und bietet 20 Items zur Schmerzbeobachtung. Der Wertebereich liegt zwischen 0 und 60 Punkten. Der Cut-off-Wert ist 14. Er weist eine hohe Sensitivität und Spezifität auf. Nachteilig erweist sich die fehlende Angabe zum Beobachtungszeitraum. Weiterhin ist eine Einschätzung durch Patienten-fremde Beobachterinnen und Beobachter schwierig (keine Validitätsprüfung).

Postoperative Erhebungsinstrumente Neben diesen Erfassungsinstrumenten eignen sich im postoperativen Setting vor Allem die NCCPC-PV (NonCommunicating Childrens Pain Checklist – postoperative Version) und der FLACC Score – revised (Face, Legs, Activity, Cry & Consolability). Die NCCPC-PV weicht nur wenig von der NCCPC-R ab. Die drei Items der Kategorie „Essen und Schlafen“ wurden entfernt und der Cut-off Wert angepasst (mäßige Schmerzen ab 11 Punkten). In einem Beobachtungszeitraum von 10 Minuten wird eine hohe Reliabilität, Sensitivität und Spezifität erreicht. Die Checklist ist für Kinder zwischen 3 und 18 Jahren validiert. Der FLACC-Score – revised (Tabelle 3) ergibt eine gute Reliabilität, Sensitivität und Spezifität. Der Wertebereich liegt zwischen 0 und 10 Punkten. Er ist für den unmittelbaren postoperativen Einsatz validiert. Bei der Betrachtung der Erhebungsinstrumente wird veranschaulicht, dass Praktikabilität und Qualität aktuell im Widerspruch stehen. Vorallem der akut auftretende Schmerz wird im Stationsalltag häufig fehlerhaft eingeschätzt. Somit ist es umso wichtiger Bezugspersonen als Co-Instrument zu sehen und einzusetzen. Hierbei ist zu beachten, dass Bezugspersonen zumeist in einer engen emotionalen Bindung zu den PatientInnen stehen und somit die Objektivität beeinträchtigt sein kann. Weiterhin stellt sich die Frage, wie eine effektive und praktikable Schmerzerfassung zukünftig umsetzbar gestaltet werden kann. Einen Ansatz liefert Ray et al. mit dem Einsatz zweier Erhebungsinstrumente. Die im Indian Journal of Pain © 2018 Hogrefe


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11. Mundwinkel nach unten ziehen, lächelt nicht

16. Schlaff

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10. Augenbewegungen, beinhaltet: zusammenkneifen, weit geöffnet, verdrehen

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9. Stirnrunzeln

Haltung Körper und Extremitäten

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Gesichtsausdruck

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8. Schwer ablenkbar, kann nicht zufriedengestellt oder abgelenkt werden

15. Herumzappeln, erregt, sehr unruhig

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7. Sucht Trost oder körperliche Nähe

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6. Weniger Kontakt zu anderen, zurückgezogen

14. Bewegungslos, weniger aktiv, ruhig

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5. Unkooperativ, griesgrämig, gereizt, unzufrieden

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Beziehung/Kontakt

Aktivität

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4. Bestimmter Laut oder Ausdruck für Schmerz (z.B. Wort, Schrei, Art v. Lachen)

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3. Schreien, brüllen (sehr laut)

13. Zähneklappern , Zähneknirschen, Kaubewegungen, Zunge herausstrecken

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2. Weinen (mässig laut)

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1. Stöhnen, jammern, wimmern (ziemlich leise)

12. Lippen: schmollen, zusammenpressen, zittern

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nicht vorhanden

Verbal

Wieviele Male in den letzten 2 Std. hat das Kind folgendes Verhalten gezeigt? Die Einstufung soll nicht auf dem typischen Verhalten basieren oder in Beziehung zu dem vorgenommen werden, was es normalerweise tut. Bitte tragen Sie pro Zeile eine Zahl ein. Falls ein Punkt nicht anwendbar ist, d.h. ein Kind grundsätzlich nicht fähig ist, ein Verhalten oder einen Ausdruck von sich aus zu zeigen (z.B. das Kind isst keine feste Nahrung oder kann nicht greifen), oder grundsätzlich nicht bekannt ist, ob dieses Verhalten vom Kind überhaupt gezeigt werden kann, tragen Sie für diesen Punkt „nicht beurteilbar“ (NB) ei nur ein wenig 1

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ziemlich oft

Tabelle 2. Kleinknecht et al. (2006): Umsetzung des NCCPC-R © Kinderspital Zürich (2006). Abdruck mit freundlicher Genehmigung

sehr oft 3

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nicht beurteilbar NB

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18. Herumfuchteln oder einen schmerzenden Körperteil berühren

19. Schützt, bevorzugt oder schont schmerzhafte Stelle

20. Reflexartiges Wegziehen oder bewegt Körperteil weg, reagiert empfindlich auf Berührung

21. Den Körper in einer bestimmten Art bewegen, um Schmerzen anzuzeigen (z.B. Kopf zurückwerfen, Arme hängen lassen, Knie anziehen, etc.)

Physiologische Zeichen

22. Schlottern, zittern

23. Veränderte Hautfarbe, Blässe

24. Schwitzen, Ausdünstung

25. Tränen

26. Scharfes Einatmen, nach Luft schnappen

27. Atem anhalten

Essen/Schlafen

28. Isst weniger, kein Interesse am Essen

29. Schläft mehr als üblich

30. Schläft weniger als üblich

SI η 7 Schmerzen sind vorhanden

Interpretation: SI ζ 6 keine Schmerzen

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nicht vorhanden

17. Steif, spastisch, angespannt, starr

Wieviele Male in den letzten 2 Std. hat das Kind folgendes Verhalten gezeigt? Die Einstufung soll nicht auf dem typischen Verhalten basieren oder in Beziehung zu dem vorgenommen werden, was es normalerweise tut. Bitte tragen Sie pro Zeile eine Zahl ein. Falls ein Punkt nicht anwendbar ist, d.h. ein Kind grundsätzlich nicht fähig ist, ein Verhalten oder einen Ausdruck von sich aus zu zeigen (z.B. das Kind isst keine feste Nahrung oder kann nicht greifen), oder grundsätzlich nicht bekannt ist, ob dieses Verhalten vom Kind überhaupt gezeigt werden kann, tragen Sie für diesen Punkt „nicht beurteilbar“ (NB) ei

Tabelle 2. Fortsetzung

nur ein wenig 1

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nicht beurteilbar

Visum:

Datum:

Schmerzindex (SI):

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Tabelle 3. FLACC Score revised © 2002 The Regents of the University of Mishigan. Categories

Scoring 0

1

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Face

No particular expression or smile

Occasional grimace or frown, withdrawn, disinterested appears sad or worried

Frequent to constant frown, clenched jaw, quivering chin distress-looking face: expression of fright or panic

Legs

Normal position or relaxed

Uneasy, restless, tense occasional tremors

Kicking, or legs drawn up marked increase in spasticity, constant tremors or jerking

Activity

Lying quietly, normal position, moves easily

Squirming, shifting back and forth, tense middly agitated (eg. Head back and forth, agression); shallow, splinting respirations

Arched, rigid, or jerking severe agitation, head banging, shivering (not rigors); breath-holding, gasping por sharp intake of breath

Cry

No cry (awake or asleep)

Moans or whimpers, occasional complaint Occasional verbal outburst or grunt

Crying steadily, screams or sobs, frequent complaints Repeated outbursts, constant grunting

Consolability

Content, relaxed

Reassured by occasional touching, hugging, or being talked to, distractable

Difficult to console or comfort Pushing away caregiver, resisting care or comfort measures

Tabelle 4. Ray et al. 2015: Combination of FLACC & FPS-R. ® (S. 86–90) Scale

Sensitivity (%)

Specificity (%)

FPS-R

42,5

17,85

FLACC

53,93

2,2

66,6

95,1

FPS-R + FLACC

2015 publizierte Studie nutzt eine Kombination aus dem FLACC Score und der r-FPS (Faces Pain Scale Revised) und erreicht damit eine sehr hohe Spezifität und eine ebenfalls sehr hohe Sensitivität (siehe Tabelle 4).

Fazit Die Erhebung von Schmerzen bei Kindern mit globaler Retardierung bleibt eine anspruchsvolle Aufgabe für das multiprofessionelle Team und Begleitpersonen. Vorhandene Erhebungsinstrumente sind vorallem im stationären Setting unzureichend. Die Kombination zweier Erfassungsinstrumenten scheint eine effektive Alternative zu den aktuell verwendeten Tools darzustellen. Trotz hoher Relevanz, konnten in den Datenbanken Cinahl, Carelit, Medline bzw. Cochrane keine evidenzbasierten Studien zur Inzidenz von akuten oder chronischen Schmerzen bei Kindern und Jugendlichen mit schwerstmehrfach Behinderung gefunden werden.

Literatur Chicoine, M.; Park, T. & Kaufman, B. (1997). Selective dorsal rhizotomy and rates of orthopedic surgery in children with spastic cerebral palsy. Journal of Neurosurg 86: 34–39 Deutsches Netzwerk für Qualitätsentwicklung in der Pflege (2011). Expertenstandard Schmerzmanagement in der Pflege bei akuten Schmerzen. Osnabrück: Eigenverlag © 2018 Hogrefe

Fanurik, D.; Koh, J.; Harrison, R.; Conrad, T. & Tomerun, C. (1998). Pain assessment in children with cognitive impairment: an exploration of self-report skills. Clinic Nurs Res 7: 103–124 Hellrung, C. (2017): Inklusion von Kindern mit Behinderungen als sozialrechtlicher Anspruch. Springer Verlag: Wiesbaden Kleinknecht, M.; Marfurt-Russenberger, K. et al. (2006). NCCPC-R in Anlehnung an Breau et al. 2004 NCCPC-R (Kinderspital Zürich) [I] Messerer, B., Gutmann, A., Vittinghoff, M. et al. (2011). Postoperative Schmerzmessung bei speziellen Patientengruppen (Teil I). Das kognitiv unbeeinträchtigte Kind. In Schmerz 25: 245. (Zugriff am 26.10.2017 unter: https://doi-org.proxy.ash.kobv.de/10.1007/ s00482-011-1060-1) [II] Messerer, B., Meschik, J., Gutmann, A. et al. (2011). Postoperative Schmerzmessung bei speziellen Patientengruppen (Teil II): Das kognitiv beeinträchtigte Kind. In Schmerz 25: 256. (Zugriff am 26.10.2017unter:https://doi-org.proxy.ash.kobv.de/10.1007/s00482011-1061-0) Ray D, Ghosh S, Swaika S, Gupta R, Mondal A, Sengupta S. (2015): Combination of self-report method and observational method in assessment of postoperative pain severity in 2 to 7 years of age group: A cross-sectional analytical study. Indian J Pain 2015;29:86–90. (Zugriff am 29.10.2017 unter: http://www.indi anjpain.org/article.asp?issn=0970-5333;year=2015;volume= 29;issue=2;spage=86;epage=90;aulast=Ray;type=3) Statistisches Bundesamt (2016). Destatis Gesundheitsreport. (Zugriff am 23.03.2017 unter: https://www.destatis.de/DE/Zahlen Fakten/GesellschaftStaat/Gesundheit/Behinderte/Behinderte Menschen.html) Teising, D & Jipp, H. (2009): Neonatologische und pädiatrischen Intensivpflege. Praxisleitfaden und Lernbuch. Springer Verlag: Heidelberg Zernikow, B. (2015): Schmerztherapie bei Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Springer Verlag: Berlin, Heidelberg

Tim Szallies ist Gesundheits- und Kinderkrankenpfleger, algesiologischer Fachassistent, Pain Nurse für die Pädiatrie und Student im Studiengang Gesundheits- und Pflegemanagement B.Sc. und Dozent. tim.szallies@outlook.de Schmerz und Schmerzmanagement 1/18


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Freie Beiträge

Schmerzen bei Kindern mit schwersten Behinderungen (Heil-) Pädagogik und Schmerz Andreas Fröhlich

Der Schmerz gilt als Warnzeichen, der Schmerz ist Indikator für eine körperliche Störung. Schmerz kann umgangssprachlich allerdings auch mit Leid verwechselt werden. Der seelische Schmerz, das Leid, tut oft noch sehr viel mehr weh als ein körperlicher. Dies gilt für Erwachsene, für junge Menschen und genau so auch für Kinder. Schmerz und Leid gehören leider zum menschlichen Leben dazu, absolute Schmerz- und Leidfreiheit wird wohl kaum jemals zu erreichen sein. Dennoch herrscht Einigkeit dahingehend, dass Schmerz und Leid keine wünschenswerten Zustände sind, dass sie gegebenenfalls auch therapeutisch angegangen werden sollten. Wir wissen, dass Kinder, die unter starken Schmerzen leiden, in ihrer Erkundungs- und Spielfreudigkeit eingeschränkt sind und dass Lernen nur gewissermaßen ausfüllen und vollständig in Anspruch nehmen. Schmerz kann man also mit „pädagogischen Augen sehen“, aber kann Pädagogik etwas gegen Schmerzen tun?

S

chmerz hat eine pädagogische Komponente, wenn Schmerz nicht nur medizinisch sondern auch pädagogisch beantwortet wird. Und jede Pflegende in der Pädiatrie, jede Kinderärztin, kann davon berichten, wie wichtig in der täglichen Arbeit die pädagogische Komponente der Schmerzbegleitung ist. So soll bereits an dieser Stelle der Begriff Palliative Pädagogik eingeführt werden. Pädagogik hat neben unendlichen vielen anderen Aufgaben auch die einer Schmerzbegleitung. Im Folgenden soll nur dargelegt werden, welche Überlegungen erforderlich sind, um Kinder mit sehr schweren Beeinträchtigungen in möglichen Schmerzsituationen oder Schmerzphasen gut zu begleiten.

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© Martin Glauser

schwer möglich ist, wenn große Schmerzen ein Kind

Besonderheiten Kinder mit sehr schweren und komplexen Beeinträchtigungen sind in besonderer Weise „schmerzanfällig“. Ihre komplexen Funktionsbeeinträchtigungen sind häufig von Schmerz begleitet, zum Beispiel Gelenkversteifungen infolge von hoher Spastizität. Die Spastik selbst ist oft mit Schmerz verbunden, die Kontrakturen führen zu weiteren Schmerzen, insbesondere bei passiver Bewegung, meist im Zusammenhang mit pflegerischen Maßnahmen. Bei diesen besonderen Patienten ist die auch medizinische Schmerzbehandlung nur eingeschränkt kompetent. Oft werden noch nicht einmal der Schmerzzustand und die © 2018 Hogrefe


Freie Beiträge

Schmerzursache erkannt, da das Gesamtverhalten dieser Kinder dem ärztlichen Blick oft rätselhaft bleibt. Bewährte Medikamentierungen lassen sich aus verschiedenen Gründen nicht umsetzen; die psychologisch-pädagogische Schmerzbegleitung ist erheblich beeinträchtigt. Gerade diese spielt aber für die Pflegenden eine zentrale Rolle.

Herausforderungen An erster Stelle dieser Herausforderungen steht zweifellos die Kommunikation. Sehr schwer behinderte Kinder haben kaum die Möglichkeit, sprachlich auszudrücken, was ihnen weh tut, wo ihnen etwas weh tut, wie sehr es weh tut. Meist können sie auch nicht indirekt über Gesten oder andere Zeichen antworten. Der Prozess des Suchens nach dem Schmerz gestaltet sich deutlich schwieriger als bei einem nicht beeinträchtigten Kind. Eine Schmerz-Gewöhnung der besonderen Art muss bei sehr schwerbehinderten Kindern vermutet werden. Ihre Spastik, die Kontrakturen, die einseitige Lagerung, Fixierungen, Luxationen, Refluxstörungen, all dies sind chronische Schmerzquellen, die häufig auch von dem sozialen Umfeld mehr oder weniger hilflos hingenommen werden. Die familiäre Schmerzkultur spielt eine wichtige Rolle. Sind Schmerzen in einer bestimmten Familie etwas sehr aufregendes, ängstigendes, wird um sie herum sehr viel Sorge deutlich oder leben in dieser Familie ausschließlich „Indianer, die keinen Schmerz kennen“? Die Unsicherheit der Medikation bei sehr schwer behinderten Kindern macht den Umgang mit akuten und chronischen Schmerzen auch aus medizinischer Sicht komplex. Es kommt zu unerwünschten Nebenwirkungen, es kommt zu ausbleibenden oder gesteigerten Wirkungen. Viele Kinder haben schon einen sehr hohen Medikamentenbedarf, so dass man nur ungern noch weitere Medikamente gibt. Die Medikamentengabe selbst kann schwierig sein, bei allen Formen von Schluckstörungen ist eine schnelle orale Gabe oft nur mit Mühe möglich. Darüber hinaus liegen wenig gesicherte Erkenntnisse vor, wie Kinder z. B. mit schweren Hirnschädigungen oder mit bestimmten genetischen Veränderungen Schmerzmedikamente verarbeiten. Nicht zuletzt sind es die heimlichen Bewertungen des Schmerzes durch die soziale Umgebung. Ein ständig jammerndes Kind wird ganz sicherlich eine andere Schmerzbegleitung erfahren als eines, das sonst fröhlich und heiter ist und nun plötzlich weint und ganz elend erscheint. Wir haben es also schon bei relativ oberflächlicher Betrachtung mit einer Fülle von Variablen zu tun, die bei einer pädagogischen Schmerzbegleitung eine Rolle spielen.

Schmerzen bei Kindern mit schwersten Behinderungen Auch für Kinder mit komplexen Beeinträchtigungen gibt es den akuten Schmerz, den ein Kind sich z. B. bei einer Verletzung zuzieht. Besonders herausfordernd sind jedoch spezifische Schmerzen, dazu gehören die oben bereits an© 2018 Hogrefe

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geführten Schmerzen. Fast könnte man sagen, dass diese akuten Schmerzen bei diesen Kindern chronisch sind. Der eigentliche chronische Schmerz begleitet diese Kinder in allen Alltagsaktivitäten, hinzukommen die Probleme des Dekubitus durch bspw. die Inkontinenzhilfen, die Sitzschale, die orthopädischen Schuhe. Die Immobilisierung durch solche orthopädischen Hilfen aller Art kann Muskel- und Skelettschmerz hervorrufen. Wir müssen damit rechnen, dass sehr schwerbehinderte Kinder einen großen Teil ihrer Energien auf ihre Schmerzen und ihre individuelle Schmerzverarbeitung verwenden müssen. Über diese Leistung sehr schwerbehinderter Kinder wurde bisher nach meiner Einschätzung noch überhaupt nicht nachgedacht. Es gibt Ansätze dazu bei nichtbehinderten, kranken Kindern, aber für die Gruppe der sehr schwer mehrfachbehinderten Kindern ist hier noch viel gedankliche und praktische Arbeit zu leisten. Wir wissen kaum, wie diese Kinder Schmerz verarbeiten. Eine Lokalisierung und damit eine Distanzierung vom Schmerz ist selten zu beobachten, die Kinder wirken so, als habe der Schmerz sie ganz im Griff. Möglicherweise ist das Körperselbstbild noch nicht so weit ausdifferenziert, dass es ihnen überhaupt möglich ist, Schmerz zu lokalisieren. Der unlokalisierte Schmerz ist ein totaler Schmerz und wird entsprechend total erlebt. Er ist in besonderer Weise bedrohlich, manchmal sogar von Vernichtungsgefühlen begleitet.

„Geteilter Schmerz ist halber Schmerz“? Schmerz kann nicht mit Anderen geteilt werden. Die individuelle Schmerzwahrnehmung zwischen Menschen ist verschieden. Die Schmerzempfindung, also die persönliche individuelle Bewertung dieses Schmerzes als bedrohlich, vernichtend, erträglich, lässt sich nicht von einem Menschen auf den anderen übertragen. Das Schmerzverstehen ist von kognitiven Fähigkeiten abhängig, ist auch an Begrifflichkeiten und sprachliche Vermittlung gebunden. Wir sehen, dass hier für sehr schwer beeinträchtigte Kinder ein weiteres Problem auftaucht. Die Schmerzerinnerung spielt vermutlich eine sehr große Rolle im Leben sehr schwerbehinderter Menschen. Die Körpererinnerung (Ursula Haupt) kann bei sehr schwer behinderten Menschen negativ belastet sein, da ihr Körper immer wieder Eingriffen ausgesetzt ist, die trotz größten Bemühens unangenehm, belastend, eindringend und schmerzhaft sind. Ein immer wieder auftauchender und nicht schnell und gut kontrollierbarer Schmerz gräbt sich gewissermaßen in die Körpererinnerung tief ein. Die neurologische Forschung (Embodiment) zeigt, dass körperlich Erlebtes auch körperlich präsent bleibt und in ähnlichen Situationen aktualisiert werden kann. Das Schmerzmanagement, das heißt der selbstgesteuerte Umgang mit dem Schmerz, erfordert sowohl kognitive wie auch andere funktionelle Leistungen. Dies alles ist sehr schwer behinderten Kindern nicht möglich, sie werden in der Regel einem Fremdmanagement ihrer Schmerzen folgen müssen. Schmerz und Schmerzmanagement 1/18


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Freie Beiträge

Kinder mit schwersten Behinderungen und ihr Schmerz • • • •

Ihr „normaler“ Schmerz Ihr spezifischer Schmerz Ihr chronischer Schmerz Ihre Schmerzverarbeitung

Palliative Elemente bei der Begleitung schwerstbehinderter Kinder • • • • •

Akzeptanz und Wertschätzung des Körpers Primäre Kommunikation durch Berührung Unterstützung der Atmung „liebevolle Pflaster“ Verlässlichkeit der pflegerischen Reaktion auf Schmerzzeichen

Aspekte einer Schmerz-Begleitung auf dem Niveau der Kinder • • • • • • • • • • • • • • •

emotionale Begleitung sprachliche Sprachliege kognitive Begleitung Handlungsbegleitung Herausforderungen durch Schmerz Schmerz wird von jedem Kind individuell erlebt. Schmerz ist schwer mitzuteilen. Schmerz ist (auch) ein Kulturphänomen. Schmerz hat viele Ausdrucksformen. Schmerz bestimmt den Alltag. Schmerz macht einsam. Schmerz macht müde. Schmerz braucht Resonanz. Schmerz braucht Behandlung und Begleitung. Aber: mit Schmerz kann man leben …

Palliative Pädagogik Auch wenn Menschen uns nahe stehen, gelingt es nicht, die von ihnen erlebte und erlittene Schmerzqualität und Schmerzintensität nachzuvollziehen. Das Leiden an diesem Schmerz nehmen wir vielleicht wahr, wir können mitleiden, aber die direkte Vermittlung von unmittelbarer Schmerzerfahrung ist nicht möglich. Es bleibt für Pädagoginnen jeweils nur der Rückgriff auf ähnlich scheinende eigene Schmerzerfahrung, die aber nicht unbedingt zu einer identischen Schmerzempfindung führen muss. Schmerzbagatellisierung und Schmerzdramatisierung sind beide immer wieder in pädagogisch geprägten Situationen zu beobachten. Ein schreiendes Kind soll dadurch beruhigt werden, dass man ihm mit Worten klar macht, dass es ja gar nicht so wehtue. Sind das nur leere Worte oder ist das echte Hilfe bei der Schmerzbewältigung? Eine SchmerzbaSchmerz und Schmerzmanagement 1/18

gatellisierung oder als Gegenteil eine Schmerzdramatisierung weisen eher auf den persönlichen Schmerzumgang des erwachsenen Begleiters hin als auf die tatsächliche Befindlichkeit des Kindes. Daher kann an dieser Stelle nur nachdrücklich auf die Notwendigkeit hingewiesen werden, dass Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Arbeit mit sehr schwer beeinträchtigten Kindern auf jeden Fall Grundinformationen über Schmerzen allgemeiner und spezifischer Art haben müssen, um angemessen mit Kindern umgehen zu können. Fehlt dieses Wissen, fehlt die notwendige Kompetenz zu einer ersten Einschätzung, so werden viele Kinder Tag für Tag einem wesentlich höheren Stress ausgesetzt, als dies nötig wäre. Die Frage nach dem eigenen Umgang mit Schmerz und Leid sollte für Pädagogen und Pädagoginnen, aber auch für professionell Pflegende Pflicht sein. Palliative Pädagogik hat ein Kernmerkmal: die Wertschätzung des Körpers. Der Körper ist nicht nur Materie, Träger von Funktionen, Hülle des Geistes und der Seele, sondern er ist unsere Existenzform auf dieser Welt. Jeder einzelne Körper hat seine unverwechselbare Gestalt, seine Individualität, über, durch und in diesem Körper lebt der einzelne Mensch. Ein Kind sollte unbedingt die Wertschätzung des Körpers mit jeder Geste, mit jeder Pflegemaßnahme, erfahren. Sehr schwer behinderte Kinder erleben ihren Körper wohl immer wieder als Objekt fremder Tätigkeiten. Sie müssen sehr viel mehr Kontakte und Berührungen zulassen. Umso wichtiger wird es, in diesen Kontakten und Berührungen die Wertschätzung immer mitklingen zu lassen.

Ein schmerzender Körper ist immer ein schmerzender Mensch Über Berührung erreichen wir unmittelbar den Körper des Gegenübers. Berührung kann Sicherheit geben und Trost spenden; Berührung zeugt von der Anwesenheit eines Menschen, der bei mir ist. Berührung wird somit zu einem wesentlichen Merkmal pädagogischen Arbeitens mit sehr schwer kommunikationsbeeinträchtigten Kindern. Atmung und Schmerz hängen eng zusammen. Durch begleitende Atmung kann Schmerz erträglicher, distanzierter erlebt werden. Das Aushalten von Schmerz kostet Kraft. Schmerz ist ein Stressor. Die ständige Konzentration darauf, den Schmerz einigermaßen in Grenzen zu halten, erfordert offensichtlich große Anstrengungen. Der Körper selbst leidet unter dem Schmerz und verbraucht Ressourcen.

Schmerz macht einsam Schmerz führt oft zu einer sozialen Vereinsamung. Die Hilflosigkeit der Helfer einerseits und das Kreisen um den Schmerz des Betroffenen andererseits führen zu einem Auseinanderdriften der unmittelbaren Lebenswel© 2018 Hogrefe


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ten. Schmerz sollte daher nicht ignoriert werden, sondern mit Resonanz beantwortet werden. Unter Resonanz wird etwas verstanden, was man früher vielleicht einmal als Mitleiden beschrieben hätte. Resonanz bedeutet, dass man als helfende oder begleitende Person den Schmerz nicht leugnet oder verdrängt, sondern ihn als präsent akzeptiert und sein eigenes Verhalten positiv danach ausrichtet.

Schmerz stumpft ab Ein ständig jammerndes Kind, dem man „nichts recht machen kann“, wird im Lauf der Zeit mit seinem „Gejammere“ zu einem Störfaktor, den man umgeht, vermeidet. Die eigene Hilflosigkeit vor Augen geführt, möchte man den Kontakt lieber meiden, das Gejammer ignorieren. Manchmal kann ein Vor-sich-hin-Jammern ja wirklich hilfreich sein, entlastend, dem Schmerz Ausdruck geben, auch wenn sich dadurch nicht wirklich etwas ändert. Wir wissen allerdings nicht, wie dies für sehr schwerbehinderte Kinder ist, ob sie eine solche Entlastungsfunktion wirklich erleben oder ob nur wir unsere Vermeidungsbestrebungen erkennen müssen.

Pflaster und Tee Janosch hat in seinem Buch „Ich mach‘ dich gesund, sagte der Bär“ sehr gut beschrieben, was Kinder brauchen, um sich in einer Schmerz- und in diesem Falle in einer Krankheitssituation gut aufgehoben zu fühlen. Das Pflaster und der Tee sind Symbole für eine fürsorgliche, aufmerksame und wertschätzende Begleitung. Nicht nur im Kinderbuch, auch sonst kann ein Pflaster tatsächlich große Wirkung entfalten, weil das Kind erlebt, dass sich ein Erwachsener um es sorgt, ihm versichert, dass es jetzt besser wird. Pädagogisch müssen wir nun versuchen, auch kognitiv sehr eingeschränkten Kindern in einer gewissen Analogie solche Sicherheiten zu vermitteln. Vielleicht ist hier schon eine größere Binde statt nur eines Pflasters erforderlich, wobei die eigentliche Handlung des Versorgens auch länger dauert und intensiver spürbar wird. Das Ritual dabei ist wichtig, es muss aber ernst genommen werden und natürlich muss es sinnvoll sein. Verlässlichkeit im Zusammenhang mit Schmerzen sehr schwerbehinderter Kinder ist besonders hervor zu heben. Das Jammern, das Schreien, das sich Wälzen, das Zusammenkrümmen eines Kindes muss gesehen und unmittelbar beantwortet werden. Michel Belot und seine Mitarbeiter haben mit ihrer Schmerzskala ein gutes Instrument für solche Beobachtungen gegeben (Belot 2009). Ohne eine solche verlässliche Beobachtung und Beantwortung werden Kinder gewissermaßen dazu gezwungen, ihre Schmerzzeichen ständig zu erhöhen, möglicherweise sogar zu dramatisieren, bis hin zu dem, was dann von Pädagogen als herausforderndes Verhalten bezeichnet wird. Es gibt aber auch Kinder, die sich zurückziehen in eine dumpfe depressive Schmerzer© 2018 Hogrefe

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duldung. Unser pädagogischer Auftrag lautet eindeutig, die eine wie die andere Entwicklung möglichst frühzeitig zu erkennen und ihr durch Resonanz zu begegnen.

Schmerzminderung Schmerzminderung ist zunächst eine medizinische und pflegerische Aufgabe mit durchaus spezifischen Schwierigkeiten angesichts schwerster Behinderungen. Wirkungen, Nebenwirkungen und Langzeitauswirkungen sind komplex, auch der Schmerz als ein unmittelbares Zeichen für negative Veränderungen fällt in den medizinischen Aufgabenbereich. Schmerzminderung ist aber auch eine pflegerische Aufgabe und verlangt fachlich gut ausgebildete Mitarbeiterinnen. Erschwert wird die pflegerische Schmerzminderung häufig durch eine schwer zu erreichende Kooperation, durch die nicht einfache Kontrolle eines Erfolges aufgrund der wechselseitig eingeschränkten Kommunikation.

Schmerzbegleitung Schmerzbegleitung ist auch eine heilpädagogische Aufgabe: Kinder brauchen eine emotionale Begleitung in Phasen besonderen Schmerzes oder auch bei akutem Schmerz. Da muss jemand sein, der ihnen auf ihrem Wahrnehmungsniveau Resonanz anbietet. Manche Kinder brauchen sogar jemanden, der ihr eigenes Leid zum Ausdruck bringt, weil sie noch so wenig differenzierte Möglichkeiten haben, Emotionen wirklich zu erleben und auszudrücken. Manche Kinder scheinen nur ein pauschales Schreien für alle negativen Gefühle, für Wut und Angst, für Schmerz und Verlassensein zu haben. Hier ist es eine wichtige Aufgabe, Emotionen auch in der Begleitung zu differenzieren und dem Kind zu vermitteln, dass dieses schlechte, bedrohliche, fürchterliche Gefühl jetzt Schmerz ist. Damit kommen wir zur sprachlichen Begleitung. Schmerz braucht einen Namen, braucht Begriffe und Worte, selbst wenn diese noch nicht in ihrer Unterschiedlichkeit aufgenommen oder gar benutzt werden können. Handlungsbegleitendes Sprechen hat auch hier seine Bedeutung. „Das tut so schrecklich weh“ ist eben etwas ganz Anderes als „Das macht mich furchtbar wütend“. Beides drückt sich zunächst bei diesen Kinder in Schreien aus. Pädagogen haben die Aufgabe, sehr schwerbehinderte Kinder in die Benennung dieser Welt einzuführen, auch die Unterstützte Kommunikation hat sich in den letzten Jahren dieser Thematik gewidmet (vgl. Braun 2009). Kinder brauchen aber auch eine kognitive Begleitung. Man kann ihnen über Berührung und über begleitende Bewegung bei der Entdeckung des eigenen Körpers helfen. Dazu gehört eben auch der Körper in Schmerzsituationen und die Differenzierung, welche Partien davon betroffen und welche frei von Schmerzen sind. Ein ausschließlich ganzheitliches Erleben überwältigt Kinder, die Differenzierung erleichtert das individuelle Schmerzmanagement. Schmerz und Schmerzmanagement 1/18


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Mögliche Schmerzzeichen schwerbehinderter Kinder • plötzliches oder verstärktes Auftreten von selbstverletzendem Verhalten • (sich schlagen, sich beißen, sich kratzen oder sich anderweitig Schmerzen zufügen) • Schreien oder Jammern (über das übliche Maß hinaus) • Einnehmen von Schonhaltung, Muskelanspannung, verstärkte Spastizität bei ansonsten geduldeten Versorgungsaktivitäten • verminderte Kontakt- und Kommunikationsbereitschaft • deutliche Veränderung des Schlafverhaltens (lange Wachzeiten, kurzer Erschöpfungsschlaf) • Nahrungsverweigerung Wichtig: Es geht immer um eine Veränderung im Verhalten, die auf Schmerzen hinweisen kann. Man muss also das „Normalverhalten“ eines Kindes kennen oder erfragen, um sich einer Schmerzdiagnose anzunähern

Eine pädagogisch-fundierte Handlungsbegleitung betrifft eben dieses Schmerzmanagement des Kindes. Im Sinne einer Hinführung zu einer vermehrten Selbstbestimmung und Selbstständigkeit kann mit dem Kind erarbeitet werden, welche Zeichen es geben soll um auf Schmerz hinzuweisen. Es kann mit ihm erarbeitet werden, welche Entlastungssituationen möglich sind, welche Schonhaltungen es von sich aus finden kann. Zur pädagogischen Schmerzbegleitung gehört auch, dass man Kindern versucht zu vermitteln, dass der Schmerz langsam nachlässt, dass es einem besser geht und man sich wieder frei fühlen kann.

Folgerungen Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit schwersten Beeinträchtigungen sind ihren akuten und chronischen Schmerzen oft hilflos ausgeliefert. Sie verfügen nicht über die Möglichkeit, selbstregulierend in das Schmerzgeschehen eingreifen zu können, ihre Selbstpflegekompetenz ist umfassend eingeschränkt. Schon ihre Funktionseinschränkungen erlaubt es ihnen nicht, schmerzreduzierende Grundaktivitäten zu mobilisieren. Sie benötigen eine

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aufmerksame und sensible Begleitung, die in der Lage ist, Schmerzzustände zu erkennen und fachgerecht zu handeln. Gerade die Pflege, die medizinische und psychologisch-pädagogische Schmerzbegleitung vereinigt, ist hier in besonderer Weise gefragt. Pflegende sollten schon in ihrer Grundausbildung, dann aber auch in gezielten Fortbildungen Wissen und Handlungskompetenzen zu diesem sehr speziellen Personenkreis und seinen Bedürfnissen erwerben können.

Literatur Belot, M. (2009). Der Ausdruck von Schmerz bei mehrfachbehinderten Personen. Evaluation von Schmerzzeichen bei Jugendlichen und Erwachsenen mit Mehrfachbehinderung. In N. Maier-Michalitsch (Hrsg.), Leben pur – Schmerz bei Menschen mit schweren und mehrfachen Behinderungen. Düsseldorf Braun, U. & Orth, S. (2009). Schmerzen kommunizieren als elementarer Bestandteil zur Sicherung der Lebensqualität. In N. Maier-Michalitsch (Hrsg.), Leben pur – Schmerz bei Menschen mit schweren und mehrfachen Behinderungen. Düsseldorf Büker, U. ( 2014). Kommunizieren durch Berühren. Düsseldorf Caritasverband für die Diözese Augsburg (Hrsg.) (2011) In Würde bis zuletzt – Hospizliche und palliative Versorgung von Menschen mit geistiger Behinderung. Augsburg Döttlinger, B. et.al (Hrsg.) (2009). Achtsamkeit. Berlin Fröhlich, A. (2010). Basale Stimulation in der Pflege – Das Arbeitsbuch. Bern: Hogrefe Fröhlich, A. ( 2017). Basale Stimulation als pflegerische Intervention? NOVAcura, Jhg. 48, 6. Janosch (1985). Ich mach dich gesund, sagte der Bär. Zürich Maier-Michalitsch, N. (Hrsg.) (2009). Leben pur – Schmerz bei Menschen mit schweren und mehrfachen Behinderungen. Düsseldorf Mall, W. (2008). Kommunikation ohne Voraussetzungen: Mit Menschen mit schwersten Beeinträchtigungen. Heidelberg Schlichting, H. (2013). Pflege bei Menschen mit schweren und mehrfachen Behinderungen. Düsseldorf Schiltenwolf, M. & Herzog, W. (Hrsg.) (2011). Die Schmerzen (Beiträge zur medizinischen Anthropologie). Würzburg EDAAP Skala (Michel Belot und Mitarbeiter), per Bundesverband für Körper- und mehrfachbehinderte Menschen, Bremstrasse 5–7, D-40239 Düsseldorf

Prof. Dr. Andreas Fröhlich war bis 2006 Professor für Allgemeine Sonderpädagogik am Institut für Sonderpädagogik der Universität Landau/Pfalz. In Mainz hatte er eine Lehrstuhlvertretung Körperbehindertenpädgogik. Er arbeitete viele Jahre praktisch mit schwer mehrfachbehinderten Kindern im Rehabilitationszentrum Landstuhl/ Pfalz. In diesem Zentrum entwickelte er zusammen mit seinen Mitarbeiterinnen die Grundlagen der Basalen Stimulation. prof.a.froehlich@t-online.de

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Verletzlichkeit miteinander teilen Annäherung an ein nicht-diskriminierendes Menschenbild Diana Staudacher

„Es ist die Gesellschaft, die Menschen behindert“1 – sie misst Personen an Normen und beurteilt sie anhand ihrer Fähigkeiten. Diese „Klassifikation“ gilt es zu überwinden: Alle Menschen sind verschieden, jederzeit verletzlich und aufeinander angewiesen. Ein solches Menschenbild erfordert jedoch einen tiefen Kulturwandel.

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ie menschlich eine Gesellschaft ist, erkennen wir an den Lebensbedingungen ihrer verletzlichsten Mitglieder. Eine menschliche Gesellschaft ist befähigend und nicht behindernd. Sie stärkt und stützt Menschen, die auf Hilfe angewiesen sind. Es ist diese befähigende Gabe, die eine Gesellschaft menschlich macht. […] Das Gegenteil ist eine Gesellschaft, die Menschen behindert“, betont der Soziologe Zygmunt Bauman (2012). Er macht deutlich, dass „Behinderung“ nicht die Eigenschaft einer Person ist. „Behinderung“ ereignet sich in einer Gesellschaft, die nicht menschlich genug ist. Sie lässt einen Menschen in seiner verletzlichen Situation allein – und verweigert ihm lebensnotwendige Beziehung und Solidarität. „Behinderung“ bedeutet, dass der soziale Raum gemeinsam geteilten Menschseins zusammenbricht oder gar nicht entstehen kann. Somit ist „Behinderung“ auch Ausdruck sozialer Gleichgültigkeit und fehlender mitmenschlicher Anteilnahme, um eine Brücke zur Welt eines besonders verletzlichen Menschen zu bauen. Menschen mit der Diagnose „intellectual disability“2 erleben eine noch stärkere gesellschaftliche Zurückweisung, Missachtung und Stigmatisierung als Menschen mit einer „körperlichen Behinderung“ (Ouellette-Kuntz et al., 2010). Sogar pflegerische und ärztliche Fachpersonen finden Menschen mit dieser Diagnose „beunruhigend“ und „irritierend“. Sie fühlen sich in ihrer Gegenwart „verunsichert“, „belastet“ und „gestresst“ (Pelleboer-Gunnik et al., 2017). Vieles deutet darauf hin, dass solche Reaktionen mit tiefliegenden Ängsten verbunden sind. Im Kontakt mit diesen „anderen“ Menschen wird etwas erlebbar, das größtenteils aus dem Bewusstsein verdrängt bleibt: Menschsein ist nicht gleichbedeutend mit Kognition, Rationalität, Intelligenz, Autonomie, Souveränität und Selbstständigkeit. Alle diese Aspekte sind jederzeit be-

droht oder können sich während der Entwicklung möglicherweise gar nicht ausprägen. Diese „andere“ Weise des Menschseins vor Augen zu sehen, kann existenzielles Bedrohungsempfinden auslösen (Hischberger et al., 2005). Um sich hiervor zu schützen, tritt unwillkürlich

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Priestley, M. (2003): Worum geht es bei den Disability Studies? Eine britische Sichtweise. In: Waldschmidt, Anne (Hrsg.): Kulturwissenschaftliche Perspektiven der Disability Studies. Tagungsdokumentation. Kassel: Bildungs- und Forschungsinstitut zum selbstbestimmten Leben Behinderter. Zur Definition der Diagnose Intellectual disability (ID) vgl. Schallock et al. (2007): The Renaming of Mental Retardation: Understanding the change to the term Intellectual Disability. Intellectual and Developmental Disabilities, 45 (2), 116–124. Schmerz und Schmerzmanagement 1/18


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eine innere Distanzierung ein. Diese Schutzreaktion dient dazu, das eigene Selbstbildes unversehrt bewahren zu können (Mosher/Danoff-Burg, 2007). Diese „Grenzziehung“ trifft jedoch Menschen mit der Diagnose „intellectual disability“ besonders schmerzhaft. Sie haben keine Möglichkeit, distanzierendes und diskriminierendes Erleben kognitiv einzuordnen oder sich innerlich davon abzugrenzen. Ihre Selbstwahrnehmung ist besonders stark abhängig von der Resonanz anderer Menschen. Umso stärker ist ihr Selbstwertgefühl verletzt und sie erleben tiefe Scham (O’Connor, 2001). Je mehr sie sich zurückgestossen fühlen, desto mehr Stress erfahren sie und desto häufiger entwickeln sie eine Depression (Ali et al., 2012). Das Stigma, das die Gesellschaft ihnen zufügt, wird Teil ihres eigenen Selbst (Esdale et al., 2015). Somit ergibt sich ein leidvolles Spannungsfeld: Menschen, die ihr Leben lang besonders stark auf ihre Mitmenschen angewiesen sind, erleben häufig verletzende Gleichgültigkeit, soziale Kälte oder Missachtung (Ferdani, 2012).

Die unsichtbare „innere Welt“ der Betroffenen3 Welche „innere Welt” verbirgt sich hinter der Diagnose „intellectual disability”? Die Antwort auf diese Frage fällt nicht leicht. Sich in das Erleben der betroffenen Menschen hineinzudenken und hineinzufühlen, erfordert hohe Sensibilität und feine Beobachtungsgabe. Denn sie „kommunizieren … beispielsweise durch Körperbewegungen, einen veränderten Muskeltonus oder subtile Hinweise, die von Person zu Person und von Situation zu Situation variieren. Ihre Bedürfnisse, Gedanken und Gefühle zu deuten, ist nicht einfach. Sie werden oft ignoriert oder es kommt zu Missverständnissen“ (Hostyn/Maes, 2009). Um das Welterleben der betroffenen Menschen nachvollziehen zu können, haben sich folgende Aspekte als bedeutsam erwiesen: • Wahrnehmungseindrücke zu deuten und mit bisherigen Erfahrungen zu verknüpfen, kann den Betroffenen schwerfallen, da sie nur auf begrenzte Denk- und Handlungsmuster zurückgreifen können (Janssen, 2002). • Emotionen wirken oft überwältigend stark, weil es kaum möglich ist, sie mit Hilfe rationaler Muster abzumildern. Der Körper ist dadurch häufig hohen emotionalen Erregungszuständen ausgesetzt, verbunden mit einem starken Bedrohungs- und Angstgefühl (Schore, 2001b). • Die Fähigkeit, Gefühle aus eigener Kraft regulieren zu können, kann sich oft nur in Ansätzen entwickeln. Denn oft fehlt hierfür die Grundlage: sichere Bindungserfahrung in den ersten beiden Lebensjahren. Bei Kindern mit der Diagnose „intellectual disability“ kann sich häufig keine tragende Bindungsbeziehung entwickeln (Schuengel et al., 2013). Da die kindlichen Signale weniger eindeutig sind, ist es für Eltern sehr anspruchsvoll, die Bedürfnisse und Gefühle ihres Kindes zu erkennen und feinfühlig auf sie einzugehen. Dadurch ist das reifende Nervensystem von Anfang an ungemilderten, intensiven und anhaltenden Stressreaktionen ausgesetzt. Schmerz und Schmerzmanagement 1/18

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Dies wirkt sich nachteilig auf die Entwicklung der rechten Gehirnhälfte aus. Diese ist zuständig für die Regulation von Stress und Emotionen. Fehlen Bindungserlebnisse, führen veränderte Reifungsprozesse zu einer anderen Weise, Wahrnehmungseindrücke zu verarbeiten: Sinnesreize können besonders intensiv wirken, Häufig ist das Gehirn ist von Reizen und Emotionen überflutetet: Stress, Panik oder völlige Hilflosigkeit treten ein (Clapton et al., 2017). • Ein basales Sicherheitsgefühl kann sich häufig nicht ausprägen, weil es oftmals nicht möglich war, eine verlässliche „haltende Umwelt“ zu erleben. Durch dieses fehlende Grundvertrauen erweist sich die Welt als unsicher, bedrohlich und überwältigend. Viele Betroffene leiden unter einer Angstzuständen (Bouvet/Coulet, 2016). • Das Selbstempfinden bleibt oft sehr fragil, da ein entscheidendes Erlebnis fehlte: es gibt eine Person, die „wie ich fühlt und mich anerkennt“ (Metcalf/Terrace, 2013). Diese Aspekte ergeben ein klares Muster: Nicht die „kognitiven Defizite“, sondern die fehlende frühe Bindungsbeziehung bestimmt das Welterleben der betroffenen Menschen. Aus dem Scheitern der Bindung ergibt sich eine erhöhte Verletzlichkeit, die den weiteren Lebensweg der Betroffenen prägt. Nicht die mangelnden kognitiven Fähigkeiten bestimmen die Erfahrung, sondern die unerfüllten emotionalen und sozialen Bedürfnisse (Hollins/Sinason, 2000). Diese Erkenntnis ermöglicht, „ein tieferes Verständnis zu gewinnen von dem, was Leben ausmacht: […] In-Beziehung-sein. Soziale Interaktionen sind die Hauptquelle der Regulierung, des Wachstums und der Gesundheit […].Jede bedeutsame Beziehung kann neuroplastische Prozesse aktivieren und tatsächlich eine Veränderung in der Struktur des Gehirns herbeiführen“ (Cozolino, 2014). Diese „interpersonale“ Sichtweise führt vermehrt dazu, dass bindungsbasierte Interventionen erstrangige therapeutische Bedeutung erhalten (Schuengel et al., 2013).

Die „verborgene“ Persönlichkeit entfalten Übernehmen Fachpersonen die therapeutische Rolle einer Bindungsperson oder des spiegelnden „Hilfs-Ich“, kann sich das Selbstempfinden der Betroffenen intensivieren. Die Selbst-Struktur stabilisiert sich und eine verbesserte Emotionsregulation wird möglich (DeSchipper/Schuengel, 2010; Clapton, 2017). Aus dem Wissen um das Eingebettetsein der menschlichen Entwicklung in soziale Resonanzerlebnisse bewährten sich Interventionen, welche die rechte Gehirnhälfte aktivieren und nachträglich die Bildung sicherheitsgebender, selbststützender Bindungsrepräsentationen anregen können (Hostyn/Maes, 2009; Schore, 2014).

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Mit dem Begriff „Betroffene ” und „betroffene Menschen” sind Personen mit der Diagnose „intellectual disability” gemeint. © 2018 Hogrefe


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Im Rahmen nonverbaler „Affektabstimmung“ („affect attunement“) synchronisiert sich die Fachperson synchronisiert mit dem Gesichtsausdruck, der Körpersprache, der Vokalisierung und den Gesten der betroffenen Person. Sie hält Blickkontakt mit ihr, erkennt ihren emotionalen Zustand, greift ihn auf, hält ihn aus und spiegelt ihn in einer beruhigenden oder tröstenden Weise zurück. Dadurch wird es Schritt für Schritt möglich, Emotionen aus eigener Kraft zu regulieren. Belastende furcht- und depressionsbezogene Zustände lassen sich abmildern (Griffith/Smith, 2017). Die Erfahrung zeigt, dass nonverbale bindungsbasierte Interaktion und Kommunikation eine ausschlaggebende Wirkung auf die Lebensqualität der betroffenen Menschen haben: Sie entscheiden darüber, „ob sie Isolation oder soziale Verbundenheit erleben“ (Foster/Iacono, 2014). Somit sind Menschen mit der Diagnose „intellectual disability“ angewiesen auf „unterstützende Beziehungen, um ihre Kompetenzen und ihre Persönlichkeit zu zeigen“ (Hostyn/Maes, 2009). Der Wesenskern der betroffenen Menschen kann zur Entfaltung kommen und ihr Welterleben ändert sich dadurch von Grund auf. Ein durchdringendes Sicherheitsgefühl stellt sich ein. Ihren persönlichen Entfaltungsprozess im Rahmen einer therapeutischen Beziehung beschreiben sie in beeindruckender Weise (Clapton et al., 2017)4: • „Die Person finden, die du wirklich bist“ • „Angenommen sein und dich selbst annehmen zu können“ • „Entspannen und ruhig atmen können, … weil Dir jemand diese Ruhe vermittelt“, • „Ich schliesse die Augen, machen Atemübungen und ich spüre, dass mir das hilft. Früher hatte ich Panikattacken, wenn ich das Haus verliess“. • „Das Negative aus den Gedanken wegwischen, keine Angst haben, sich keine Sorgen machen − zu wissen, dass es etwas Sicheres gibt“. Sobald sich ein sicherheitsgebender „relationaler Raum“ aufbauen kann, lassen sich Muster aufbauen, um die Wirklichkeitseindrücke zu bewältigen. Dieser bindungsbezogene Ansatz erweist sich sogar für Menschen mit der Diagnose „profound and multiple intellectual disability“5 als vielversprechend (Maes et al., 2007). Dies bestätigt die Bedeutsamkeit des gemeinsam geteilten sozialen Raumes, der „befähigend“ statt „behindernd“ wirkt.

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der menschlichen Entwicklung können ohne mitmenschliche Zuwendung, Abstimmung und Co-Regulation nicht erfolgen (Feldman, 2015). Auch im weiteren Leben ist „wechselseitige Abhängigkeit eine ständige Realität unserer Existenz“ (Cozolino, 2006). Somit ist „Angewiesenheit“ ein natürliches Grundmuster des Menschseins • Menschsein beruht nicht auf Rationalität und Kognition, wie es die philosophische Tradition betont: „Ich denke, also bin ich“6. Die Grundlage des menschlichen Ich-Empfindens bildet die anerkennende, verständnisvolle Resonanz durch Mitmenschen: „Du siehst und anerkennst mich – also bin ich“ (Altmeyer, 2000). • Nicht die verbale Sprache, sondern die wortlose Körpersprache erweist sich bei der mitmenschlichen Begegnung als zentral und zugleich als therapeutische Kraft (Feldman, 2015). Somit erweist es sich als unberechtigt, Menschen mit der Diagnose einer „Behinderung“ auf angebliche „Defizite“ festzulegen oder sogar von einem „vermindertem Zustand des Menschseins“ zu sprechen (Campbell, 2008). Ebenso diskriminierend ist es, Menschen anhand ihrer „Fähigkeiten“ („capabilities“) oder ihrer Abweichung von einer definierten „Norm“ zu klassifizieren (Campbell, 2008). Ein nicht-diskriminierendes Menschenbild geht von der Verletzlichkeit als Grundeigenschaft des Menschen aus (Maillard, 2011). Menschliches Leben ist durch Verluste bedroht, zerbrechlich und sterblich. Jederzeit können Menschen ihre „Fähigkeiten“ und ihre „Autonomie” verlieren – vorübergehend oder dauerhaft. Die eigene Verletzlichkeit und Bedrohtheit anzunehmen, setzt tiefe seelische Kraft voraus. Sie beruht auf einer Kultur, die Menschen darauf vorbereitet, sich mit Erlebnissen der Ent-Mächtigung und des Nicht-Könnens zu konfrontieren. Eine solche Kultur gab es zu Beginn der europäischen Tradition (Lehmann, 2013). Im antiken Theater identifizierten sich Menschen mit einem verletzlichen Menschen in einer Situation des Nicht-mehr-Könnens. Dies war ein Gemeinschaft stiftendendes Ereignis. Die Zuschauenden teilten ihre menschliche Verletzlichkeit und Unvollkommenheit miteinander. Dadurch entstand ein sozialer Raum des Zusammenseins, der alle Anwesenden integrierte. Eine nicht-diskriminierende Gemeinschaft ist also nicht natürlich gegeben. Sie entsteht erst durch eine gelebte Kultur gemeinsam geteilter Verletzlichkeit (Bauman, 2000).

Eine Kultur der geteilten Verletzlichkeit „Eine Person ist eine Person durch eine andere Person“ – diese Sichtweise des sozial verdankten Menschseins erweist sich als elementar, um die Diskriminierung von Menschen mit der Diagnose einer „Behinderung“ zu überwinden (Hostyn, 2011). Eine nicht-diskriminierendes Menschenbild beruht darauf, dass: • Menschen von Natur aus auf „Symbiose“ angewiesen sind: Physiologische Prozesse in den sensiblen Phasen © 2018 Hogrefe

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Es handelt sich um Aussagen von Personen mit „mild intellectual disability“ (IQ 51–69) mit den Diagnosen Angststörung und Depression (Clapton et al., 2017). Die diagnostischen Kriterien beziehen sich auf IQ < 20, schwere neuromotorische Dysfunktionen, Beeinträchtigung der Sinnesorgane und medizinische Problemen, z.B. Atemproblemen. Grundsatz des Philosophen René Descartes (1596–1659). Schmerz und Schmerzmanagement 1/18


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Literatur Bouvet, C., Coulet, A. (21016). Relaxation therapy and anxiety, and emotional regulation among adults with intellectual disabilities: A randomized controlled trial. Journal of Intellectual Disabilities, 20(3), 228–240. Forster, S., Iacono, T. (2104). The nature of affect attunement used by disability support workers interacting with adults with profound intellectual and multiple disabilities. Journal of Intellectual Disabilities, 58 (12), 1105–1120 Griffiths, C., Smith, M. (2017). You and me: The structural basis for the interaction of people with severe and profound intellectual disability and others. Journal of Intellectual Disabilities, 21 (2), 103–117.

Schuengel, C., de Schipper, J., Sterkenburg, P., Kef, S. (2103). Attachment, intellectual disabilities and mental health: research, assessment and intervention. Journal of Applied Research in Intellectual Disabilies, 26(1), 34–46. Ein ausführliches Literaturverzeichnis ist bei der Autorin erhältlich.

Dr. Diana Staudacher ist freie Publizistin und wissenschaftliche Mitarbeiterin des Universitätsspitals Zürich und der Fachhochschule St. Gallen.

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Interview

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Perspektive Schmerzforschung Deutschland Ein Interview mit Frau PD Dr. Regine Klinger

Frau Klinger, was ist für Sie persönlich die größte Herausforderung in der Versorgung von Schmerzpatientinnen und Schmerzpatienten? Da sehe ich vor allem zwei Punkte: nach wie vor ist es schwierig, die Professionen, die an der Schmerzbehandlung beteiligt sind, zusammenzubringen beziehungsweise deren Interesse für die Zusammenarbeit zu wecken. Die Herausforderung besteht darin, dass sich diese Disziplinen öffnen, um alle an der Behandlung Beteiligte anzuhören. Das Ziel ist es, eine gemeinsame Sprache und ein gemeinsames Verständnis zu entwickeln, um eine Behandlung durchzuführen, die sich in die gleiche Richtung bewegt. Ein wesentliches Hindernis dabei ist, dass es in der ambulanten Versorgung nach wie vor keine strukturellen Modelle gibt, um interdisziplinäre Zusammenarbeit und Kommunikation finanziell vertretbar durchzuführen. Wenn die verschiedenen Fachdisziplinen sich zusammensetzen, um sich über einen Patienten auszutauschen und eine gemeinsame Schmerzbehandlungsstrategie festlegen wollen, dann müssen die Beteiligten das als ihr Hobby betrachten, finanzielle Modelle, die diese Arbeit im ambulanten Bereich angemessen vergüten, gibt es nicht. Es ist wenig verständlich, dass die Kostenträger dieses Defizit nicht angehen. Durch die fehlende Koordination und Kommunikation in der ambulanten Versorgung von Schmerzpatienten werden die vorhandenen Resourcen nicht genutzt. Mit bereits kleinen Änderungen könnten Anreize geschaffen werden für einen interdisziplinären Austausch. Die zweite Herausforderung, die ich sehe, ist die Überzeugungsarbeit, die zu leisten ist, um Patientinnen und Patienten zu einer bio-psycho-sozialen Sicht ihrer Schmerz zu bewegen. Dabei meine ich besonders die Bewusstheit und Überzeugung von ihrer eigenen Selbstwirksamkeit. Ich bin seit 1987 in der Schmerztherapie tätig bin, es hat sich zwar diesbezüglich seither schon einiges verändert, aber nach wie vor ist es sehr schwierig, Patienten zu überzeugen, dass sie selber etwas tun können, um ihre Schmerzen zu lindern. Dabei ist der Stand der Forschung mittlerweile viel weiter: von Schmerzen Betroffene können selbst aktiv werden, um ihre Schmerzsituation zu verändern, statt passiv eine Situation zu erdulden beziehungsweise hinzunehmen. Psychologische Schmerzverarbeitung führt zu einer deutlichen Reduktion von Schmerzen und verhindert Chronifizierung. © 2018 Hogrefe

In diesem Zusammenhang ist es eine weitere Herausforderung, diese Forschungsergebnisse viel stärker als bisher in die Praxis zu transferieren und die Selbstwirksamkeit in der Schmerztherapie weiter zu verankern. Medikamente kommen bei Patienten oftmals deshalb besser an, weil sie schnell und einfach verfügbar sind. Patientinnen und Patienten scheuen häufig den etwar längeren, aber oft nachhaltigeren Weg, selbst etwas zu lernen, um den Schmerz in den Griff zu bekommen. In der Schmerzversorgung scheint die interprofessionelle Zusammenenarbeit häufig einfacher zu gelingen als in anderen Bereichen. Erleben Sie dies genauso? Haben Sie Erklärungen hierfür? Ja, genau, das sehe ich auch so. Dies trifft insbesondere für Schmerzambulanzen und -kliniken zu. Hier scheint die Zusammenarbeit zu funktionieren, wenngleich sie ein ständiger Prozess der Herausforderung darstellt. Als Erklärung dafür sehe ich, dass das Modell der interdisziplinären multimodalen Schmerztherapie bereits auf eine längere Geschichte zurückblickt und somit die verschiedenen Disziplinen jahrelanges Training in der Zusammenarbeit haben. Schmerztherapeutische Einrichtungen etablierten sich in den 1970er Jahren in der BRD und es entstand ein förmlicher Hype. Alle wollten Schmerzambulanzen haben und dort arbeiteten nicht nur Mediziner, sondern auch besonders an Schmerztherapie interessierte Pflegende, Physiotherapeuten, Psychotherapeuten und andere. Im Bereich Schmerz hat die interdisziplinäre Zusammenarbeit somit unter Beteiligung verschiedenster Berufsgruppen nach und nach Einzug gehalten. Im Vergleich dazu ist interdisziplinäre Zusammenarbeit zum Beispiel im Bereich der Therapie von Herzerkrankungen bei weitem nicht so etabliert. Zudem muss man hinzufügen, dass die Wurzeln einer interdisziplinären multimodalen Schmerztherapie in Deutschland durch die Anästhesie gelegt worden. Anästhesistinnen und Anästhesisten zeigten sich hier der fächerübergreifenden Kooperation gegenüber sehr offen. Ein sehr prominentes Beispiel aus historischer Perspektive ist John Bonica, ein Anästhesist, der schon früh in seiner Karriere erkannte, dass ein interdisziplinärer multimodaler Behandlungsansatz bei Schmerz erforderlich ist. Er hat die Toleranz der Anästhesistinnen und Anästhesisten gegenüber anderen Fachrichtungen in der Schmerztherapie stark beeinflußt. Schmerz und Schmerzmanagement 1/18


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Glauben Sie, dass wir eines Tages eine im klinischen Alltag einsetzbare Methode haben werden, die es uns ermöglicht, Schmerz objektiv anhand eines Blutwertes oder ähnlichem zu messen? Wenn ja, wie wird diese aussehen? Nein, das glaube ich definitiv nicht. Je länger ich in der Schmerztherapie und -forschung tätig bin, desto weniger glaube ich, dass es das einmal geben wird. Die multifaktorielle Betrachtung des Schmerzes wird sich nie in einem einzigen Wert widerspiegeln. Wir haben noch nicht einmal das gesamte Ausmaß von Schmerz in allen Dimensionen verstanden. Schmerz kann zum Beispiel als das Gegenteil von Leben verstanden werden. Hier finden sich auch sehr viele philosophische Dimensionen. Schmerz ist Emotion, Kognition und Verhalten und spiegelt sich in allen Bereichen des Lebens wieder. Diese Vielfalt auf einen einzigen Blutwert zu reduzieren erscheint vor diesem Hintergrund zu kurz gegriffen. Bereits die subjektive Angabe der Schmerzintensität zwischen 0 und 10 als alleiniges Maß für Schmerzen ist sehr reduziert. Die Bedeutung des Schmerzes, besonders auch in den sozialen Bezügen eines Menschen, kann mit einem solchen Einzelwert nicht erfasst werden. Es wäre meiner Ansicht nach sogar hilfreicher, sich von dieser Idee, dass es einen solchen Wert geben kann, zu verabschieden, weil wir damit den Blick auf die vielen Dimensionen des Schmerzes verlieren könnten. Im Rahmen einer in Kürze erscheinenden Forschungsagenda Perspektive Schmerzforschung Deutschland, an der bedeutende Schmerzforscher Deutschlands gearbeitet haben, wird die Suche nach dem einen Blutwert aufgegeben. Dort haben wir die bio-psycho-soziale Perspektive für sämtliche Fragestellungen und Perspektiven durchdekliniert und konnten zusammen mit allen schmerzmedizinischen, -psychologischen, -physiotherapeutischen und -pflegerischen Kolleginnen und Kollegen einen Konsens und eine Forschungsperspektive erarbeiten. Die Forschungsagenda der Deutschen Schmerzgesellschaft wird im Dezember 2017 veröffentlicht (Link zu den Projekten: https://www.uke.de/ klinikeninstitute/kliniken/anästhesiologie/forschung/ arbeitsgruppen/index.html; Link zur Forschungsagenda: https://dx.doi.org/10.21962/ForA_2017.001.1)

Interview

PD Dr. Regine Klinger ist psychologische Leiterin des Bereichs Schmerzmedizin und Schmerzpsychologie in der Klinik und Poliklinik für Anästhesiologie im Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. Sie ist Schmerzpsychotherapeutin, Psychologische Psychotherapeutin, Verhaltenstherapeutin und Projektleiterin innerhalb der DFG-Forschergruppe FOR 1328 Expectation and conditioning as basic processes of the placebo and nocebo response und im DFG-Bereich „Juckreizforschung“. Iher aktuellen Projekte und Aufgaben in Zusammenhang mit Schmerz sind: psychologische Schmerztherapie im Rahmen der Schmerzambulanz, ständige Weiterentwicklung von Konzepten, insbesondere Gruppenkonzepten und Versorgungsforschung, klinische Forschung zu Placebo- und Noceboeffekten.

Das Interview führte Nadine Schüßler, Herausgeberin der Fachzeitschrift Schmerz und Schmerzmanagement.

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Praxisbeispiel

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Die Migräne einer autistischen Erwachsenen Diagnostische Probleme und ausbleibende Therapie Nadine Schüßler

Seit einigen Jahren ist die Überzeugung, dass Menschen mit Autismus ein eingeschränktes Schmerzempfinden haben auf dem Rückzug. Mehr und mehr Untersuchungen können zeigen, dass Autistinnen und Autisten gleichermaßen Schmerz empfinden, jedoch unterschiedliche für die Außenwelt oft schwer

räneproblematik in einem guten Maß zu halten. Über Jahrzehnte zeigt sich weder eine Verschlechterung noch eine Besserung der Attacken. Mit dem Einzug von Christin in die Wohngemeinschaft wurde auch die medizinische Versorgung an die dortigen Betreuungskräfte übergeben. Christin besucht ihre Eltern an den Wochenenden und zeigte hier gelegentlich nach

wahrnehmbare Wege finden, diesen Schmerz auszudrücken (Allely 2013).

Fallbeispiel

Ä

hnlich, wie bei anderen Patientinnen- und Patientengruppen, die nicht zur Selbstauskunft über Schmerz in der Lage sind, wird für die Schmerzerkennung bei Menschen mit autistischen Veränderungen empfohlen, alle Aspekte der Informationsgewinnung zu nutzen, um Schmerzprobleme zu konkretisieren. Dazu zählt: • genaue Anamnese (unter Einbezug der Informationen von Angehörigen und von betreuenden Institutionen/ Ärztinnen oder Ärzten) • Nutzung standardisierter Beobachtungsinstrumente (siehe Schwerpunkt Artikel dieses Heftes) • weitere diagnostische Maßnahmen zur Ursachen- und Differenzialdiagnostik. Es sollte hier besonders berücksichtigt werden, dass Menschen mit autistischen Störungen oftmals keine mimische Schmerzreaktion zeigen und den Schmerz nicht verbal präzise äußern. Besonders schwierig sind idiosynkratische Schmerzverhaltensweisen, die die Schmerzerkennung erschweren, z. B. wird das Aufreißen des Mundes als Schmerzausdruck bisher nur selten in Tests mit Instrumenten beschrieben. Eine medizinische Diagnose zur Migräne wurde bei Christin bis heute nicht gestellt. Christins Mutter verabreichte ihr bei Auftreten der beschriebenen Symptomen Metamizol in Tropfenform. Tabletteneinnahme lehnt Christine ab. Die Tropfen bewirken, dass Christin davon einschlafen kann und danach weitgehend symptomfrei erwacht. Mit diesem Regime gelingt es der Familie, die Mig© 2018 Hogrefe

Christin ist eine 31-jährige Frau mit Störungen des autistischen Spektrums. Sie lebt in einer betreuten Wohneinrichtung und arbeitet werktags seit mehreren Jahren in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung. Kontinuität und Regelmäßigkeit sind wichtige Aspekte für das Wohlbefinden von Christin, sie geben ihr Ruhe und Ausgeglichenheit. Ihre autistische Veränderung zeigt sich insbesondere in sich wiederholenden Handlungen, zum Beispiel sortieren von Gegenständen, in welchen sie bis zu drei Stunden verharren kann. Des Weiteren hat sie große Schwierigkeiten damit, zu fremden Personen in Kontakt zu treten und zugleich verweigert sie häufig unbekannte Erfahrungen, das Aufsuchen fremder Orte sowie Körperkontakt zu Fremden. Ihre kognitive Leistungsfähigkeit ermöglicht es ihr, ein Puzzle mit der maximal erhältlichen Anzahl von Teilen binnen kürzester Zeit zu lösen. Dabei spielt es keine Rolle, ob sie das Bild auf dem Kopf zusammensetzt und es vorher nur wenige Sekunden gesehen hat. Christin hat einige Jahre eine reguläre Schulbildung durchlaufen und dank der großen Geduld der Eltern, lesen und schreiben gelernt. Allerdings ist ihre Art zu schreiben nur für sie selbst zu entziffern. Die Eltern von Christin wissen erst seit dem 14. Lebensjahr ihrer Tochter, dass Christine eine autistische Veränderung hat. In den Jahren zuvor wurde Christine im regulären Kindergarten- und Schulbetrieb unterrichtet. Hier wurde sie zum Beispiel von einer Lehrenden als „schwieriges Kind“ bezeichnet, das keinen Kontakt zu fremden Menschen aufbauen könne, weil sie verwöhnt sei.

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Praxisbeispiel

Migräne ist eine Kopfschmerz-Form, die durch ein attackenartiges Auftreten gekennzeichnet ist und sowohl den gesamten Kopf, als auch in halbseitiger Form auftritt. Die Attacken werden in unterschiedlichen Häufigkeiten von Erscheinungen wie Appetitlosigkeit, Übelkeit mit und ohne Erbrechen sowie von Licht- und Lautstärkeempfindlichkeit begleitet (DGN, 2013). Am häufigsten tritt Migräne im Alter zwischen 35 und 45 auf. Bei Mädchen tritt die Erkrankung ab Beginn der Pubertät häufiger auf als bei gleichaltrigen Jungen. Manche MigränepatientInnen (ca. 15 %) leiden vor den Kopfschmerzattacken an einer Aura, die sich z. B. durch visuelle Störungen bemerkbar macht (Kopp et al., 2016).

Ebenfalls in den Teenager-Jahren traten erstmalig Symptome einer Migräne auf. Für die Eltern war es in diesem Alter eine große Herausforderung zu unterscheiden, welche Verhaltensweisen ihrer Tochter mit dem Autismus, welche mit der Pubertät und welche mit einer möglichen Migräneattacke zusammenhingen. Obwohl Christine nicht verbal äußern kann, dass sie Schmerzen oder auch Unwohlsein hat, gelang es Christines Mutter nach und nach die folgenden Charakteristiken des migränebezogenen Verhaltens zu identifizieren: • starke Blässe im Gesicht • unangekündigtes Hinlegen • sich einen Behälter für Erbrochenes bereitstellen • Musik ausstellen, noch mehr als sonst auf Ruhe achten In den Jahren vor dem ersten Auftreten der Migräne hatte Christin durchaus gelegentlich Schmerzen im Kopf geäußert. Diese verbale Äußerung zeigt sie jedoch nie in Zusammenhang mit den Migränesymptomen.

wie vor die bekannten Migränesymptome. Von den Betreuungskräften wurde jedoch lediglich von Magenverstimmungen, Übelkeit und Erbrechen berichtet. Christine kann deshalb teilweise auch ihrer Arbeit nicht nachgehen, und leidet auch dort gelegentlich unter den mit Migräne in Verbindung gebrachten Symptomen. Christins Mutter bemüht sich darum, den Betreuungskräften das MigräneProblem ihrer Tochter zu erklären und ihren Umgang damit auch in der jetzigen Lebenssituation zu ermöglichen. Auch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Werkstatt, in der Christin arbeitet, berichten von Symptomen wie Übelkeit, Rückzug und Blässe. Um eine therapeutische Maßnahme umsetzen zu, benötigen die Betreuungskräfte eine ärztliche Anordnung, um die sich die MitarbeiterinSchmerz und Schmerzmanagement 1/18

nen und Mitarbeiter der Wohneinrichtung bemühen. Die zuständige Ärztin spricht jedoch eine entsprechende Verordnung nicht aus, da sie zunächst diagnostische Maßnahmen zur Untermauerung der Migränediagnose beziehungsweise Abklärung anderer Ursachen durchführen möchte. Hierfür wird ein MRT des Gehirns angeordnet. Die Durchführung einer diagnostischen Maßnahme, wie beispielsweise ein MRT, jedoch gleichermaßen Laboruntersuchungen oder EEG, stellen für Menschen mit autistischen Veränderungen oftmals eine große Herausforderung dar. Christin sieht sich mit einer Maßnahme konfrontiert, die ihren regelmäßigen Tagesablauf unterbricht und mit einer Vielzahl von Fremdkontakten verbunden ist. Sie muss sich in eine Räumlichkeit begeben, die ihr nicht vertraut ist und zu allem Überfluss in einer engen und lauten Röhre ruhig liegen bleiben. Ihre Mutter bereitet diese Untersuchung durch intensive Kontakte mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Krankenhauses vor. Dies bedeutet zum Beispiel, ein Narkoseteam in Bereitschaft zu halten, falls es zu einer Krise kommt sowie die Betreuerin aus der Wohngemeinschaft zu gewinnen, Christin vorsichtig und rücksichtsvoll auf diese Unregelmäßigkeit in ihrem Tagesablauf vorzubereiten und sie dorthin zu begleiten. Auch die Anwesenheit der Mutter ist hilfreich und aus betreuungsrechtlicher Perspektive außerdem notwendig. Beim Anblick des MRT-Gerätes verweigert Christin jedoch trotzdem jedwede Fortsetzung der Maßnahme. Nach einem weiteren erfolglosen Versuch zwei Tage später, weigert sich Christins Mutter, ihre Tochter gegen deren Willen einer MRT-Untersuchung auszusetzen. Als Begründung führt sie ins Feld, dass im Falle eines potenziellen Notfalls, in dem ein MRT dringend benötigen würde, Christin diese nach einer jetzt gemachten dramatisierenden Erfahrung mit Sicherheit ablehnen würde. Nach weiterer Rücksprache mit der behandelnden Ärztin verweigert diese nach wie vor eine Verordnung von Metamizol als Bedarfsmedikament gegen die Symptome von Christin. Es ist für die Eltern schwer nachzuvollziehen, warum solange keine Diagnose vorliegt, eine bisher als wirksam erprobten Therapie verweigert wird. Zugleich kann anhand der durchaus charakteristischen klinischen Zeichen von Übelkeit, Erbrechen und Rückzug von einer Verdachtsdiagnose Migräne ausgegangen werden. Dass solche Symptome im Sinne einer Differenzialdiagnostik abgeklärt werden müssten, ist aus ärztlicher Sicht zugleich ebenfalls nachvollziehbar. An diesem Fall zeigt sich, dass der diagnostische und therapeutische Prozess bei Menschen mit Behinderung oft zu einem Aushandlungsprozess zwischen Eltern und deren professionellen Behandlerinnen und Behandlern werden kann. Es bedarf kontinuierlicher Gesprächsbereitschaft zwischen den an der Versorgung beteiligten Gruppen, damit medizinische Absicherung sinnvoll in ein Verhältnis zu Risiken und Aufwand von diagnostischen Maßnahmen gebracht werden können. Verfasst mit der freundlichen Unterstützung von Heike Galeja © 2018 Hogrefe


Praxisbeispiel

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Literatur

Nadine Schüßler ist M. Sc. Pflegewissenschaft, Pain Nurse und Krankenschwester und arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der HAW Hamburg, Department Pflege & Management. Sie ist Herausgeberin der Schmerz und Schmerzmanagement.

Deutsche Gesellschaft für Neurologie. (2013). Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie – Therapie der Migräne. Essen. Abgerufen von http://www.dmkg.de/files/dmkg.de/patien ten/Empfehlungen/Leitlinie-Migränee-Therapie_2015-2017.pdf, (Zugriff am 20.12.2017) Kopp, P., Meyer, B., Dresler, T., Fritsche, G., Gaul, C., Niederberger, U., … Straube, A. (2016). Entspannungsverfahren und verhaltenstherapeutische Interventionen zur Behandlung der Migräne – Leitlinie der Deutschen Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft. Nervenheilkunde, 35, 502–515. Allely, C. S. (2013). Pain Sensitivity and Observer Perception of Pain in Individuals with Autistic Spectrum Disorder. The Scientific WorldJournal,2013,1–20.https://doi.org/10.1155/2013/916178

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Schmerz und Schmerzmanagement 1/18


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Patientengesteuertes Schmerzmanagement nach der OP

Patientenzufriedenheit wichtig für den Heilungsprozess Die S3-Leitlinie „Behandlung akuter perioperativer und posttraumatischer Schmerzen“ hebt die große Bedeutung einer effektiven Schmerzlinderung hervor und fordert, den Patienten soweit wie möglich aktiv in seine eigene Schmerzbehandlung einzubeziehen.1 Die Wirklichkeit sieht jedoch oft anders aus. Postoperative Schmerzen werden immer noch unzureichend behandelt und als „notwendiges Übel“ hingenommen. Bei einem Symposium der Grünenthal GmbH anlässlich des Deutschen

Kongresses für Orthopädie und Unfallchirurgie im Oktober 2017 in Berlin wurde das Thema nicht-invasives, postoperatives Schmerzmanagement auf der orthopädisch/unfallchirurgischen Station unter der Leitung von Prof. Rehart aus Frankfurt und PD Dr. Meuser aus Bergisch Gladbach umfassend dargestellt und angeregt diskutiert. Wichtige Themen waren dabei der große Stellenwert der Patientenzufriedenheit für den Heilungsprozess und die Entlastung des Pflegepersonals.

Mittlere Schmerzintensitäten in verschiedenen chirurgischen Disziplinen am ersten postoperativen Tag Geburtshilfe (n = 881) Orthopädie, Traumatologie (n = 30.823) Abdominale Allgemeinchirurgie (n = 13.696) Neurochirurgie (n = 1.234) Herzchirurgie (n = 525) Gynäkologie (n = 4.871) HNO-Operationen (n = 1.929) Nicht-abdominale Allgemeinchirurgie (n = 10.603) Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie (n = 542) Gefäßchirurgie (n = 1.497) Urologie (n = 3.003) Augenoperationen (n = 104) Bewegungsschmerz Stärkste Schmerzintensität

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Numerische Rating Skala (NRS)

Abb.1.: Trotz Schmerztherapie hatten viele Patienten starke Schmerzen am ersten Tag nach der OP.2

Postoperative Schmerzen werden häufig unzureichend behandelt. In einer Studie machten knapp 70.000 Patienten, die nach verschiedenen chirurgischen Eingriffen analgetisch behandelt wurden, Angaben über die Schmerzintensität am ersten Tag nach der Operation (Abb. 1).2 Vergleicht man die Angaben von Patienten unterschiedlicher operativer Fachdisziplinen bezogen auf die maximale Schmerzintensität und das Ausmaß des Bewegungsschmerzes, so klagen Patienten mit orthopädischen Operationen über besonders hohe Schmerzen. Nur in der Geburtshilfe werden von den Patientinnen noch stärkere Schmerzen angegeben.

Ein Indianer kennt keinen Schmerz … Häufig korreliert die Schmerzintensität aber auch gar nicht mit der Schwere der Operation. „Oft sind es kleinere Eingriffe, zum Beispiel Eingriffe an den Füßen (Hallux valgus) sowie andere ‚kleine‘ orthopädische Operationen, die besonders schmerzbehaftet sind. Bei solchen Routineeingriffen werden die Schmerzen gerne unterschätzt und die Patienten sind analgetisch unterdosiert“, sagte Professor Stefan Rehart, Chefarzt der Klinik für Orthopädie und Unfallchirurgie am Agaplesion Markus-Krankenhaus, Frankfurt.

„Viele Patienten nehmen die Schmerzen als ’notwendiges Übel’ hin und denken ’je weniger, desto besser’. In solchen Fällen sollten wir Patienten ruhig ermutigen, Schmerzmittel zu nehmen.“ Bedingt durch die hohe Arbeitsbelastung in Krankenhäusern vergeht oftmals viel Zeit, bis Patienten Schmerzmittel erhalten. Eine Untersuchung ergab, dass es in der Regel 20–40 Minuten dauert, bis ein Patient das benötigte Schmerzmittel erhält und dieses seinen Wirkort erreicht. (Abb. 2).3 In dieser Wartezeit kann die Schmerzintensität weiter ansteigen, was eventuell eine noch höhere Dosis erforderlich macht. „Wir benötigen Alternativen, damit Patienten nicht unnötig Schmerzen leiden und das Personal nicht noch mehr belastet wird“, fordert PD Dr. Tom Meuser, Schmerzmediziner und Chefarzt Anästhesiologie und Intensivmedizin am Marien-Krankenhaus in Bergisch Gladbach.

Leitlinie fordert Einbeziehung des Patienten bei der Schmerzkontrolle Ein gutes postoperatives Schmerzmanagement kann die Mobilität des Patienten verbessern, was für den Heilungsverlauf enorm


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wichtig ist. Hierdurch können sogar Krankenhausaufenthalte verkürzt und das Risiko postoperativer chronischer Schmerzen gesenkt werden. Die S3-Leitlinie „Behandlung akuter perioperativer und posttraumatischer Schmerzen“ fordert, dass sich Patienten selbstverantwortlich und aktiv am Schmerzmanagement beteiligen.1 Bei starken Schmerzen in der frühen postoperativen Phase soll die patientenkontrollierte Analgesie gegenüber konventionellen Verabreichungstechniken bevorzugt werden. Neben den genannten Vorteilen einer guten postoperativen Schmerzbehandlung hat die Einbeziehung des Patienten weitere positive Aspekte: Laut Meuser zeigt eine Patientenerhebung, dass die Zufriedenheit des Patienten in hohem Maße von seiner Beteiligung an therapierelevanten Entscheidungen abhängt.4 „Die Einbeziehung des Patienten ist für seine Zufriedenheit sogar wichtiger als die numerische Reduktion der Schmerzintensität“, so Meuser. Die Patientenzufriedenheit könne also als wichtiger Parameter für den Heilungsprozess angesehen werden. Das belegen sogar Studien: In einer Metaanalyse wurden patientengesteuerte Schmerztherapien mit konventioneller Opioidgabe verglichen, mit dem Ergebnis: unter einer patientengesteuerten Schmerztherapie war die Schmerzintensität niedriger, die Patientenzufriedenheit höher und die Nebenwirkungsrate trotz eines geringfügig, höheren Opioidkonsums nicht erhöht.5

Patient hat Schmerzen

Schwesternruf Schwester ruft den Arzt Untersuchung des Patienten

Analgesie 20–40 min

Auswahl Medikament Absorption Medikament Verabreichung Medikament

Vorbereitung Medikament

Abb. 2: Die Zeitspanne zwischen Analgetikawunsch und -erhalt.3

Entlastung des Pflegepersonals: am besten nicht-invasiv Die patientengesteuerte Analgesie erlaubt dem Patienten, sich ein Schmerzmittel beim Eintreten von Schmerzen selbst zu verabreichen. Meistens erfolgt die Abgabe der Schmerzmittel über einen

intravenösen Zugang. Sind die Schmerzen sehr stark, kann der Patient über eine Fernsteuerung eine Pumpe aktivieren, die über den Katheter eine festgelegte Menge des entsprechenden Medikaments injiziert. Dabei wird vorher festgelegt, in welchen minimalen Abständen und in welcher Höchstdosis das Opioid verabreicht werden kann, so dass eine Überdosierung nicht möglich ist. Die verfügbaren Therapieoptionen zur patientengesteuerten invasiven Analgesie sind aber auch mit einigen Risiken verbunden: „Eine invasive Therapie bedeutet immer auch eine Infektionsgefahr. Durch die Zugänge bei invasiven Verfahren ist zudem die Mobilisierung der Patienten erschwert, was ja ein wichtiges Ziel in der postoperativen Phase ist“, so Meuser. Nicht-invasive Verfahren bergen diese Risiken nicht und seien weniger aufwändig in der Betreuung, was eine Entlastung des Pflegepersonals bedeute. Mittlerweile gibt es sublinguale Systeme, die dem Patienten ermöglichen, seine Schmerztherapie selbst zu steuern – nicht-invasiv! Mittels sublingualem Tablettensystem kann der Patient nach individuellem Schmerzempfinden auf Knopfdruck jeweils eine Tablette anfordern und sich mit Hilfe eines Applikationsgerätes unter die Zunge legen. Dadurch wird der Aufwand für das Pflegepersonal reduziert. Das System erlaubt eine zuverlässige Schmerzlinderung mit schnellem Wirkeintritt – vergleichbar mit einer intravenösen Verabreichung. Das System ist vorprogrammiert, einfach von der Pflegekraft für den Einsatz vorzubereiten und für den Patienten leicht zu bedienen.

Alle sind zufrieden Dass sowohl Patienten als auch Pflegekräfte zufriedener mit einer nicht-invasiven Therapie sind, konnte in einer Studie belegt werden.6 Verglichen wurde postoperativ ein sublinguales Tablettensystem mit einer invasiven Morphingabe (beides vom Patienten selbst gesteuert) hinsichtlich Wirksamkeit, Verträglichkeit sowie Zufriedenheit und Einfachheit in der Anwendung bei Patienten und Pflegepersonal. Die Anwendungsdauer betrug 72 Stunden postoperativ. 78,5 % der Patienten in der nicht-invasiven Gruppe (n = 177) werteten die Therapie als „Erfolg“ hinsichtlich der Schmerzkontrolle im Vergleich zu 65,5 % in der invasiven Gruppe (n = 180). Auch hinsichtlich „Zufriedenheit“ wurde die nicht-invasive Therapie von Patienten und Pflegepersonal besser beurteilt.

Referenzen 1

http://www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/001-025l_S3_Behandlung_ akuter_perioperativer_und_posttraumatischer_Schmerzen_abgelaufen.pdf

2

Gerbershagen HJ et al. Anesthesiology 2013; 118(4): 934–944

3

Chan VW et al. Reg Anesth. 1995; 20: 506–14

4

Schwenkgelenks M et al Pain 2014; 155:1401–1411

5

McNicol ED et al. Cochrane Database Syst Rev.2015

6

Melson T, et al. Pain Practice. 2014;14:679–88

Fazit • Leitlinien fordern, Patienten in das postoperative Schmerzmanagement einzubinden • Die Zufriedenheit des Patienten ist wichtig für den Heilungsprozess • Die schnelle Mobilisierung des Patienten ist ein wichtiges Therapieziel

• Invasive Therapieoptionen sind mit bestimmten Risiken behaftet (Infektionsrisiko, Mobilitätseinschränkung) • Eine nicht-invasive patientengesteuerte Schmerztherapie kann diese Risiken vermeiden und die Mobilität der Patienten verbessern.


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Aktuelle Praxisfrage

Spezielle Herausforderungen des Schmerzmanagements Patienten mit wiederholten oerativen Eingriffen und vorbestehenden chronischen Schmerzen Katharina Blank & Nadine Schüßler

I

m Rahmen des Schmerzmanagements des BG Klinikums Hamburg werden immer wieder Patientinnen oder Patienten behandelt, bei denen bereits eine lange chronische Schmerzgeschichte besteht. In der Regel leiden die Betroffenen nach einem Unfall an Entzündungen unterschiedlicher Genese im betroffenen Bereich, die meist mit Schmerzen verbunden sind. Die am häufigsten anzutreffenden Diagnosen sind dabei Knochen-, Muskel- und Gelenkentzündungen, Haut- und Weichteildefekte. Auch die Behandlung von brandverletzten Patienten stellt eine Risikogruppe für potenzielle Infektionen da. Bei allen genannten Patientinnen und Patienten sind zumindest mehrere operative Eingriffe nötig, um gute Heilungschancen zu ermöglichen. Dabei entstehen drei besondere Herausforderungen in puncto Schmerzmanagement: Vertrauen aufbauen, individuelles Schmerzniveau und medikamentöse Schmerztherapie verstehen und anpassen. Die Betroffenen haben in den allermeisten Fällen bereits seit langer Zeit Schmerzen (chronisches Schmerzgeschehen). Zugleich sind aktuell angesetzte operative Maßnahmen entweder dazu da, den Genesungsprozess voranzubringen und oder die Schmerzsituation ganz konkret zu adressieren. Zuletzt gibt es Maßnahmen, im Rahmen derer unter Umständen neue Schmerzen entstehen können. Im folgenden Artikel sollen einzelne Aspekte aufgegriffen werden, die in der Vorbereitung auf erneute Narkosen für diese ganz spezielle Patientengruppe im pflegerischen Schmerzmanagement von Bedeutung sind.

Vertrauen aufbauen Im Behandlungsprozess vom akuten Geschehen bis zur Vorstellung beim Schmerzdienst des oben genannten Krankenhauses erleiden die Betroffenen häufig eine große Zahl von kleinen und großen Operationen. Dabei sammeln sie sowohl positive als auch negative Erfahrungen im Zusammenhang mit dem Schmerzmanagement, der Narkose und dem Behandlungsteam und fassen Vertrauen in erfolgreiche Methoden und oder auch Personen. Daran kann man beobachten, dass einige Patientinnen und Patienten wenig aufgeschlossen gegenüber neuen Behandlungen sind, weil Schmerz und Schmerzmanagement 1/18

sich in der Vergangenheit ihre eigene Strategie zur Bewältigung bewährt hat oder sie schon schlechte Erfahrung mit der angebotenen Behandlung gemacht haben. Daher gehört es zur Hauptaufgabe des pflegerischen Schmerzmanagements, an dieser Stelle wahrzunehmen, dass chronisch Schmerzbetroffene Expertinnen beziehungsweise Experten für ihr eigenes Schmerzgeschehen sind. Dies zu akzeptieren, ernst zu nehmen und in interprofessionellen Absprachen einzubringen, stellt einen der wichtigsten Schritte im Umgang mit diesen Patientinnen und Patienten dar. Dabei ist darauf zu achten, dass nicht nur die algesiologische Fachkraft und die Schmerztherapeuten des Hauses mit dieser Haltung auf die Betroffenen zugehen, sondern dass gleichermaßen das ganze Behandlungsteam der Station diese Ressource nutzt und mit in die interprofessionelle Versorgung integriert. In der Vorbereitung dieses Artikels entwickelten die beiden Autorinnen dabei das folgende Leitprinzip: Wahrnehmen-Ernst nehmen-Zeit nehmen (WEZ-Prinzip). Trotz der meist langen Vorgeschichte der Betroffenen, sollte das Schmerzmangement vor jedem Eingriff mit der Patientin bzw. dem Patienten besprochen werden. Es darf nicht davon ausgegangen werden, dass Patientin oder Patient aufgrund ihrer Krankenhauserfahrung über alle Abläufe informiert sind. Ein Aspekt im Patientengespräch sollte sein, die Linderung der Schmerzen nicht nur zu versprechen, sondern realistisch die Möglichkeiten, den Schmerz in den Griff zu kriegen, zu thematisieren. Eine Anknüpfung an die Schmerzerfahrung im Alltag ist hier unerlässlich, wenn auch für viele Patientinnen und Patienten der Klinikaufenthalt mit der Hoffnung verbunden ist, den bisherigen Schmerz loszuwerden bzw. Linderung zu erfahren. Im Spannungsfeld zwischen der Option auf Linderung und dem Vermeiden falscher Hoffnungen bewegt sich das Schmerzmanagement bei diesen Patientinnen und Patienten.

Individuelles Schmerzniveau Der Umgang mit geläufigen Schmerzassessments zur Selbstauskunft ist den meisten Pflegekräften und auch Patientinnen und Patienten geläufig. Die Grenzen zur Intervention sind in den Behandlungsstandards klar definiert. © 2018 Hogrefe


Aktuelle Praxisfrage

Das Schmerzempfinden kann sich bei Patientinnen und Patienten mit langwierigen Schmerzen verändern, sodass bei der Schmerzeinschätzung höhere Schmerzwerte über den definierten Grenzen angegeben werden und dies bei scheinbar normalem Gemütszustand. Damit wird die Höhe der angegebenen Schmerzstärke meist in Frage gestellt. Diese Patientinnen und Patienten haben gelernt, mit Schmerzen im Alltag zurechtzukommen, was den höheren Wert in der Schmerzskala erklären kann. Aber auch eine insuffiziente analgetische Therapie oder eine neu aufgetretene Ursache können ein Anhalt für höhere Schmerzgaben sein und erfordern eine weitere Abklärung. Wichtig ist es, in einem gemeinsamen Gespräch mit Patientin/Patient das individuelle Schmerzniveau und die dazugehörigen Interventionsgrenzen zu definieren und dies im interprofessionellen Kontext zu kommunizieren und zu dokumentieren. Das vertraute Schmerzniveau wird meist mit einem operativen Eingriff unterbrochen, daher ist eine mehrdimensionale Schmerzeinschätzung über Qualität, Intensität und Lokalisation meist sehr sinnvoll.

Medikamentöse Schmerztherapie verstehen und ergänzen Zumeist haben diese Patientinnen und Patienten sowohl während der Behandlung in der Klinik, als auch zwischen den Vorstellungen im Krankenhaus, mit chronischen Schmerzen zu tun und sind medikamentös eingestellt. Zunächst muss geklärt sein, mit welcher Zielsetzung der Klinikaufenthalt hinsichtlich Schmerz versehen ist. In vielen Fällen stellt das medikamentöse Schmerzmanagement eine wichtige aber nicht primäre Zielsetzung der Behandlung dar. Diese Differenzierung ist von großer Bedeutung, weil letztlich keine Besserung der Schmerzsituation, sondern eine Rückkehr zum präoperativen Zustand angestrebt wird. Für den möglichst effektiven Umgang mit dem medikamentösen Schmerzmanagement ist es in der Behandlung dieser Patientinnen und Patienten wichtig, dass verschiedene Prozesse gut ineinandergreifen: zunächst muss sowohl eine medizinische als auch pflegerische Anamnese über das bestehende und zurückliegende Schmerzmanagement und die verschiedenen Narkoseerfahrungen erfasst werden. Da die Patienten oftmals häufiger im Krankenhaus vorstellig wurden, kann hier bereits auf Vorberichte zurückgegriffen werden. Viele Patientinnen und Patienten stehen dem wiederholten Bericht über die eigene Krankheitsgeschichte etwas ungehalten gegenüber. Dennoch gilt es herauszufinden, inwieweit die Patientinnen und Patienten Bescheid wissen über: • Umgang mit Risiken und Möglichkeiten ihrer aktuellen Schmerztherapie

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• die Möglichkeiten der Bedarfsmedikation • Applikationswege verschiedener Medikamente und die dazugehörigen Vorerfahrungen. Ferner nutzen viele der Betroffenen nur selten nicht-medikamentöse Maßnahmen, um ihre Schmerzen zu lindern. Beim postoperativen Schmerzmanagement hat sich gezeigt, dass die Integration von ganz banal scheinenden nicht-medikamentösen Maßnahmen in Kombination mit einer medikamentösen Schmerztherapie zur Schmerzlinderung beitragen wie z. B. Positionswechsel der betroffenen Extremität, Verbandseröffnung bei zu enganliegendem Verband, Kühlung auf dem OP-Gebiet und oder auch Informationen zum Vorgehen geben. Zuletzt stellt die richtige Dosierung bei Patientinnen und Patienten mit Opiatvormedikation ein wichtiges Thema dar. Damit ist gemeint, dass viele Pflegende und Ärzte aus Angst vor Überdosierung eher niedriger dosieren oder bei Patientinnen und Patienten mit Opiatvormedikation die dosis nicht angepasst wird, was zu höheren Schmerzwerten führen kann. Somit können die Patientinnen und Patienten unterversorgt sein. Daher kann die präoperative Einbindung eines Schmerztherapeuten ab einer definierten Menge von Opiaten zum weiteren Procedere sehr sinnvoll sein. Aber auch die Möglichkeit von regionalanästhetischen und/oder PCA-Verfahren (Patientenkontrollierte Anästhesie) kann eine Option sein, die mit dem Patienten besprochen werden sollte. Daher sind elementarer Bestandteil des Vermeidens von Über- und Untertherapie die Kenntnis von Wirkungen und Nebenwirkungen gängiger Analgetika, die bestehende Vormedikation des Patienten und der Patientin sowie einer gründlichen Anamnese, um die Therapie interprofessionell und im Hinblick auf die häusliche Versorgung sinnvoll zu adaptieren.

Nadine Schüßler ist M. Sc. Pflegewissenschaft, Pain Nurse und Krankenschwester und arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der HAW Hamburg, Department Pflege & Management. Sie ist Herausgeberin der Schmerz und Schmerzmanagement. nadine.schuessler@haw-hamburg.de

Katharina Emma Charlotte Blank ist algesiologische Fachkraft im BG Klinikum Hamburg, Pain Nurse & Pain Nurse Plus (DGSS) und Dozentin Schmerzmanagement k.blank@bgk-hamburg.de

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Journal Club

Was bedeutet Schmerzintensität aus Sicht der Patienten? Neustadt, K., Deckert, S., Kopkow, C., Preißler, A., Bosse, B., Funke, C., Jacobi, L., Mattenklodt, P., Nagel, B., Seidel, P., Sittl, R., Steffen, E., Sabatowski, R., Schmitt, J., Kaiser, U. (2017). Eine qualitative Studie zur Patientenperspektive auf Schmerzstärke als Konstrukt in der Therapieevaluation und die Interpretierbarkeit der Schmerzstärkemessung Erika Sirsch

© Martin Glauser

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ie Bedeutung der Schmerzintensität aus Sicht der Patientinnen und Patienten wird in dem aktuell erschienenen Artikel: Was bedeutet Schmerzintensität aus Sicht der Patienten?, untersucht. Diese Publikation ist ein Bestandteil des BMBF geförderten Projektes VAPAIN (“validation and application of a patient-relevant core outcome set to assess effectiveness of multimodal pain therapy“), die u. a. die Überprüfung und Erarbeitung/ Identifikation von geeigneter Erhebungsinstrumente zum Ziel hat. Gleich 15 Autorinnen und Autoren widmen sich der Frage nach der Bedeutung der Interpretierbarkeit der Schmerz und Schmerzmanagement 1/18

Schmerzintensität, bzw. Schmerzstärke zur Therapieevaluation in der interdisziplinären multimodalen Schmerztherapie (IMST). Dabei wird insbesondere die Frage in den Fokus genommen, ob und inwieweit das Konstrukt der Erfassung der Schmerzintensität reliabel und valide erfasst werden kann. Die Autorinnen und Autoren weisen darauf hin, dass zur Evaluierung der Therapie sogenannte „patient-reported outcomes“ (PRO) essenziell sind. Ohne diese von Patientinnen und Patienten selbst berichteten Informationen sei eine Beurteilung der Therapie nicht denkbar; die Partizi© 2018 Hogrefe


Journal Club

pation und die Bewertung des Therapieerfolges aus Sicht der Patientinnen und Patienten ist unerlässlich. Dazu ist es erforderlich, dass die zur Erfassung genutzten Instrumente reliabel (genau/zuverlässig) und valide (gültig) sind. Nach Ansicht der Autorinnen und Autoren stellt die Inhaltsvalidität der eingesetzten Instrumente einen elementaren Baustein der Therapieevaluation dar. Das Ziel der vorliegenden Studie ist: Die Evaluation der Inhaltsvalidität der VAPAIN Domänen sowie der Handhabbarkeit und Interpretierbarkeit der Domäne Schmerzintensität aus der Perspektive der Patientinnen und Patienten mit chronischem Schmerz.

Methodik Als Forschungsansatz wurde eine qualitative multizentrische Studie gewählt. Es wurden zehn Fokusgruppendiskussionen an vier Standorten durchgeführt, an denen jeweils sechs bis acht IMST Patientinnen/Patienten und eine Moderatorin teilnahmen. Den Fokusgruppendiskussionen lag ein zuvor definierter Leitfaden zugrunde, der die folgenden Fragen enthielt: I. Welche Aspekte des Erlebens chronischer Schmerzen werden von Patienten wahrgenommen? II. Welche Aspekte sind für die Bewertung des Erfolgs der IMST aus Sicht der Patienten relevant? III. Wie relevant ist die Domäne der Schmerzintensität aus Sicht der Patienten für den Therapieerfolg? IV. Wie sollte bei der Erhebung der Schmerzintensität die Frage formuliert werden (Art der Schmerzintensität, Zeitbezug), um verlässliche und informative Daten erheben zu können? V. Welche verbalen Anker sind aus Sicht der Patienten geeignet, um die Extremwerte der numerischen Schmerzskala (numerische Rating-Skala [NRS]) zu definieren? VI. Wo liegen die Bereiche des geringen/mittleren/starken Schmerzes auf der numerischen Skala? VII a. Wie viele Abstufungen sind bei der verbalen Schmerzskala (verbale Rating-Skala [VRS]) nötig und welche Formulierungen sollten gewählt werden, um möglichst alle Schmerzzustände der Betroffenen abbilden zu können? VII b. Wo lassen sich die Stufen der VRS auf der NRS wiederfinden? VIII. Wie veränderte sich die Schmerzintensität durch die Therapie (bzgl. der NRS)? Ab welchem NRSWert läge aus Sicht der Patienten ein Therapieerfolg vor? Ab welchem NRS-Wert beschreiben die Patienten den Schmerz als „erträglich“?

Stichprobe Es nahmen insgesamt 69 (n=69) Personen im Alter von 18–77 Jahren an den vier Standorten teil. Das Durchschnittsalter der Teilnehmerinnen und Teilnehmern (80 % © 2018 Hogrefe

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Frauen/n = 69) lag bei 52 Jahren (+/– 11 Jahren). Die Teilnehmenden gaben eine durchschnittliche Schmerzintensität vor Therapie von 7 (+/– 1) auf der Numerischen Rang Skala (NRS 0–10) und eine Chronifizierungsgrad nach dem Mainz Pain Staging System (MPSS) von 2 (34 %) bis 3 (55 %) an. Bei der Hälfte der Teilnehmenden (50 %/n = 69) waren Rückenschmerzen führend.

Ergebnisse Es werden in dieser Zusammenfassung einige zentrale Ergebnisse entlang der Fragestellungen vorgestellt, in der Ordnung, wie sie auch in der Originalpublikation vorgestellt werden. I. Es zeigte sich, dass die Patientinnen und Patienten die langfristigen biopsychosozialen Auswirkungen als belastend beschrieben, dabei wurden Einschränkungen im sozialen Leben oder Aktivitäten des täglichen Lebens adressiert. II. Bei den Teilnehmenden zeigte sich zudem, dass sie der nach der Therapie sich veränderteren Einstellung zum Schmerz und dem Umgang damit große Bedeutung zumaßen. III. Bei der Bewertung der Schmerzstärke zeigten sich unterschiedliche Ergebnisse: zum einen gaben Teilnehmende an, dass die Schmerzstärke nach einem veränderten Umgang mit dem Schmerz nach einer Therapie in den Hintergrund rücke. Zum anderen gaben Teilnehmende an, dass auch nach der Therapie die Schmerzstärke ein wichtiges Kriterium sei, das sich nicht verschlechtern sollte. IV. Für Teilnehmende mit Schmerzattacken (z. B. Migräneschmerz) ist ein größerer Zeitraum der Befragung sinnvoll; bei episodisch auftretenden Schmerzen war die Frage nach dem Durchschnittsschmerz problematisch. Teilnehmende, die unter Dauerschmerz litten, bevorzugten hingegen die Frage nach dem Maximal-schmerz. Aus Sicht der Teilnehmenden war es zentral zwischen Ruhe und Belastungsschmerz zu differenzieren und multiple Schmerzlokalisationen zu berücksichtigen. V. Die Frage nach den verbalen Ankern (verbalen Beschreibungen), die aus Sicht der Patientinnen und Patienten geeignet sind, Extremwerte zu definieren, ergab, dass Teilnehmerinnen und Teilnehmer aller Gruppen für die untere Ankerformulierung „kein Schmerz“ präferierten. Für den oberen Anker entschieden sich vier von zehn Gruppen für einen Vergleich mit dem größten je erlebten Schmerz, zwei von zehn Gruppen entschieden sich für den Vergleich mit dem stärksten vorstellbaren Schmerz und vier von zehn Gruppen für eine beschreibende Formulierung (2x „extremer Schmerz“, 1x „untolerierbarer Schmerz“, 1x „entsetzlicher Schmerz“). VI. Nach Angaben der Autorinnen und Autoren zeigte die Diskussion, dass die Teilnehmenden die Übergänge zwischen den drei SchmerzintensitätsabstuSchmerz und Schmerzmanagement 1/18


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fungen von gering zu mittel operationalisieren, sie differenzierten schmerzbedingte Beeinträchtigungen, wenn Alltagsaktivitäten eingeschränkt sind. Es ergeben sich aus dieser Untersuchung Abstufungen in die Bereiche geringer Schmerz (NRS 1–3), mittlerer Schmerz (NRS 4–6) und starker Schmerz (NRS 7–10). VII a. Aus Sicht der Teilnehmenden sollte sich bei der Erfassung der Schmerzintensität mittels der VRS eine Anzahl von sechs Stufen abzeichnen, die sich mit Formulierungen wie extrem stark/extrem als stärkste Ausprägung über mäßig bis leicht darstellen; als Anregung wurde eine Binnendifferenzierung mit jeweils einem „+“ oder „–“ gesehen. VII b. Die Stufen (keine Schmerzen, sehr leicht, leicht, mäßig, stark, und sehr stark) der Verbalen Rating Skala (VRS) werden in Abhängigkeit der Ankerformulierung dargestellt; die jeweilige Ankerformulierung, beziehungsweise die Vorstellung der Person zur jeweiligen Formulierung, hat Einfluss darauf, wie die Schmerzstufung auf der NRS vorgenommen wird. VIII. 64 Teilnehmende gaben an, dass vor der Therapie die Schmerzstärke bei 7 (NRS 0–10) lag und sich nach der Therapie um durchschnittlich 2 Punkte reduzierte. Im Mittel gaben die Teilnehmenden eine Schmerzintensität von NRS 3 als akzeptabel an, der akzeptable Bereich lag zwischen 2 und 6. Allerdings hatten Patientinnen und Patienten mit Attackenschmerz Probleme bei der Beantwortung, da sie sich mit Angaben von Durchschnittswerten anhand der NRS nicht abgebildet sahen.

Diskussion Es zeigte sich, dass das Konstrukt der Erfassung der Schmerzintensität ein relevantes Kriterium ist, aber nicht das relevanteste Kriterium in der Bewertung von interdisziplinärer multimodaler Schmerztherapie. Die Relevanz der Schmerzintensität liegt an dritter Stelle, hinter der Bedeutung von Umgang mit Schmerzen und emotionalem Wohlbefinden. Der Umgang mit Schmerz, bzw. die Einstellung zu Schmerz hatte aus Sicht der Teilnehmenden Relevanz, seien aber eher als Prozess- weniger als Outcomeparameter geeignet. Das Erfragen der durchschnittlichen Schmerzstärke wird den Bedarfen von Patientinnen und Patienten mit Durchbruchsschmerzen nicht gerecht, es macht Probleme bei der Beantwortung, da diese Schmerzen großen Schwankungen unterliegen. Die Beantwortung der Frage nach der Schmerzintensität unterliegt zudem nach Angaben der Autorinnen und Au-

Schmerz und Schmerzmanagement 1/18

Journal Club

toren internen als auch externen Faktoren; neben der Beeinträchtigung der Alltagsaktivitäten unterliegt die Bewertung der Schmerzintensität auch dem Verhältnis des aktuellen Schmerzes zu den „üblichen“ Schmerzen. Es bleibt zu diskutieren, ob eine „reine“ Angabe der Schmerzintensität überhaupt möglich sei oder das Konstrukt der Schmerzintensität um die Dimensionen die Patientinnen und Patienten angeben, zu erweitern sei. Der Beantwortungsprozess werde bei der Erfassung mittels der VRS stark davon beeinflusst, was sich die Person unter dem jeweiligen Wort vorstelle. Die Autorinnen und Autoren diskutieren, ob das Konstrukt der Schmerzintensität nicht auch schmerzbedingte Beeinträchtigungen umfassen sollte. Es bleibt zu diskutieren, ob für das Konstrukt der Schmerzintensität ein Verständniswandel noch ausstehe. Es erscheine weder in der Abbildung des momentanen Erlebens als auch als Veränderungsmessung des körperlichen Erlebens frei von affektiven und psychosozialen Einflüssen.

Kommentar zum Artikel Die vorliegende Publikation greift die seit längerem diskutierte Bedeutung der Schmerzintensität zur Beurteilung des Therapieerfolges auf. Die Studie fokussiert, als Teil einer größeren Studie, auf Patientinnen und Patienten mit chronischem Schmerz in der interdisziplinären multimodalen Therapie. Wenn auch die vorliegenden Ergebnisse in diesem Licht der speziellen Stichprobe betrachtet werden muss, zeigen sich Einblicke in die Bewertung der Schmerzintensität aus Sicht der betroffenen Personen. Die AutorInnen und Autoren beschreiben ausführlich die Vorgehensweise, differenzierte Ergebnisse, diskutieren ihre Befunde und adressieren auch Limitationen ihrer Studie.

Literatur Neustadt, K., Deckert, S., Kopkow, C., Preißler, A., Bosse, B., Funke, C., Jacobi, L., Mattenklodt, P., Nagel, B., Seidel, P., Sittl, R., Steffen, E., Sabatowski, R., Schmitt, J. & Kaiser, U. (2017). Eine qualitative Studie zur Patientenperspektive auf Schmerzstärke als Konstrukt in der Therapieevaluation und die Interpretierbarkeit der Schmerzstärkemessung. In. Schmerz 2017 Dec;31(6):580–593. doi: 10.1007/s00482-017-0234-x.

JProf. Dr. Erika Sirsch, BScN, MScN, ist Herausgeberin der Schmerz und Schmerzmangement. esirsch@pthv.de

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Schmerz medial

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Selbstbeobachtung durch digitalisierte Schmerztagebücher

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Isabelle Bürrig & Janine Willm

I

m Zuge eines studiengangübergreifenden Projekts des Competence Centers Gesundheit der HAW Hamburg mit dem Thema Selbstbeobachtung bei chronischem Schmerz haben sich sechs Studierende aus drei gesundheitsbezogenen Studiengängen zusammengefunden. Wir erarbeiteten den Themenschwerpunkt Nutzung und Nutzen von Selbstbeobachtungstools bei chronischen Schmerzen. Beim Aktionstag gegen den Schmerz 2017 an der HAW Hamburg haben wir zu diesem Thema Beratungen durchgeführt. Wir haben uns speziell mit Pain Selfmanagement Applications-Apps zur Erfassung und Dokumentation bei chronischen Schmerzen befasst. Dabei handelt es sich um eine neue und innovative Form der Diagnostikunterstützung, welche in diesem Text von uns näher erläutert werden soll um einen Zugang zu diesem neuen Instrument zu ermöglichen. Wir möchten uns jedoch gleich an dieser Stelle von einer pauschalen Empfehlung einer bestimmten App distanzieren. Die vielfältige Auswahl und die einzelnen Möglichkeiten jeder App sind genauso individuell wie die Schmerzen der Verbrauchergruppe selbst. Zudem haben wir keine eigene Studie zur wissenschaftlichen Evidenzevaluierung durchgeführt und können uns lediglich auf eine noch sehr geringe Menge an Quellen beziehen. © 2018 Hogrefe

Zunächst galt es die Frage zu beantworten, wodurch Selbstbeobachtung bei chronischem Schmerz zu einem Nutzen bei Betroffenen führt. Aus Sicht der Betroffenen bietet die Schmerzdokumentation einen Ort der Auseinandersetzung mit dem Schmerz und dessen facettenreichen Auswirkungen auf das Individuum und dadurch unter Umständen neue Erkenntnisse. Beispiele hierfür wären das Herausfinden situativer Reizfaktoren für auftretende Schmerzepisoden, intensivierende oder mildernde Umstände bei Auftreten des Schmerzes und die Sensibilisierung der Schmerzbetroffenen dafür. Eine zu starke Fokussierung auf den Schmerz durch die Selbstbeobachtung könnte nach unseren Überlegungen die Schmerzsituation jedoch auch ungünstig beeinflussen. Deshalb ist eine klare Zielsetzung (z. B. unbekannte Reizfaktoren aufdecken oder die Evaluierung der bisherigen Bewältigungsstrategie auf deren Wirksamkeit) bei der Selbstbeobachtung sinnvoll. Dokumentationstools können unterschiedliche Formen haben. Analog in Form eines Schmerztagebuchs oder auch in digitaler Form als Pain Selfmanagement Applications-Apps. Zu beiden Kategorien gibt es unterschiedliche Ausführungen, die individuell angepasst werden können: blanko oder standardisierte Tagebücher und diverse Apps. Aufgrund der Vielfalt der angebotenen Möglichkeiten und Schmerz und Schmerzmanagement 1/18


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unserer Zielgruppe Erwachsene im erwerbsfähigen Alter haben wir unseren Primärfokus auf die digitale Dokumentationsform gelegt. Dies erschien uns sinnvoll, da die derzeitigen und zukünftigen Berufstätigen zunehmend danach streben, ihren Alltag zu digitalisieren um damit eine möglichst hohe Effizienz und Mobilität zu erreichen (Kernebeck 2015). Die Integration der Schmerzdokumentation direkt in den Alltag ist mit den Apps wahrscheinlicher und die Einträge weisen voraussichtlich weniger Verzerrungen aufgrund von zeitverzögerten Einträgen auf, da der Zeitpunkt des Eintrags unmittelbar bei Auftreten des Schmerzes oder dessen Veränderung sein kann. Bei der Recherche war unsere Herangehensweise verbraucherorientiert. Daher suchten wir zunächst in den gebräuchlichsten AppStores nach Pain Management (siehe Abbildung 1). Aus einer Vielzahl an angebotenen Möglichkeiten vertieften wir nun unsere Recherche auf die Unterschiede im Aufbau, im Inhalt und der eingebundenen Evidenz der einzelnen Apps. Die folgenden Funktionen sollte eine App bieten: • Schmerzbezogene Fragen stellen, die bisher noch nicht selbst gestellt wurden • Bei der genaueren Lokalisierung des Schmerzes unterstützen • Für Reizfaktoren im Umfeld sensibilisieren • Statistiken und Diagramme aus eingegebenen Einträgen erstellen • Unterstützend bei ärztlicher Vorstellung sein Die Vielzahl an angebotenen Apps, jede mit individuellen Vor- und Nachteilen und starken Unterschieden in der Quellen- und Qualitätstransparenz, erschwert eine passende Auswahl. Daher wurden aufgrund von Bewertungen, Erfahrungsberichten und themenbezogenen Fach-

Schmerz medial

projekten folgende Indikatoren zusammengefasst nach denen Schmerz-Apps vom Verbraucher ausgewählt werden können: • Hat der Hausarzt bereits Erfahrungen mit SchmerzApps und kann er Empfehlungen aussprechen, welche eine Kooperation ermöglichen? • Passen die Schwerpunkte/Kategorien zu der Zielsetzung? • Wie umfangreich und detailliert sind die Auswahlmöglichkeiten in den für die Zielsetzung relevanten Rubriken? (z. B. Art des Schmerzes, Reizfaktoren) • Welche Verbraucherbewertungen und Erfahrungen gibt es bereits, die mit den eigenen Interessen korrelieren? • Welche Kosten gibt es zu tragen? (Zur Erklärung: Einige Apps, besonders in erweiterter Form, sind mit geringen Kosten verbunden). Wie und ob diese Methode der Schmerzdokumentation nützlich, integrierbar und anwendbar ist, kann nun jeder für sich reflektieren. Unserer Erfahrung nach ist bei intensiverer Beschäftigung mit dem Thema eine wachsende Überzeugung und Bereitschaft entstanden. Auch wenn unsere Beratung ausschließlich positiv aufgenommen wurde, sowohl bei betroffenen Patienten als auch bei medizinischem Fachpersonal, bedauern wir, dass wissenschaftliche Erkenntnisse bezogen auf die Wirksamkeit und Ergebnisse der Apps noch stark lückenhaft sind und evidenzbasierte Studien fehlen (Lalloo 2015). Hier gilt es anzusetzen, um diese neue, voll Chancen steckende Art der Selbstbeobachtung auszubauen und besser in das Gesundheitswesen zu integrieren. Wenn das Interesse besteht, mit einer App die Schmerzen zu dokumentieren, empfiehlt es sich, entsprechend der persönlichen Bedürfnisse eine dazu passende App auszuwählen. Nicht nur Privatpersonen, auch Pflegefachkräf-

Abbildung 1. Ergebnisse bei der Eingabe von Pain Management im Google Playstore. Schmerz und Schmerzmanagement 1/18

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Abbildung 2. und Abbildung 3. Möglicher Aufbau einer Schmerzapp am Beispiel der App „Manage My Pain Lite“.

ten und medizinischem Fachpersonal können solche mobilen Pain Management-Apps eine Stütze im fortlaufenden Umgang mit chronischen Schmerzen im Alltag sein (siehe Abbildungen 2 und 3). Aus unserer Sicht wäre es für die Zukunft wünschenswert, das Potenzial dieses modernen Selbstbeobachtungstools auszuschöpfen, zu vertiefen und zu fördern.

Isabelle Bürrig ist Studentin im dualen Studiengang Pflege (BA) und Auszubildende am UKE Hamburg Eppendorf.

Literatur

Janine Willm ist Studierende der Gesundheitswissenschaften an der HAW Hamburg. Sie arbeitet seit fünf Jahren in einem Sportverein und macht momentan ihre Trainerausbildung im Groupfitnessbereich. Außerdem unterstützt sie Konduktorinnen bei der Betreuung von Kindern, die „Konduktive Förderung nach Petö“ erhalten. Im beruflichen Kontext sieht sie sich nach dem Studium im Bereich der Gesundheitsförderung- und Prävention.

Kernebeck, S. (2015). Pain App- mobiles Schmerzmonitoring. Online verfügbar unter: https://www.pflegekongress.at/html/ publicpages/144732865540568.pdf Lalloo, C. et al (2015).“There’s a Pain App for That”: Review of Patient-targeted Smartphone Applications for Pain Management. The clinical Journal of Pain. 31(6), 557–563. Online verfügbar unter: http://journals.lww.com/clinicalpain/Abstract/2015/060 00/_There_s_a_Pain_App_for_That___Review_of.9.aspx

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Rätsel/Vorschau

Rätsel:

Vorschau 2/2018

Folgende Aussage ist richtig:

Schmerz bei Kindern Verantwortliche Herausgeberinnen Nadja Nestler, Erika Sirsch

a) Menschen mit Autismus zeigen keine mimische Schmerzreaktion. b) Menschen mit Autismus können ihren Schmerz deutlich verbalisieren.

Themen • Optimierung des pflegerischen Schmerzmanagements bei Kindern und Jugendlichen • Schmerzreduzierte Frühgeborenenpflege • Fortbildungen pflegerische Schmerzexperten: Kinderschmerz • Tipps und Tricks beim Verbandwechsel bei Epidermis bullosa unter dem Aspekt der Schmerzvermeidung • Interview mit Prof. Dr. Zernikow

c) Menschen mit Autismus empfinden keinen Schmerz.

Einsendeschluss ist der 20.03.2018. Auflösung und Bekanntgabe der Gewinner in der nächsten Ausgabe von Schmerz und Schmerzmanagement. Unter den Gewinnern verlosen wir folgende Buchpreise: 1.–3. Preis: Madrean Schober, Fadwa Affora (2008): Advanced Nursing Practice. ISBN: 9783456845456 Bitte schreiben Sie die Lösung per Karte oder Mail an: Hogrefe AG Zeitschriftenabteilung Länggassstr. 76 3000 Bern 9 Schweiz zeitschriften@hogrefe.ch

Änderungen vorbehalten

Lösung aus Schmerz und Schmerzmanagement 4-2017 b) Cicely Saunders entwickelte das Total-Pain-Konzept. Gewinnerinnen: Heike Hofstetter und Katharina Lex

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Schmerz und Schmerzmanagement 1/18

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Die Fachzeitschrift thematisiert in verschiedenen Rubriken die Pflege und Versorgung von Menschen mit akuten und chronischen Schmerzen. Sie verbindet Theorie mit Praxis und beruft sich dabei auf die neusten wissenschaftlichen Erkenntnisse. Schmerz ist ein multidimensionales Phänomen. Es betrifft Menschen aller Altersstufen mit verschiedensten Erkrankungen. Neben den körperbezogenen Faktoren rücken zunehmend psychosoziale Faktoren wie die individuelle Biografie des Patienten und die Geschichte seines Schmerzerlebens in den Fokus der Schmerzexperten.

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Schmerz und Schmerzmanagement trägt dem Rechnung und verknüpft die fachwissenschaftlichen Perspektiven von Pflegewissenschaft, Medizin, Psychologie und Pädagogik mit den Erkenntnissen der Pflegepraxis in unterschiedlichen Settings des Schmerzmanagements, ambulant wie stationär. Somit trägt Schmerz und Schmerzmanagement zur Stärkung der Rolle der Schmerzexperten in der Pflege und den Gesundheitsfachberufen bei und fördert die Entwicklung und den Ausbau der Kompetenzen im professionellen Umgang mit Schmerzpatienten und ihren Zu- und Angehörigen.

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