Znp 2016 27 issue 1

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Jahrgang 27 / Heft 1 / 2016

Geschäftsführender Herausgeber Lutz Jäncke Herausgeber Thomas Jahn Ilse Kryspin-Exner Stefan Lautenbacher Thomas Münte Martin Peper

Zeitschrift für

Neuropsychologie Journal for Neuropsychology Unterschiede im verbalen Lernen und Gedächtnis zwischen (teil-) remittierten Patienten mit depressiver Episode und Schizophrenie Kognitive Kompetenzen und Sprachentwicklung bei Kindern im Alter zwischen vier und fünf Jahren und weitere Beiträge


Zeitschrift für

Neuropsychologie Journal for Neuropsychology

27. Jahrgang / Heft 1 / 2016

Geschäftsführender Herausgeber Lutz Jäncke Herausgeber Thomas Jahn Ilse Kryspin-Exner Stefan Lautenbacher Thomas Münte Martin Peper


Geschäftsführender Herausgeber

Prof. Dr. Lutz Jäncke, Psychologisches Institut, Lehrstuhl für Neuropsychologie, Universität Zürich, Binzmühlestr. 14, Postfach 25, CH-8050 Zürich, Tel. +41 (0)44 635 74 00, lutz.jaencke@uzh.ch

Herausgeber

Thomas Jahn, München Ilse Kryspin-Exner, Wien Stefan Lautenbacher, Bamberg

Gründungsherausgeber

Wolfgang Hartje, Aachen, Professor Emeritus Bielefeld

Ehemalige Herausgeber

Detlef-Yves von Cramon, Direktor Emeritus Leipzig Renate Drechsler, Tschugg, Zürich Siegfried Gauggel, Aachen Georg Goldenberg, München Wolfgang Hartje, Professor Emeritus Bielefeld Manfred Herrmann, Magdeburg, Bremen Hans Markowitsch, Bielefeld Karl-Heinz Mauritz, Berlin

Etienne Perret, Zürich Bruno Preilowski, Tübingen Jürgen Oldigs-Kerber, Frankfurt F.J. Stachowiak, ehemals Leipzig Walter Sturm, Aachen Klaus Willmes, Aachen Eugene Wist, Professor Emeritus Düsseldorf Josef Zihl, München

Beirat

Thomas Beblo, Bielefeld Thomas Benke, Innsbruck Jan Born, Tübingen Christian Büchel, Hamburg Renate Drechsler, Zürich Gereon Fink, Köln Siegfried Gauggel, Aachen Georg Goldenberg, München Onur Güntürkün, Bochum Thomas Guthke, Leipzig Hans-Jochen Heinze, Magdeburg Christoph Helmstaedter, Bonn Manfred Herrmann, Bremen

Hans-Otto Karnath, Tübingen Josef Kessler, Köln Gernot Lämmler, Berlin Klaus W. Lange, Regensburg Hans Markowitsch, Bielefeld Sandra-Verena Müller, Braunschweig Michael Niedeggen, Berlin Jascha Rüsseler, Bamberg Claus-W. Wallesch, Elzach Katja Werheid, Berlin Klaus Willmes, Aachen Wolfram Ziegler, München Josef Zihl, München

Ehemalige Mitglieder des Beirates

Hermann Ackermann, Tübingen Barbara Benz, Bremen Yves von Cramon, Leipzig Irene Daum, Bochum Ulrich M. Fleischmann, Nürnberg Wolfgang Hartje, Bielefeld Walter Huber, Aachen

Marianne Regard, Zürich Frank Rösler, Professor Emeritus, Marburg Andreas Seeber, Dortmund Sergio E. Starkstein, Buenos Aires Martijn van Zomeren, Groningen Klaus von Wild, Münster Walter Sturm, Aachen

Verlag

Hogrefe AG, Länggass-Str. 76, CH-3000 Bern 9, Tel. +41 (0)31 300 45 00, verlag@hogrefe.ch, www.hogrefe.ch

Anzeigen

Josef Nietlispach, Hogrefe AG, Länggass-Str. 76, CH-3000 Bern 9, Tel. +41 (0)31 300 45 69, inserate@hogrefe.ch

Thomas Münte, Lübeck Martin Peper, Marburg

Satz & Druck

Konrad Triltsch Print und digitale Medien GmbH, DE-97199 Ochsenfurt-Hohestadt

ISSN

1016-264X (ISSN-L), 1016-264X (Print), 1664-2902 (Online)

Erscheinungsweise

4 Hefte jährlich

Bezugsbedingungen

Jahresabonnement: Institute CHF 374.– / € 291.–; Private CHF 158.– / € 117.–; Mitglieder der GNP: im Mitgliederbeitrag enthalten; Mitglieder der DGNKN 20% Reduktion auf den Normalpreis für Private; Abbestellungen spätestens zwölf Wochen vor Ablauf des Abonnements. Einzelheft: CHF 72.50 / € 53.50. Alle Preise zuzüglich Porto und Versandgebühren Die Zeitschrift für Neuropsychologie ist das Organ der (deutschen) Gesellschaft für Neuropsychologie und der Gesellschaft für Neuropsychologie Österreich. Zudem erscheinen Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft für Neurotraumatologie und Klinische Neuropsychologie.

Indexierung

Science Citation Index Expanded (SCIE), Neuroscience Citation Index, Journal Citation Reports/Science Edition, PsycINFO und PsyJOURNALS Impact Factor: 0.400 2014 Journal Citation Reports® Social Sciences Edition (Thomson Reuters, 2015)

Elektronischer Volltext

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Titelbild

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Zeitschrift für Neuropsychologie (2016), 27 (1)

© 2016 Hogrefe


Inhalt Editorial

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Danksagung Gutachterinnen und Gutachter 2015

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Originalartikel

Unterschiede im verbalen Lernen und Gedächtnis zwischen (teil‐) remittierten Patienten mit depressiver Episode und Schizophrenie

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Differences in verbal learning and memory between (partially) remitted patients with major depression and schizophrenia Lena Listunova, Marina Bartolovic, Matthias Weisbrod und Daniela Roesch-Ely Übersichtsartikel

Mild traumatic brain injury (mTBI) und Gehirnerschütterungen im Sport

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Mild traumatic brain injury (mTBI) and concussion in sports Joachim Koch Originalartikel

Depressivität und Kognition in der neuropsychologischen Rehabilitation nach Schlaganfall

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Depressive and cognitive characteristics in stroke patients during neuropsychological rehabilitation Melanie Friedrich, Petra Zimmermann, Caroline Privou, Michael Preier, Kathrin Sackewitz-Barth, Joachim Kauth, Margarete Gollas, Tanja Schubert und Stefan Lautenbacher Kognitive Kompetenzen und Sprachentwicklung bei Kindern im Alter zwischen vier und fünf Jahren

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Cognitive skills and language development in children aged between four and five years Jessica Melzer, Julia-Katharina Rißling und Franz Petermann Nachrichten

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Verbandsnachrichten der Gesellschaft für Neuropsychologie (GNP) und der Gesellschaft für Neuropsychologie Österreich (GNPÖ)

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Zeitschrift für Neuropsychologie (2016), 27 (1)


DREILÄNDERTAGUNG der GNPÖ, SVNP-ASNP, GNP

Grenzen überwinden in der klinischen Neuropsychologie – Was verbindet / trennt unsere drei Länder? DEADLINE BEITRAGS-, ABSTRACT-EINREICHUNGEN: 30.05.2016

20. – 22. Oktober 2016 im CCW Würzburg KONGRESSPRÄSIDENTEN Dipl.-Psych. Herbert König Dipl.-Psych. Gerhard Müller Zentrum für Klinische Neuropsychologie D-97070 Würzburg

www.wuerzburg2016.info

KONGRESSORGANISATION UND VERANSTALTER DER INDUSTRIEAUSSTELLUNG SOWIE DES RAHMENPROGRAMMES

Akademie bei König & Müller Semmelstr. 36/38 | D-97070 Würzburg Tel: + 49 931 46079033 Fax: + 49 931 46079034 akademie@koenigundmueller.de www.wuerzburg2016.info


Editorial Liebe Leserinnen und Leser der Zeitschrift für Neuropsychologie. Zu Beginn des neuen Jahres wünscht Ihnen das Herausgeberteam aber auch der Verlag alles Gute zum Neuen Jahr. Unser besonderer Dank gilt den Autoren und den Gutachtern, die auch im vergangenen Jahr unsere Zeitschrift tatkräftig unterstützt haben. Im vergangenen Jahr haben wir eine Reihe von interessanten Beiträgen publizieren können, die verschiedene Arbeitsbereiche der Neuropsychologie behandeln. Folgenden Arbeitsbereichen können die publizierten Arbeiten zugeordnet werden: neuropsychologische Testdiagnostik, kognitive Therapie bei neurologischen Störungen, Beschwerdevalidierung, Verkehrspsychologie, affektive Neurowissenschaften und spezielle psychiatrisch-neuropsychologische Syndrome (z. B. PTSD, ADHD, Depression und Lernstörungen). Auch im letzten Jahr hatten wir Fallberichte, Diskussionsbeiträge, Leitlinien und traditionell die Abstracts für die letztjährige GNP-Tagung. Alles in allem ein Füllhorn von neuropsychologischem Wissen, das vor dem Leser eingebreitet wurde. Wie Sie gemerkt haben, sind auch einige englischsprachige Artikel erschienen. Wir werden dieses Prinzip der Durchmischung von deutsch- und englischsprachigen Artikeln beibehalten. Das vergrössert den Bereich der möglichen Einreichungen aber auch den Erfahrungshorizont der beitragenden Autoren. Dies ist für das weitere Gedeihen unserer Zeitschrift von herausragender Bedeutung. Unsere internationale Sichtbarkeit gemessen mit dem leidigen Impact-Faktor geht leider zurück. Unsere Zeit-

© 2016 Hogrefe Verlag

schrift wird derzeit mit einem Impact-Faktor von 0.4 geführt. Das ist natürlich nach der anfänglichen Euphorie mit einem Impact-Faktor von 1 nicht besonders erfreulich. Aus diesem Grunde sollten wir uns bemühen, ein wenig zumindest diesen Wert zu verbessern. Dazu können natürlich gute Beiträge in unserer Zeitschrift beitragen. Wir würden uns wünschen, wenn mehr interessante Übersichtsartikel zur Publikation eingereicht werden, denn bekanntlich werden solche Arbeiten recht häufig zitiert. Wichtig ist allerdings, dass auch die Leser der Zeitschrift für Neuropsychologie nicht vergessen sollten, dass der eine oder andere Artikel aus unserer Zeitschrift bei eigenen Publikationen in anderen Zeitschriften vielleicht Berücksichtigung finden könnte. Mit Heft 1/2016 geht auch eine Umstrukturierung im Verlag einher. Huber- und Hogrefe-Verlag sind nun auch formal zu einem Verlag verschmolzen. Das bedeutet, dass unsere Zeitschrift jetzt vom Hogrefe-Verlag produziert und vermarktet wird. Das wird dem Leser anhand eines geänderten Layouts schon mit diesem ersten Heft 2016 auffallen. Inhaltlich und organisatorisch wird sich allerdings nichts verändern. Die Herausgeber werden mit gleicher Freude und gleichem Engagement unsere Zeitschrift pflegen.

Lutz Jäncke Zürich im Januar 2016

Zeitschrift für Neuropsychologie (2016), 27 (1), 5 DOI 10.1024/1016-264X/a000172


Danksagung Gutachterinnen und Gutachter 2015 Herausgeberteam und Verlag danken den nachfolgend genannten Konsultantinnen und Konsultanten, die durch ihre Gutachtertätigkeit im Jahr 2015 (bis zum Stichtag 31. 12. 2015) maßgeblich an der Gestaltung der Zeitschrift für Neuropsychologie mitgearbeitet haben. Anja Lepach Gianclaudio Casutt Ingo Keller Johannes Michalak Jürgen Hänggi Moritz Daum Peter Brugger

Zeitschrift für Neuropsychologie (2016), 27 (1), 6 DOI 10.1024/1016-264X/a000173

Renate Drechsler Stefan Elmer Thomas Beblo Thomas Heidenreich Urs Nater Yolanda Schlumpf

© 2016 Hogrefe


Originalartikel

Unterschiede im verbalen Lernen und Gedächtnis zwischen (teil‐)remittierten Patienten mit depressiver Episode und Schizophrenie Lena Listunova, Marina Bartolovic, Matthias Weisbrod und Daniela Roesch-Ely Klinik für allgemeine Psychiatrie, Arbeitsgruppe Neurokognition, Zentrum für Psychosoziale Medizin, Universitätsklinikum Heidelberg Zusammenfassung: Die Studie untersuchte den Unterschied zwischen (teil‐)remittierten Patienten mit einer nicht psychotischen depressiven Episode (N = 65) oder Schizophrenie (N = 76) in ihrer Leistung beim Lernen und Gedächtnis von kontextabhängigen (gemessen mittels des Untertests „Logisches Gedächtnis“ aus dem WMS-R) versus kontextunabhängigen (gemessen mittels VLMT) Wortmaterial. Schizophrenie-Patienten zeigten eine signifikant schlechtere Leistung als depressive Patienten im Abruf von kontextabhängigem Wortmaterial sowie beim kontextunabhängigen Wortmaterial in den meisten Gedächtnisparametern, ausgenommen die unmittelbare Merkspanne (Supraspanne). Explorative Analysen der Prozentränge und T-Werte deuteten außerdem darauf hin, dass die Supraspanne auch im Vergleich zur gesunden Bevölkerung in beiden Patientengruppen nicht beeinträchtigt zu sein scheint. Darüber hinaus zeigen Patienten mit einer depressiven Episode beim verzögerten Abruf (VLMT und WMS-R) Defizite. Die praktischen Implikationen werden näher diskutiert. Schlüsselwörter: Schizophrenie, Depression, Lernen, Verbales Gedächtnis, Kognition, Kontext

Differences in verbal learning and memory between (partially) remitted patients with major depression and schizophrenia Abstract: This study investigates context dependent differences in verbal learning and memory between patients in (partial) remission with nonpsychotic major depression (N = 65) or schizophrenia (N = 76). Schizophrenia patients in comparison to depressive patients showed significantly poorer performance in the recall of context dependent (assessed with the subtest “Logical memory” from the WMS-R) as well as the context independent (assessed with the VLMT) verbal tasks in most learning and memory parameters, except for the immediate memory span (supra span). Exploratory analyzes of percentile ranks and T-scores also indicated that supra span seems not to be impaired in comparison to healthy population in both patient groups. Furthermore, patients with Major Depression presented deficits in delayed recall (VLMT and WMS-R). The practical implications are discussed in detail. Keywords: schizophrenia, depression, learning, verbal memory, cognition, context

Einleitung Kognitive Defizite bei Patienten mit Schizophrenie und Depression Häufig treten bei psychischen Störungen kognitive Defizite auf (Hasselbalch, Knorr, Hasselbalch, Gade & Kesting, 2012). Seit den 70er Jahren stieg das klinische und Forschungsinteresse an kognitiven Funktionsstörungen erheblich und erreichte in den 90ern einen Höhepunkt, als deren große Prävalenz bei Schizophrenie-Patienten © 2016 Hogrefe

und deren hohe Bedeutung für die Alltagsfunktionalität, das unabhängige Leben, das Lösen von sozialen Problemen, sowie die Aneignung von Fähigkeiten deutlich wurde (Green, 1996; Green, Kern & Heaton, 2004). Die Erforschung und Behandlung von kognitiven Defiziten ist daher von hoher klinischer Relevanz. An Schizophrenie erkrankte Patienten zeigen ein breites Muster an kognitiven Beeinträchtigungen, das mit ein bis zwei Standardabweichungen unter der Leistung gesunder Vergleichspersonen eine hohe klinische Bedeutsamkeit erreicht, in sich jedoch heterogen ist (Censits, Daniel Ragland, Gur & Gur, 1997; Heaton et al., 2001). Ein für Schizophrenie spezifiZeitschrift für Neuropsychologie (2016), 27 (1), 7–21 DOI 10.1024/1016-264X/a000167


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sches neurokognitives Profil konnte bis heute nicht gefunden werden (Heinrichs & Zakzanis, 1998; Reichenberg et al., 2009). Am meisten scheinen verbales Gedächtnis, Wortflüssigkeit, komplexe Aufmerksamkeit und Exekutivfunktionen beeinträchtigt zu sein. Die geringsten Effektstärken zeigen sich beim Wortschatz und visuellräumlichen Fähigkeiten (Heinrichs & Zakzanis, 1998). Die Prävalenz neurokognitiver Defizite (eine Standardabweichung unter der Leistung Gesunder) bei an Schizophrenie Erkrankten wird auf etwa 73 bis 80 Prozent geschätzt (Palmer et al., 1997; Wilk et al., 2004). Kognitive Defizite bei Schizophrenie können bereits bei der Ersterkrankung (Bilder et al., 2000) und schon vor dem Auftreten der ersten psychotischen Episode (Cornblatt, Lenzenweger, Dworkin & Erlenmeyer-Kimling, 1992) bestehen und persistieren häufig im Verlauf der Erkrankung (Heaton et al., 2001). Im Vergleich zur Erforschung kognitiver Defizite bei Schizophrenie ist deren Untersuchung bei unipolarer depressiven Episode erst seit etwa zwei Jahrzehnten zunehmend ins Interesse gerückt. So werden in aktuellen Untersuchungen, die die kognitive Funktionsfähigkeit bei Patienten mit einer Depression erforschen, ebenfalls kognitive Dysfunktionen in Aufmerksamkeit, Informationsverarbeitungs-geschwindigkeit, Lernen, Gedächtnis und Exekutivfunktionen gefunden (Rock, Roiser, Riedel & Blackwell, 2013). Während das Auftreten kognitiver Defizite, vor allem von Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen, im Rahmen einer akuten depressiven Episode schon lange bekannt ist und daher auch als Zusatzkriterium für die Diagnosestellung nach ICD 10 (Dilling, Mombour, Schmidt & Schulte-Markwort, 1994) gilt, wird das mögliche Fortbestehen kognitiver Dysfunktionen bis in die Remission hinein erst seit einigen Jahren intensiver erforscht (Hasselbalch et al., 2012; Rock et al., 2013). Denn im Gegensatz zu Schizophrenie ging man bei einer unipolaren Depression lange davon aus, dass kognitive Störungen mit der Remission der klinischen Symptomatik zurückgehen. Inzwischen konnte nachgewiesen werden, dass dies bei einem Teil der Patienten nicht der Fall ist (Hasselbalch et al., 2012). Auch viele Patienten in der Remmissionsphase einer depressiven Störung und darüber hinaus können also – ähnlich wie an Schizophrenie Erkrankte – von dauerhaften kognitiven Einschränkungen betroffen sein. Das bedeutet nicht, dass sich kognitive Fähigkeiten nach dem akuten Zustand nicht wieder etwas erholen können. Trotz der Verbesserung der kognitiven Beeinträchtigungen können Betroffene jedoch immer noch eine schlechtere Leistungsfähigkeit im Vergleich zu gesunden Probanden oder zum eigenen Leistungsniveau vor Erkrankungsbeginn zeigen (Douglas & Porter, 2009; Rock et al., 2013). In einer Meta-Analyse untersuchten Rock und Kollegen (2013) den Grad der kognitiven BeZeitschrift für Neuropsychologie (2016), 27 (1), 7–21

L. Listunova et al., Unterschiede im verbalen Lernen und Gedächtnis

einträchtigung von Patienten mit einer akuten (784 Patienten) und remittierten (168 Patienten) Depression. Die Ergebnisse dieser Meta-Analyse zeigen, dass Patienten mit einer akuten Depression gegenüber gesunden Vergleichspersonen signifikante Defizite in Exekutivfunktionen, Gedächtnis und Aufmerksamkeit aufweisen. Bei remittierten Patienten konnten weiterhin signifikante Defizite in Exekutivfunktionen und Aufmerksamkeit festgestellt werden, wohingegen sich die Leistungen hinsichtlich des Gedächtnisses hier nicht signifikant von den gesunden Probanden unterschieden. Diese Ergebnisse unterstützt auch die Meta-Analyse von Douglas und Porter (2009), die nur Studien mit Längsschnittdesign einschlossen. Diese Autoren fanden bei depressiven Patienten in Remission zwar eine deutliche Verbesserung der Defizite bis hin zum prämorbiden Niveau in Informationsverarbeitungsgeschwindigkeit, verbalem Gedächtnis und verbaler Wortflüssigkeit gegenüber der akuten Phase. Beeinträchtigungen der exekutiven Funktionen und der Aufmerksamkeit blieben jedoch auch nach dem Abklingen der akuten Symptomatik bestehen. Prävalenzangaben verschiedener Studien zu kognitiven Defiziten bei remittierten depressiven Patienten schwanken zwischen 30 und 50 % (Rock et al., 2013). Untersuchungen zum Zusammenhang zwischen kognitiven Störungen und Alltagsfunktionalität bzw. psychosozialem Funktionsniveau gibt es in diesem Bereich im Vergleich zur SchizophrenieForschung bisher nur wenige. Erste Arbeiten konnten jedoch auch hier deutliche Zusammenhänge nachweisen (Baune et al., 2010; Jaeger, Berns, Uzelac & Davis-Conway, 2006), was wiederum die hohe Relevanz von deren Erforschung aufzeigt, auch angesichts der großen ökonomischen Belastung durch depressionsbedingte dauerhafte Berufsunfähigkeit Betroffener (Sobocki, Jönsson, Angst & Rehnberg, 2006).

Vergleich kognitiver Leistungsprofile zwischen an Schizophrenie und Depression Erkrankten mit Fokus auf das verbale Gedächtnis Ein besonderes Augenmerk beim Vergleich kognitiver Leistungen von Patienten mit schizophrener und depressiver Erkrankung liegt auf dem verbalen Gedächtnis. Die Bedeutung des verbalen Gedächtnisses für die Alltagsfunktionalität zeigte bereits Green (1996) in einem Studien-Review von 17 Studien. Nach dem Durchsichten relevanter Studien stellte sich das verbale Gedächtnis als bedeutsamer und am meisten konsistenter Prädiktor für die Gesellschaftsfunktionalität („community outcome“, z. B. Erwerbstätigkeit), das Lösen von sozialen Problemen © 2016 Hogrefe


L. Listunova et al., Unterschiede im verbalen Lernen und Gedächtnis

sowie die Aneignung von Fähigkeiten bei Patienten mit Schizophrenie heraus. Auch Puig und Kollegen (2008) konnten diese Ergebnisse in ihrer Untersuchung bestätigen. Die Autoren zeigten, dass die Leistung im verzögerten Abruf von kontextabhängigen verbalen Material in der Testaufgabe „Logisches Gedächtnis II“ aus der WMSR (Wechsler Memory Scale – Revidierte Fassung; Härting et al., 2000) den besten Prädiktor für die psychosoziale Funktionalität der an Schizophrenie Erkrankten darstellt. Außerdem kann das verbale Gedächtnis die soziale und Arbeitsleistung bei Patienten mit Schizophrenie nach der Remission der akuten Symptomatik vorhersagen (Bell & Bryson, 2001; Holthausen et al., 2007). Bei Patienten mit Depression variieren jedoch die Ergebnisse in verbalen Gedächtnisaufgaben zwischen den Studien, die sich auf (teil‐)remittierte Patienten beziehen, stark. Douglas und Porter (2009) lieferten in ihrer Metaanalyse Hinweise darauf, dass sich die verbale Lern- und Merkfähigkeit mit dem Abklingen der Symptome deutlich verbessert. Die Frage, ob die Patienten mit Depression immer noch eine schlechtere Leistungsfähigkeit im Vergleich zu gesunden Probanden oder dem eigenen Leistungsniveau vor Erkrankungsbeginn zeigen, kann nicht eindeutig beantwortet werden. So gibt es einige Studien, die Hinweise dafür liefern, dass verbale Lern- und Gedächtnisstörungen auch nach Remission der Depression persistieren (Beblo, Baumann, Bogerts, Wallesch & Herrmann, 1999; Rock et al., 2013). Biringer und Kollegen (2007) hingegen zeigten in ihrer longitudinalen Untersuchung, dass 30 (teil‐)remittierte depressive Patienten ihre verbalen Gedächtnisdefizite (gemessen mit CVLT) nach einem Intervall von etwa 2 Jahren signifikant und bis zu einem Niveau von gesunden Versuchspersonen (N = 50) verbessern können. Solche Unterschiede in den gefundenen Ergebnissen könnten u. a. auf unterschiedliche Follow-up-Intervalle oder einen unterschiedlichen Altersdurchschnitt der Stichprobe zurückgeführt werden.

Unterschiedliche verbale Gedächtnisaufgaben und der Kontexteinfluss auf das Lernen von Wortmaterial Die bereits beschriebenen Unterschiede bezüglich der verbalen Gedächtnisfunktionen zwischen den Untersuchungen können auf verschiedene kognitive, motivationale und klinische (Moderator‐)Variablen, aber auch, wie bereits angedeutet, auf Aspekte des Studiendesigns zurückgeführt werden (Cohen, Weingartner, Smallberg, Pickar & Murphy, 1982; Veiel, 1997). Darunter fällt auch die Operationalisierung, also die Nutzung unterschiedlicher © 2016 Hogrefe

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Gedächtnistest in verschiedenen Studien, um ein ähnliches oder gleiches Konstrukt zu erfassen. Um genauer einschätzen zu können, welche Gedächtnisprozesse im Detail in welchem Maße bei welchen Patientengruppen beeinträchtigt sind, sind systematischere Untersuchungen bzw. Vergleiche von verschiedenen Gedächtnistestaufgaben und -parametern wichtig. Das kann, abgesehen von einer besseren Vergleichbarkeit von Studienergebnissen untereinander, auch wertvolle Informationen sowohl für theoretische Fragen als auch für maßgeschneiderte Interventionen, im Sinne individualisierter oder krankheitsspezifischer kognitiver Remediationen liefern. Wood und Kollegen (2007) gingen beispielsweise der Frage nach, ob bei Schizophrenie die Leistung in allen verbalen Gedächtnisaufgaben gleich stark beeinträchtigt ist. So sind häufig genutzte Aufgaben, die das verbale Gedächtnis erfassen, beispielsweise der so genannte „prose recall“ (z. B. in Form des freien Abrufs einer zuvor vorgegebenen Geschichte) oder das „paired associate learning“, bei dem Items (z. B. Wörter) in semantisch ähnlichen bzw. unähnlichen Paaren vorgegeben werden. Die Lern- und Abrufleistung wird beim „paired associate learning“ durch das Vorgeben des ersten Items und Abrufen des zweiten Items geprüft. Diese zwei Aufgabenarten unterscheiden sich jedoch deutlich bezüglich ichrer Gedächtniskonzeptualisierungen bzw. hinsichtlich der kognitiven Konstrukte, die sie messen. Beim „prose recall“ wird stärker die Fähigkeit, eine dargebotene semantische Information zu organisieren und für einen späteren Abruf zu strukturieren, geprüft. So ergibt sich etwa der kontextuelle Rahmen einer Geschichte mit aus typischen, implizit bekannten Erzählstrukturen, z. B. Einleitung, Beschreibung eines zentralen Ereignisses sowie dessen Konsequenz und das Ende bzw. das Fazit der Geschichte (vgl. Wood et al., 2007). Solche (impliziten) Erzählstrukturen bzw. ein Kontext im Allgemeinen kann beim Abruf sehr hilfreich sein, wie in der klassischen, auf ihrem Gebiet bahnbrechenden Studie von Miller und Selfridge (1950) gezeigt werden konnte. Die Autoren erstellten Wörterlisten mit variierendem Grad interner Organisation, die sie „contextual constraint“ nannten. Diese reichten von Listen mit Wörtern, die zufällig ausgesucht wurden und in keinerlei Beziehung zueinander standen („no constraint“) bis zu ganzen Textsätzen oder Listen mit Wörtern, die kontextuell stark miteinander verbunden waren („maximal contextual constraint“). Mithilfe solcher Listen konnten Miller und Selfridge (1950) zeigen, dass gesunde Versuchspersonen ihre Abrufleistung mit wachsendem Grad des „contextual constraint“ steigern konnten. Diese Methode nutzten auch Lawson, McGhie, und Chapman (1964) oder viel später auch Manschreck, Maher, Beaudette und Redmond (1997), um zu zeigen, dass Schizophrenie-Patienten weniger als gesunde ProbanZeitschrift für Neuropsychologie (2016), 27 (1), 7–21


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den fähig waren, den Kontext im Sinne von „contextual constraint“ als Abrufhilfe zu nutzen und damit nicht so sehr von so genanntem „gebundenen“ Wortmaterial profitieren konnten wie Patienten mit Depression oder gesunde Vergleichspersonen. Ähnliche Befunde berichteten inzwischen viele andere Autoren (u. a. Gsottschneider et al., 2011; Maher, Manschreck & Rucklos, 1980). All diese Untersuchungen legen nahe, dass Schizophrenie-Patienten beim Lernen von gebundenem gegenüber ungebundenem Wortmaterial relativ stärker beeinträchtigt sind und damit im „prose learning“ schlechter abschneiden sollten als im „paired-associate learning“. Diese Annahme wurde in der oben genannten Untersuchung von Wood und Kollegen (2007) bestätigt. So zeigten die Schizophrenie-Patienten signifikante Defizite beim „prose recall“ [Untertest „Logisches Gedächtnis I“ aus WMS-R (Härting et al., 2000)], jedoch nicht beim „paired associate learning“ [„Verbal Paired Associates I“ (VPA) aus WMS-R; Härting et al., 2000)] im Vergleich zu gesunden Versuchspersonen. Außerdem gibt es Hinweise dafür, dass an Schizophrenie Erkrankte das „serielle Clustern“ dem semantischen beim Lernen einer Wortliste vorziehen und somit bereits beim Enkodieren die kontextangereicherte Information weniger als gesunde Probanden nutzen (Gsottschneider et al., 2011). Wenn also zum Erfassen des Konstrukts „verbales Gedächtnis“ in verschiedenen Studien verschiedene Aufgaben mit variierendem Kontext bzw. semantischem Organisationsgrad genutzt werden, könnte das zu scheinbar widersprüchlichen Aussagen in Bezug auf den Beeinträchtigungsgrad des verbalen Gedächtnisses bei an Schizophrenie erkrankten Probanden führen.

Ziel und Fragestellung der vorliegenden Untersuchung In der vorliegenden Untersuchung werden die beiden (teil‐)remittierten Patientengruppen bezüglich ihrer Leistung in einer Aufgabe mit hohem semantischen Kontext gegenüber einer Aufgabe mit geringem semantischen Kontext verglichen. Angesichts der oben beschriebenen empirischen Befunde wird erwartet, dass SchizophreniePatienten gegenüber depressiven Patienten in der Gedächtnisaufgabe mit gebundenem Wortmaterial signifikant schlechtere Leistungen zeigen. Bei der verbal ungebundenen Gedächtnisaufgabe ist die Kontextinformation als „Lernhilfe“ nicht mehr so stark ausgeprägt, was möglicherweise Unterschiede in der Leistung zwischen den beiden Diagnosegruppen nivellieren könnte. Jedoch kann hier aufgrund der inkonsistenten Befundlage, v. a. zu möglichen Defiziten im verbalen Gedächtnis (teil‐) reZeitschrift für Neuropsychologie (2016), 27 (1), 7–21

L. Listunova et al., Unterschiede im verbalen Lernen und Gedächtnis

mittierter Patienten mit einer depressiven Episode keine genaue Voraussage zur Signifikanz der Gruppenunterschiede getroffen werden.

Methoden und Stichprobe Stichprobe Die Stichprobe wurde aus einem Datenpool von 540 ambulanten und stationären Patienten extrahiert, die aufgrund einer klinischen Fragestellung eine neuropsychologische Untersuchung in der Psychiatrischen Ambulanz für Kognitives Training (PAKT) der Universitätsklinik Heidelberg im Zeitraum zwischen 2005 und 2011 durchliefen. Die Diagnosen der erkrankten Patienten wurden von den behandelnden Fachärzten für Psychiatrie und Psychotherapie anhand des ICD-10-Klassifikationssystems (Dilling et al., 1994) erteilt. Alle Probanden waren zum Zeitpunkt der Untersuchung nicht mehr von akuter Symptomatik betroffen und nach der Einschätzung des behandelten Arztes bzw. Psychotherapeuten (teil‐)remittiert. In die vorliegende Untersuchung wurden Patienten mit einer schizophrenen Störung (ICD-10: F20.XX) und einer nicht psychotischen depressiven Episode (ICD-10: F32.XX/F33.XX mit Ausnahme von F32.3 und F33.3) eingeschlossen. Ausschlusskriterien waren zudem aktuelle Alkohol- oder Drogenabhängigkeit und neurologische Störungen sowie schwere körperliche Erkrankungen. In die Studie konnten damit insgesamt 141 (teil‐)remittierte Patienten [59 weiblich (41,84 %); Alters-Range = 17 – 61 J.; M = 28.32 Jahre; SD = 9.79] eingeschlossen werden, davon N = 76 mit einer schizophrenen Störung [32 weiblich (42,11 %); Alters-Range = 17 – 55 Jahre.; M = 27,51 Jahre; SD = 7,99] und N = 65 mit einer nicht psychotischen depressiven Episode oder Störung [27 weiblich (41,54 %); Alters-Range = 17 – 61 Jahre.; M = 29,26 Jahre; SD = 11,55]. Zwölf Patienten mit einer schizophrenen Störung hatten eine komorbide psychische Störung [Angst- oder Anpassungsstörung (N = 1), schädlicher Substanzgebrauch, zur Zeit der Untersuchung glaubhaft abstinent (N = 4), Persönlichkeitsstörung (N = 5), Störungen mit Beginn in Kindheit/Jugend (N = 1) und Neurasthenie (N = 1)]. Zweiundfünfzig Patienten mit einer depressiven Episode hatten eine komorbide psychische Störung [Angst- oder Anpassungsstörung (N = 10), schädlicher Substanzgebrauch, zur Zeit der Untersuchung glaubhaft abstinent (N = 2), Persönlichkeitsstörung (N = 28), Entwicklungsstörung (N = 2), Störungen mit Beginn in Kindheit/Jugend (N = 3), Zwangsstörung (N = 2), somatoforme Störung (N = 2), Essstörung (N = 2) und atypischer Autismus © 2016 Hogrefe


L. Listunova et al., Unterschiede im verbalen Lernen und Gedächtnis

(N = 1)]. Die Muttersprache aller Probanden war Deutsch. Die Teilnahme an der neuropsychologischen Untersuchung war freiwillig. Für die Studie wurden ausschließlich Daten von jenen Patienten genutzt, welche vor Untersuchungsbeginn ihre schriftliche Einwilligung zur Nutzung der Untersuchungsergebnisse zum wissenschaftlichen Zweck gegeben hatten. Die wissenschaftliche Nutzung der Daten zur Untersuchung der Neuropsychologie psychiatrischer Patienten wurde von der Ethikkommission der medizinischen Fakultät der Universität Heidelberg bewilligt. Die Probanden wurden vor Untersuchungsbeginn über die möglichen Nutzen und Risiken, sowie über die Möglichkeit, die Zustimmung zur wissenschaftlichen Nutzung der Daten jederzeit zurückziehen zu können, aufgeklärt.

Messinstrumente/Material Lernen von kontextabhängigem Wortmaterial Für die Erfassung des kontextabhängigen verbalen Gedächtnisses wurde der Untertest „Logisches Gedächtnis“ aus der „Wechsler-Memory-Scale“ – Revidierte Fassung (WMS-R; Härting et al., 2000) eingesetzt. Dieser Untertest besteht aus zwei Teilen. Zuerst werden dem Probanden zwei kurze Geschichten vorgelesen, die er jeweils direkt im Anschluss nacherzählen soll (Parameter „Logisches Gedächtnis I“, entspricht unmittelbarem Abruf). Nach einer etwa halbstündigen Verzögerung wird der Proband gebeten, die Geschichten (ohne wiederholte Vorgabe der Geschichte) nochmals nachzuerzählen (Parameter „Logisches Gedächtnis II“, entspricht verzögertem Abruf). Damit wird die unmittelbare und verzögerte Merkfähigkeit für komplexes bzw. kontextabhängiges verbales Material erhoben. Für den Untertest bestehen altersabhängige Normen.

Lernen von kontextunabhängigem Wortmaterial Für die Erfassung der verbal kontextunabhängigen Gedächtnisleistung wurde der „Verbale Lern- und Merkfähigkeitstest“ (VLMT; Helmstaedter, Lendt & Lux, 2001) eingesetzt. Der VLMT umfasst eine Lern- sowie eine Interferenzliste, bestehend jeweils aus 15 semantisch voneinander unabhängigen Wörtern, sowie einer Wiedererkennensliste. Für den VLMT bestehen altersabhängige © 2016 Hogrefe

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Normen (Helmstaedter et al., 2001). Für die folgende Untersuchung wurden nur bestimmte Parameter des VLMT ausgewählt, die mit den Parametern des Untertests Logisches Gedächtnis vom WMS-R vergleichbar oder von besonderem Interesse sind. Es handelt sich um folgende: Supraspanne (DG1), Lernleistung (DG5), unmittelbare (DG6) und verzögerte (DG7) Abrufleistung.

Statistische Analysen Hauptanalyse Zur Hauptanalyse der Unterschiede in der verbalen Gedächtnisleistung zwischen zwei Diagnosegruppen (between-subject design) wurden univariate mehrfaktorielle Kovarianzanalysen genutzt [UVn: Diagnose, Geschlecht (Kontrollvariable), Bildungsgrad (Kontrollvariable); Kovariaten: Alter und Krankheitsdauer; AVn: Logisches Gedächtnis unmittelbarer und verzögerter Abruf (WMS-R), Supraspanne (VLMT), Lernleistung (VLMT), unmittelbare und verzögerte Abrufleistung (VLMT)]. Die Kontrollvariablen und Kovariaten wurden aufgrund der theoretisch anzunehmenden Möglichkeit eines Einflusses und möglicher Moderatoreffekte auf die Gedächtnisleistung ausgewählt.

Zusätzliche Analysen Da in der vorliegenden Studie keine gesunde Kontrollgruppe untersucht wurde, wurden zur Einschätzung der Leistungen der Patientengruppen im Vergleich zur gesunden Bevölkerung mithilfe der Testhandbücher und deren altersabhängigen Normstichproben für jeden Probanden Prozentränge und T-Werte ermittelt (VLMT; Helmstaedter et al., 2001 und WMS-R; Härting et al., 2000). Für jede abhängige Variable wurde ein t-Test für unabhängige Stichproben gerechnet, um die GruppenMittelwertunterschiede der T-Werte auf Signifikanz zu prüfen. Mittels parameterfreier Binomialtests wurde untersucht, ob die in der vorliegenden Patienten-Stichprobe beobachteten Anteile der als beeinträchtigt zu betrachtenden Patienten (Leistung mit einem PR < 16) jeweils signifikant von dem zu erwarteten Anteil von 16 % gegenüber der Normalbevölkerung abweichen. Es wurde zusätzlich überprüft, ob und wie sich die Leistung zwischen den beiden Gedächtnistests in vergleichbaren Gedächtnisparametern innerhalb der Person je nach Diagnosegruppe unterscheidet. Dafür wurden Zeitschrift für Neuropsychologie (2016), 27 (1), 7–21


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L. Listunova et al., Unterschiede im verbalen Lernen und Gedächtnis

Tabelle 1. Verteilung der demographischen und klinischen Daten über die Diagnosegruppen und deren Signifikanzprüfung Demographische und klinische Variablen

Diagnose Schizophrenie (N = 76)

Depression (N = 65)

p

27.51 € 7.99

29.26 € 11.55

.92

Geschlecht (% männlich / % weiblich)

57.89 % / 42.11 %

58.46 % / 41.54 %

.05

Bildungsgrad (% < 12 Jahre / % > 12 Jahre)

44.78 % / 55.22 %

61.11 % / 38.89 %

.65

Krankheitsdauer (in Monaten) (M € SD)

27.86 € 53.70

25.71 € 51.54

.82

Alter (M € SD)

Abk.: p: Signifikanzprüfung; M: Mittelwert; SD: Standardabweichung; N: (Teil) Stichprobengröße.

zwei univariate mehrfaktorielle ANCOVAs mit Messwiederholung gerechnet, je eine pro interessierenden Gedächtnisparameter – in einem Fall wurde die Leistung im unmittelbaren Abruf untersucht, im anderen Fall der verzögerte Abruf. Den Innersubjektfaktor stellte dabei die Testart (VLMT vs. WMS-R Logisches Gedächtnis) und den Zwischensubjektfaktor die Diagnose dar. Um jedoch die Leistungen trotz unterschiedlicher Skalierung sinnvoll miteinander vergleichen zu können, mussten zuvor die Rohwerte in z-Werte transformiert werden. Außerdem wurde als vergleichbarer Gedächtnisparameter zum unmittelbaren Abruf im WMS-R Logisches Gedächtnis unmittelbarer Abruf und im VLMT die Supraspanne gewählt. Im Fall des verzögerten Abrufs kamen Logisches Gedächtnis verzögerter Abruf (WMS-R) und Verzögerte Abrufleistung (VLMT) in Frage. In der Analyse wurden die gleichen Kontrollvariablen wie bei der Hauptanalyse berücksichtigt. Die gesamte statistische Auswertung wurde mit Version 19 des Statistikprogramms SPSS durchgeführt. Für alle durchgeführten Analysen wurde das Signifikanzniveau a priori auf eine Irrtumswahrscheinlichkeit von p ≤ .05 festgelegt. Ein statistischer Trend wurde auf p ≤ .10 gesetzt. Da es sich bei der Hauptanalyse des Logischen Gedächtnisses (Gedächtnisaufgabe mit gebundenem Wortmaterial) um ein hypothesengenerierendes Vorgehen handelte, wurde das Alpha-Niveau nicht korrigiert, um die Power für die Analyse hoch zu halten. Bei der verbal ungebundenen Gedächtnisaufgabe (VLMT) wurde keine gerichtete Hypothese formuliert. Deswegen wird hier die Bonferroni-Korrektur vorgenommen und das neue Signifikanzniveau auf p ≤ .0125 gesetzt. Ein statistischer Trend wurde entsprechend auf p ≤ .025 gesetzt. Von der gesamten Berechnung wurden Personen mit fehlenden Werten in zu untersuchenden abhängigen Variablen und Kontrollvariablen (durch das SPSS-Programm mittels „listwise deletion“) ausgeschlossen.

Zeitschrift für Neuropsychologie (2016), 27 (1), 7–21

Ergebnisse Demographische und klinische Daten Die soziodemographischen und klinisch relevanten Variablen werden in Tabelle 1 zusammengefasst. Um die beiden Diagnosegruppen hinsichtlich der Variablen Geschlecht, Alter, Bildungsgrad und Krankheitsdauer zu vergleichen, wurden Chi-Quadrat-Tests, eine einfaktorielle Varianzanalyse (ANOVA) bzw. ein Mann-Whitney-U-Test gerechnet. Bezüglich der eben genannten Variablen bestand kein signifikanter Unterschied zwischen den Diagnosegruppen.

Hauptanalysen Deskriptivstatistiken der erhobenen Variablen (Ergebnisse der Tests in den Untersuchungsgruppen) werden in Tabelle 2 zusammengefasst. Zur Vorbereitung auf die eigentliche statistische Hauptanalyse erfolgte zunächst die Überprüfung der Testvoraussetzungen. Aufgrund der Robustheit der AN(C)OVA gegenüber Verletzungen ihrer Prämissen bei gleicher Zellbesetzung konnte diese trotz einer vorliegenden Verletzung der Normalverteilung und Varianzhomogenität (nur bei der Variable Lernleistung, VLMT) durchgeführt werden (Backhaus, Erichson, Plinke & Weiber, 2006; Schmider, Ziegler, Danay, Beyer & Bühner, 2010).

Logisches Gedächtnis Mittels einer mehrfaktoriellen Kovarianzanalyse konnten signifikante Haupteffekte der Diagnosegruppe [F(1,105) = 5.11; p < .05; η² = .05; d = .44] und der Variable Bildungsgrad [F(1,105) = 4.87; p < .05; η² = .05; d = .43] für die abhängige Variable Logisches Gedächtnis unmittelbarer © 2016 Hogrefe


L. Listunova et al., Unterschiede im verbalen Lernen und Gedächtnis

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Tabelle 2. Deskriptivstatistiken der erhobenen Variablen (Ergebnisse der Tests in den Untersuchungsgruppen) sowie Ergebnisse der Kovarianzanalysen Gedächtnisparameter

Schizophrenie

Depression

Ergebnisse der AN(C)OVAs

M

SD

N

M

SD

N

F

p

Effekta)b)

Unmittelbarer Abruf

26.30

8.86

64

29.12

9.34

59

5.11

< .05

S < D* (d = .44)

Verzögerter Abruf

21.62

8.99

63

24.87

9.37

59

7.57

< .01

S < D** (d = .57)

Supraspanne

7.54

2.46

76

7.42

2.38

65

0.48

.49

n.s. (d = .13)

Lernleistung

12.51

2.28

76

13.22

2.03

65

10.50

.002

S < D** (d = .60)

Unmittelbare Abrufleistung

10.70

3.12

76

11.71

3.06

65

9.56

.003

S < D* (d = .57)

Verzögerte Abrufleistung

10.49

3.46

75

11.72

3.28

65

5.73

.018

S < D(*) (d = .41)

Logisches Gedächtnis (WMS-R)

VLMT

Abk.: M: Mittelwert der Anzahl erinnerter Wörter (VLMT) bzw. semantischer Einheiten (WMS-R); SD: Standardabweichung der Anzahl erinnerter Wörter bzw. semantischer Einheiten; N: (Teil) Stichprobengröße; p: Signifikanzprüfung; F: F-Wert; d: Effektstärke (Cohens d); AN(C)OVA: Kovarianzanalyse (analysis of covariance); n.s.: nicht signifikant; VLMT: Verbaler Lern- und Merkfähigkeitstest; WMS-R: Wechsler Memory Scale – Revidierte Fassung; S: SchizophrenieGruppe; D: Depression-Gruppe. a) Signifikanzprüfung für die Gedächtnisparameter des Logischen Gedächtnisses: (*) p < .10; * p < .05; ** p < .01 b) Signifikanzprüfung für die Gedächtnisparameter des VLMT nach der Bonferroni-Korrektur: (*) p < .025; p < .0125; ** p < .0025

Abruf (WMS-R) gezeigt werden. Bei der Variable Logisches Gedächtnis verzögerter Abruf (WMS-R) konnte ein hoch signifikanter Haupteffekt der Diagnosegruppe [F(1,95) = 7.57; p < .01; η² = .08; d = .57] gezeigt werden. Patienten mit einer depressiven Episode zeigen wie erwartet signifikant bessere Leistungen beim unmittelbaren und verzögerten Abruf der Geschichten als Patienten mit einer Schizophrenie. Auch Patienten mit mehr als 12 Bildungsjahren zeigen im unmittelbaren Abruf der Geschichten ein signifikant besseres Ergebnis als Patienten mit weniger oder gleich 12 Bildungsjahren. Signifikante Interaktionen erster oder höherer Ordnungen sowie weitere Haupteffekte konnten nicht gefunden werden. Unterschiede in den Leistungen hinsichtlich der WMS-R Gedächtnisparameter zwischen den beiden Diagnosegruppen werden in Abbildung 1 zusammengefasst.

schlecht und Bildungsgrad wurde signifikant [F(1,110) = 7.44; p < .05; η² = .07; d = .53]. Hierbei erinnerten in der niedrigeren Bildungskategorie (Bildung < 12 Jahre) weibliche Patienten signifikant mehr Wörter im Parameter Supraspanne (VLMT) als männliche Patienten, während in der höheren Bildungskategorie kein solch signifikanter Geschlechtereffekt zu sehen ist. Außerdem zeigte sich bei den weiblichen Patienten, im Gegensatz zu den männlichen, auch kein signifikanter Bildungseffekt, d. h. Frauen erinnerten unabhängig vom Bildungsgrad etwa gleich viele Wörter mit vergleichbarer Bildung. Über alle Kategorien hinweg zeigte sich jedoch kein signifikanter Haupteffekt des Bildungsgrades oder des Geschlechts. Weitere Signifikante Interaktionen erster oder höherer Ordnungen sowie weitere Haupteffekte ergaben sich nicht. Unterschiede in den Leistungen hinsichtlich der VLMT Gedächtnisparameter zwischen den beiden Diagnosegruppen werden in Abbildung 2 zusammengefasst.

VLMT Supraspanne In der mehrfaktoriellen Kovarianzanalyse konnte kein signifikanter Leistungsunterschied zwischen den beiden Diagnosgeruppen bezüglich der Variable Supraspanne (VLMT) gezeigt werden [F(1,110) = 0.48; n.s.; η² = .01; d = .13]. Die Interaktion zwischen den Variablen Ge© 2016 Hogrefe

Lernleistung Die Patienten mit einer depressiven Episode zeigen eine hoch signifikant bessere Lernleistung (VLMT) im Vergleich zu den Patienten mit einer schizophrenen Störung [F(1,119) = 10.50; p < .01; η² = .09; d = .60]. Es konnten keine signifikanten Interaktionen erster oder höherer Ordnungen sowie weitere Haupteffekte gefunden werden. Zeitschrift für Neuropsychologie (2016), 27 (1), 7–21


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L. Listunova et al., Unterschiede im verbalen Lernen und Gedächtnis

Abk.: WMS-R: Wechsler Memory Scale – Revidierte Fassung; * p < .05; ** p < .01

Abbildung 1. Säulendiagramm: Geschätzte Mittelwerte (Anzahl erinnerter semantischer Einheiten) der Leistungen in WMS-R Gedächtnisparametern in Abhängigkeit der Diagnose (Depression vs. Schizophrenie).

Abk.: VLMT: Verbaler Lern- und Merkfähigkeitstest; (*) p = .018; * p = .003; ** p = .002

Abbildung 2. Säulendiagramm: Geschätzte Mittelwerte (Anzahl erinnerter Wörter) der Leistungen in VLMT Gedächtnisparametern in Abhängigkeit der Diagnose (Depression vs. Schizophrenie).

Unmittelbare Abrufleistung Bei Unmittelbarer Abrufleistung (VLMT) konnte ein signifikanter Haupteffekt der Diagnosegruppe [F(1,119) = 9,56; Zeitschrift für Neuropsychologie (2016), 27 (1), 7–21

p < .05; η² = .08; d = .57], und eine signifikante Interaktion der Variablen Bildungsgrad und Geschlecht [F(1,119) = 7.32; p < .05; η² = .06; d = .50] gezeigt werden. Die Patienten mit einer depressiven Episode konnten signifikant mehr © 2016 Hogrefe


L. Listunova et al., Unterschiede im verbalen Lernen und Gedächtnis

Wörter in Unmittelbarer Abrufleistung (VLMT) erinnern als die Patienten mit Schizophrenie. In der Interaktion ist zu sehen, dass sich der Bildungseffekt je nach Geschlecht umzukehren scheint: In der niedrigen Bildungskategorie erinnern Frauen mehr Wörter als Männer, während das in der höheren Bildungskategorie anders herum ist. Im Schnitt zeigt sich jedoch kein Haupteffekt des Bildungsgrades oder des Geschlechts. Weitere signifikante Interaktionen erster oder höherer Ordnungen sowie weitere Haupteffekte konnten nicht gefunden werden.

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R) [t(122) = 2.75; p < .01] und verzögerter Abruf (WMS-R) [t(119) = 2.72; p < .01]. Für Schizophrenie-Patienten wurde der Binomialtest (einseitige Signifikanzprüfung) in allen Gedächtnisparameter außer der Supraspanne (VLMT) hoch bis höchst signifikant [Lernleistung (VLMT) (p < .01); Unmittelbare und Verzögerte Abrufleistung (VLMT), Logisches Gedächtnis unmittelbarer und verzögerter Abruf (WMS-R) (p < .001)]. Für Patienten mit einer depressiven Episode wurde der Binomialtest im Parameter Verzögerte Abrufleistung (VLMT) marginal signifikant (p < .10) und im Parameter Logisches Gedächtnis verzögerter Abruf (WMS-R) hoch signifikant (p < .01).

Verzögerte Abrufleistung Bei Verzögerter Abrufleistung (VLMT) konnte eine Tendenz zur Signifikanz der Haupteffekte der Diagnosegruppe [F(1,138) = 5.73; p < .10; η² = .04; d = .41], und des Alters [F(1,138) = 6.35; p < .10; η² = .04; d = .43] gezeigt werden. Patienten mit einer depressiven Episode erinnerten marginal signifikant mehr Wörter in der Verzögerten Abrufleistung (VLMT) als Patienten mit Schizophrenie. Jüngere Patienten zeigen marginal signifikant bessere Leistung als ältere Patienten. Signifikante Interaktionen erster oder höherer Ordnungen sowie weitere Haupteffekte konnten nicht gefunden werden.

Prozentränge und T-Werte Die mittleren T-Werte für jede Diagnosegruppe in jedem untersuchten Gedächtnisparameter werden, zusammen mit dem Anteil der als beeinträchtigt zu betrachtenden Patienten (Leistung mit einem PR < 16), in Tabelle 3 zusammengefasst. Alle mittleren T-Werte bewegen sich sowohl bei Patienten mit einer depressiven Episode als auch bei an Schizophrenie erkrankten Personen im durchschnittlichen Bereich. Für jede abhängige Variable wurde ein t-Test für unabhängige Stichproben gerechnet, um die Mittelwertunterschiede der T-Werte zwischen den beiden Diagnosegruppen auf Signifikanz zu prüfen. Alle Mittelwertunterschiede wurden (marginal bis hoch) signifikant, außer der Supraspanne (VLMT) [t(139) = .52; n.s.]. Die Diagnosegruppen unterschieden sich marginal signifikant bezüglich der erreichten T-Werte in der Variable Verzögerte Abrufleistung (VLMT) [t(138) = 1.87; p < .10]. Der Gruppenunterschied in den Variablen Lernleistung (VLMT) [t(139) = 2.03; p < .05] und Unmittelbare Abrufleistung (VLMT) [t(139) = 2.12; p < .05] fiel signifikant aus. Die Schizophrenie- und Depression-Patienten unterschieden sich hoch signifikant bezüglich ihrer T-Werte in den Variablen Logisches Gedächtnis unmittelbarer (WMS© 2016 Hogrefe

Messwiederholungs-Analysen Unmittelbarer Abruf Es konnte eine signifikante Interaktion des Innersubjektfaktors Testart (WMS-R Logisches Gedächtnis vs. VLMT) und des Zwischensubjektfaktors Diagnose (Schizophrenie vs. Depression) gezeigt werden [F(1,96) = 4.07; p < .05; η² = .04; d = .41]. Hierbei ist zu sehen, dass sich der Leistungsunterschied zwischen Schizophrenie- und Depression-Patienten im Logischen Gedächtnis (WMS-R) gegenüber dem VLMT deutlich zugunsten der Depression-Patienten vergrößert, wobei der Effekt hauptsächlich auf deren deutliche relative Verbesserung zurückzugehen scheint, während sich die Schizophrenie-Patienten nicht verbessern bzw. tendenziell eher schlechter werden (siehe Abbildung 3). Weitere signifikante Interaktionen erster oder höherer Ordnungen sowie Haupteffekt der Testart konnten nicht gefunden werden.

Verzögerter Abruf Es konnte keine signifikante Interaktion zwischen dem Innersubjektfaktor Testart und dem Zwischensubjektfaktor Diagnose gefunden werden [F(1,95) = 0.10; n.s.; η² = .00; d = .06] (siehe Abbildung 3). Es zeigt sich allerdings ein signifikanter Haupteffekt der Testart [F(1,95) = 5.05; p < .05; η² = .06; d = .46] und eine signifikante Interaktion zwischen Testart und Alter [F(1,95) = 5.02; p < .05; η² = .06; d = .46]. Weitere signifikante Interaktionen erster oder höherer Ordnungen konnten nicht gefunden werden. Zeitschrift für Neuropsychologie (2016), 27 (1), 7–21


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L. Listunova et al., Unterschiede im verbalen Lernen und Gedächtnis

Tabelle 3. Mittlere Prozentränge für jede Diagnosegruppe in jeder untersuchten Aufgabe sowie Anteil der kognitiv beeinträchtigten (teil‐)remittierten Patienten und Ergebnisse des Binomialtests pro Diagnosegruppe und pro Aufgabe (Teil‐) Stichprobe

Gedächtnisparameter

T-Werte M

PR<16 N

PR<16 %

N

Binomialtest p

unmittelbarer Abruf

47.89

26

40.00

65

< .001

verzögerter Abruf

47.84

26

41.94

62

< .001

unmittelbarer Abruf

52.74

13

22.03

59

.14

verzögerter Abruf

52.65

17

28.81

59

< .01

Supraspanne

49.99

14

18.42

76

.33

Lernleistung

48.35

21

27.63

76

< .01

Logisches Gedächtnis (WMS-R) Schizophrenie Depression VLMT Schizophrenie

Depression

Unmittelbare Abrufleistung

48.31

25

32.89

76

< .001

Verzögerte Abrufleistung

48.57

26

34.67

75

< .001

Supraspanne

50.86

10

15.38

65

.53

Lernleistung

51.67

7

10.77

65

.16

Unmittelbare Abrufleistung

51.89

13

20.00

65

.23

Verzögerte Abrufleistung

51.73

15

23.08

65

< .10

Abk.: PR: Prozentrang; M: Mittelwert; N: Patientenanzahl; p: Signifikanzprüfung; VLMT: Verbaler Lern- und Merkfähigkeitstest; WMS-R: Wechsler Memory Scale – Revidierte Fassung.

Abk.: VLMT: Verbaler Lern- und Merkfähigkeitstest; WMS-R: Wechsler Memory Scale – Revidierte Fassung; * p < .05

Abbildung 3. Interaktionseffekt Testart (VLMT vs. WMS-R) x Diagnosegruppe (Depression vs. Schizophrenie) für die Leistung im unmittelbaren (Supraspanne VLMT vs. Logisches Gedächtnis unmittelbarer Abruf WMS-R) und verzögerten Abruf (Verzögerte Abrufleistung VLMT vs. Logisches Gedächtnis verzögerter Abruf WMS-R). Die Kovariaten im Modell des unmittelbaren Abrufs werden anhand der folgenden Werte berechnet: Alter = 27.72, Krankheitsdauer = 24.67. Die Kovariaten im Modell des verzögerten Abrufs werden anhand der folgenden Werte berechnet: Alter = 27.81, Krankheitsdauer = 24.93.

Diskussion Zusammenfassung der Ergebnisse In der vorliegenden Arbeit wurde untersucht, ob sich (teil‐) remittierte Patienten mit einer depressiven Episode und Schizophrenie in ihrer Leistung beim Lernen von kontextabhängigem versus kontextunabhängigem Wortmaterial unterscheiden. Geschlecht, Alter, Krankheitsdauer und Bildungsgrad wurden kontrolliert. Erwartungsgemäß zeigten Schizophrenie-Patienten eine (hoch) signifikant Zeitschrift für Neuropsychologie (2016), 27 (1), 7–21

schlechtere Leistung im Logischen Gedächtnis unmittelbarer und verzögerter Abruf als Patienten mit einer depressiven Episode. Die Effektstärken deuten auf einen (nahezu) mittleren Effekt der Diagnosegruppe auf die gezeigte Leistung hin. Somit wurde bestätigt, dass SchizophreniePatienten gegenüber depressiven Patienten signifikant schlechtere Leistungen in einer kontextabhängigen Gedächtnisaufgabe zeigen. Bezüglich des Gedächtnisses für kontextunabhängiges Wortmaterial konnte zu Beginn aufgrund der bisher inkonsistenten Befundlage noch keine klare Voraussage gemacht werden. In der vorliegender Untersuchungen © 2016 Hogrefe


L. Listunova et al., Unterschiede im verbalen Lernen und Gedächtnis

zeigten Patienten mit einer depressiven Episode gegenüber Schizophrenie-Patienten marginal bis hoch signifikant bessere Leistungen in folgenden Parametern des „Verbalen Lern- und Merkfähigkeitstests“ (VLMT): Lernleistung, Unmittelbare und Verzögerte Abrufleistung, bei (nahezu) mittleren Effektstärken. Für den Parameter Supraspanne (VLMT) konnte jedoch kein signifikanter Gruppenunterschied gefunden werden. Zu beachten ist jedoch, dass die Unterschiede in Ergebnismittelwerten für die Lernleistung (VLMT), unmittelbare und verzögerte Abrufleistung (VLMT) trotz der erreichten Signifikanz und der fast mittleren Effektstärke nur ein Wort betragen. Des Weiteren konnten signifikante Interaktionen des Bildungsgrades und Geschlechts für Parameter Supraspanne (VLMT) und unmittelbare Abrufleistung (VLMT) gezeigt werden. Es scheint in der untersuchten Stichprobe also Einflüsse des Geschlechts und Bildungsgrades zu geben. Da in der vorliegenden Studie keine gesunde Kontrollgruppe untersucht wurde, wurden zur Einschätzung der Leistungen der Patientengruppen im Vergleich zur gesunden Bevölkerung mithilfe der Testhandbücher und deren Normstichproben für jeden Probanden Prozentränge und T-Werte ermittelt. Die mittleren T-Werte bewegten sich sowohl bei Patienten mit einer depressiven Episode als auch bei an Schizophrenie erkrankten Personen im durchschnittlichen Bereich. Daher wurde untersucht, ob die in der vorliegenden Patienten-Stichprobe beobachteten Anteile der als beeinträchtigt zu betrachtenden Patienten (Leistung mit einem PR < 16) jeweils signifikant von dem zu erwarteten Anteil von 16 % gegenüber der Normalbevölkerung abweichen. Beide Diagnosegruppen scheinen bezüglich des Parameters Supraspanne (VLMT) im Vergleich zur Normstichprobe nicht wesentlich beeinträchtigt zu sein. Bei den depressiven Patienten ist nur in den Parametern Verzögerte Abrufleistung (VLMT) und Logisches Gedächtnis verzögerter Abruf (WMS-R) der Anteil der als beeinträchtigt zu betrachtenden Personen marginal bzw. hoch signifikant höher als in der Normstichprobe. Die mittleren T-Werte im Normbereich im Parameter Verzögerter Abrufleistung (VLMT) können durch den hoch signifikant erhöhten beobachteten Anteil der depressiven Patienten mit einer überdurchschnittlichen Leistung (Leistung mit einem PR > 90) erklärt werden. Im Parameter Logisches Gedächtnis verzögerter Abruf (WMS-R) war der beobachtete Anteil der überdurchschnittlichen Leistung bei Patienten mit einer depressiven Episode jedoch nicht erhöht. Im Gegensatz dazu weicht der beobachtete Anteil der als beeinträchtigt zu betrachtenden Patienten mit Schizophrenie in allen untersuchten Gedächtnisparameter außer der Supraspanne (VLMT) hoch bis höchst signifikant von dem erwarteten Anteil in der Normalbevölkerung ab. Die mittleren T‐Werte im Normbereich können hier nicht durch einen © 2016 Hogrefe

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erhöhten beobachteten Anteil der Schizophrenen-Patienten mit einer überdurchschnittlichen Leistung erklärt werden (mit Ausnahme der Lernleistung, VLMT). Unter den an Schizophrenie Erkrankten scheint damit gegenüber der gesunden Population ein wesentlich höherer Anteil von Personen in ihrer Gedächtnisleistung beeinträchtigt zu sein. Unter den Patienten mit einer depressiven Episode scheint nur bezüglich der Leistung im verzögerten Abruf (sowohl bei kontextunabhängigen als auch bei kontextabhängigem Wortmaterial) ein (marginal) signifikant höherer Anteil an Personen gegenüber der gesunden Population beeinträchtigt zu sein. Außerdem war das Ziel dieser Studie zu untersuchen, ob und wie die Leistung zwischen den beiden Gedächtnistests in vergleichbaren Gedächtnisparametern (unmittelbarer und verzögerter Abruf) innerhalb der Person je nach Diagnosegruppe unterscheidet. Es konnte ein signifikante Interaktion der Testart (WMS-R Logisches Gedächtnis vs. VLMT) und Diagnose (Schizophrenie vs. Depression) für den unmittelbaren Abruf gezeigt werden. Hierbei vergrößert sich der Leistungsunterschied zwischen Schizophrenie- und Depression-Patienten im Logischen Gedächtnis (WMS-R) gegenüber dem VLMT deutlich zugunsten der Depression-Patienten, wobei der Effekt hauptsächlich auf deren deutliche relative Verbesserung zurückzugehen scheint, während sich Schizophrenie-Patienten nicht verbessern bzw. tendenziell eher schlechter werden. Die Effektstärke deutet auf einen fast mittleren Interaktionseffekt hin. Es konnte keine signifikante Interaktion zwischen der Testart und Diagnose für den verzögerten Abruf gefunden werden. Eine mögliche Erklärung dafür wäre eine geringe Vergleichbarkeit der Parameter Verzögerte Abrufleistung (VLMT) und Logisches Gedächtnis verzögerter Abruf (WMS-R). Bei dem Untertest „Logisches Gedächtnis“ (WMS-R) werden die Geschichten nur einmal vorgelesen und unmittelbar und verzögert abgerufen, wobei bei VLMT die Lernliste fünfmal dargeboten wird, worauf eine Distraktionsliste und Abruf nach Distraktion sowie Verzögerung folgt. Somit könnten diese beiden ausgewählten Tests für den verzögerten Abruf unterschiedliche Gedächntiskonzepte abbilden.

Vergleich der Ergebnisse mit dem bisherigen Forschungsstand Die bereits gefundenen Unterschiede in der Leistung im Untertest „Logisches Gedächtnis“ zwischen akuten Patienten mit Schizophrenie und Depression (Goldberg et al., 1993) konnten anhand vorliegender Ergebnisse in einer (teil‐)remittierten Stichprobe bestätigt werden. Fast die Hälfte der an Schizophrenie Erkrankten zeigten in Zeitschrift für Neuropsychologie (2016), 27 (1), 7–21


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der vorliegenden Untersuchung eine deutliche Gedächtnisbeeinträchtigung in der Aufgabe „Logisches Gedächtnis“ (WMS-R; Härting et al., 2000), die im Einklang mit den Befunden zu den Gedächtnisdefiziten der Schizophrenie-Patienten steht (z. B. Egeland et al., 2003; Heinrichs & Zakzanis, 1998). Wood et al. (2007) fanden Defizite der Schizophrenie-Patienten im Untertest „Logisches Gedächtnis I“ (WMS-R), jedoch nicht beim „Verbal Paired Associates I“ (WMS-R). Diese beiden Aufgaben prüfen die unmittelbare Abrufleistung, wobei „Logisches Gedächtnis I“, welcher auch in der vorliegenden Untersuchung genutzt wurde, wie bereits dargestellt, eine Aufgabe mit mehr Kontextzusammenhang und „Verbal Paired Associates I“ eine Aufgabe mit weniger Kontextzusammenhang darstellt. Deren Ergebnisse sind also vergleichbar mit den Ergebnissen vorliegender Studie und unterstützen die Annahme, dass Schizophrenie-Patienten weniger vom Kontext einer Aufgabe profitieren als gesunde Versuchspersonen (Gsottschneider et al., 2011; Manschreck et al., 1997). Hammar und Årdal (2013) verglichen (teil‐)remittierte Patienten mit unipolarer depressiven Episode bezüglich ihrer Leistung im „California Verbal Learning Test“ (CVLT; Delis, Kramer, Kaplan & Ober, 1987). Beim CVLT wird wie bei VLMT die Lernliste in fünf aufeinander folgenden Durchgängen gelernt, nach der Interferenzliste und nach einer zeitlichen Verzögerung von 20 Minuten abgefragt. Der Unterschied besteht darin, dass 16 Wörter der Lernliste in vier semantische Kategorien eingeordnet werden können und dass im „cued recall“ diese Kategorien als Hilfestellung genannt werden. Hammar und Årdal (2013) haben keinen signifikanten Unterschied zwischen (teil‐)remittierten Patienten mit Depression und gesunden Versuchspersonen in der Lernleistung (CVLT), Unmittelbaren und Verzögerten Abrufleistung (CVLT) gefunden. Allerdings zeigten depressive Patienten signifikant schlechtere Leistung als gesunde Probanden in der Supraspanne (CVLT). In der vorliegenden Untersuchung unterscheiden sich Patienten mit einer depressiven Episode nicht signifikant in ihrer Leistung in der Supraspanne (VLMT) von Patienten mit Schizophrenie. Beide Diagnosegruppen scheinen jedoch bezüglich des Parameters Supraspanne (VLMT) im Vergleich zur Normstichprobe nicht wesentlich beeinträchtigt zu sein. Allerdings kann aufgrund des Fehlens einer gesunden Kontrollgruppe die tatsächliche Beeinträchtigung nur über die Prozenträngen-Werte geschätzt werden. Daher ist diese Untersuchung mit der Studie von Hammar und Årdal (2013) nicht ganz vergleichbar. Bei Patienten mit einer depressiven Episode ist nur in den Parametern Verzögerte Abrufleistung (VLMT) und Logisches Gedächtnis verzögerter Abruf (WMS-R) der Anteil der als beeinträchtigt zu betrachtenden Personen (marginal) signifikant höher als in der Zeitschrift für Neuropsychologie (2016), 27 (1), 7–21

L. Listunova et al., Unterschiede im verbalen Lernen und Gedächtnis

Normstichprobe. Es ist zu diskutieren, ob ein Arbeitsgedächntisdefizit eher die Ursache für die Problematik in dem verzögerten Abruf ist, da beim unmittelbaren Abruf keine Beeinträchtigung zu bestehen scheint (Kaneda, 2009).

Limitationen Die Untersuchung weist einige methodische Unreinheiten und Limitationen auf. Es wurden nur Patienten mit Schizophrenie und Depression in ihrer verbalen Gedächtnisleistung verglichen, eine gesunde Kontrollgruppe stand nicht zur Verfügung. Es konnten mithilfe der Testhandbücher zwar Prozentränge für eine Einschätzung der Gedächtnisbeeinträchtigungen im Vergleich zur gesunden Bevölkerung ermittelt werden, ein direkter Vergleich mit gesunden Probanden wäre jedoch wünschenswert. Dieser Vergleich könnte, v. a. in Bezug auf Patienten mit einer depressiven Episode, eine klarere Aussage ermöglichen, ob und in welcher Form diese bezüglich ihrer Leistung in verbalen Gedächtnisaufgaben im Vergleich zu gesunden Personen beeinträchtigt sind. Außerdem basieren die Ergebnisse auf einem querschnittlichen Design, was keine Hinweise bezüglich möglicher kausaler Zusammenhänge oder Verläufe von Gedächtnisdefiziten (v. a. in Bezug auf die Frage nach Persistenz solcher Defizite oder dem Zusammenhang mit der Psychopathologie) liefern kann. Besonders wichtig wäre es, die Lern- und Merkfähigkeit mehrerer Patientengruppen im Rahmen eines Längsschnittdesigns vom akuten Zustand bis zur Remission zu untersuchen, evtl. mit der Möglichkeit, die Verläufe darüber hinaus zu vergleichen. Solche Untersuchungen könnten dann eine Aussage dazu liefern, ob, wie weit und welche Gedächtnis-/Lernleistungen genau depressive bzw. Schizophrenie-Patienten mit dem Abklingen der akuten Symptome verbessern können. Kritisch anzumerken ist weiterhin, dass die meisten abhängigen Variablen nicht normalverteilt waren und für die Variable Lernleistung (VLMT) keine Varianzhomogenität bestätigt werden konnte. Trotzdem wurden die AN(C)OVAs aufgrund ihrer Robustheit gegenüber der Verletzungen ihrer Prämissen bei gleicher Zellbesetzung durchgeführt (Backhaus et al., 2006; Schmider et al., 2010). Leider konnte bei vorliegender Untersuchung die Psychopathologie der Patienten und der Medikamenteneinfluss nicht mitberücksichtigt werden, da keine entsprechenden Daten aus standardisierten Messinstrumenten vorlagen. Daher sind Konfundierungseffekte durch Restsymptome oder medikamentöse (Neben‐)Wirkungen nicht auszuschließen. Auch inhaltlich wichtige Fragen nach möglichen differenziellen Zusammenhängen zwischen verschiedenen Gedächt© 2016 Hogrefe


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nisparametern mit verschiedenen psychopathologischen Restsymptomen oder Medikationstypen konnte nicht nachgegangen werden. Behelfsmäßig konnte nur die klinische Variable der Erkrankungsdauer in die Analysen einbezogen werden, als eine Art Schätzung des Chronifizierungsgrades und mittelbar auch der Erkrankungsschwere der depressiven bzw. schizophrenen Störung. Des Weiteren wiesen Patienten mit einer depressiven Episode deutlich mehr komorbide Persönlichkeitsstörungen als Patienten mit Schizophrenie auf. Dies war aufgrund der Prävalenz von Persönlichkeitsstörungen bei stationären depressiven Patienten zwischen 20 und 50 % und bei ambulanten Patienten zwischen 50 und 85 % zu erwarten (Corruble, Ginestet & Guelfi, 1996). Außerdem ist die vorliegende Stichprobe (Patienten der Psychiatrischen Ambulanz für Kognitives Training (PAKT) der Universitätsklinik Heidelberg) eher kein repräsentativer Ausschnitt der Patientenpopulationen, da hier v. a. solche Patienten untersucht werden, bei denen bereits ein konkreter Verdacht auf kognitive Defizite oder eine konkrete Fragestellung in diesem Bereich besteht. Um Schlussfolgerungen aus Studienergebnissen generalisieren zu können, ist eine bessere Repräsentativität der Stichprobe wünschenswert.

Implikationen Die vorliegende Untersuchung bietet einen der wenigen Vergleiche von (teil‐)remittierten Patienten bezüglich ihrer verbalen Gedächtnisleistung und leistet somit einen Beitrag zu einem besseren Verständnis von Gedächtnisdefiziten von depressiven und Schizophrenie-Patienten. In dieser Untersuchung wird deutlich, dass der Gebrauch unterschiedlicher Gedächtnisaufgaben und -parametern zu unterschiedlichen Ergebnissen führen kann. So macht es etwa keinen Sinn, von dem verbalen Gedächtnis im Allgemeinen zu sprechen, wenn nur ein bestimmter Test (z. B. VLMT) zu dessen Erfassung genutzt wurde. Auch die Nutzung verschiedener Gedächtnistests ohne angemessene Berücksichtigung der zugrundeliegender Prozesse oder Konzepte kann ebenfalls bis zu einem gewissen Grad für scheinbare Inkonsistenzen der Ergebnisse verschiedener Studien bzgl. des verbalen Gedächtnisses mit verantwortlich sein. Für eine umfassendere und differenzierte Diagnostik von Gedächtnisdefiziten der Patienten ist daher der Gebrauch von unterschiedlichen Testarten wichtig. Vor allem sollte eine umfassende Gedächtnisdiagnostik Aufgaben mit und ohne Kontext beinhalten. Die Erkenntnis, dass an Schizophrenie Erkrankte weniger vom Kontext einer verbalen Gedächtnisaufgabe als depressive Patienten und gesunde Probanden profi© 2016 Hogrefe

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tieren, kann auch in der Therapieplanung mitberücksichtigt werden. Gold, Randolph, Carpenter, Goldberg und Weinberger (1992) haben vorgeschlagen, die zu kategorisierenden Wörter einer Lernliste blockweise und nicht in zufälliger Reihenfolge darzubieten, um die Abrufleistung der Schizophrenie-Patienten durch eine bessere Explizitmachung von existierenden Kategorien im Material zu steigern. Tatsächlich konnten Chan et al. (2000) in ihrer Untersuchung zeigen, dass chronische Schizophrenie-Patienten signifikant mehr Wörter erinnern konnten, wenn Wörter blockweise nach Kategorie dargeboten wurden, als wenn Wörter der Lernliste in zufälliger Reihenfolge waren. Chronische Patienten mit Schizophrenie können also von hoch salienten semantischen Information möglicherweise doch profitieren, im Gegensatz zu eher implizit zur Verfügung gestellten kontextuellen bzw. semantischen Informationen. Daraus ließe sich ableiten, in einer kognitiven Therapie den an Schizophrenie Erkrankten die Lernstrategie der Kategorisierung bzw. der Organisierung der Informationen explizit vor der Bearbeitung von Gedächtnisaufgaben vorzustellen, möglicherweise auch wiederholt in jeder Trainingseinheit, um ihre Erinnerungsleistung zu steigern und im Optimalfall auch die Nutzung solcher semantischer/kontextueller Information dauerhaft zu verbessern. Da (teil‐)remittierte Patienten mit einer depressiven Episode ebenfalls Defizite beim verzögerten Abruf von Informationen haben, ist eine kognitive Remediationstherapie in Betracht zu ziehen. Erste Hinweise auf die Wirksamkeit liegen bereits vor (Naismith, Redoblado-Hodge, Lewis, Scott & Hickie, 2010; Porter, Bowie, Jordan & Malhi, 2013). Darüber hinaus ist eine gut erhaltene Fähigkeit, die verbale Information zu enkodieren und abzurufen, wichtig für die Wirksamkeit anderer therapeutischer Verfahren, für Psychoedukation und für den Transfer der gelernten Fähigkeiten in den Alltag (Moritz, Heeren, Andresen & Krausz, 2001). Daher sollte die sorgfältige Erfassung und Behandlung von Defiziten im verbalen Gedächtnis und Lernen, aber auch kognitiver Defizite im Allgemeinen, die nötige Aufmerksamkeit geschenkt werden, da diese auch nach der Remission der Symptome persistieren können. Insgesamt lässt sich sagen, dass die intensive Erforschung der verbalen Gedächtnisleistung (teil‐)remittierter Patienten mit Schizophrenie und einer depressiven Episode sowie deren Behandlung eine große Relevanz besitzt und somit weiterer Forschung bedarf.

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Manuskript eingereicht: 22. 03. 2015 Nach Revision angenommen: 01. 08. 2015 Interessenskonflikt: Nein PD Dr. med. Daniela Roesch Ely Klinik für allgemeine Psychiatrie, Arbeitsgruppe Neurokognition, Zentrum für Psychosoziale Medizin, Universitätsklinikum Heidelberg Vosstrasse 4 69115 Heidelberg Deutschland droesch@ix.urz.uni-heidelberg.de

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der klinischen Fahreignungsbeurteilung eingegangen, die sich aus der ärztlichen/psychologischen Aufklärungspflicht einerseits und Schweigepflicht andererseits ergeben. Bei der Darstellung der als verkehrsrelevant geltenden Leistungsmängel wird deutlich, dass nicht die Diagnose eines bestimmten Krankheitsbildes entscheidend ist, sondern die Feststellung der Art und Schwere der im Einzelfall vorliegenden Funktionsstörungen. Für die praktische Aufgabe der neuropsychologischen Fahreignungsbegutachtung wird das schrittweise Vorgehen bei der Untersuchung und Beurteilung der Fahreignung, der Aufklärung der Patienten und Beratung über Möglichkeiten zur Wiederherstellung der Fahreignung als Leitfaden beschrieben.

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Übersichtsartikel

Mild traumatic brain injury (mTBI) und Gehirnerschütterungen im Sport Joachim Koch Praxis für Psychotherapie und Neuropsychologie, Bad Oeynhausen Zusammenfassung: Gehirnerschütterungen stellen einen bedeutenden Gesundheitsfaktor dar. Ein sehr häufiger Grund von mTBI sind Kollisionen und Stürze mit dem Motorrad (Cassidy et al., 2004). Wenn Helme getragen werden, können bis zu 50 Prozent der mTBI Verletzungen verhindert werden. Die Benutzung eines Helms hat auch eine sehr positive Auswirkung auf den Verlauf von Unfällen mit dem Fahrrad. In dieser zusammenfassenden Arbeit ging es um MTBI hauptsächlich im Sportbereich, weniger im Bereich der Traumen z. B. nach Autounfällen oder als Folge und im Rahmen von Kriegsereignissen, in der noch andere Dynamiken vorherrschen. Viele Details sind noch unklar, es gibt widersprüchliche Befunde über das Ausmaß und die Entwicklung der Defizite. Schlüsselwörter: mTBI, Gehirnerschütterungen, Sportverletzungen

Mild traumatic brain injury (mTBI) and concussion in sports Abstract: Collisions and motorcycle accidents are a common reason for mTBI (Cassidy et al., 2004). Up to 50 percent of the mTBI can be avoided, when helmets are worn. Using helmets also has very positive effects on the recovery of function following bicycle accidents. This review article focuses on mTBI mainly in sports and to a lesser extent to traumas following car accidents or events of war, cases in which different dynamics have to be expected. Many details remain vague and there are contradictory findings concerning the extent and the and the development of the deficits. Keywords: MTBI, concussion, sport neuropsychology

Heute wird verstärkt davon ausgegangen, dass leichte Verletzungen des Gehirns und Gehirnerschütterungen doch gravierendere Auswirkungen haben als bisher angenommen wurde. Die Wochenzeitung die ZEIT titelte im Mai 2013: „Fatale Beschleunigung. Selbst leichte Erschütterungen des Kopfes im Sport können fatale Folgen haben“ (Binning, 2013) und erklärte, dass unter den Athleten der Kontaktsportarten neurogenerative Krankheiten verbreitet sind. Weltweit spielen Millionen Menschen Fußball. Fußball stellt die einzige Kontaktsportart dar, bei der die Spieler immer wieder gezielt den Kopf einsetzen, um den Ball zu kontrollieren und zu spielen. Schon seit etlichen Jahren wird vermutet, dass das Kopfballspielen beim Fußball für bleibende Hirnschäden verantwortlich ist (Matser, Kessels, Lezak, Jordan & Troost, 1999). Gehirnerschütterungen stellen einen bedeutenden Risikofaktor dar. Die Hauptgründe von mTBI sind Kollisionen und Stürze mit dem Motorrad (Cassidy et al., 2004). Wenn Helme getragen werden, können bis zu 50 Prozent © 2016 Hogrefe

der mTBI Verletzungen verhindert werden. Das gilt auch für Unfälle mit dem Fahrrad. Biasca und Maxwell (2007) bewerten die Forschungen der letzten 15 Jahren und stellten fest, dass mTBI doch häufiger und schwerwiegender ist als bis dato angenommen wurde. Immer wieder werden spektakuläre einzelne Fälle berichtet, wie der des amerikanischen Football-Spielers Chris Henry, der im Alter von 26 Jahren an einer fortschreitenden Hirnerkrankung starb (Schwarz, 2010). Er gilt als der erste Spieler, der an einer traumainduzierten Hirnverletzung starb, während er noch in der Liga spielte.

Gehirnerschütterungen Für Gehirnerschütterungen werden verschiedene Begrifflichkeiten verwendet: Mild Traumatic Brain Injury Zeitschrift für Neuropsychologie (2016), 27 (1), 23–28 DOI 10.1024/1016-264X/a000168


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J. Koch, Mild traumatic brain injury (mTBI) und Gehirnerschütterungen im Sport

(mTBI), concussion, minor brain injury, mild head injury oder minor head injury. Der Gebrauch des Begriffs Hirnverletzung ist dem Begriff Kopfverletzung vorzuziehen, weil bei Kopfverletzungen auch Verletzungen beschrieben werden, die außerhalb des Gehirns liegen wie Verletzungen des Auges oder des Gesichts und hier geht es um Verletzungen des Gehirns. Gehirnerschütterung ist ein allgemeiner Begriff, der eine neurologische Störung bezeichnet, die durch die mechanische Kraft einer schnellen Beschleunigung und Abbremsung verursacht wird. Gehirnerschütterungen können unterschiedliche Symptome und Schweregrade haben, obwohl der Begriff Gehirnerschütterung kaum mit schweren Hirnverletzungen in Verbindung gebracht wird, eher mit leichten und moderaten. Bei einer leichten Gehirnerschütterung kommt es nicht unbedingt zu einem Bewusstseinsverlust, die Person sieht Sterne und fühlt sich benommen. Bei einer schwereren Form von Gehirnerschütterung kann es zum Bewusstseinsverlust und zu neurologischen Abnormalitäten kommen. Wenn das Bewusstsein wiederkehrt, die neurologischen Symptome sich auflösen und die nachfolgende Konfusion und Desorientierung sich innerhalb einiger Stunden auflöst, kommt es dann zu einem Zustand der milden Hirnverletzung (mild brain injury). Im allgemeinen werden 2 Kriterien benutzt, um die Schwere einer Hirnverletzung zu definieren: Der Verlust des Bewusstseins, also die Länge der Zeit, die die Person nach der Verletzung bewusstlos war sowie zweitens die Länge der posttraumatischen Amnesie, der Zeitraum von dem die Person das Bewusstsein wiedererlangt bis zu dem Zeitpunkt, an dem sie die Kapazität für das kontinuierliche Gedächtnis wiedererlangt.

Neuropsychologische Beeinträchtigungen bei Fußballspielern Im Jahr 1999 veröffentlichte eine holländische Forschungsgruppe (Matser et al., 1999), zu der auch die bekannteste neuropsychologische Diagnostik-Expertin Muriel D. Lezak gehörte, einen Bericht, in dem AmateurFußballspieler untersucht worden waren. Die Fragestellung war, ob sich bei den Spielern neuropsychologische Beeinträchtigungen feststellen ließen. Die Fußballergruppe bestand aus 33 Personen mit einem Durchschnittsalter von 24,9 Jahren. Ein Drittel der Personen spielten seit fünf bis fünfzehn Jahren, zwei Drittel länger als 16 Jahre Fußball. Im Mittel übten die Fußballer in einem Spiel 8,5 Zeitschrift für Neuropsychologie (2016), 27 (1), 23–28

Kopfstöße aus. Neun Spieler erlitten eine Gehirnerschütterung beim Fußballspielen, sieben Spieler berichteten von zwei bis fünf Gehirnerschütterungen in ihrer Karriere. Die Fußballer waren der Kontrollgruppe, die aus Athleten anderer Sportarten bestand vergleichbar, was Alter, Bildungsstand, Kontusionen außerhalb des Sports sowie die Häufigkeit von Amnesien betraf. Die Fußballer unterschieden sich von der Kontrollgruppe aber dadurch, dass sie häufiger Alkohol tranken. Bei der neuropsychologischen Untersuchung wurde als Ergebnis eine leichte chronische traumatische Hirnläsion (CTBI) gefunden. Die Sportler waren beim Planen und beim Gedächtnis eingeschränkt. 7 Prozent der Personen aus der Kontrollgruppe und 27 Prozent der Fußballer zeigten ein moderat bis schwer beeinträchtigtes Ergebnis im Gedächtnistest (Complex Figures Test, sofortige Ausführung nach der Darbietung). 13 Prozent der Personen aus der Kontrollgruppe sowie 39 Prozent der Fußballer zeigten moderate bis schwere Beeinträchtigungen im Wisconsin Card Sorting Test (Planungsverhalten). Fußballspieler erleiden Gehirnerschütterungen während der Spiele und des Trainings sowie eine Anzahl von Schlägen auf den Kopf durch die Kopfstöße des Balls, die nicht die Stärke von Gehirnerschütterungen haben. Die Autoren folgerten, dass die Kombination der fußball-bedingten Gehirnerschütterungen und der Anzahl der Kopfstöße mit dem Ball ein Risiko für eine chronische traumatische Hirnverletzung darstellen. Obwohl die kognitiven Beeinträchtigungen als mild einzuordnen sind, weisen die Autoren auf die gesundheitliche Bedeutung sowie notwendige Präventionsmaßnahmen hin, weil weltweit mehr als 200 Millionen Menschen Fußball spielen.

Kritik an der Studie von Matser et al. Zu der Frage, ob und wie sich die gefundenen Einschränkungen im Alltag bemerkbar machen, ob die Sportler sie feststellen und ob sie aufgrund der Einschränkungen weitere Probleme haben, wurden in der Untersuchung keine Angaben gemacht. In dieser Studie wurde auch kein Unterschied gemacht, ob die festgestellten Beeinträchtigungen als Ursache eher das Kopfballspielen oder die Zusammenstöße mit dem Kopf während des Fußballspielens hatten. Kritisch ist an der Studie anzumerken, dass die gefundenen Defizite auch alkoholbedingt sein könnten. An den Ergebnissen der Studie von Matser et al. (1999) ist kritisiert worden, dass das Signifikanzniveau nicht angemessen bestimmt wurde (Straume-Naesheim et al., © 2016 Hogrefe


J. Koch, Mild traumatic brain injury (mTBI) und Gehirnerschütterungen im Sport

2005). Straume-Naesheim et al. (2005) betonen die Notwendigkeit von computerisierten Testprogrammen der kognitiven Funktionen. Sie argumentieren, dass konventionelle Papier und Bleistift-Verfahren vorrangig zur Diagnostik von Beeinträchtigungen nach neuronalen oder psychiatrischen Störungen entwickelt worden waren. Papier und Bleistift-Verfahren sehen die Autoren als nicht geeignet an, geringe Veränderungen der kognitiven Funktionen über die Zeit zu finden, weil sie nicht sensitiv genug sind. PC-Tests würden auch kognitive Veränderungen zeigen, die durch Erschöpfung, Alkohol, frühe neurogenerative Krankheiten, Herzoperationen sowie frühe Intelligenzminderung verursacht wurden. Die Abwertung von Papier-Bleistift-Verfahren in der neuropsychologischen Diagnostik, die Straume-Naesheim et al. (2005) vorbringen, muss zurückgewiesen werden. Die Grenze verläuft nicht zwischen guten PC-gestützten Tests und ungeeigneten Papier-und- Bleistift-Tests, sondern Tests aus beiden „Sparten“ sind geeignet oder nicht geeignet, hier sind verschiedene Kriterien ins Kalkül zu ziehen. In einer modernen neuropsychologischen Diagnostik werden sinnvollerweise natürlich auch PC-gestützte Tests, beispielsweise der Aufmerksamkeitsfunktionen eingesetzt. Straume-Naesheim et al. (2005) veröffentlichten eine Studie, in der die Effekte des Kopfballspielens und vorheriger Kontusionen auf neuropsychologische Leistungen unter norwegischen Elite-Fußballern untersucht wurden. Eingesetzt wurde der neuropsychologische Test CogSport mit 7 Untertests. Daneben füllten die Spieler einen 2-seitigen Fragebogen aus zu Basisdaten, zur Anzahl der Kopfstöße pro Fußballspiel, zur Anzahl der bisher beim FußballSport erlittenen Gehirnerschütterungen und zur Anzahl der Gehirnerschütterungen, die außerhalb des Fußballspiels aufgetreten waren. Die Autoren definieren Gehirnerschütterung als Bewusstseinsverlust und/oder Amnesie nach einer Kopfverletzung. An der Untersuchung nahmen 271 Fußballspieler aus der norwegischen Profiliga mit 14 Klubs teil. 137 Spieler (50,6 %) hatten angegeben, dass sie eine oder mehrere Gehirnerschütterungen vorher gehabt hatten. Davon gaben 55 Personen an, eine Gehirnerschütterung, 43 Personen zwei, 17 Personen drei und 22 Personen mehr als 4 Gehirnerschütterungen erlitten zu haben. 112 Personen (41,3 %) gaben an, beim Fußball eine Gehirnerschütterung erlitten zu haben. Die Autoren stellten als Ergebnis fest, dass weder die Häufigkeit der Kopfstöße pro Spiel noch das Kopfballspiel, das über die Lebenszeit durchgeführt wurde und die Geschichte vorheriger Gehirnerschütterungen in einem Zusammenhang mit der Durchführung der neuropsychologischen Tests stand. 98,5 % der Fußballer zeigten keine Einschränkungen, somit spricht diese Studie gegen die © 2016 Hogrefe

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Hypothese, dass Gehirnerschütterungen und oder Traumen durch Kopfballspielen, die nicht so stark sind wie Gehirnerschütterungen, einen kumulativen Effekt haben und neuropsychologische Beeinträchtigungen bei Fußballspielern verursachen.

Diskussion der Fußballer-Studien Interessant ist die Frage wie gut das Maß der Häufigkeit von Kopfstößen ist. Eine gute Kopfstoßtechnik erfordert ein gutes Timing und die Koordination der Nackenmuskulatur, um den Kopf zu stabilisieren. So können angulare und rotationale Beschleunigung reduziert werden, wenn eine gute Kopfstoßtechnik erlernt wurde und praktiziert wird. Es könnte angenommen werden, dass jemand, der häufiger Kopfstöße ausführt über eine bessere Technik verfügt. Ungeübtere Personen könnten ein größeres Risiko haben. Wenn also nur auf die Häufigkeit der Kopfstöße in den Fokus genommen wird, werden die Folgen einer schwachen Kopfstoßtechnik oder unerwartete Ball-KopfKontakte außer acht gelassen. So könnten möglicherweise kumulative Effekte von geringerer Aufprallwirkung beim Kopfballspiel außer Acht gelassen werden. Die meisten Gehirnprellungen und Gehirnerschütterungen passieren beim Fußball bei Kopfballduellen, wobei ein Stoß des Arms des Gegners oder eine Kopf zu Kopf Kollision den häufigsten Mechanismus der Verletzung ausmacht. Wer häufiger Kopfstöße durchführt, ist auch häufiger in Kopfballduelle verwickelt und mag auch häufiger ein Kopftrauma erleiden. Ist ein Spieler geübter beim Kopfballspielen und verfügt über eine bessere Kopfballtechnik, könnten die Auswirkungen von Kopfstößen geringer sein. Einen Unterschied könnte die Schwere des Fußballs ausmachen. Ein schwerer Ball wirkt anders auf den Kopf ein als ein leichter Fußball. Auch könnten andere Charakteristika des Fußballs, wie Steifheit und Konstruktion eine Rolle spielen (Shewchenko, Whitnall, McKeown, Gittens & Dvorak, 2005). Früher wurde mit Lederbällen Fußball gespielt, die bei Nässe viel Wasser aufnahmen und stark an Gewicht zunahmen, was nach dem Impulsgesetz (Masse mal Geschwindigkeit) die Wucht beim Aufprall auf den Kopf deutlich vergrößerte. Bei Amateuren kann der Ball eine Geschwindigkeit von 50 km pro Stunde, bei Profis auch die doppelte Geschwindigkeit erreichen. Heutige Fußbälle haben ganz andere Eigenschaften, sind leichter und wasserabweisend, weil sie aus Kunststoff gefertigt sind. Es bleibt unklar, ob ständige Traumen nach Kopfstößen, die unterhalb der Schwelle für GehirnerschütterunZeitschrift für Neuropsychologie (2016), 27 (1), 23–28


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gen liegen, kumulative neurologische Verletzungen bewirken. Es gibt Studien, wo die Defizite der Fußballer mit denen übereinstimmten, die bei Personen mit Schädigung nach Alkoholkonsum auftreten. In den Studien wurde die mögliche Bedeutung der Variable Alkoholkonsum aber nicht in das Design und die Überlegungen integriert (McCrory, Makdissi, Davis & Dvorak, 2005). In den Untersuchungen war der Altersdurchschnitt der untersuchten Fußballspieler unterschiedlich. Sicher finden sich bei jüngeren Spielern weniger oder keine Beeinträchtigungen als bei Spieler, die seit 30 Jahren Fußball spielen. In den Studien wurde auch das Thema Spätfolgen nicht thematisiert.

Neuere Untersuchungen mit der Diffusions-Tensor-Bildgebung Bei einer Studie aus der Zeitschrift Radiology wurden bei 37 Amateur-Fußballspielern Hinweise auf Nervenfaserrisse im Gehirn gefunden (Fußball: Hirnschäden durch häufige Kopfbälle, 2013). Die Kopfball-Spezialisten unter den Fußballspielern zeigten schlechtere Leistungen in Gedächtnistests als andere Personen. Michael Lipton vom Albert Einstein College of Medicine in New York führte die Untersuchungen mit dem Magnetresonanztomographen mit der sogenannten Diffusions-Tensor-Bildgebung durch, bei der die Bewegung von Wassermolekülen im Gehirn gemessen wird. Die Teilnehmer an der Studie waren im Durchschnitt 31 Jahre alt und spielten im Durchschnitt seit 22 Jahren in ihrer Freizeit Fußball. Im letzten Jahr hatten sie zwischen 32 und 5400 Kopfbälle absolviert. Lipton konnte bei seinen Untersuchungen keine Auffälligkeiten bis zu einem Schwellenwert von etwa 800 bis 1500 Kopfstößen pro Jahr finden. Darüber stellte Lipton einen Rückgang der fraktionalen Anisotropie fest, die er mit einer leichten Hirnverletzung verglich. Lokalisiert waren die Schäden vor allem hinten im Temporal- und Okzipitallappen, was dem Coup-Contre-coup-Mechanismus entspricht, wonach sich Hirnverletzungen häufig auf der dem Aufprall gegenüberliegenden Seite zeigen. Ab etwa 1800 Kopfbällen stellte Lipton messbare Folgen für die Hirnfunktionen fest und die Teilnehmer schnitten schlechter in den Gedächtnistests ab. Aktive Sportler und die Gesellschaft müssen über diese Befunde aufgeklärt werden, auch wenn sie teilweise widersprüchlich sind. Aus heutiger Sicht wird nicht empfohlen das Fußballspielen aufzugeben, aber nach Möglichkeiten zu suchen, das Kopfballspiel einzuschränken. Zeitschrift für Neuropsychologie (2016), 27 (1), 23–28

Boxen Über die mTBI bei Boxern ist relativ wenig bekannt (Barth et al., 1989). In einer Überblicksarbeit gehen Förstl, Haass, Hemmer, Meyer und Halle (2010) auf die akuten, subakuten sowie chronischen neuropsychiatrischen Folgen des Boxens ein. Akut entspricht der knock-out einer Gehirnerschütterung. Das Boxen nimmt bei den Sportarten eine Sonderstellung ein, beim Boxen ist das Ziel ein Knockout des Gegners, eine Gehirnerschütterung und eine Hirnschädigung. Durch die Kopftreffer wird der Schädel in Rotationsbewegungen beschleunigt, Scherkräfte führen zu Stauchung, Zerrung und funktioneller Läsion zentraler Bahnen im oberen Hirnstamm. Beim Faustschlag entstehen – vor allem bei Profi-Boxern ohne Kopfschutz – Coup- und Contre-Coup-Läsionen. Es kommt zu weiteren Verletzungen sowie zu akuten Todesfällen im Boxring. Zu den subakuten Folgen kann festgestellt werden, dass die Hälfte der Athleten einen Tag nach einem K.-o.-Abbruch. unter diversen fortbestehenden Symptomen litten. In neuropsychologischen Untersuchungen konnte festgestellt werden, dass kognitive Defizite messbar länger anhalten als die subjektiv wahrgenommenen Probleme. Zu unterschiedlichen Zeiten nach dem Knock-out wurden die kognitiven Einschränkungen ermittelt. Die Dauer der intellektuellen Regeneration ist stark altersabhängig. Bei einem Befundergebnis wurde festgestellt, dass Profi-Boxer nach einem Monat signifikant verschlechterte Leistungen bei der Informationsverarbeitung und bei der Sprachproduktion zeigten. Chronische Folgen eines rezidivierenden Schädel-Hirn-Traumas bei Profi-Boxern mit langer Karriere sind motorische Symptome (wie Tremor, Dysarthrie, Parkinson-Symptomatik, Ataxie, Spastik), kognitive Veränderungen (Verlangsamung, Gedächtnisstörung, Demenz) und ein verändertes Erleben und Verhalten (Depression, Reizbarkeit, Aggressivität, Kriminalität, Sucht). Es besteht ein deutlicher Unterschied zwischen Profi- und Amateurboxern, weil bei Amateurboxern weitreichende Schutzmaßnahmen eingerichtet wurden. Förstl et al. (2010) ziehen in ihrem Aufsatz nur unzureichende Konsequenzen, wenn sie regelmäßige Screening- Untersuchungen zur Diagnose kognitiver und körperlicher Risiken vorschlagen. Ethisch kann das Ziel des Boxens, ein Knock-out durch das gezielte Herbeiführen eines akuten Schädel-HirnTraumas zu erreichen, nicht legitimiert werden, deshalb sollte der Boxsport verboten werden. Langfristig können Boxer an der sogenannten Boxerdemenz erkranken. Boxen ist kein Sport im Sinne einer sinnvollen, gesunden und fröhlich machenden „Leibesertüchtigung“. Die langfristigen Folgen intensiven Boxsports werden immer noch kontrovers diskutiert. Autoren und Forscher © 2016 Hogrefe


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sind sich nicht einig in der Beurteilung des Ausmaßes der Schädigung. Es gibt nur wenige systematische Studien über die neuropsychiatrischen und neuropsychologischen Folgen des Boxens. Die Diagnose der Dementia Pugilistica/Boxerdemenz ist sehr selten. Wentzlaff, Knauss und Mohr (2012) haben einen interessanten Fallbericht veröffentlicht, in dem sie für die neuropsychologischen Defizite eines Probanden eine Erklärung suchten. An der Fallbeschreibung kann man sehen, wie schwierig es ist zwischen einer Boxerdemenz durch Jahrzehnte langen Boxsport und einer alkoholtoxischen Genese zu unterscheiden. Spannend ist an dem Fallbericht auch zu sehen, wie das Autorenteam andere wichtige Gesichtspunkte wie psychosozialen Stress und Selbstabwertung, die der Proband nach dem Ende seiner Karriere und dem Ende der DDR erlebte, in die Fallanalyse und -bewertung mit einbezieht.

Eishockey Eishockey ist eins der schnellsten Spiele, bei dem mit großem Körpereinsatz um den Puck gekämpft wird. Der ganze Körper ist schnellen Richtungswechseln ausgesetzt. Für die Athleten besteht das Risiko von Zusammenstößen mit hoher Geschwindigkeit, was zu sport-bezogenen Verletzungen des zentralen Nervensystems führen kann. Deshalb wurden Vollgesichtsschutz und Helm eingeführt. Wenn ein Athlet eine Gehirnerschütterung erlitten hat, von der er sich noch nicht erholt hat, wieder seiner Sportart nachgeht und es zu einer zweiten Gehirnerschütterung kommt, dann kann die kurzfristige Entwicklung von erhöhtem intrakraniellen Druck zum Tode führen (Cassidy et al., 2004). Dieses als „Second impact syndrome“ (SIS) bekannte Syndrom ist lebensgefährlich. Mehrere Todesfälle sind bekannt geworden. Bei den meisten Personen handelt es sich um Männer, die American football oder Hockey spielen oder Boxer waren. Die Autoren kommen zu den Ergebnis, dass dieser Ablauf nur in sehr selten Fällen passiert ist und damit das Secondimpact-Syndrome keine Bedeutung hat. Andere Forscher betonen dagegen, dass es diesen vulnerablen Zustand gibt, die Zellen des Gehirns für einen unbestimmten Zeitpunkt in einem besonders verletzbaren Zustand sind und bei einem zweiten Vorfall eine schwere Schädigung droht (Biasca & Maxwell, 2007). Die Autoren schlagen deshalb vor, dass jeder EishockeySpieler mit oder ohne Amnesie, der entweder einem Schlag oder einer anderen bedeutenden Beschleunigungs/Abbremsungskraft ausgesetzt war, was dem Grad I der TBI© 2016 Hogrefe

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Läsion entspricht, vom Eis genommen wird. Ihm soll verboten werden, für 72 Stunden auf das Eis zum Spiel zurückzukehren. Im Jahr 2011 war in den USA der Fall des amerikanischen Eishockey-Profi Sidney Crosby im Focus der Öffentlichkeit. Crosby hatte nach zwei aufeinanderfolgenden, brutalen Checks viele Monate unter den Folgen einer Gehirnerschütterung gelitten, wurde dann wieder gesund und konnte wieder aufs Eis (Michel, 2011).

mTBI nach Hirntraumen wie beispielsweise Verkehrsunfällen Auch nach einer Wiederherstellung der Funktionen können bei einer Person nach Hirnverletzung noch Defizite verblieben sein, die zu subtil sind für den Nachweis mit den üblichen neuropsychologischen Tests (Göttert, Schneider & Goldenberg, 2002). Es gibt Probleme, die sich nicht in der Klinik sondern erst im Alltag zeigen, weil die Anforderungen dort höher und komplexer sind, als die in den Tests geprüften oder weil die kompensatorischen Ressourcen der Person durch situative Belastungsfaktoren nicht ausreichend sind. Die Überforderung kann sich in „vegetativen“ körperlichen Symptomen (wie Müdigkeit, Kopfschmerzen, Muskelverspannungen und Schwindelgefühlen) und affektiven Symptomen (wie Unbehagen oder Reizbarkeit) äußern. Früher wurde die Gehirnerschütterung als vorübergehend eingeschätzt. Die Personen, bei denen die Symptome persistierten, wurden als Simulanten angesehen. Dabei können Schäden im Gehirn erst seit der Verfügbarkeit der MRI-Technik entdeckt werden. Patienten mit mTBI können eine reduzierte Informationsverarbeitungskapazität haben. Sie zeigen dann Schwierigkeiten in allen Bereichen, wo mehr Informationseinheiten analysiert werden müssen als sie simultan handhaben können. Sie wirken verlangsamt und ablenkbar, weil sie sich nicht adäquat auf relevante und irrelevante Stimuli beziehen können. Und sie erscheinen vergesslich und unaufmerksam, weil die zu verarbeitenden Informationsmengen zu groß sind. Was die allgemeine Anfälligkeit angeht, wird vermutet, dass Personen mit mTBI eine besondere Vulnerabilität haben, eine höhere Anfälligkeit für Stress und Anspannung. Gronwall (1989) äußert, dass es keine Anzeichen dafür gibt, dass sich diese Vulnerabilität über die Zeit nach der Verletzung verringert. Bei der überwiegenden Anzahl der Personen mit mTBI bilden sich die Symptome nach der akuten Phase (7 bis 14 Tagen Ruhepause; bei Kindern ist ein längerer Zeitraum notwendig) wieder vollständig zurück. Eine von 10 bis 12 Personen hat längerfristige Beschwerden. Bei 1 bis Zeitschrift für Neuropsychologie (2016), 27 (1), 23–28


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5 Prozent der Personen kommt es zu einem Postkommotionellen Syndrom (PCS) mit anhaltenden Symptomen der Ermüdung, Kopfschmerzen, Gedächtnisproblemen, erhöhter Ablenkbarkeit und Konzentrationsproblemen. McCrea (2008) plädiert dafür, das Postkommotionelle Syndrom als eine neuropsychologische Störung zu sehen, weil die neuropathophysiologischen Effekte von mTBI diesen Prozess in Bewegung bringen.

Zusammenfassung und Ausblick In dieser zusammenfassenden Arbeit ging es hauptsächlich um mTBI im Sportbereich, weniger im Bereich der Traumen z. B. nach Autounfällen oder als Folge und im Rahmen von Kriegsereignissen, in der noch andere Dynamiken vorherrschen. Viele Details sind noch unklar, es gibt widersprüchliche Befunde über das Ausmaß und die Entwicklung der Defizite. Wenn auch Gehirnerschütterungen grundsätzlich reversibel sind, so drohen bei unsachgemäßem Umgang mit dem Trauma weitergehende und schwere Schädigungen. Es kann zu akuten wie auch chronischen Komplikationen kommen. Nach dem Erleiden einer Gehirnerschütterung ist das Risiko eine weitere zu erleiden drei bis sechsfach erhöht. Es finden additive und kumulative Prozesse statt. Niemand weiß, wann welche Gehirnerschütterung zu viel war und zu bleibenden, schweren Schäden führt. Deshalb ist für alle Personen und alle Sportler zu fordern, dass jeder Sportler bei dem Verdacht auf eine Gehirnerschütterung sofort aus dem Spiel genommen wird. Dem Sportler soll Hilfe angeboten werden, dass es ihm gelingt ohne Komplikationen schrittweise wieder zu gesunden und seinen Sport wieder auszuüben. In einer Perspektive, in der der gesundheitlichen Verantwortung ein hoher Stellenwert eingeräumt wird, sollten weitreichende präventive Maßnahmen und Schutzmaßnahmen eingerichtet werden, die den Schutz der Athleten zum Ziel haben. Dazu muss das Thema intensiver öffentlich diskutiert werden und die Öffentlichkeit sowie potentiell Betroffene aufgeklärt werden.

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Zeitschrift für Neuropsychologie (2016), 27 (1), 23–28

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Manuskript eingereicht: 10. 05. 2015 Nach Revision angenommen: 08. 08. 2015 Interessenskonflikt: Nein Joachim Koch Praxis für Psychotherapie und Neuropsychologie Aalstr. 18a 32549 Bad Oeynhausen joanja10@aol.com

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Originalartikel

Depressivität und Kognition in der neuropsychologischen Rehabilitation nach Schlaganfall Melanie Friedrich¹, Petra Zimmermann², Caroline Privou², Michael Preier³, Kathrin Sackewitz-Barth¹, Joachim Kauth³, Margarete Gollas³, Tanja Schubert³ und Stefan Lautenbacher¹ ¹Abteilung für Physiologische Psychologie der Otto-Friedrich-Universität Bamberg ²MediClin Rehazentrum Reichshof ³Schön Klinik Bad Staffelstein Zusammenfassung: Das Ziel der vorliegenden Untersuchung bestand darin, die Ausprägung und rehabilitative Relevanz von Depressivität nach Schlaganfall in der neuropsychologischen Versorgung prototypischer deutscher Neurorehabilitationseinrichtungen genauer zu beleuchten. Hierzu wurden 105 Schlaganfallpatienten aus zwei Kliniken untersucht. Der Depressivitätsgrad der Probanden wurde mit der Hamilton-Depressions-Skala erfasst, weiterhin wurden umfangreiche neuropsychologische Testbatterien durchgeführt. Etwa 15 % der Schlaganfallpatienten zeigten Hinweise auf eine leichte depressive Verstimmung. Der kognitive Status der Probanden konnte als für Schlaganfallpatienten typisch beschrieben werden, es ergaben sich jedoch keine Hinweise auf einen bei Poststroke Depression zu erwartenden kognitiven Status. Zudem zeigten sich sehr geringe Korrelationen der Hamilton-Depressions-Scores mit den Testleistungsparametern. Insgesamt legen die Studienergebnisse nahe, dass das Störungsbild der Poststroke Depression im Rahmen der stationären, neuropsychologischen Rehabilitation von eher untergeordneter Bedeutung ist. Schlüsselwörter: Poststroke Depression, Neuropsychologische Rehabilitation nach Schlaganfall

Depressive and cognitive characteristics in stroke patients during neuropsychological rehabilitation Abstract: The aim of the present study was to investigate the level and rehabilitative relevance of depressiveness in stroke patients in neuropsychological care in typical German neurological rehabilitation centers. Therefore we investigated 105 stroke patients from two rehabilitation centers from different regions with different sponsorships (Schön Klinik Bad Staffelstein and MediClin Rehazentrum Reichshof). The Hamilton Rating Scale for Depression was used to measure the level of depressiveness. Furthermore the patients completed a substantial number of neuropsychological tests. About 15 % of the stroke patients showed mild depressive symptoms. Patients had a cognitive status typical for stroke patients, but not typical for patients with post-stroke depression. Moreover there were nearly no significant correlations between the Hamilton scores and the neuropsychological test results. Taken together, our results suggest that poststroke depression plays a rather unsubstantial role in inpatient neuropsychological rehabilitation. Keywords: post-stroke depression, neuropsychological rehabilitation after stroke

Einleitung Depressive Verstimmungen gelten gemeinhin als häufigste psychopathologische Auffälligkeiten nach einem Schlaganfall und stellen wichtige Moderatorvariablen des Krankheitsverlaufs dar: Die Patienten zeigen sich oftmals uninteressiert am Klinikalltag, sind nicht in der Lage, in der Therapie konzentriert zu folgen, mitzuarbeiten oder therapeutische Aufgaben auszuführen. Durch diese klassische Symptomatik – Interesse- und Freudlosigkeit, An© 2016 Hogrefe

triebsminderung sowie auch kognitive Defizite, werden neurorehabilitative Maßnahmen in ihrer Effektivität herabgesetzt, das funktionelle Outcome der Patienten somit deutlich reduziert (Kapfhammer, 2011; Beblo & Lautenbacher, 2006). Trotz dieser weitreichenden Konsequenzen ist die Frage der Relevanz von depressiven Verstimmungen im Kontext der neuropsychologischen Versorgung von Schlaganfallpatienten in deutschen Rehakliniken bislang weitgehend ungeklärt. Entsprechen Umfang und Intensität depressiver Symptome nach Schlaganfall den nach ICD-10 oder DSM-V Zeitschrift für Neuropsychologie (2016), 27 (1), 29–36 DOI 10.1024/1016-264X/a000169


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geforderten Kriterien für eine Depressionsdiagnose, spricht man vom Störungsbild der Poststroke Depression. Es liegt bereits eine Vielzahl an epidemiologischen Untersuchungen zur Poststroke Depression vor. Die dort genannten Prävalenzraten variieren im Bereich von 6 bis 60 %. (Huff, Steckel & Sitzer, 2003). Als Gründe für diese stark schwankenden Angaben werden einerseits Merkmale der jeweils untersuchten Stichprobe, andererseits Aspekte des methodischen Vorgehens diskutiert. Psychiatrische, insbesondere depressive Vorerkrankungen, strategische Infarktlokalisation, gravierendere Schlaganfallfolgen wie auch höheres Lebensalter gelten als Risikofaktoren für die Entwicklung einer Poststroke Depression (Huff et al., 2003; Kapfhammer, 2011; Robinson & Spalletta, 2010). Entsprechend tragen unterschiedliche Stichprobenzusammensetzungen im Hinblick auf diese Risikomerkmale zur epidemiologischen Varianz des Störungsbildes bei. Weiterhin wird die Breite der resultierenden Prävalenzangaben auch durch Unterschiede in der Auswahl der Diagnoseinstrumente sowie durch Variation im Zeitpunkt der Untersuchung in Relation zum Schlaganfallgeschehen mitbedingt (Huff et al., 2003; Kronenberg, Katchanov & Endres, 2006; Kapfhammer, 2011). Zur Prävalenz der Poststroke Depression im stationären neurorehabilitativen Setting liegen derzeit nur wenige Daten vor. Nach Studien zur postakuten Versorgungssituation von Schlaganfallpatienten in Deutschland erhalten insgesamt etwa 30 – 40 % der von Schlaganfall Betroffenen nach dem Ereignis eine Neurorehabilitation (van den Bussche et al., 2010; Unrath, Kalic & Berger, 2013). Als Merkmale, die sich chancenmindernd auf die Gewährung rehabilitativer Maßnahmen auswirken, konnten ein höheres Lebensalter, weibliches Geschlecht, früher stattgehabte Insulte, Sprachstörungen, Bewusstseinsstörungen bei Aufnahme in die Akutklinik sowie das Ausbleiben eines Beratungsgesprächs durch den Sozialdienst eruiert werden (van den Bussche et al., 2010; Unrath et al., 2013). Im Rahmen eines europäischen Vergleichsprojekts (CERISE, Collaborative Evaluation of Rehabilitation in Stroke across Europe) erwiesen sich für die deutsche Stichprobe zudem stärkere prämorbid bestehende Funktionsdefizite, kognitive Einschränkungen sowie ein niedriges Funktionsniveau auf ADL-Ebene als ungünstig für den Erhalt neurorehabilitativer Maßnahmen. Weiterhin schien sich auch das Verhandlungsgeschick der Patienten bzw. ihrer Angehörigen gegenüber dem Kostenträger auf die Aufnahme in eine neurologische Rehabilitationsklinik auszuwirken (Putman et al., 2007). Diese Faktoren, die ungünstige Auswirkungen auf die Zulassung zu stationären Neurorehabilitationsmaßnahmen haben, könnten auch Risikofaktoren für die Entwicklung einer Poststroke Depression darstellen. Gleichermaßen scheinen potentiell depressionsimmanente Beeinträchtigungen Zeitschrift für Neuropsychologie (2016), 27 (1), 29–36

oder einzelne depressive Symptome, etwa Zurückhaltung und wenig forderndes Verhalten gegenüber Entscheidungsträgern, der Aufnahme in eine Rehaklinik entgegen zu stehen. Konsequenz dieser genannten Kombination könnte es sein, dass depressive Schlaganfallpatienten weniger häufig in Neurorehabilitationszentren aufgenommen werden und in diesem Kontext daher epidemiologisch unterrepräsentiert sind. Dieser potentiell geringen Prävalenz in der neurorehabilitativen Praxis steht die rehabilitative Relevanz von Depressivität nach Schlaganfall mit deutlichen Auswirkungen auf die kognitive Leistungsfähigkeit der Betroffenen gegenüber. Starkstein, Robinson und Price (1988) verglichen 13 Patienten, welche im Laufe von 24 Monaten nach Auftreten des Schlaganfalls eine depressive Symptomatik entwickelten, sowie 13 klinische Kontrollprobanden, bei denen dies nach eingetretener Hirnschädigung nicht der Fall war. Sie konnten feststellen, dass diejenigen Schlaganfallpatienten, welche unter einer depressiven Symptomatik litten, stärkere kognitive Leistungseinbußen im Mini-Mental-Status Test (MMST) aufwiesen als solche, die nicht an einer Depression erkrankten. Robinson, Book Star, Kubos und Price (1983) konnten zudem belegen, dass die globale kognitive Leistungsfähigkeit von 103 Schlaganfallpatienten, operationalisiert als die Leistung der Patienten im MMST, mit dem Depressivitätsgrad der Patienten, erhoben anhand der Hamilton-Depressions-Skala, der Zung-Depressions-Skala sowie mithilfe des Present State Exams, signifikant korreliert war. Eine deutliche Assoziation des Schweregrads der Poststroke Depression mit dem kognitiven Leistungsvermögen innerhalb der ersten drei Wochen nach Eintreten des Schlaganfalls zeigte sich auch bei Nys et al. (2005). Darüber hinaus wiesen Patienten mit mittlerer bis schwerer Depression hier insbesondere Defizite in den Bereichen Sprache, Gedächtnis und Visuoperzeption auf, Patienten ohne oder mit nur leichter Depressivität dagegen zeigten Auffälligkeiten im logischen Denken sowie in exekutiven und Aufmerksamkeitsfunktionen. Auch bei Kauhanen et al. (1999) ergaben sich drei Monate nach Eintreten des Schlaganfalls deutliche Hinweise auf stärkere kognitive Einbußen bei Patienten, welche unter einer Poststroke Depression litten im Gegensatz zu Patienten, die keine affektive Beeinträchtigung aufwiesen. In einer Zweittestung mit zwölfmonatigem Abstand zur Hirnschädigung konnte weiterhin eine umfassende Intensivierung dieser relativen Minderleistung depressiver Patienten belegt werden. Ziel der vorliegenden Untersuchung ist es, zur Aufklärung der Relevanz von Depressivität nach Schlaganfall im Kontext der neuropsychologischen Versorgung in prototypischen neurologischen Rehakliniken in Deutschland beizutragen. Hierzu soll der Depressivitätsgrad der Pati© 2016 Hogrefe


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Tabelle 1. Soziodemografische und krankheitsbezogene Charakterisierung der Stichproben Bad Staffelstein

Reichshof

Untersuchungszeitraum

Jan. 2006 – Apr. 2010

Mrz. 2003 – Feb. 2004

Stichprobengröße

56

49

Alter

MW = 60,5 Jahre (SD = 12,1)

MW = 68,5 Jahre (SD = 8,0)

Geschlecht

43 männlich, 13 weiblich

27 männlich, 22 weiblich

Schulbildung

35 Haupt-/Volksschule 14 Real-/Mittelschule 7 Abitur

38 Haupt-/Volksschule 5 Real-/Mittelschule 6 Abitur

Erkrankung

44 Ischämie, 12 Blutung

41 Ischämie, 8 Blutung

Schädigungslokalisation

26 rechtshemisphärisch 19 linkshemisphärisch 11 unbekannt/bihemisph.

15 rechtshemisphärisch 19 linkshemisphärisch 15 unbekannt/bihemisph.

Zeitintervall Erkrankung – Testzeitpunkt

39,4 Tage (SD = 21,7)

22,0 Tage (SD = 6,2)

Zeitintervall Rehabeginn – Testzeitpunkt

12,9 Tage (SD = 9,8)

5,0 Tage (SD = 2,5)

Anmerkungen. MW = Mittelwert, SD = Standardabweichung

enten im konkreten Setting sowie die Assoziation des Depressivitätsgrades mit kognitiven Defiziten untersucht werden. Folgende Hypothesen wurden dabei zugrunde gelegt: Etwa 10 – 20 % der Schlaganfallpatienten sollten erhöhte Depressivitätsausprägungen aufweisen. Dieser Wert liegt im unteren Bereich des für Poststroke Depressionen zitierten Prävalenzspektrums, da Faktoren, die eine hohe Depressionsneigung determinieren oder depressionsimmanent sind, eher zum Ausschluss von stationären neurorehabilitativen Maßnahmen zu führen scheinen. Gleichermaßen wird angenommen, dass diese wenigen Betroffenen lediglich leichte Depressivitätsausprägungen aufweisen werden. Es wird zudem erwartet, dass sich eher geringe Korrelationen zwischen Depressivitätsgrad und neuropsychologischen Testleistungen ergeben werden.

Methoden

hebungen in Bad Staffelstein und Reichshof ursprünglich unabhängig voneinander geplant und durchgeführt wurden, wurden für beide Untersuchungen leicht unterschiedliche Ausschlusskriterien formuliert. Ausschlusskriterien für die Studienteilnahme in Bad Staffelstein stellten schwere aphasische Störungen, Gesichtsfeldausfälle mit weniger als 30 % Restgesichtsfeld sowie schwere NeglektSymptome dar, bei welchen von einer Einschränkung des Aufgabenverständnisses bzw. einer Behinderung der Aufgabenbearbeitung ausgegangen werden muss. Auch Patienten mit zusätzlichen malignen oder traumatischen Erkrankungen bzw. mehrfachen epileptischen Anfällen durften nicht an der Untersuchung teilnehmen. Ein weiteres Kriterium stellte die Benzodiazepin- und Neuroleptika-Abstinenz innerhalb der letzten fünf Tage vor der Untersuchung dar. In Reichshof wurden Patienten mit schweren aphasischen oder dementiellen Syndromen von der Studienteilnahme ausgeschlossen. Die Bereitschaft zur Teilnahme an der Untersuchung wurde von allen Probanden schriftlich bestätigt.

Versuchspersonen Die Versuchspersonen wurden in der Schön Klinik Bad Staffelstein und im MediClin Reha-Zentrum Reichshof rekrutiert. Das Versorgungsspektrum beider Einrichtungen umfasst Patienten mit nahezu allen neurologischen Störungsbildern in den Rehaphasen B bis D, was einem für deutsche Rehabilitationskliniken typischen Patientengut entspricht. Eine überblicksartige Charakterisierung der Probanden hinsichtlich wichtiger soziodemografischer und krankheitsbezogener Merkmale findet sich in Tabelle 1. In die Untersuchung aufgenommen wurden Patienten, die sich wegen eines erstmaligen Schlaganfalls (Ischämie oder Blutung) in der Rehaklinik befanden. Da die Er© 2016 Hogrefe

Erhebungsinstrumente und Untersuchungsablauf Zur Einschätzung der Depressivität der Probanden wurde die 21-Item Version der Hamilton Depressionsskala (HAMD; Hamilton, 1960) herangezogen, welche als etabliertes Standardverfahren in diesem Bereich gilt. Die Beurteilungen wurden von den jeweiligen psychologischen Bezugstherapeuten der Patienten vorgenommen. Die zur Erhebung des kognitiven Status verwendeten neuropsychologischen Funktionstests sind in Tabelle 2 gelistet. Bei der Auswahl der Testverfahren wurde darauf Zeitschrift für Neuropsychologie (2016), 27 (1), 29–36


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Tabelle 2. Eingesetzte kognitive Leistungstests BadStaffelstein

Reichshof

Testbatterie zur Aufmerksamkeitsprüfung (TAP), Version 1.7 (Zimmermann & Fimm, 2002) Untertests: Alertness, Geteilte Aufmerksamkeit, Visuelles Scanning

Testbatterie zur Aufmerksamkeitsprüfung (TAP), Version 1.02c (Zimmermann & Fimm, 1994) Untertests: Alertness, Geteilte Aufmerksamkeit

Verbaler Lern- und Merkfähigkeitstest, VLMT (Helmstaedter et al., 2001) Verbaler Lern- und Merkfähigkeitstest, VLMT (Helmstaedter et al., 2001) Hamburg-Wechsler-Intelligenztest für Erwachsene, revidierte Fassung, HAIWE-R (Tewes, 1991) Untertest: Zahlen Nachsprechen Kurztest für allgemeine Basisgrößen der Informationsverarbeitung, KAI (Lehrl et al., 1992) Regensburger Wortflüssigkeits-Test, RWT (Aschenbrenner et al., 2000) Untertests: M-Wörter, Tiere Fünf Punkte Test (Regard et al., 1982)

geachtet, ein möglichst breites Spektrum an neuropsychologischen Funktionen abzubilden, für das Minderleistungen depressiver Patienten als wahrscheinlich gelten. Neben diesem theoretischen Aspekt mussten jedoch auch pragmatische Faktoren, die Verfügbarkeit der Verfahren in den jeweiligen Einrichtungen sowie die Einhaltung einer für die Probanden zumutbaren Untersuchungsdauer berücksichtigt werden. Alle Funktionstestungen wurden von psychologischem Fachpersonal in einem zeitlichen Rahmen von 60 bis 120 Minuten angeleitet. In Einzelfällen starker Belastung wurde die Testbatterie geringfügig abgekürzt. Je nach Ausdauer und Durchhaltevermögen der Patienten wurden für die Erhebungen eine bis drei Sitzungen veranschlagt. Da die durchgeführten Untersuchungen Teil der etablierten klinischen Praxis waren, wurde für die Studien kein eigener Ethikantrag gestellt.

Statistik Zur statistischen Beschreibung der Studienteilnehmer wurden die Mittelwerte und Standardabweichungen der Stichproben auf der Hamilton Depressionsskala bestimmt. Zur Darstellung des kognitiven Status der Patienten wurde die Häufigkeit von Minderleistungen je Untertest für beide Probandengruppen aufgeführt. Weiterhin wurden für beide Stichproben z-Werte-Profile der erfassten neuropsychologischen Testleistungen erstellt. Schließlich wurden die Produkt-Moment-Korrelationen nach Pearson der Hamilton-Depressionswerte mit den Testleistungsparametern bei einseitiger Fragestellung berechnet. Um multiplen Vergleichen gerecht zu werden, wurde hierbei ein Signifikanzniveau von 0,01 zugrunde gelegt. Zeitschrift für Neuropsychologie (2016), 27 (1), 29–36

Ergebnisse Depressivität Für die Gesamtstichprobe ergab sich ein HAMD-Mittelwert von 4,4 (Bad Staffelstein: 3,6; Reichshof: 5,3) bei einer Standardabweichung von 4,9 (Bad Staffelstein: 4,5; Reichshof: 5,1). Laut Hautzinger (1998) sind Werte von bis zu neun Punkten auf dieser Skala nicht von klinischer Bedeutsamkeit, Werte im Bereich von 10 – 18 stellen einen Übergangsbereich dar und können als Indikatoren einer depressiven Beeinträchtigung leichten bzw. mittleren Ausmaßes betrachtet werden, während Werte ab 19 als klinisch relevant gelten. In Bad Staffelstein erzielten nur zwei Patienten einen Score im Bereich klinischer Bedeutsamkeit, drei Probanden erlangten Werte im Übergangsbereich, während 51 Patienten klinisch nicht relevante Scores erreichten. In Reichshof erzielte kein Patient einen Punktewert über 18, 11 Patienten lagen mit ihrem Score im Übergangsbereich und 38 Patienten verblieben im Bereich klinischer Unauffälligkeit. Insgesamt ergaben sich also bei 16 von 105 Probanden (Bad Staffelstein: 5 von 56; Reichshof: 11 von 49) Hinweise auf eine depressive Störung, was einem Anteil von 15,2 % (Bad Staffelstein: 8,9 %; Reichshof: 22,5 %) entspricht. Es handelt sich hier zudem eher um geringe Depressivitätsausprägungen, schwere depressive Beeinträchtigungen traten nur sehr selten auf.

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M. Friedrich et al., Depressivität und Kognition in der neuropsychologischen Rehabilitation nach Schlaganfall

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Tabelle 3. relative Häufigkeit unterdurchschnittlicher Testleistungen (z < -1) je Untertest Testparameter

Bad Staffelstein

Reichshof

TAP Alertness ohne Ton, RZ

35,7 %

28,6 %

TAP Alertness mit Ton, RZ

28,6 %

38,8 %

TAP Geteilte Aufmerksamkeit, Auslassungen

53,7 %

63,3 %

Visuelles Scanning, Zeilenkorrelation

56,8 %

– 49,0 %

VLMT Lernleistung

34,5 %

VLMT Abruf nach Interferenz

53,7 %

67,3 %

HAWIE-R Zahlen Nachsprechen

14,3 %

KAI IQ

18,4 %

RWT M-Wörter

55,4 %

RWT-Tiere

48,2 %

5 Punkte Test

29,1 %

Mindestens eine auffällige Testleistung

96,4 %

87,8 %

Kognitiver Status Tabelle 3 zeigt die Häufigkeit unterdurchschnittlicher Leistungen (z < -1,0) je Testparameter für beide Stichproben. In Bad Staffelstein erwiesen sich 2 von 56 Probanden (ca. 3,6 %) in allen erfassten neuropsychologischen Funktionsparametern als unauffällig. In Reichshof lagen 6 von 49 Versuchsteilnehmern (ca. 12,2 %) mit ihren Leistungen durchweg im Normalbereich. Abbildung 1 zeigt ergänzend die z-Werte-Profile der neuropsychologischen Testleistungen beider Probandengruppen. Für das gesamte Spektrum untersuchter Funktionen ergaben sich überwiegend Werte im unteren Durchschnittsbereich. Ausnahmen im Sinne von Minderleistungen (z < -1,0) zeigten sich lediglich für die VLMTAbrufleistung nach Interferenz und den RWT-Untertest M-Wörter in Bad Staffelstein sowie im TAP-Untertest Geteilte Aufmerksamkeit und der VLMT – Abrufleistung nach Interferenz in Reichshof.

Korrelation Depressivität und kognitive Leistungsfähigkeit Tabelle 4 zeigt die Korrelationen der Testleistungsparameter mit den HAMD-Scores. In Bad Staffelstein ergab sich ausschließlich für die Reaktionszeit der TAP-Alertness ohne Warnton eine signifikante, mäßig ausgeprägte Korrelation mit dem HAMD-Score. Alle anderen in Bad Staffelstein erfassten Testleistungen sowie die in Reichshof erhobenen Leistungsparameter zeigten sich nicht in signifikanter Weise mit dem HAMD-Score korreliert.

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Diskussion In der vorliegenden Studie wurde das Ausmaß von Depressivität nach Schlaganfall und dessen Assoziation mit neuropsychologischen Defiziten im Rahmen zweier deutscher Rehabilitationskliniken untersucht. Unter Berücksichtigung der aktuellen Studienlage wurde angenommen, dass sich nur bei 10 – 20 % der Schlaganfallpatienten in rehabilitativen Einrichtungen leichtere depressive Verstimmungen finden sollten. Weiterhin wurde erwartet, dass sich lediglich gering ausgeprägte Korrelationen zwischen Testleistungsparametern und Depressivitätsgrad ergeben würden. Die Hypothesen konnten durch die Untersuchung größtenteils bestätigt werden. Bei insgesamt ca. 15 % der untersuchten Schlaganfallpatienten zeigten sich Hinweise auf eine leichte depressive Verstimmung. Der kognitive Status der einzelnen Versuchsteilnehmer zeigte sich in Bad Staffelstein bei 3,6 %, in Reichshof bei 12,2 % der Probanden vollkommen unauffällig. Der Wert in Bad Staffelstein steht im Einklang mit dem Ergebnis von Krause et al. (1999), nach dem etwa 2,5 % von 200 untersuchten Schlaganfallpatienten zu Beginn einer Anschlussheilbehandlung vollkommen frei von kognitiven Defiziten waren. Der vergleichsweise höhere Wert in Reichshof mag möglicherweise der dort stärker auf Aufmerksamkeits- und Gedächtnisleistungen fokussierenden Testbatterie unter weitgehender Aussparung exekutiver Funktionen geschuldet sein. Die z-Werte-Profile der kognitiven Leistungsfähigkeit beider Probandengruppen ergaben für das gesamte Spektrum untersuchter Funktionen insgesamt überwiegend Leistungen im unteren Durchschnittsbereich. Insgesamt kann der kognitive Status der untersuchten Probanden also für Schlaganfallpatienten als durchaus typisch beschrieben werden. Hinweise auf gravierende Defizite in diversen Funktionsbereichen bei Zeitschrift für Neuropsychologie (2016), 27 (1), 29–36


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M. Friedrich et al., Depressivität und Kognition in der neuropsychologischen Rehabilitation nach Schlaganfall

Abbildung 1. z-Werte-Profile der neuropsychologischen Leistungsfähigkeit.

einem Großteil der Probanden, wie dies bei einem hohen Vorkommen von Poststroke Depressionen zu erwarten gewesen wäre, zeigten sich jedoch nicht. Die vorgefundenen geringen Depressivitätswerte zeigten sich nur in Bad Staffelstein vereinzelt mit neuropsychologischen Defiziten assoziiert. Insgesamt kommt der Depressivität also keine nennenswerte Rolle für Unterschiede in der kognitiven Leistungsfähigkeit der Probanden zu. Angesichts dieser Tatsachen, dass sich in zwei regional und vom Träger unterschiedlichen Kliniken ein sehr ähnliches Bild im Sinne einer geringen Auftretenshäufigkeit von Depressivität nach Schlaganfall und niedrigen Zusammenhängen der Depressivität mit der kognitiven Leistungsfähigkeit zeigt, drängt sich unweigerlich der Schluss auf, dass die Relevanz der Poststroke Depression in der deutschen neuropsychologischen Rehabilitation eher gering ausfällt. Natürlich weist die vorliegende Arbeit verschiedene Limitationen auf. Es ist bekannt, dass bevorzugt linkshemisphärische, frontale Schädigungen Störungen der Emotionsregulation und –kontrolle im Sinne depressiver Verstimmungen bedingen können (Robinson & Spalletta, 2010), während rechtshemisphärisch geschädigte Patienten oftmals eher Zeitschrift für Neuropsychologie (2016), 27 (1), 29–36

eine Unawareness für ihre Schwierigkeiten aufweisen, manchmal geradezu euphorisch anmuten (Ackermann, 2012). Da auch Sprachstörungen in der Regel durch linkshemisphärische Läsionen bedingt sind, könnte durch das Ausschlusskriterium der schweren Aphasie somit eine unausgewogene Selektion der Probanden in Abhängigkeit der hemisphärischen Lokalisation der Schädigung begünstigt worden sein. Wie bereits beschrieben, wiesen 43 der untersuchten Probanden rechtshemisphärische Schlaganfälle auf, jedoch immerhin auch 39 Patienten zeigten linkshemisphärische Schädigungen. Es ergeben sich also keine Anhaltspunkte für ein solch unterstelltes Ungleichgewicht, das Einfluss auf die Ergebnisse hätte haben können. Unabhängig vom Argument des Zusammenhangs von betroffener Hemisphäre und Depression ist jedoch nach Nys et al. (2005) davon auszugehen, dass gerade diejenigen Patienten, welche unter Aphasien leiden, reaktiv auf die Schwere ihrer Beeinträchtigung häufiger eine depressive Verstimmung entwickeln. Somit könnte der Ausschluss von Aphasiepatienten dennoch zu einer leichten Unterschätzung des Depressivitätsgrads geführt haben. Da jedoch bei Vorliegen einer schweren Form der Aphasie die Durchführung der neuropsychologi© 2016 Hogrefe


M. Friedrich et al., Depressivität und Kognition in der neuropsychologischen Rehabilitation nach Schlaganfall

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Tabelle 4. Korrelationen der Testleistungsparameter mit den HAMD-Scores Test

Bad Staffelstein

Reichshof

TAP-Alertness ohne Ton (RZ)

r = .336* n = 56 p = .006

r = -.062 n = 49 p = .335

TAP-Alertness mit Ton (RZ)

r = .250 n = 56 p = .031

r = -.062 n = 49 p = .335

TAP Geteilte Aufmerksamkeit Auslassungen

r = .280 n = 54 p = .020

r = .050 n = 49 p = .366

TAP Visuelles Scanning Zeilenkorrelation

r = -.175 n = 44 p = .128

VLMT (Lernleistung)

r = .268 n = 55 p = .024

r = -.202 n = 49 p = .082

VLMT (Abruf nach Interferenz)

r = .183 n = 54 p = .093

r = -.046 n = 49 p = .376

HAWIE-R Zahlen Nachspr. vorwärts

r = .030 n = 49 p = .418

HAWIE-R Zahlen Nachspr. rückwärts

r = -.121 n = 49 p = .204

KAI Kurzspeicherkapazität

r = -.039 n = 49 p = .396

RWT M-Worte

r = -.270 n = 56 p = .022

RWT Tiere

r = -.107 n = 56 p = .217

5-Punkte Test

r = -.119 n = 55 p = .193

Anmerkungen. r = Korrelationskoeffizient; n = Stichprobengröße; p = Signifikanzniveau; * = p < 0,01

schen Leistungstestungen wie auch einer validen Depressivitätserfassung deutlich erschwert gewesen wäre, war dieser Schritt dennoch unerlässlich. Weiterhin stellt sich die Frage nach Reliabilität und Validität der diagnostischen Erfassung des Depressivitätsgrades. Zur Quantifizierung des Schweregrades der depressiven Symptomatik wurde die Hamilton-DepressionsSkala eingesetzt. Einige Items dieser Skala erfassen somatische Symptome (z. B. Müdigkeit, Schmerzen), welche bei Schlaganfallpatienten bedingt durch die Hirnschädigung auftreten können, womit ihnen nicht zwingend diagnostischer Wert im Hinblick auf depressive Störungen zukommen muss. Verfahrensbedingte Fehleinschätzungen des Depressivitätsgrades würden sich hier also grundsätzlich eher in einer Überschätzung der Beeinträchtigung auswirken, weniger in einer Unterschätzung. Abgesehen davon könnte es Schlaganfallpatienten aufgrund ihrer krankheitsbedingten Einschränkungen auch schwerer fallen, beispielsweise kognitive Depressionssymptome wie etwa eine starke Grübelneigung oder Schuldgefühle für den Untersucher gut erkennbar zu artikulieren. Wie jedoch bereits dargelegt wurde, wiesen die untersuchten Probanden keinen einschlägigen, depressionstypischen umfassend defizitären neuropsychologischen Status auf, was bei tatsächlich vorhandener, aber verkannter Depressivität dennoch zu erwarten gewesen wäre. Kritisch anzu© 2016 Hogrefe

merken bleibt, dass neben der Einschätzung der Depressivität anhand des HAMD-Scores nicht zusätzlich die Kriterien von ICD 10 oder DSM-V zur kategorialen Depressionsdiagnostik herangezogen wurden. Hohe HAMD-Scores könnten den kategorialen Rückschluss auf die Diagnose von Poststroke Depressionen sicherlich nur unzureichend legitimieren. In der vorliegenden Untersuchung zeigten sich jedoch überwiegend geringe HAMD-Scores. Der Schluss von niedrigen HAMD-Scores auf eine geringe Wahrscheinlichkeit für Poststroke Depressionen scheint vergleichsweise wenig problematisch. Insgesamt kann also festgestellt werden, dass das in der Studie vorgefundene geringe Ausmaß der Depressivität im Einklang mit Vorbefunden stehen, welche darauf hinweisen, dass Faktoren, die das Auftreten von Poststroke Depressionen begünstigen oder Symptome, die mit diesem Störungsbild einhergehen, die Wahrscheinlichkeit einer stationären Neurorehabilitation nach Schlaganfall in Deutschland reduzieren (Putman et al., 2007; van den Bussche et al., 2010; Unrath et al., 2013). Die Frage nach dem Verbleib der Patienten mit ausgeprägter Poststroke Depression, die nicht in neurologische Rehabilitationskliniken aufgenommen werden, kann an dieser Stelle nicht abschließend beantwortet werden. Geht man nach Robinson und Spalletta (2010) davon aus, dass schwere körperliche Schlaganfallfolgen und hohes Alter wichtige RiZeitschrift für Neuropsychologie (2016), 27 (1), 29–36


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M. Friedrich et al., Depressivität und Kognition in der neuropsychologischen Rehabilitation nach Schlaganfall

sikofaktoren für die Entwicklung von Poststroke-Depressionen darstellen, wäre es möglich, dass Betroffene in größerer Anzahl an geriatrische Rehakliniken, welche in besonderem Maße auf die Behandlung multimorbider, älterer Patienten spezialisiert sind, verwiesen werden. In Fällen schwerer depressiver Beeinträchtigungen wäre auch eine vorrangige Stabilisierung der Patienten durch eine psychiatrische, antidepressive Behandlung denkbar, um hierdurch günstigere Ausgangsbedingungen für eine anschließende Neurorehabilitation zu schaffen. Nicht zuletzt muss aber natürlich auch in Betracht gezogen werden, dass klassische Depressionssymptome, etwa Antriebsmangel, Interesselosigkeit oder sozialer Rückzug, durchaus auch eine Ablehnung von Rehabilitationsmaßnahmen seitens der Patienten begründen könnten, die Betroffenen selber also nach Abschluss der Akutbehandlung eine direkte Entlassung nach Hause anstreben. Gezielte Studien zur Verteilung der Patientenströme nach dem Aufenthalt im Akutkrankenhaus könnten in dieser Frage zukünftig mehr Aufschluss bringen. Zusammenfassend kann also festgehalten werden, dass das Störungsbild der Poststroke Depression im Kontext der stationären neuropsychologischen Rehabilitation in Deutschland eher selten zu finden ist und daher von untergeordneter Bedeutung zu sein scheint.

Literatur Ackermann, H. (2012). Störungen des emotionalen Erlebens und Verhaltens. In H.-O. Karnath & P. Thier (Hrsg.), Kognitive Neurowissenschaften (3. Aufl., S. 645 – 652). Heidelberg: Springer. Aschenbrenner, S., Tucha, O. & Lange, W. (2000). Regensburger Wortflüssigkeits-Test. Göttingen: Hogrefe. Beblo, T. & Lautenbacher, S. (2006). Neuropsychologie der Depression. Göttingen: Hogrefe. Bussche, H. van den, Berger, K., Kemper, C., Barzel, A., Gleaske, G. & Koller, D. (2010). Inzidenz, Rezidiv, Pflegebedürftigkeit und Mortalität von Schlaganfall. Eine Sekundäranalyse von Krankenkassendaten. Aktuelle Neurologie, 37, 131 – 135. Hamilton, M. (1960). A rating scale for depression. Journal of Neurology, Neurosurgery, and Psychiatry, 23, 56 – 62. Hautzinger, M. (1998). Depression. Göttingen: Hogrefe. Helmstaedter, C., Lendt, M. & Lux, S. (2001). VLMT – Verbaler Lernund Merkfähigkeitstest. Göttingen: Beltz Test. Huff, W., Steckel, R. & Sitzer, M. (2003). „Poststroke Depression“. Epidemiologie, Risikofaktoren und ihre Auswirkungen auf den Verlauf des Schlaganfalls. Nervenarzt, 74, 104 – 114. Kapfhammer, H. P. (2011). Poststroke-Depression: Diagnostik, Epidemiologie, Verlauf und Ätiopathogenese. Journal für Neurologie, Neurochirurgie und Psychiatrie, 12, 254 – 261.

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Kauhanen, M., Korpelainen, J. T., Hiltunen, P., Brusin, E. Mononen, H. & Maatta, R. (1999). Post-stroke depression correlates with cognitive impairment and neurological deficits. Stroke, 30, 1875 – 1880. Krause, M., Polnitzky-Meißner, P., Helbig, P., Ringleb, P., Jansen, C., Reichert, K. et al. (1999). Anschlußheilbehandlung nach Schlaganfall. Eine Standortbestimmung. Nervenarzt, 70, 322 – 329. Kronenberg, G., Katchanov, J. & Endres, M. (2006). PoststrokeDepression. Klinik, Epidemiologie, Therapie, pathophysiologische Konzepte. Nervenarzt, 77, 1176 – 1185. Lehrl, S., Gallwitz, A., Blaha, L. & Fischer, B. (1992). Geistige Leistungsfähigkeit. Theorie und Messung der biologischen Intelligenz mit dem Kurztest KAI. Ebersberg: Vless Verlag. Nys, G. M. S., van Zandvort, M. J. E., van der Worp, H. B., de Haan, E. H. F., de Kort, P. L. M. & Kappelle, L. J. (2005). Early depressive symptoms after stroke: neuropsychological correlates and lesion characteristics. Journal of the Neurological Sciences, 228, 27 – 33. Putman, K., De Wit, L., Schupp, W., Beyens, H., Dejaeger, E., De Weerdt, W. et al. (2007). Inpatient stroke rehabilitation: a comparative study of admission criteria to stroke rehabilitation units in four European centres. Journal of Rehabilitation Medicine, 39, 21 – 26. Regard, M., Strauss, E. & Knapp, P. (1982). Children’s production on verbal and non-verbal fluency tasks. Perceptual and Motor Skills, 55, 839 – 844. Robinson, R. G., Book Star, L., Kubos, K. L. & Price, T. R. (1983). A two-year longitudinal study of post-stroke mood disorders: Findings during the initial evaluation. Stroke, 14, 736 – 741. Robinson, R. G. & Spalletta, G. (2010). Poststroke depression: A review. The Canadian Journal of Psychiatry, 55, 341 – 349. Starkstein, S. E., Robinson, R. G. & Price, T. R. (1988). Comparison of patients with and without poststroke major depression matched for size and location of lesion. Archives of General Psychiatry, 45, 247 – 252. Tewes, U. (1991). HAWIE-R: Hamburg-Wechsler-Intelligenztest für Erwachsene. Revision 1991. Bern: Huber. Unrath, M., Kalic, M. & Berger, K. (2013). Wer erhält eine Rehabilitation nach ischämischem Schlaganfall? Daten aus dem Qualitätssicherungsprojekt Schlaganfall Nordwestdeutschland. Deutsches Ärzteblatt, 110, 101 – 107. Zimmermann, P. & Fimm, B. (2002). Testbatterie zur Aufmerksamkeitsprüfung (TAP), Version 2.7. Herzogenrath: Psytest. Zimmermann, P. & Fimm, B. (1994). Testbatterie zur Aufmerksamkeitsprüfung (TAP), Version 1.02c. Herzogenrath: Psytest.

Manuskript eingereicht: 16. 05. 2015 Nach Revision angenommen: 31. 08. 2015 Interessenskonflikt: Nein Melanie Friedrich, Dipl. Psych. Abteilung für Physiologische Psychologie, Otto-Friedrich-Universität Bamberg Markusplatz 3 96045 Bamberg Deutschland melanie.friedrich@uni-bamberg.de

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Originalartikel

Kognitive Kompetenzen und Sprachentwicklung bei Kindern im Alter zwischen vier und fünf Jahren Jessica Melzer, Julia-Katharina Rißling und Franz Petermann Zentrum für Klinische Psychologie und Rehabilitation der Universität Bremen

Zusammenfassung: Ziel der vorliegenden Studie ist es den Zusammenhang von verschiedenen kognitiven Basiskompetenzen und sprachlichen Fähigkeiten bei Vorschülern zu untersuchen. Verglichen werden die kognitiven Kompetenzen von Kindern mit niedrigen Leistungen im Wortschatz und/oder in der Grammatik (n = 69) und einer sprachlich unbeeinträchtigten Vergleichsgruppe (n = 69). Weiter wird eine multiple hierarchische Regressionsanalyse gerechnet um die Bedeutung von kognitiven Basiskompetenzen für die Pragmatik zu untersuchen. Insgesamt zeigt sich, dass die Vergleichsgruppe über bessere kognitive Fähigkeiten verfügt als die Risikogruppe, insbesondere in der Verarbeitungsgeschwindigkeit. Im Bereich Pragmatik konnte das Arbeitsgedächtnis als wichtiger Prädiktor identifiziert werden. Anhand der Analysen wird deutlich, dass kognitive Basiskompetenzen für verschiedene sprachliche Bereiche von Bedeutung sind. Schlüsselwörter: Exekutive Funktionen, Sprachentwicklungsstörung, Pragmatik;SET 3 – 5, BRIEF-P

Cognitive skills and language development in children aged between four and five years Abstract: The aim of the present study is to investigate the association of various cognitive basic competencies and language skills in preschoolers. Children with low performance in vocabulary and/or grammar (n = 69) were compared with an unimpaired group (n = 69) in their cognitive skills. Furthermore, a hierarchical multiple regression analysis is accomplished to investigate the importance of basic cognitive skills for pragmatics. Overall, the unimpaired group has better cognitive skills than the risk group, especially in processing speed. The working memory could be identified as an important predictor for pragmatics. Based on the analysis it is obvious that cognitive basic competencies are important for different linguistic areas. Keywords: executive functions, developmental language disorder, pragmatics, SET 3 – 5, BRIEF-P

Einleitung Die Entwicklung der Sprache ist von zentraler Bedeutung für die kognitive, psychosoziale und schulische Entwicklung eines Kindes (Botting, 2005; Henry, Messer & Nash, 2012; Ricketts, 2011). Die Umschriebene Entwicklungsstörungen des Sprechens und der Sprache (UESS) gehören hierbei zu den häufigsten Entwicklungsstörungen im Kindesalter. Sie bestehen bereits in frühen Entwicklungsstadien und sind gekennzeichnet durch sprachliche Defizite, die nicht auf sekundäre Ursachen (wie Hörschädigungen, Intelligenzminderungen oder soziale Vernachlässigung) zurückgeführt werden können. Wird diese Definition der ICD-10 (Dilling, Mombour, Schmidt & Schulte-Markwort, 2011) zugrunde gelegt, liegt die Prävalenz © 2016 Hogrefe

bei 5 – 8 %, wobei Jungen zwei- bis dreimal häufiger betroffen sind als Mädchen (Interdisziplinäre S2k-Leitlinie, 2011; von Suchodoletz, 2013). UESS gehen mit zahlreichen Folgeproblematiken im Bereich der emotionalen, sozialen und kognitiven Entwicklung einher und beeinflussen teils bis ins Erwachsenenalter die schulische bzw. berufliche Laufbahn der Betroffenen (Nation, 2008; Tuller, Henry, Sizaret & Barthez, 2012; Yew & O’Kearney, 2013). Aufgrund dieser zentralen Bedeutung für die individuelle Entwicklung ist es wichtig Störungen in diesem Bereich frühzeitig zu erkennen und zeitnah entsprechende Förder- und Therapiemaßnahmen einzuleiten. Informationen zur Entwicklung von kognitiven Basiskompetenzen, wie der Verarbeitungsgeschwindigkeit, Aufmerksamkeitsprozessen und den Gedächtnisleistungen, könZeitschrift für Neuropsychologie (2016), 27 (1), 37–51 DOI 10.1024/1016-264X/a000170


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J. Melzer et al., Kognitive Kompetenzen und Sprachentwicklung bei Kindern im Alter zwischen vier und fünf Jahren

nen im Rahmen der Diagnostik wichtige Hinweise auf das Vorliegen einer UESS geben, da sie als zentrale Komponenten für einen erfolgreichen Spracherwerb angesehen werden (Interdisziplinäre S2k-Leitlinie, 2011; Henry et al., 2012). Die vorliegende Studie untersucht, ob sich Unterschiede in den kognitiven Basiskompetenzen bei Kindern mit sprachlichen Defiziten im Vergleich zu einer sprachlich unauffälligen Referenzgruppe nachweisen lassen. Zur besseren Einschätzung der Ergebnisse werden im Vorfeld aktuelle empirische Befunde zu exekutiven Funktionen und sprachlichen Kompetenzen dargestellt. Hierbei findet auch der Faktor Mehrsprachigkeit im Zusammenhang mit exekutiven Funktionen Berücksichtigung. Darüber hinaus wird überprüft inwieweit kognitive Basiskompetenzen für pragmatisch-kommunikative Fähigkeiten von Bedeutung sind, da es in diesem Bereich insbesondere im deutschen Sprachraum, an empirischen Untersuchungen mangelt.

Exekutive Funktionen und Spracherwerb Als exekutive Funktionen werden eine Reihe von Regulations- und Kontrollleistungen bezeichnet, die dem Kind ermöglichen sich an neue Situationen im Alltag anzupassen und zielorientiert zu Handeln (Drechsler, 2007). Sie sind vor allem in neuen Situationen relevant, in denen nicht auf bestehende Verhaltens- oder Handlungsmuster zurückgegriffen werden kann und spielen zudem bei der Formulierung von Zielen und der Organisation mehrschrittiger Vorgänge eine wichtige Rolle (Drechsler, 2007). Zu den exekutiven Funktionen gehören u. a. Arbeitsgedächtnisprozesse, Fähigkeiten zum Aufmerksamkeitswechsel und zur Handlungsplanung sowie Prozesse der emotionalen Kontrolle und Inhibition. Diese sind im Frontalkortex lokalisiert und durchlaufen von der frühen Kindheit bis ins Erwachsenenalter eine Reihe von Entwicklungs- und Reifungsprozessen (Jäncke, 2013; Miyake et al., 2000). Gogtay und Kollegen (2004) konnten in ihrer Studie an 13 gesunden Probanden im Alter von 5 bis 20 Jahren mittels Magnetresonanztomografie den Reifungsprozess der grauen und weißen Substanz im Gehirn darstellen und belegten, dass mit zunehmendem Alter die graue Substanz abnimmt, wohingegen sich das Volumen der weißen Substanz ausdehnt. Der Prozess unterscheidet sich dabei für unterschiedliche Hirnregionen, wobei insbesondere Teile des lateralen Frontalkortex bis etwa zum 20. Lebensjahr reifen. Jäncke (2013) merkt hierzu an, dass die Reifungsprozesse der grauen Substanz im lateraZeitschrift für Neuropsychologie (2016), 27 (1), 37–51

len Frontalkortex und im perisylvischen Hirngebiet nicht ausschließlich genetisch bedingt sind, sondern auch durch die Erfahrungen und insbesondere durch den Gebrauch bzw. Nichtgebrauch von neuronalen Verbindungen modelliert werden. Hierzu bestätigten Lehto, Juujärvi, Kooistra und Pulkkinen (2003) starke Zusammenhänge zwischen dem Alter und den Leistungen im Arbeitsgedächtnis sowie dem Alter und den Fähigkeiten im Aufmerksamkeitswechsel. Exekutive Funktionen spielen auch im Zusammenhang mit Sprache und Spracherwerb eine wichtige Rolle. Kinder mit UESS zeigen Defizite in verschiedenen Bereichen der exekutiven Funktionen, u. a. im Arbeitsgedächtnis, in der räumlichen Vorstellung sowie bei Aufgaben zur Planung und Inhibition (Danielsson, Daseking & Petermann, 2010; Henry et al., 2012). So konnten Rose, Feldman und Jankowski (2009) bereits für Kinder im Alter zwischen einem und drei Jahren einen deutlichen Einfluss dieser Funktionen auf die Entwicklung sprachlicher Fähigkeiten nachweisen. Im Folgenden werden empirische Befunde zu den, in der vorliegenden Studie untersuchten, kognitiven Fähigkeiten im Zusammenhang mit der Sprachkompetenz dargestellt.

Arbeitsgedächtnis Der Forschungsstand stützt die Annahme, dass gute Leistungen im Arbeitsgedächtnis von zentraler Bedeutung für einen gelingenden Spracherwerb sind (vgl. Alloway & Archibald, 2008; Archibald & Gathercole, 2006a; Ellis Weismer, Evans & Hesketh, 1999). So zeigen nicht nur Kinder mit diagnostizierter UESS im Vergleich zu unbeeinträchtigten Gleichaltrigen deutliche Defizite in den verbalen sowie nonverbalen Arbeitsgedächtnisleistungen, sondern auch Kinder mit Sprachdefiziten, welche die diagnostischen Kriterien einer UESS nicht vollständig erfüllen (Henry et al., 2012). Auch für die hohe Komorbidität von Aufmerksamkeits- und Sprachstörungen werden Defizite im Arbeitsgedächtnis diskutiert (Hutchinson, Bavin, Efron & Sciberras, 2012; Martinussen & Tannock, 2006). Besonders in der auditiven Merkfähigkeit lassen sich Unterschiede zwischen sprachbeeinträchtigten und sprachunbeeinträchtigten Kindern feststellen (Marton & Schwartz, 2003). So wiesen Keilmann, Braun und Schöler (2005) in ihrer Studie zum Vergleich der kognitiven und sprachlichen Leistungsprofile von Kindern mit Sprachdefiziten bei Lernbehinderungen und UESS für beide Gruppen Defizite in der auditiven Merkfähigkeit nach und postulieren daher, dass Defizite in diesem Bereich wesentlich zur Entstehung von Sprachdefiziten beitragen. © 2016 Hogrefe


J. Melzer et al., Kognitive Kompetenzen und Sprachentwicklung bei Kindern im Alter zwischen vier und fünf Jahren

Inhibition und Aufmerksamkeitswechsel Eine niedrige Leistungsfähigkeit im Arbeitsgedächtnis scheint oftmals durch Defizite in anderen exekutiven Funktionen, wie dem Aufmerksamkeitswechsel und der Inhibition, beeinflusst (vgl. Marton, 2008). Miyake und Friedman (2012) zeigten im Rahmen einer umfassenden Längsschnittstudie, dass 14 bis 36 Monate alte Kleinkinder, die eine gute Fähigkeit zur Selbstkontrolle aufwiesen, im Alter von 17 Jahren auch über bessere exekutive Funktionen verfügten als Gleichaltrige, die in der frühen Kindheit eine geringe Selbstkontrolle zeigten. Somit scheint die Fähigkeit zur Selbstregulation und Hemmung eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung anderer exekutiver Funktionen zu spielen. Auch bilden Aufmerksamkeitsfunktionen, wie Daueraufmerksamkeit und geteilte Aufmerksamkeit sowie Inhibitionsprozesse wichtige Grundlagen für die erfolgreiche Verarbeitung und Produktion von Sprache (Heidler, 2008; Henry et al., 2012). Störungen der Aufmerksamkeit können zu einer defizitären Sprachverarbeitung führen, welche wiederum die Sprachproduktion beeinträchtigt. Andererseits ist es denkbar, dass aufgrund von Einschränkungen im Sprachverständnis Kinder als unaufmerksam oder gar oppositionell erlebt werden (von Suchodoletz, 2013).

Emotionale Kontrolle und Handlungsplanung Darüber hinaus wird auch der Zusammenhang von emotionalen Problemen und Sprachauffälligkeiten diskutiert. Nach Beck, Kumschick, Eid und Klann-Delius (2012) wirken sich sprachliche Kompetenzen positiv auf die Entwicklung emotionaler Kompetenzen aus. Hierbei sehen die Autoren die Möglichkeit, dass Sprache die emotionale Kompetenz durch den Prozess der lexikalisch-semantischen Konzeptualisierung fördert oder sprachliche und emotionale Kompetenzen auf einem gemeinsamen Prozess der Konzeptualisierung beruhen. So zeigt sich bei Jugendlichen, bei denen in der Kindheit eine UESS festgestellt wurde, eine hohe Rate an emotionalen Problemen, die sich vor allem in Angst und depressiven Symptomen ausdrücken (Conti-Ramsden & Botting, 2008). Zudem werden sprachgestörte Kinder häufiger Opfer von Mobbing (Knox & Conti-Ramsden, 2003; von Suchodoletz & Macharey, 2006). Vugs, Hendriks, Cuperus und Verho© 2016 Hogrefe

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even (2014) verglichen hierzu in ihrer Studie vier- bis fünfjährige Kinder mit UESS u. a. in ihren Fähigkeiten zur Planung und Organisation von Handlungen als auch in ihrer Emotionskontrolle mit einer unbeeinträchtigten Vergleichsgruppe. Es zeigte sich, dass die klinische Gruppe sowohl in der Handlungsplanung als auch in der Kontrolle von emotionalen Prozessen schlechtere Ergebnisse erzielte als die Referenzgruppe.

Verarbeitungsgeschwindigkeit Aufmerksamkeitsprozesse sind von zentraler Bedeutung für den Laut- und Schriftspracherwerb, da sie eng mit der Verarbeitungsgeschwindigkeit und den Prozessen des Arbeitsgedächtnisses verbunden sind und diese modulieren (Heidler, 2008). So postulierten bereits Windsor und Hwang (1999), dass Kinder mit UESS eine generelle Verlangsamung aufweisen, die sich in ihrer Untersuchung sowohl bei Kindern mit expressiver Sprachentwicklungsstörung als auch bei kombiniert expressiv-rezeptiver Sprachentwicklungsstörung zeigte. Defizite in der Verarbeitungsgeschwindigkeit äußern sich unter anderem in verlangsamten Reaktionszeiten von Kindern mit Sprachdefiziten (Leonard et al., 2007). Dabei konnten sowohl Miller et al. (2006) als auch Im-Bolter, Johnson und Pascual-Leone (2006) eine Verlangsamung beobachten, die sich sowohl bei der Bearbeitung von sprachrelevanten als auch bei nonverbal-kognitiven Aufgaben zeigte.

Bilinguale Sprecher und exekutive Funktionen Verschiedene Studien wiesen nach, dass Bilingualität sich positiv auf die Entwicklung von exekutiven Funktionen auswirkt (vgl. Bialystok, 2009). Adescope, Lavin, Thompson und Ungerleider (2010) belegten mit ihrer Meta-Analyse zu exekutiven Funktionen, dass Mehrsprachigkeit im engen Zusammenhang mit erhöhter Aufmerksamkeitskontrolle, höheren Leistungen im Arbeitsgedächtnis und einem besseren metasprachlichen Bewusstsein steht. Vorteile der bilingualen Kinder im Vergleich zu ihren monolingualen Altersgenossen zeigen sich insbesondere in Aufgaben, in denen Aufmerksamkeitsund Inhibitionsprozesse abgerufen werden. Bilinguale Kinder sind dabei besser in der Lage zielbezogene Informationen auszuwählen und zu nutzen (Carlson & Meltzoff, 2008; Colzato, Bajo, van den Wildenberg & Paolieri, Zeitschrift für Neuropsychologie (2016), 27 (1), 37–51


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J. Melzer et al., Kognitive Kompetenzen und Sprachentwicklung bei Kindern im Alter zwischen vier und fünf Jahren

2008). Eine Erklärung hierfür könnte sein, dass Kinder, die zweisprachig aufwachsen, schon früh vor der Herausforderung stehen sprachlich relevante Informationen zu filtern und diese für die Aneignung verschiedener Sprachsysteme zu nutzen (Colzato et al., 2008).

lich kann häufig von den betroffenen Kindern die benötigte Geduld, z. B. beim Sprecherwechsel, nicht aufgebracht werden. Auch werden Defizite im Arbeitsgedächtnis und der Daueraufmerksamkeit mit einem unstrukturierten Sprachstil assoziiert (Green et al., 2014).

Pragmatik und kognitive Basiskompetenzen

Ziele und Fragestellungen

Unter dem Begriff Pragmatik wird die Anpassung der Sprache an personale, temporale und lokale Gegebenheiten verstanden (El Mogharbel & Deutsch, 2007). Pragmatische Fähigkeiten stellen eine wichtige Voraussetzung für eine angemessene sprachliche Auseinandersetzung mit der Umwelt in verschiedenen Kontexten dar. Sie schließt dabei u. a. das richtige Anwenden von Kommunikationsregeln und Formen sowie den Sprecherwechsel und die Erzählfähigkeit ein (Barrett, 1999; Kannengieser, 2012). Im Diagnostischen und Statistischen Manual Psychischer Störungen (DSM-5; Falkai & Wittchen, 2015) stellt die soziale (pragmatische) Kommunikationsstörung erstmalig eine eigene Kategorie in einem Klassifikationssystem dar. Die Störung ist durch Defizite in der verbalen und nonverbalen Kommunikation gekennzeichnet. Die betroffenen Kinder haben Schwierigkeiten, die Kommunikation an den Kontext oder die Bedürfnisse des Gesprächspartners anzupassen oder Kommunikationsregeln zu beachten (Falkai & Wittchen, 2015). Sie äußert sich u. a. durch einen unangemessenen Rededrang, Schwierigkeiten beim Sprecherwechsel oder mangelnden Einsatz nonverbaler Kommunikationsformen (Glück, 2007). Zudem können Schwierigkeiten im Verständnis des emotionalen Inhalts von Gesichtsausdrücken oder Gesten sowie bei der richtigen Einschätzung des situativen Kontextes bestehen (Timler, 2005). Oft geht eine Störung der pragmatischen Kompetenzen mit eingeschränkten Kommunikations- und Interaktionserfahrungen, niedrigem Selbstbewusstsein und Verhaltensproblemen einher (Helland, Lundervold, Heimann & Posserud, 2014; Möller & Ritterfeld, 2010; Nation, 2008). Als mögliche Ursache für die soziale pragmatische Kommunikationsstörung werden zunehmend exekutive Funktionen diskutiert (Bradford, Jentzsch & Gomes, 2015; Green, Johnson & Bretherton, 2014). So erklären Engelhardt, Ferreira und Nigg (2009) Defizite in der Pragmatik mit geringen Fähigkeiten in der Inhibition und der Handlungsplanung und Organisation. Die Kinder sind durch die eingeschränkten exekutiven Funktionen nicht in der Lage ihre Gesprächsanteile zu strukturieren und erscheinen oft desorganisiert im Austausch mit anderen. ZusätzZeitschrift für Neuropsychologie (2016), 27 (1), 37–51

Die dargestellten Studienergebnisse zeigen, dass insbesondere bei Kindern mit UESS Defizite in den verschieden exekutiven Funktionen nachzuweisen sind. Die vorliegende Arbeit befasst sich mit der Frage, ob sich diese Unterschiede zwischen sprachentwicklungsgestörten Kindern und unbeeinträchtigten Gleichaltrigen, auch für den Vergleich einer Risikogruppe mit Defiziten im Wortschatz und/oder der Grammatik und einer sprachlich unauffälligen Gruppe replizieren lassen. Dabei soll weiter festgestellt werden, in welchen Bereichen mögliche Diskrepanzen vorliegen. Ausgehend von der aktuellen Forschungsliteratur wird vermutet, dass Kinder mit geringeren sprachlichen Fähigkeiten auch niedrigere Leistungen in der nonverbalen Intelligenz, in den exekutiven Funktionen, der auditiven Merkfähigkeit und der Verarbeitungsgeschwindigkeit aufweisen als ihre Vergleichsgruppe. Anschließend wird untersucht inwiefern kognitive Basiskompetenzen zur Erklärung der pragmatischen Kompetenz von Kindern im Vorschulalter beitragen. Es wird davon ausgegangen, dass basale kognitive Fähigkeiten auch für den Erwerb der Pragmatik eine bedeutsame Rolle einnehmen.

Methode Design Die Datenerhebung erfolgte von September 2014 bis Februar 2015 in Kindergärten und Kindertagesstätten in Bremen und Niedersachsachen im Rahmen der Normierung des Sprachstandserhebungstests für Kinder im Alter zwischen 3 und 5 Jahren (SET 3 – 5; Petermann, 2016). Die Teilnahme war freiwillig. Es wurden nur Kinder überprüft, für die ein schriftliches Einverständnis der Eltern vorlag. Die Eltern wurden gebeten, zusätzlich zum Verhaltensinventar zur Beurteilung exekutiver Funktionen für das Kindergartenalter (BRIEF-P; Daseking & Petermann, 2013), einen Fragebogen zur Sprachentwicklung ihres Kindes auszufüllen. Mit den Kindern wurde neben © 2016 Hogrefe


J. Melzer et al., Kognitive Kompetenzen und Sprachentwicklung bei Kindern im Alter zwischen vier und fünf Jahren

dem SET 3 – 5 auch die Wechsler Nonverbal Scale of Ability (WNV; Petermann, 2014) durchgeführt. Aufgrund ihrer aktuellen Normierung, ihrer nachgewiesenen Güte und ihrer Eignung für die untersuchte Altersgruppe fiel die Entscheidung auf die, im Folgenden genauer beschriebenen, Instrumente. Darüber hinaus erfüllt der SET 3 – 5 (Petermann, 2016) als eines der wenigen Verfahren die Anforderungen der interdisziplinären S2k-Leitlinie zur Diagnostik von Sprachentwicklungsstörungen (2011). Um auf die individuellen Bedürfnisse und den Entwicklungsstand der Kinder eingehen zu können, wurde sich für Testverfahren entschieden, die im Einzelsetting durchführbar sind (SET 3 – 5, WNV). In Anbetracht des Alters der Kinder und der Durchführungszeit der Überprüfungen wurde sich gegen die Durchführung eines weiteren Testverfahrens und für die Einschätzung der exekutiven Funktionen über einen Elternfragebogen entschieden.

Stichprobe Die nachfolgenden Analysen basieren auf den Ergebnissen von 138 Kindern (71 Mädchen, 67 Jungen) mit einem durchschnittlichen Alter von 59 Monaten (SD = 7,19; min.: 48, max.: 71). Um die kognitiven Basiskompetenzen von Kindern mit und ohne Sprachdefiziten vergleichen zu können, erfolgte die Einteilung in die Gruppe der Kinder mit Sprachproblemen (Risikogruppe = RG) und der unbeeinträchtigten Vergleichsgruppe (VG) auf Basis der Fähigkeiten im Wortschatz und in der Grammatik, da diese als zentrale Symptome einer UESS gelten (von Suchodoletz, 2013). Für die VG wurde festgelegt, dass kein auffälliges Ergebnis in einem dieser beiden Sprachbereiche vorliegen durfte. Weiter wurden keine Kinder aufgenommen, die sich zum Zeitpunkt der Erhebung in sprachtherapeutischer Behandlung befanden. Der RG wurde eine hinsichtlich des Alters, Geschlechts, Migrationshintergrundes, mütterlichen Bildungsniveaus und der Lingualität (monolingual, bilingual) vergleichbare Gruppe gegenübergestellt (siehe Tabelle 1). In der vorliegenden Studie wurden nur vollständige Datensätze berücksichtigt. Allerdings lagen für 15 Kinder keine vollständig ausgefüllten Elternchecklisten zur Erfassung der pragmatischen Fähigkeiten vor, weshalb diese Kinder von den Analysen zur Pragmatik ausgeschlossen wurden. Zudem wurden nur Kindern einbezogen, die einen nonverbalen IQ ≥ 70 aufwiesen. Die Gruppen wurden abschließend bezüglich ihres durchschnittlichen nonverbalen IQ verglichen. Die Analyse zeigte keinen signifikanten Unterschied in den Mittelwerten (t(136) = 1.22, p = .223) zwischen der VG (IQ = 94.30) und der RG (IQ = 91.84). © 2016 Hogrefe

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Instrumente Sprachstandserhebungstest für Kinder im Alter zwischen 3 und 5 Jahren (SET 3 – 5) Der SET 3 – 5 ist ein allgemeiner Sprachtest für Kinder im Alter zwischen 3;0 und 5;11 Jahren und ermöglicht eine an den Entwicklungsstand angepasste, umfassende Beurteilung sprachlicher Fähigkeiten und zentraler Basiskompetenzen des Spracherwerbs (Petermann, 2016). Für die Gruppeneinteilung der vorliegenden Studie wurden der UT 2 Bildbenennung zur Einschätzung der aktiven Wortschatzleistung sowie der UT 9 Handlungssequenzen nachspielen zur Beurteilung des rezeptiven Satzverständnisses herangezogen. Zusätzlich wurden der UT 5 Sternsuche (Verarbeitungsgeschwindigkeit) und der UT 11 Kunstwörter nachsprechen (auditive Merkfähigkeit) als kognitive Basiskompetenzen in die Analysen einbezogen. Zur Beantwortung der zweiten Fragestellung dieser Studie wurden die Ergebnisse der Elterncheckliste zur Erfassung der pragmatisch-kommunikativen Fähigkeiten betrachtet. Hierbei handelt es sich um einen standardisierten Elternfragebogen der verschiedene Bereiche des Kommunikations- und Interaktionsverhaltens und der Erzählfähigkeit erfragt. Den Eltern werden Aussagen vorgelegt, zu denen sie einschätzen sollen, ob diese für ihr Kind zutreffend sind oder nicht (z. B. „Mein Kind stellt selbst Fragen im Alltag (Warum, Wann, usw.).“, „Mein Kind unterbricht andere während eines Gesprächs häufig.“ oder „Mein Kind kann kurze Geschichten ohne Unterstützung wiedergeben.“). Für die Berechnungen der vorliegenden Studie wurden die T-Werte der UT und der Elterncheckliste in die Analysen einbezogen. Die Normierung des Verfahrens basiert auf N = 1.095 Kindern. Es liegen separate Normen für sechs Altersgruppen vor. Die internen Konsistenzen (α = .71 – .93) sprechen für eine zufriedenstellende bis gute Homogenität der einzelnen UT. Erste Analysen zur Retest-Reliabilität und Kriteriumsvalidität belegen die Stabilität und die Aussagekraft des Verfahrens (Petermann, 2016).

Wechsler Nonverbal Scale of Ability (WNV) Die WNV (Petermann, 2014) ist ein nonverbaler Intelligenztest für die Altersgruppe von 4;0 bis 21;11 Jahren. Durch bildunterstützte Instruktionen können mit der WNV auch die Leistungen von Testpersonen erfasst werden, die die deutsche Sprache nicht oder nicht ausreichend verstehen. Zeitschrift für Neuropsychologie (2016), 27 (1), 37–51


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Tabelle 1. Alters- und Geschlechtsverteilungen der Stichproben sowie Angaben zum mütterlichen Bildungsniveau und Migrationshintergrund VG (n = 69)

RG (n = 69)

Teststatistiken

Gesamt (N = 138)

M

58.93

59.23

t(136) = -.25, p = .805

59.08

(SD)

(7.39)

(7.03)

(7.19)

48 – 71

48 – 71

48 – 71

männlich

33

34

weiblich

36

35

13

17

Alter (Monate)

min.-max. Geschlecht

χ2(1) = 0.29, p = .865

67 71

Bildungsniveau niedrig mittel

31

36

hoch

25

16

Ja

29

38

Nein

40

31

nur Deutsch

39

34

Sprich und/oder versteht außer Deutsch noch min. eine andere Sprache

30

35

30 2

χ (2) = 2.88, p = .237

67 41

Migrationshintergrund χ2(1) = 2.35, p = .125

67 71

Sprachen χ2(1) = 0.73, p = .394

73 65

Anmerkungen. Bildungsniveau = höchster Schulabschluss der Mutter (niedrig= keinen oder Hauptschule; mittel = Real- oder Mittelschule; hoch = Abitur).

Das Verfahren liegt in zwei altersspezifischen Versionen vor (4;0 bis 7;11 Jahre und 8;0 bis 21;11 Jahre). Der nonverbale IQ wurde anhand der zwei UT Matrizen-Test und Formen wiedererkennen bestimmt. Für die UT liegen die Kennwerte zur Messgenauigkeit zwischen r = .72-.90. Die Reliabilität für die 2-UT-Batterie liegt bei .90. Für die Retest-Reliabilität wird ein Kennwert von .78 für den Altersbereich 4;0 – 7;11 Jahre angegeben (Petermann, 2014).

Verhaltensinventar zur Beurteilung exekutiver Funktionen für das Kindergartenalter (BRIEF-P) Das BRIEF-P (Daseking & Petermann, 2013) ist ein Fragebogen zur Einschätzung der exekutiven Funktionen von Kindern im Alter von 2;0 bis 6;11 Jahren. Es kann sowohl von Eltern als auch von anderen nahestehenden Personen, wie beispielsweise der Erzieherin, ausgefüllt werden. Es können Werte für die Skalen Inhibition, Aufmerksamkeitswechsel, Emotionale Kontrolle, Arbeitsgedächtnis und Planen/Organisieren erhoben werden. Darüber hinaus beZeitschrift für Neuropsychologie (2016), 27 (1), 37–51

steht die Möglichkeit diese Werte in Indizes (Inhibitorische Selbstkontrolle, Flexibilität, Metakognitive Entwicklung) und einen Gesamtwert zu überführen. Sowohl für die Eltern- als auch die Erzieherversion liegen alters- und geschlechtsspezifische Normen vor (N = 460). Dabei stehen hohe T-Werte im Sinne einer Problemskala für niedrige Leistungen in den exekutiven Funktionen. Die internen Konsistenzen für die Skalen (α = .75-.89), die Indizes (α = .86-.91) und den Gesamtwert (α = .95) der Elternversion sprechen für eine gute Homogenität. Analysen zur Retest-Reliabilität und Validitätsstudien bestätigen die Stabilität und die Aussagekraft des Verfahrens (Daseking & Petermann, 2013).

Statistische Auswertung Die Auswertung der Daten erfolgte mittels der Software IBM SPSS Statistics Version 22. Für die deskriptiven Analysen wurden zunächst die Häufigkeiten und Verteilungsparameter bestimmt. Zur Überprüfung möglicher Gruppenunterschiede auf Skalenebene im BRIEF-P, in der © 2016 Hogrefe


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Verarbeitungsgeschwindigkeit (SET 3 – 5) und in der auditiven Merkfähigkeit (SET 3 – 5) wurden univariate und multivariate Varianzanalysen (ANOVA, MANOVA) berechnet. Die Gruppenzugehörigkeit (VG, RG) ging als unabhängige Variable (UV) in alle Analysen ein, wobei die entsprechenden T-Werte im BRIEF-P und in den Untertests Sternsuche und Kunstwörter nachsprechen des SET 3 – 5 als abhängige Variablen (AV) aufgenommen wurden. Zur Überprüfung möglicher Effekte der Gruppe auf exekutive Funktionen wurden für die multivariate Varianzanalyse im Vorfeld die Voraussetzungen überprüft. Um den Einfluss verschiedener kognitiver Basiskompetenzen auf die Pragmatik zu überprüfen, wurde anschließend eine multiple hierarchische Regressionsanalyse durchgeführt. Hierfür wurden ebenfalls die Voraussetzungen im Vorfeld überprüft und bivariate Korrelationen betrachtet.

Ergebnisse Analyse möglicher Gruppenunterschiede in den kognitiven Basiskompetenzen Der Vergleich der beiden Gruppen (VG, RG) zeigt, dass die VG in allen BRIEF-P Skalen niedrigere Mittelwerte und somit geringere Problemwerte erzielt als die RG (Tabelle 2). In den Bereichen Verarbeitungsgeschwindigkeit und auditive Merkfähigkeit erzielen die Kinder der VG höhere Ergebnisse und somit auch bessere Leistungen als die Kinder der RG. Dies konnte auch auf Lingualitätsebene (monolingual, bilingual) für den Vergleich der VG mit der RG belegt werden. So zeigen die bilingualen Kinder der RG überwiegend höhere Mittelwerte in den Skalen des BRIEF-P als auch niedrigere Leistungen in der Verarbeitungsgeschwindigkeit als die bilinguale VG. Die Analyse ergab für den Faktor Gruppe (F(7, 128) = 3.902, p = .001, ŋ² = .18) einen großen, multivariaten Effekt. Anhand der Mittelwerte wird deutlich, dass die VG insgesamt über bessere kognitive Basiskompetenzen verfügt als die RG. Im Gegensatz dazu konnten für den Faktor Lingualität (F(7, 128) = 1.198, p = .309) und die Interaktion Gruppe*Lingualität (F(7, 128) = 0.666, p = .700) keine statistisch bedeutsamen Effekte auf die kognitiven Basiskompetenzen nachgewiesen werden. Anhand der univariaten Teststatistiken zeigt sich insbesondere im Bereich der Verarbeitungsgeschwindigkeit ein deutlicher Vorteil der sprachlich unbeeinträchtigten Kinder im Vergleich zur RG. Hier konnte die Analyse einen mittleren Effekt des Faktors Gruppe belegen (F(1, 134) = 15.419, p = .000, ŋ² = .10). Weitere Effekte können für das Arbeitsgedächtnis (F(1, 134) = 8.673, p = .004, ŋ² = .06), für das Planen und Organisieren © 2016 Hogrefe

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(F(1, 134) = 7.319, p = .008, ŋ² = .05) und die auditive Merkfähigkeit (F(1, 134) = 3.960, p = .049, ŋ² = .03) nachgewiesen werden. Allerdings sind diese insgesamt als klein zu bewerten. Für die Skalen emotionale Kontrolle (F(1, 134) = 3.467, p = .065, ŋ² = .03), Aufmerksamkeitswechsel (F(1, 134) = 2.739, p = .100) und Inhibition (F(1, 134) = 2.567, p = .111) konnten keine Effekte aufgezeigt werden.

Zusammenhang von kognitiven Basiskompetenzen und der Pragmatikleistung Zunächst wurden bivariate Korrelationen zwischen den kognitiven Basiskompetenzen und den Elterneinschätzungen zu den pragmatisch-kommunikativen Fähigkeiten ihrer Kinder betrachtet (Tabelle 3). Als Kontrollvariablen wurden in diesem Zusammenhang das mütterliche Bildungsniveau, das Geschlecht, der Migrationshintergrund, die Lingualität und der nonverbale IQ berücksichtigt. Mittlere Korrelationen konnten für die BRIEF-P Skalen Inhibition (r = -.363), Planen und Organisieren (r = -.441) und Arbeitsgedächtnis (r = -.481) belegt werden. Weiter konnten für den Aufmerksamkeitswechsel (r = -.250), die emotionale Kontrolle (r = -.287), die Verarbeitungsgeschwindigkeit (r = .237), das Geschlecht (r = -.200) sowie für die auditive Merkfähigkeit (r = .266) geringe Zusammenhänge nachgewiesen werden. Zwischen der Pragmatik und dem Migrationshintergrund, dem mütterlichen Bildungsniveau, der nonverbalen Intelligenzleistung als auch der Lingualität konnten keine bedeutsamen Zusammenhänge nachgewiesen werden. Ergänzend zu den Kontrollvariablen und den Variablen der kognitiven Basiskompetenzen fanden auch die Wortschatz- und Grammatikleistung in der Analyse Berücksichtigung. Hierbei zeigten sich ebenfalls geringe Korrelationen mit den pragmatisch-kommunikativen Fähigkeiten (Wortschatz: r = .221; Grammatik: r = .198). Anschließend wurde für die Gesamtstichprobe (N = 123) eine lineare hierarchische multiple Regression gerechnet. Als mögliche Prädiktoren wurden die Variablen ausgewählt, die mit dem Kriterium Pragmatik signifikant korrelierten.

Vorhersage der pragmatisch-kommunikativen Fähigkeiten Als Variablen für die Vorhersage der Pragmatikleistung konnten in der hierarchische linearen Regression insbesondere das Arbeitsgedächtnis (β = -.47, p= .000), das Zeitschrift für Neuropsychologie (2016), 27 (1), 37–51


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Tabelle 2. Mittelwerte und Standradabweichungen in den BRIEF-P-Skalen, in der Verarbeitungsgeschwindigkeit und auditiv Merkfähigkeit (SET 3 – 5) der VG und RG und Ergebnisse der MANOVA Teststatistiken AV

M

SD

VG

48.01

8.18

RG

50.68

10.35

IN

VG

48.28

8.54

RG

51.00

9.79

AW

VG

46.17

8.62

EK RG VG

49.57 46.90

11.56 8.69

AG RG VG

51.94 46.13

10.82 10.64

PO RG

51.22

11.09

VG

54.49

8.25

RG

50.57

10.56

VA

VG

54.09

11.79

AM RG

48.24

8.06

M

SD

MG

47.26

7.76

BG

49.00

8.74

MG

51.47

10.49 10.31

BG

49.91

MG

47.54

7.08

BG

49.23

10.18

MG

50.91

8.78

BG

51.09

10.81

MG

45.31

8.33

BG

47.30

9.00

MG

49.68

12.18

BG

49.46

11.11

MG

46.23

7.79

BG

47.77

9.81

MG

52.94

10.62

BG

50.97

11.07

MG

45.82

10.72

BG

46.53

10.71

MG

52.09

10.68 11.55

BG

50.37

MG

54.46

8.22

BG

54.53

8.43

MG

48.32

9.02

BG

48.97

9.17

MG

53.46

11.06

BG

54.90

12.83

MG

46.09

10.94

BG

54.91

8.22

F

df1, df2

p

ŋ²

2.567

1, 134

.111

.02

2.739

1, 134

.100

.02

3.467

1, 134

.065

.03

8.673

1, 134

.004

.06

7.319

1, 134

.008

.05

15.419

1, 134

.000

.10

3.960

1, 134

.049

.03

Anmerkungen. AG = Arbeitsgedächtnis; AM = Auditive Merkfähigkeit; AW = Aufmerksamkeitswechsel; BG = Bilinguale Gruppe; EK = Emotionale Kontrolle; IN = Inhibition; MG = Monolinguale Gruppe; PO = Planen/Organisieren; VA = Verarbeitungsgeschwindigkeit. Klassifikation der Effektstärken nach Cohen (1988): ŋ² > .01 = klein, ŋ² > .06 = mittel, ŋ² > .13 = groß.

Geschlecht (β = -.24, p = .002) und der Wortschatz (β = .18, p= .026) identifiziert werden (Tabelle 4). Mit diesem Modell werden 32 % der Varianz (korrigiertes R2; R = .564) der pragmatischen Fähigkeiten erklärt (F = 18.551; df = 3; p = .000). Anhand der standardisierten Beta-Koeffizienten wird deutlich, dass der Prädiktor Arbeitsgedächtnis die größte Varianzaufklärung (23 %) besitzt. Das Geschlecht (6 %) und der Wortschatz (3 %) tragen vergleichsweise wenig zur Varianzaufklärung in dem Modell bei. Folglich verfügen Mädchen mit hohen Leistungen im Arbeitsgedächtnis und einem umfangreichen aktiven Wortschatz auch über besonders gute pragmatische Fähigkeiten, wohingegen das männliche Geschlecht, eine geringe Leistung im Arbeitsgedächtnis und ein eingeschränkter Wortschatz eher mit niedrigen pragmatischen Kompetenzen im Zusammenhang stehen. Die übZeitschrift für Neuropsychologie (2016), 27 (1), 37–51

rigen Variablen wurden für dieses Modell ausgeschlossen (Verarbeitungsgeschwindigkeit: β = .15, p = .058; Inhibiton: β = -.08, p = .427; Aufmerksamkeitswechsel: β = -.12, p = .141; emotionale Kontrolle: β = -.07, p = .409; Planen und Organisieren: β = -.20, p = .094; Wortschatz: β = .11, p = .184; Grammatik: β = .05, p = .555).

Diskussion In der vorliegenden Studie wurde einerseits der Frage nachgegangen, ob sich Kinder mit Defiziten in der Sprache in ihren kognitiven Basiskompetenzen von unbeeinträchtigten Gleichaltrigen unterscheiden und wenn ja, in © 2016 Hogrefe


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Tabelle 3. Zusammenhangsmaße zwischen möglichen Prädiktoren und Pragmatik Prädiktor

Pragmatik

Geschlecht

r p

-.200* .027

Migrationshintergrund

r p

.002 .979

Lingualität

r p

.033 .718

Mütterliches Bildungsniveau

r p

.170 .060

Nonverbaler IQ

r p

.145 .110

VA

r p

.237** .008

AM

r p

.266** .003

IN

r p

-.363** .000

AW

r p

-.250** .005

EK

r p

-.287** .001

AG

r p

-.481** .000

PO

r p

-.441** .000

Wortschatz (UT 2)

r p

.221** .014

Grammatik (UT 9)

r p

.198* .028

Anmerkungen. AG = Arbeitsgedächtnis; AM = Auditive Merkfähigkeit; AW = Aufmerksamkeitswechsel; EK = Emotionale Kontrolle; IN = Inhibition; PO = Planen/Organisieren; VA = Verarbeitungsgeschwindigkeit; p = Signifikanzniveau, * p < .05. ** p < .01; r = Rangkorrelationskoeffizient nach Pearson. Bewertung der Korrelationskoeffizienten nach Cohen (1988): r ≥ 0.1 = geringe Korrelation, r ≥ 0.3 = mittlere Korrelation, r ≥ 0.5 = hohe Korrelation.

Tabelle 4. Zusammenfassung der hierarchischen Regressionsanalyse zur Vorhersage der pragmatischen Fähigkeiten für die Gesamtstichprobe (N = 123) Prädiktor

T

p

R2

14.96

.000

.23

-6.03

.000

14.57

.000

-6.49

.000

-.24

-3.13

.002

9.30

.000

.11

-.47

-6.03

.000

-6.86

2.20

-.24

-3.14

.002

.22

.10

.18

2.26

.026

B

SE

β

86.03

5.75

-.69

.12

97.89

6.72

-.72

.11

-.50

-6.97

2.23

83.97

9.03

-.67

Geschlecht Wortschatz

ΔR2

Schritt (Konstante) Arbeitsgedächtnis

-.48

Schritt (Konstante) Arbeitsgedächtnis Geschlecht

.29

.06

.32

.03

Schritt (Konstante) Arbeitsgedächtnis

Anmerkungen. B = nicht-standardisierter Regressionskoeffizient; β = standardisierter Regressionskoeffizient; SE = Standardfehler.

© 2016 Hogrefe

Zeitschrift für Neuropsychologie (2016), 27 (1), 37–51


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welchen spezifischen Bereichen diese Diskrepanz festzustellen ist. Erwartungsgemäß zeigt sich, dass Kinder ohne sprachliche Defizite auch in den basalen kognitiven Kompetenzen bessere Leistungen erzielen als Kinder mit sprachlichen Defiziten. Im Einklang mit vorherigen Ergebnissen schnitt die VG insbesondere in der Verarbeitungsgeschwindigkeit deutlich besser ab als die RG (Archibald & Gathercole, 2006b; Im-Bolter et al., 2006; Rißling, Melzer & Petermann, 2015). Dies geht mit der Annahme konform, dass Sprachbeeinträchtigungen oft durch eine verlangsamte Verarbeitungsgeschwindigkeit gekennzeichnet sind (Leonard et al., 2007; Miller et al., 2006). Darüber hinaus zeigen die Kinder der VG nach Einschätzung der Eltern sowohl einen geringeren Problemwert in der Handlungsplanung, dem Arbeitsgedächtnis als auch knapp bessere Leistungen in der auditiven Merkfähigkeit. Diese Ergebnisse stehen im Einklang mit aktuellen Forschungsergebnissen (Henry et al., 2012; Vugs et al., 2014). Hasselhorn und Grube (2003) belegten beispielsweise, dass Kinder mit UESS deutlich niedrigere Leistungen bei der Wiedergabe von Kunstwörtern erzielen als sprachunauffällige Kinder (vgl. auch Knievel, Daseking & Petermann, 2010). Janczyk, Schöler und Grabowski (2004) konnten zudem in ihrer Untersuchung beim Vergleich von Kindern mit Sprachdefiziten und einer unbeeinträchtigten Kontrollgruppe Unterschiede im Bereich der phonologischen Schleife nachweisen. Kinder mit Sprachbeeinträchtigungen erreichten demnach im Kunstwörter nachsprechen, aber auch in den Bereichen Zahlen-MerkSpanne und der Sprechrate, niedrigere Ergebnisse als die Vergleichsgruppe. Archibald und Gathercole (2006b) assoziieren die Wortschatzdefizite bei Kindern mit UESS mit diesen beobachteten Gedächtnisdefiziten. Auch wenn eine große Variation der Aufgabenstellungen zum Kunstwörter nachsprechen vorliegt (z. B. Form und Länge der verwendeten Wörter), konnten Graf Estes, Evans und Else-Quest (2007) in einer Meta-Analyse festhalten, dass Kinder mit UESS signifikant niedrigere Ergebnisse als unbeeinträchtigte Kinder erreichen. Keine bedeutsamen Unterschiede konnten für die VG und RG in den Bereichen Inhibition, emotionale Kontrolle und Aufmerksamkeitswechsel gefunden werden. Allerdings zeigt sich auf deskriptiver Ebene, dass Eltern von Kindern ohne sprachliche Beeinträchtigungen ihren Kindern stärkere Kompetenzen in der Inhibition sowie in der emotionalen bzw. Aufmerksamkeitskontrolle zuschrieben als dies für Eltern der RG der Fall war (vgl. Henry et al., 2012; Im Bolter et al., 2006; Vugs et al., 2014). Auch konnte kein Vorteil der bilingualen Kinder in den exekutiven Funktionen nachgewiesen werden. Zwar zeigen sich beispielsweise höhere Werte in der auditiven Merkfähigkeit für die bilinguale Gruppe, ein genereller Effekt konnte allerdings nicht nachgewiesen werden. Zeitschrift für Neuropsychologie (2016), 27 (1), 37–51

Zusammenfassend bedeutet dies für die erste Fragestellung, dass Kinder mit unauffälligen sprachlichen Fähigkeiten über bessere kognitive Basiskompetenzen verfügen als Gleichaltrige mit Defiziten in der Sprache. Dabei ist entscheidend, dass es sich bei der RG um Kinder mit Defiziten im Wortschatz und der Grammatik aus Regelkindergärten handelt, die keine diagnostizierte UESS aufweisen. Demnach kann bereits bei leichten Unterschieden in der Sprachkompetenz bei Kindern im Vorschulalter eine Diskrepanz in der Entwicklung von kognitiven Fähigkeiten festgestellt werden. Eine weitere Frage, mit der sich die vorliegende Studie auseinander setzt, ist die nach möglichen Prädiktoren der pragmatisch-kommunikativen Fähigkeiten. Im Zuge dessen wurden insbesondere kognitive Merkmale betrachtet. Die Ergebnisse zeigen, dass v. a. das Arbeitsgedächtnis einen entscheidenden Prädiktor für die Pragmatik darstellt. Dass sowohl das Arbeitsgedächtnis als auch andere exekutive Funktionen einen Einfluss auf die pragmatischen Fähigkeiten besitzen steht im Einklag mit BlainBrière, Bouchard und Bigras (2014), die in ihrer Studie den Zusammenhang von exekutiven Funktionen und Pragmatik bei Kindern im Alter von 3;10 bis 5;7 Jahren verglichen. Es zeigte sich, dass Kinder mit guten Leistungen im Arbeitsgedächtnis eher in der Lage waren an den Kontext angepasste Antworten zu formulieren und von ihrem Gegenüber besser verstanden wurden. Weiter konnte belegt werden, dass der Perspektivenwechsel, als wichtige Voraussetzung für pragmatische Fähigkeiten (Trautmann & Reich, 2008), den Abruf verschiedener kognitiver Fähigkeiten, wie beispielsweise schlussfolgerndes Denken und Problemlösekompetenz, erfordert (Ahmed & Miller, 2011; Bradford et al., 2015; Sabbagh, Xu, Carlson, Moses & Lee, 2006). Darüber hinaus zeigte sich auch, dass eine gute Wortflüssigkeit und das weibliche Geschlecht sich positiv auf die Fähigkeiten in der Perspektivübernahme auswirken (Ahmed & Miller, 2011). Besonders im deutschsprachigen Raum besteht aktuell ein Mangel an empirischen Studien im Bereich Pragmatik. Eine mögliche Erklärung liegt sicherlich in der Schwierigkeit der Operationalisierung der pragmatischen Fähigkeiten, da diese nur im Rahmen von Interaktion oder durch Fremdeinschätzungen erhoben werden können. Die vorliegende Arbeit ist (nach Kenntnis der Autoren) eine der ersten empirischen Studien, die für den deutschen Sprachraum kognitive Basiskompetenzen als Voraussetzungen für die pragmatischen Fähigkeiten in der untersuchten Altersgruppe analysiert. Sie liefert wichtige Erkenntnisse zur Bedeutung des Arbeitsgedächtnisses als Voraussetzung für die Entwicklung von kommunikativen Fähigkeiten und bildet eine Basis für weitere Forschung. So sollte im Hinblick auf zukünftige Forschung insbesondere der Zusammenhang von pragmatischen Defiziten © 2016 Hogrefe


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und Inhibitions- und Aufmerksamkeitsprozessen untersucht werden. Hierzu wäre empfehlenswert Kinder mit pragmatischer Störung und Kinder mit diagnostizierter Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) in ihren exekutiven Funktionen zu vergleichen. Staikova, Gomes, Tartter, McCabe und Halperin (2013) untersuchten in ihrer Studie den Zusammenhang von pragmatischen Fähigkeiten und sozialen Beeinträchtigungen und verglichen dabei Kinder mit ADHS und eine unbeeinträchtigte Gruppe. Es zeigte sich, dass auch bei kontrollierten sprachlichen Fähigkeiten die Kinder mit ADHS deutlich schlechtere pragmatische Fähigkeiten aufzeigten. Weitere Forschung in diesem Bereich könnte Aufschluss über die Ursachen und moderierenden Faktoren der pragmatischen Störung geben und Hinweise für die Therapie liefern. Abschließend soll diskutiert werden, ob die gefundenen Effekte für die erste untersuchte Fragestellung bedeutsam sind. In der vorliegenden Studie konnten kleine (emotionale Kontrolle, Arbeitsgedächtnis, Handlungsplanung und auditive Merkfähigkeit) bis mittlere Effekte (Verarbeitungsgeschwindigkeit) nachgewiesen werden. Oft wird in diesem Zusammenhang argumentiert, dass die Gruppenunterschiede auf individueller Variation innerhalb der Gruppen zurückzuführen sind (vgl. Lepach, Reimers, Pauls, Petermann & Daseking, 2015). Ein Grund für die als gering bis moderat einzuschätzenden Effekte könnte dabei die Zusammenstellung der Gruppen sein. Für die vorliegenden Untersuchungen wurden keine klinischen Fälle, sondern lediglich Risikokinder, mit einer sprachlich unauffälligen Gruppe verglichen, wodurch insgesamt kleinere Effekte zu erwarten sind. Darüber hinaus stimmen die Ergebnisse mit einer Vielzahl von wissenschaftlichen Befunden überein. In zukünftigen Studien müssen die Ergebnisse an größeren Stichproben bestätigt werden. Zudem erscheint es sinnvoll, zusätzlich zu der unbeeinträchtigten Vergleichs- und Risikogruppe auch eine klinische Gruppe ins Untersuchungsdesign aufzunehmen.

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specific language impairments: meta-analysis of controlled prospective studies. Journal of Child Psychology and Psychiatry, 54, 516 – 524. Manuskript eingereicht: 07. 08. 2015 Nach Revision angenommen: 03. 10. 2015 Interessenskonflikt: Nein Jessica Melzer Wissenschaftliche Mitarbeiterin Zentrum für Klinische Psychologie und Rehabilitation der Universität Bremen Grazer Str. 6 28359 Bremen Deutschland jmelzer@uni-bremen.de

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CME-Fragen 1. Frage: Die Prävalenz der Umschriebenen Entwicklungsstörungen des Sprechens und der Sprache liegt aktuell bei deutschen Kindern etwa zwischen: a. 0.1 % und 0.5 %. b. 0.6 % und 1.3 %. c. 1.4 % und 6.7 %. d. 5 % und 8 %. e. 8 % und 10 %.

4. Frage: Mehrsprachig aufwachsende Kinder besitzen im Vergleich zu ihren monolingualen Altersgenossen häufig Vorteile in: a. den Aufmerksamkeits- und Inhibitionsprozessen. b. der non-verbalen Intelligenz. c. der Merkfähigkeit. d. der Verarbeitungsgeschwindigkeit. e. den pragmatischen Kompetenzen.

2. Frage: Welche Komponente stellt sich in der vorliegenden Studie als zentral für den Spracherwerb heraus? a. Die Inhibition b. Der Aufmerksamkeitswechsel c. Die Verarbeitungsgeschwindigkeit d. Strategien zur Emotionsregulation e. Das Planen von sprachlichen Handlungen

5. Frage: Welche spezifischen Merkmale sind der sozialen (pragmatischen) Kommunikationsstörung zuzuordnen? a. Geringe lexikalische und grammatikalische Fähigkeiten b. Ein Störungsbeginn im späten Kindesalter c. Anhaltende Defizite in der Kommunikation auf verbaler sowie nonverbaler Ebene d. Eingeschränkte, sich wiederholende Verhaltensmuster, Interessen oder Aktivitäten e. Schwierigkeiten beim Abruf unbeeinträchtigter kommunikativer Fähigkeiten aufgrund von Ängsten oder Belastungen

3. Frage: Inwieweit kognitive Basiskompetenzen für pragmatisch-kommunikative Fähigkeiten von Bedeutung sind, ist im deutschen Sprachraum: a. empirisch gut belegt. b. bisher kaum beforscht. c. sehr umstritten. d. methodisch nicht nachweisbar. e. auszuschließen.

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J. Melzer et al., Kognitive Kompetenzen und Sprachentwicklung bei Kindern im Alter zwischen vier und fünf Jahren

Um Ihr CME-Zertifikat zu erhalten (mind. 3 richtige Antworten), schicken Sie bitte den ausgefüllten Fragebogen mit einem frankierten Rückumschlag bis zum 13. 04. 2016 an die nebenstehende Adresse. Später eintreffende Antworten können nicht mehr berücksichtigt werden.

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Herr Prof. Dr. Lutz Jäncke Universität Zürich, Institut für Psychologie Abteilung Neuropsychologie Binzmühlestrasse 14 Postfach 25 CH-8050 Zürich

Fortbildungszertifikat Die Ärztekammer Niedersachsen erkennt hiermit 1 Fortbildungspunkt an. Stempel

«Kognitive Kompetenzen und Sprachentwicklung bei Kindern im Alter zwischen vier und fünf Jahren» Die Antworten bitte deutlich ankreuzen! 1

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Zeitschrift für Neuropsychologie 01/2016

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Ich versichere, alle Fragen ohne fremde Hilfe beantwortet zu haben. Name Berufsbezeichnung, Titel Straße, Nr. PLZ, Ort Datum

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Unterschrift

Zeitschrift für Neuropsychologie (2016), 27 (1), 37–51


American Psychiatric Association

Diagnostische Kriterien DSM-5®

Deutsche Ausgabe herausgegeben von Peter Falkai und Hans-Ulrich Wittchen mitherausgegeben von Manfred Döpfner, Wolfgang Gaebel, Wolfgang Maier, Winfried Rief, Henning Saß und Michael Zaudig

American Psychiatric Association

Diagnostische Kriterien DSM-5® Deutsche Ausgabe herausgegeben von Peter Falkai und Hans-Ulrich Wittchen, mitherausgegeben von Manfred Döpfner, Wolfgang Gaebel, Wolfgang Maier, Winfried Rief, Henning Saß und Michael Zaudig

Das AMDP-System

Arbeitsgemeinschaft für Methodik und Dokumentation in der Psychiatrie (AMDP) (Hrsg.)

Manual zur Dokumentation psychiatrischer Befunde

Arbeitsgemeinschaft für Methodik und Dokumentation in der Psychiatrie (AMDP) (Hrsg.)

Das AMDP-System Manual zur Dokumentation psychiatrischer Befunde

9., überarbeitete und erweiterte Auflage

2015, LIX/467 Seiten, Kleinformat, € 59,95 / CHF 75,– ISBN 978-3-8017-2600-3 / Auch als E-Book erhältlich

9., überarb. Auflage 2016, 204 Seiten, Kleinformat, € 24,95 / CHF 32,50 ISBN 978-3-8017-2707-9 / Auch als E-Book erhältlich

Die diagnostischen Kriterien des Diagnostischen und Statistischen Manuals Psychischer Störungen (DSM) dienen als Leitlinie für die Diagnosestellung und klinische Beurteilung. Das vorliegende Taschenbuch enthält die diagnostischen Kriterien für alle offiziellen Störungsbilder gemäß der aktuellen Fassung des DSM-5.

Das AMDP-System dient der Dokumentation psychiatrischer Befunde und anamnestischer Daten. Es kann erfolgreich zur Ausbildung in Psychopathologie eingesetzt werden. In der Neubearbeitung wurden der Psychische und Somatische Befund gründlich überarbeitet. Zudem wurden Zusatzmerkmale als Ergänzung zu den bisherigen Symptomen eingeführt.

Leitfaden zur Erfassung des psychopathologischen Befundes

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Halbstrukturiertes Interview anhand des AMDP-Systems 4., überarbeitete und erweiterte Auflage

Erdmann Fähndrich Rolf-Dieter Stieglitz

Leitfaden zur Erfassung des psychopathologischen Befundes Halbstrukturiertes Interview anhand des AMDP-Systems

Diagnostik von Suizidalität

Thomas Forkmann Tobias Teismann Heide Glaesmer

Diagnostik von Suizidalität

Thomas Forkmann Tobias Teismann Heide Glaesmer

Kompendien Psychologische Diagnostik

4., überarb. und erw. Auflage 2016, 135 Seiten, Kleinformat, € 24,95 / CHF 32,50 ISBN 978-3-8017-2727-7 / Auch als E-Book erhältlich

(Reihe: „Kompendien Psychologische Diagnostik“, Band 14). 2016, 162 Seiten, € 24,95 / CHF 32,50 ISBN 978-3-8017-2639-3 / Auch als E-Book erhältlich

Der Interviewleitfaden ist für die Arbeit mit dem AMDP-System entwickelt worden und dient der Erfassung des psychopathologischen Befundes. Die Neubearbeitung berücksichtigt die aktuellen Veränderungen im AMDP-System.

Dieses Buch bietet erstmals für den deutschen Sprachraum einen umfassenden Überblick über diagnostische Techniken und Instrumente zur Erfassung von Suizidalität und stellt somit ein wichtiges Nachschlagewerk für die diagnostische Praxis dar.

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Nachrichten GNP-Förderpreis 2016 zur Förderung der Klinischen und Kognitiven Neuropsychologie Ausschreibung Die Gesellschaft für Neuropsychologie e.V. (GNP) möchte die Professionalisierung und die Forschung im Bereich der Klinischen und Kognitiven Neuropsychologie fördern. Unter anderem will sie diesem Ziel durch die Ausschreibung eines Förderpreises nachkommen, den sie jährlich an junge Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftler für herausragende Forschungsarbeiten auf dem Gebiet der Klinischen und Kognitiven Neuropsychologie vergibt. Der Preis soll jungen Nachwuchswissenschaftlern (Höchstalter 35 Jahre zzgl. Erziehungszeiten) aus Hochschulen oder aus außeruniversitären Einrichtungen (z. B. Rehabilitationskliniken) für hervorragende und beispielgebende Forschungsarbeiten im Bereich der Klinischen und Kognitiven Neuropsychologie verliehen werden.

eingereicht oder in diesem Zeitraum als Nachwuchswissenschaftler eine wissenschaftliche Arbeit verfasst haben. Vergleichbare akademische Leistungen im Ausland können ebenfalls berücksichtigt werden. Bevorzugt werden Arbeiten, die in deutsch- oder englischsprachigen Fachzeitschriften veröffentlicht wurden. Die eingereichten Arbeiten dürfen nicht schon anderweitig mit einem Preis ausgezeichnet worden sein. Wiederholte Bewerbungen mit derselben Arbeit werden nicht berücksichtigt. Der Rechtsweg gegen den Beschluss der Jury ist ausgeschlossen. Bewerber werden gebeten, bei der Einreichung Ihrer Unterlagen mitzuteilen, ob Sie an der Preisverleihung auf der Jahrestagung der Gesellschaft für Neuropsychologie teilnehmen können. Die Arbeit ist zusammen mit einer allgemeinverständlichen Zusammenfassung (PDF-Format, max. 1500 Zeichen inkl. Leerzeichen) und einem tabellarischen Lebenslauf (PDF-Format) bis 31. 05. 2016 per E-Mail bei der Geschäftsstelle der GNP einzureichen. GNP Geschäftsstelle Nikolausstraße 10 36037 Fulda Deutschland Tel.: +49 (0)6 61/9 01 96 65, Fax: +49 (0)6 61/9 01 96 92 fulda@gnp.de

Dotierung Der Preis ist mit EURO 1.000,– dotiert.

Vergabe des Preises Über die Verleihung des Preises entscheidet eine Jury, der Wissenschaftler auf dem Gebiet der Klinischen und Kognitiven Neuropsychologie angehören. Die Preisverleihung wird im Rahmen der Dreiländertagung der GNPÖ, SVNP-ASNP, GNP vom 20. – 22. Oktober 2016 in Würzburg stattfinden.

Verbandsnachrichten der Gesellschaft für Neuropsychologie Österreich (GNPÖ) Intern

Teilnahmevoraussetzungen

Im Zeitraum 16/08/2015 bis 23/12/2015 konnten folgende Kolleginnen/en zur/m Klinischen Neuropsychologin/en zertifiziert werden: Mag. Andreas Kaiser Maga. Rita Neubauer Maga. Melanie Pflüger Maga.Ulrike Neubauer Wir gratulieren sehr herzlich!

Die Ausschreibung richtet sich an Hochschulabsolventen, die ihre eingereichten Arbeiten in den vergangenen zwei Jahren als Diplom-/Masterarbeiten oder Dissertationen an einer deutschen Universität oder Hochschule

Giselher Guttmann Preis 2015 Die Gewinnerin mit dem Namenspatron des Preises: Die Präsidentin der GNPÖ mit den Kolleginnen und Kollegen, welche ihre Arbeiten eingereicht und im Rah-

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Zeitschrift für Neuropsychologie (2016), 27 (1), 53–63 DOI 10.1024/1016-264X/a000171


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Goldenes Doktordiplom für Giselher Guttmann Im Rahmen eines feierlichen Festakts an der Universität Wien wurde em. Univ. Prof. Dr. Giselher Guttmann das Goldene Doktordiplom überreicht – wir gratulieren sehr herzlich!

National

Abbildung 1. Daniela Pfabigan, Giselher Guttmann.

Abbildung 2. Sandra Lettner, Daniel Mayer, Anna Müller, Neeltje Obergfell, Marie-Theres Pertl, Christina Hartmann, Daniela Pfabigan, Florian Fischmeister, Laura Zamarian, Günther Sanin.

men der Jahrestagung in einem Impulsreferat vorgetragen haben: Im Rahmen der 17. Jahrestagung der GNPÖ wurde am 03. 10. 2015 bereits zum dritten Mal der Giselher Guttmann Preis verliehen. Der Preis wird jährlich an junge Kolleginnen/-en vergeben, deren Arbeit maßgeblich zum Erkenntnisgewinn im Bereich der Klinischen Neuropsychologie beiträgt. In diesem Jahr gab es insgesamt 11 Einreichungen; diese wurden dem wissenschaftlichen Beirat der GNPÖ zur Bewertung vorgelegt. Sämtliche Abstracts erscheinen in der Zeitschrift für Neuropsychologie Heft 1/ 2016. Der Giselher Guttmann Preis 2015 erging an Mag. Dr. Daniela M. Pfabigan für Ihre Arbeit zum „Einfluss des endogenen Opioidsystems auf neuronale Korrelate der Verhaltensüberwachung“. Wir gratulieren sehr herzlich! Der mit 500 Euro dotierte Preis wurde von em. Univ. Prof. Dr. Giselher Guttmann, der am Tag zuvor seinen 81. Geburtstag feierte, persönlich überreicht. Zeitschrift für Neuropsychologie (2016), 27 (1), 53–63

Am 24. 11. 2015 fand das 2. Österreichweite Vernetzungstreffen der Fachgruppe Kinder- und Entwicklungsneuropsychologie in Linz statt. Wir danken der Regionalgruppe Oberösterreich und somit vor allem Mag. Christine Völk und Mag. Alexandra Rechberger für die perfekte Organisation. Inhaltlich widmete sich die Veranstaltung dem Thema „Von Aufmerksamkeitsschwächen bis zur AD(H)S – Was kann die Klinische Neuropsychologie zur Aufmerksamkeitsdiagnostik im Kindes- und Jugendalter beitragen?“ Vortragende waren Mag. Liesa J. Weiler aus Wien, Dr. Dipl. Psych. Bruno Fimm aus Aachen und Prof. Dr. Lothar Schmidt-Atzert aus Marburg. Insgesamt waren 45 KollegInnen bei der Veranstaltung anwesend, was den Wert der Veranstaltung und die Wichtigkeit des Themas unterstreicht. Durch die aktive Beteiligung konnte ein Statement-Papier entwickelt werden, welches in Zukunft – in Ermangelung von Leitlinien für die Aufmerksamkeitsdiagnostik und -behandlung im Kinder- und Jugendbereich – maßgeblich zur Qualitätssicherung in diesem Bereich beitragen soll. Das Statement-Papier und die Vortragsunterlagen sind unter www.gnpoe.at abrufbar

Berufspolitik Wie bereits berichtet, trat mit 1. 7. 2014 in Österreich das Psychologengesetz 2013 (BGBl. Nr. 182/2013) in Kraft. Klinische Neuropsychologinnen/-en können ihre Zusatzqualifikation bereits im Rahmen der im Gesetzestext genannten Spezialisierungsmöglichkeiten eintragen und damit schützen lassen. Die Voraussetzungen dafür sind der Besuch eines zumindest 120 Einheiten umfassenden Weiterbildungscurriculums sowie eine mehrjährige berufliche schwerpunktspezifische Tätigkeit. Beides ist durch die Ausbildung zur/zum Klinischen Neuropsychologin/en eindeutig gegeben. Weiters ist klar, dass der neu formulierte Tätigkeitsvorbehalt die Anwendung der Klinischen Neuropsychologie bzw. deren Methoden gegenüber nicht fachgerechten Praktiken anderer Berufsgruppen schützen wird. Sowohl die Spezialisierung, als auch den Tätigkeitsvorbehalt betreffend, wurden im Bundesministerium für Ge© 2016 Hogrefe


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sundheit Arbeitsgruppen eingerichtet, in denen die Möglichkeiten der Umsetzung der gesetzlichen Vorgaben diskutiert werden. Zudem bemüht sich die GNPÖ weiterhin die Situation für Klinische Neuropsychologinnen und Neuropsychologen im Rahmen der Kollektivvertragsverhandlungen für Reha-Einrichtungen zu verbessern sowie auch Fachausbildungsstellen in diesen Einrichtungen zu ermöglichen.

International Sandra Lettner wird als Delegierte der Federation of European Societies of Neuropsychology (FESN) zur Gründung der Task Force Neuropsychology innerhalb der European Federation of Psychologist’s Associations (EFPA) im Februar nach Brüssel reisen. Diese international besetzte Task Force wird auf europäischer Ebene das beratende Gremium der EFPA sein, welche den Kontakt zur Europäischen Union darstellt. Die FESN bekommt ein neues Gesicht in Form einer neuen Webpage. Im Laufe des Jahres wird die vorhandene Homepage optisch neu gestaltet und technisch frisch konzipiert. Die GNPÖ ist für die Webadministration der FESN verantwortlich, Sandra Lettner wird diese neu aufsetzen. Wir dürfen gespannt sein.

Terminaviso Von 20. – 22. 10. 2016 findet in Würzburg eine gemeinsame Jahrestagung von GNPÖ, SVNP-ASNP und GNP als sog. „Dreiländertagung“ statt (Details unter www.wuerzburg 2016.info). Wir freuen uns sehr, die Mitglieder der GNPÖ möglichst zahlreich in Würzburg begrüßen zu dürfen.

Über die GNPÖ Die GNPÖ kümmert sich um Ihre Anliegen innerhalb der Berufsgruppe und vertritt Sie auf berufspolitischer Ebene in Österreich. Die GNPÖ ist ein nicht auf Gewinn ausgerichteter Verein, der national und international tätig ist. Als Gründungsmitglied der Federation of the European Societies of Neuropsychology (FESN) arbeiten wir auch mit nationalen europäischen Organisationen im Bereich Neuroscience sowie deren Vertreterinnen/n zusammen. Besuchen Sie unsere Homepage www.gnpoe.at. Hier finden Sie Informationen zu Fortbildungen, Tagungen, © 2016 Hogrefe

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Akkreditierungsrichtlinien sowohl für Einrichtungen als auch zur/m Klinischen Neuropsychologin/en, den Arbeitsgruppen, unserem Serviceangebot und über uns. Autorinnen/en: Mag. Dr. Sandra M. Lettner, Präsidentin Mag. Dr. Thomas Pletschko, Bakk., Vorstandsmitglied Prof. Dr. Wilhelm Strubreither, Msc., Past-Präsident GNPÖ-Sekretariat Praxisgemeinschaft Salvatorgasse 3/29 1010 Wien Österreich info@gnpoe.at http://www.gnpoe.at

Abstracts zum Giselher-Guttmann-Preis im Rahmen der 17. Jahrestagung der GNPÖ am 3. Oktober 2015 in Wien 1 Does recursive structure processing represent an internal mode of cognition? Fischmeister F. P.1, Martins M. J.2,3, Beisteiner R.1, and Fitch W. T.4 1 Medical University of Vienna, Department of Neurology, Vienna, Austria 2 Berlin School of Mind and Brain, Humboldt Universität zu Berlin, Berlin, Germany 3 Max Plank Institute for Human Cognitive and Brain Sciences, Leipzig, Germany 4 Department of Cognitive Biology, University of Vienna, Vienna, Austria

Introduction: Hierarchical structures are commonly found in nature and in various cognitive domains such as language, vision and social processes (Fitch, et al. 2014). Recent studies have shown that complex hierarchies can be efficiently represented using recursive rules, and that these rules somehow reduce working memory constraints (Martins, et al. 2014). This suggests that the ability to process recursion might be supported by internal representations that compress raw external information. To explicitly test whether recursive representations depend on internalized rule processing while nonrecursive representations constitute basic bottom-up visuo-spatial processing, we compared fMRI data resulting from the processing of visual hierarchies, represented either recursively or non-recursively, with task-free resting-state data using functional connectivity analyses. This way we aimed Zeitschrift für Neuropsychologie (2016), 27 (1), 53–63


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to link task-evoked functional networks induced by the two cognitive processes with the resting state architecture of the Default Mode Network (DMN) and the FrontoParietal Control Network (FPCN) in particular. Methods: Thirty five healthy participants took part in this study. Functional images were acquired on a 3 Tesla TIM Trio system (Siemens, Erlangen, Germany) using single-shot gradient-echo EPI. To investigate the neural circuits associated with the representation of non-recursive and recursive rules, we adapted the Visual Recursion Task and the Embedded Iteration Task. For the task-free resting-state acquisitions participants were presented with a black screen for about 7 min. Next to standard image processing (Fischmeister, et al. 2013) single voxel BOLD signal time-series were pruned from temporal confounds and then used to estimate resting state (RSNs) and taskbased networks using a seed-to-voxel approach. Definition of seed regions representing the Default Mode Network (DMN) as a task negative and the other representing the Fronto-Parietal Control Network (FPCN) as a task positive network were based on a recent parcellation of the human brain (Power et al., 2011). Results: Comparison of recursive and non-recursive cognition within the DMN network showed increased connectivity with recursive as compared to non-recursive cognition. This increase was observed in the right Precuneus, the MPFC, the IPL and the lateral temporal cortex. Importantly, none of the DMN areas showed a significant opposite behavior. Comparing the two cognitive modes within FPCN network areas revealed an opposite behavior. Here, increased connectivity was found within the lateral frontal, temporal and parietal cortices solely while processing non-recursive hierarchical rules. Conclusion: Our results indicate that hierarchical information processing via recursive cognition is supported by the DMN. Thus the internal rule representation mediated within the DMN helps humans to understand hierarchical structures in complex environments. This likely is due to considerably reduced external information processing with recursive cognition which may thus be regarded as a kind of default mode in human cognition. This work was supported by the research cluster grant “Shared Neural Resources for Music and Language” (University of Vienna and Medical University of Vienna). References Fitch, W. T., & Martins, M. D. (2014). Hierarchical processing in music, language, and action: Lashley revisited. Annals of the New York Academy of Sciences, n/a–n/a. doi:10.1111/ nyas.12406 Martins, M. J., Fischmeister, F. P., et al. (2014). Fractal image perception provides novel insights into hierarchical cognition. NeuroImage, 96C, 300 – 308. doi:10.1016/j.neuroimage.2014. 03.064 Zeitschrift für Neuropsychologie (2016), 27 (1), 53–63

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Fischmeister, F. P. S., et al. (2013). The benefits of skull stripping in the normalization of clinical fMRI data. NeuroImage: Clinical, 3, 369 – 380. doi:10.1016/j.nicl.2013.09.007 Power, J. D., et al. (2011). Functional network organization of the human brain. Neuron, 72(4), 665 – 78. doi:10.1016/j.neuron.2011.09.006 Whitfield-Gabrieli, S., & Nieto-Castanon, A. (2012). Conn: a functional connectivity toolbox for correlated and anticorrelated brain networks. Brain Connectivity, 2(3), 125 – 41. doi:10.1089/ brain.2012.0073

2 Selbst- und Fremdwahrnehmung der Gedächtnisleistung bei MCI, AD und PD Hartmann C.1 1 Medizinische Universität Wien, Univ. Klinik für Neurologie, Wien, Österreich

Hintergrund: Die Selbstwahrnehmung der Gedächtnisleistung ist oft keine akkurate Widerspiegelung der tatsächlich vorhandenen Gedächtnisleistung. Anosognosie, das Nichterkennen der Beeinträchtigung, ist bei neurodegenerativen Erkrankungen oft der Fall. Das Ziel dieser Studie war es zu untersuchen, ob sich die Selbstwahrnehmung von der Fremdwahrnehmung hinsichtlich Gedächtnisleistung unterscheidet. Dies wurde für die Gruppen Mild Cognitive Impairment (MCI), Alzheimer-Krankheit (AD), Morbus Parkinson (PD) und eine zusätzliche gesunde Kontrollgruppe ermittelt. Zudem wurde analysiert, ob Zusammenhänge mit objektiven neuropsychologischen Tests vorliegen. Zu Beginn wurde der hier verwendete Fragebogen, Skala zur Erfassung der subjektiven Gedächtnisleistung (SEG) psychometrisch untersucht. Methodik: 185 Personen einer Gedächtnisambulanz und 35 gesunde Kontrollpersonen nahmen an einer standardisierten neuropsychologischen Testung teil. Im Anschluss daran wurden Fragebögen bearbeitet, mitunter die SEG. Diese enthält 16 alltagsrelevante Fragen und wurde sowohl den Personen selbst, als auch den engsten Angehörigen vorgegeben, was den Vergleich der beiden Perspektiven ermöglichte. Ergebnisse: Die Psychometrische Analyse der SEG zeigte, mit Ausnahme der Validität, zufriedenstellende Werte. Für Sensitivität und Spezifität, scheint die Fremdbeurteilung besser zwischen gesunder Kontrollgruppe und MCI, AD oder PD diskriminieren zu können. Nach der statistischen Analyse, sind sowohl bei der Selbst- als auch der Fremdwahrnehmung lediglich signifikante Unterschiede zwischen Kontrollgruppe und den Diagnosegruppen (MCI, AD, PD) zu verzeichnen. Vergleicht man die Gruppen untereinander sind jedoch keine Unterschiede vermerkbar. Die Korrelationen fielen sowohl bei © 2016 Hogrefe


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der Selbst- als auch der Fremdwahrnehmung mit objektiven Verfahren gering aus. Konklusion: Die Ergebnisse legen nahe, dass keine Unterschiede zwischen der Selbst- und Fremdwahrnehmung vorliegen. Allerdings kann die Fremdbeurteilung besser zwischen Kontrollgruppe und Diagnosegruppen diskriminieren. Zudem konnten auch höhere Korrelationen zwischen Fremdwahrnehmung und objektiven Gedächtnistests gefunden werden. Für zukünftige Forschung wäre es wichtig die Konversion von MCI zu AD zu beobachten, und mit Hilfe von solchen Längsschnittstudien auch die Selbst- und Fremdwahrnehmung im Verlauf. Stichworte: Alzheimer-Demenz, Morbus Parkinson, Mild Cognitive Impairment, Anosognosie, Selbstwahrnehmung, Fremdwahrnehmung, Gedächtnisleistung

3 EEG-Neurofeedback bei geriatrischen Patientinnen mit Depression sowie Demenz: Eine Pilotstudie Mayer, D.1, Kober, S.2, Weber, P.1, Wood, G.2, Marksteiner, J.1 und Kaufmann, L.1 1 Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie A, Landeskrankenhaus Hall, Österreich 2 Abteilung für Psychologie, Universität Graz, Österreich

Einleitung: Beim Neurofeedback lernen Patienten ihre hirnelektrische Aktivität (EEG) selbst zu regulieren und je nach Lernprotokoll verschiedene mentale Zustände herbeizuführen. Der Fokus der aktuellen Pilotstudie liegt auf dem Training des sensomotorischen Rhythmus/SMR (12 – 15 Hz), der sowohl die kognitive Informationsverarbeitungskapazität als auch die Stimmung wesentlich zu beeinflussen scheint (Gruzelier, 2013). Die Effektivität von Neurofeedback-basiertem SMR-Training wurde bei gesunden Erwachsenen (z. B. Kober et al., 2014; Studer et al., 2014) sowie vereinzelt auch bei psychiatrischen Patienten nachgewiesen (Gruzelier, 2013). Bisher gibt es jedoch kaum systematische Neurofeedback-Studien bei geriatrischen Patienten. Das Ziel der vorliegenden Pilotstudie war es, zu untersuchen, ob das NeurofeedbackTraining auch bei geriatrischen Patienten eingesetzt werden kann (d. h. ob auch diese Patientengruppe unter Verwendung von Neurofeedback Lernzuwächse der SMRPower zeigen kann). Methode und Probanden: Das Neurofeedback-Training wurde in Zusammenarbeit mit der Universität Graz mithilfe eines mobilen Verstärkers (Nexus-10MKII, MindMedia BV) durchgeführt. Die hirnelektrische Aktivität wurde an einer Cz-Elektrode abgeleitet (EOG und Mastoid © 2016 Hogrefe

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dienten als Artefakt- bzw. Referenzelektroden), das Signal wird hierbei über den Verstärker an einen Laptop übermittelt, der die Daten auswertete und grafisch umsetzte. Diese Grafik (drei farbige Balken) diente den Patientinnen als visuelles Feedback. Je eine Patientin mit ICD-10 Diagnose Depression (F32.1; 72 Jahre) und Demenz (F00.2; 90 Jahre) nahm an einer Neurofeedback-Sitzung teil. Die Sitzung bestand aus einer Baseline und sechs Lernblöcken zu je drei Minuten (Pausen ca. eine Minute; Gesamtdauer der Sitzung maximal 30 Minuten). Resultate: Die Ergebnisse zeigen, dass beide Patientinnen die SMR-Power über die Sitzung (d. h. die sechs Lernblöcke) deutlich steigern konnten, wobei die Lernzuwächse der depressiven Patientin noch deutlicher ausgeprägt waren als bei der Patientin mit Demenzdiagnose (R2 = .44 vs. R2 = .21). Diskussion: Diese ersten Pilotdaten zeigen, dass auch bei älteren depressiven Menschen sowie Menschen mit beginnender Demenz das Neurofeedback erfolgreich angewendet werden kann. Die Effektivitätsüberprüfung des SMR-Trainings bei geriatrischen Patienten ist Ziel einer Folgestudie.

Literatur Gruzelier, J. H. (2013). EEG-neurofeedback for optimising performance. I: A review of cognitive and affective outcome in healthy participants. Neuroscience and Biobehavioral Reviews, 44, 124 – 141. Kober, S. E., Witte, M., Stangl, M., Väljamäe, A., Neuper, C., & Wood G. (in press). Shutting down sensorimotor interference unblocks the networks for stimulus processing: An SMR neurofeedback trianing study. Clinical Neurophysiology. Studer, P., Kratz, O, Gevensleben, H., Rothenberger, A., Moll, G. H., Hautzinger, M., & Heinreich, H. (2014). Slow cortical potential and theta/beta neurofeedback training in adults: effects on attentional processes and motor system excitability. Frontiers in Human Neuroscience, 8: 555.

4 Die schulische Teilhabe im Kontext einer chronischen Erkrankung: Vergleich von chronisch kranken und gesunden Kindern und Jugendlichen anhand der Schulischen Partizipation Skalen 24/7 (S-PS 24/7) Müller, A. M. K.1, Pletschko, T.1, Schwarzinger, A.1, Deimann, P.2, Kastner-Koller, U.2 und Leiss, U.1 1 Universitätsklinik für Kinder- und Jugendheilkunde, Subeinheit Neuroonkologie, Medizinische Universität Wien 2 Fakultät für Psychologie, Universität Wien Zeitschrift für Neuropsychologie (2016), 27 (1), 53–63


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Hintergrund: Aufgrund der höheren Überlebensraten auch bei schweren Erkrankungen verschiebt sich das Spektrum immer mehr in Richtung chronische Krankheiten. Im Alltag können diese Erkrankungen neurokognitive und psychosoziale Konsequenzen zur Folge haben – bei Kindern und Jugendlichen wirkt sich dies nicht zuletzt im Schulkontext aus. Eine integrierte Betrachtung der schulischen Partizipation bei Vorliegen einer chronischen Erkrankung war bislang ausständig. Methode: Mithilfe des Instruments ‚Schulische Partizipations Skalen 24/7 (S-PS 24/7)‘ wurden retrospektiv Elterneinschätzungen der schulischen Teilhabe von Kindern und Jugendlichen mit verschiedenen chronischen Erkrankungen (n = 317) und von gesunden Kindern und Jugendlichen (n = 405) analysiert und mittels t-Tests verglichen. In der Stichprobe der chronisch kranken Kinder und Jugendlichen waren ZNS-Tumoren (n = 127), sonstige neuropädiatrische Erkrankungen (n = 29), Diabetes (n = 41), sonstige Stoffwechselstörungen (n = 51), Herz-Kreislauf-Erkrankungen (n = 56) und Nierenerkrankungen (n = 13) vertreten. Diese Gruppen wurden untereinander mithilfe von einfaktoriellen Varianzanalysen, Welch-Tests und Kruskal-Wallis-Tests verglichen. Ergebnisse: Kinder und Jugendliche mit verschiedenen chronischen Krankheiten zeigten aus Sicht ihrer Eltern unterschiedliche Ressourcen und Defizite in ihrer schulischen Partizipation. Die Gesamtgruppe der chronisch kranken Kinder und Jugendlichen schnitt in allen überprüften Dimensionen der schulischen Teilhabe verglichen mit der gesunden Kontrollgruppe signifikant geringer ab. Inhaltlich bedeutsame Unterschiede (kleine bis mittlere Effekte) waren für alle Skalen mit Ausnahme der emotionalen Funktionen festzuhalten. Im Vergleich zwischen den verschiedenen chronischen Erkrankungen zeigten sich signifikante und inhaltlich bedeutsame Unterschiede (mittlere bis große Effekte) in den Bereichen Aufmerksamkeit, Gedächtnis, Denkfunktionen, Lernen und Wissensanwendung sowie Grob- und Feinmotorik. Diskussion: Die Ergebnisse der Elterneinschätzungen legen nahe, dass ein erhöhtes Risiko für chronisch kranke Kinder besteht, Beeinträchtigungen in ihrer schulischen Teilhabe zu erleben. Ausmaß und Art dieser Beeinträchtigungen unterscheiden sich dabei zwischen den verschiedenen Erkrankungen. In Anbetracht der steigenden Anzahl betroffener Schülerinnen und Schüler erscheint eine verstärkte Aufmerksamkeit für die Folgen chronischer Erkrankungen in der Schule von Seiten des Bildungswesens unabdingbar. Als zentrale Empfehlung für die Praxis geht hervor, dass Kinder und Jugendliche mit chronischen Erkrankungen mehr Zugang zu Unterstützungsmöglichkeiten für die schulische Reintegration und den schulischen Alltag erhalten sollten.

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Stichworte: Chronische Erkrankung, Partizipation, Schule, Kinder, Jugendliche, Pädiatrie

5 Differenzierte Analyse der Gedächtnisleistungen bei Kindern und Jugendlichen mit einem Hirntumor Obergfell, N.1, Deimann, P.2, Kastner-Koller, U.2 und Leiss, U.1 1 Universitätsklinik für Kinder- und Jugendheilkunde, Subeinheit Neuroonkologie, Medizinische Universität Wien 2 Fakultät für Psychologie, Universität Wien

Hintergrund: Durch die kontinuierliche Verbesserung der Behandlungsmethoden bei Hirntumorerkrankungen im Kindes- und Jugendalter in den letzten Jahrzehnten, steigen auch die Überlebensraten stetig an. Infolgedessen, rücken Langzeitfolgen der Erkrankung und Behandlung, wie kognitive Beeinträchtigungen, mehr in den Fokus. Das Gedächtnis ist dabei von besonderer Bedeutung, da es eine wichtige Rolle bei der Generierung von Wissen und neuen Fähigkeiten darstellt und somit schulische Leistungen sowie die weitere Laufbahn der Kinder beeinflusst. Methoden: Es wurden 21 Kinder mit einem Hirntumor mit Hilfe der spezifischen Gedächtnisverfahren AGTB 5 – 12 und BASIC MLT und den Intelligenzverfahren AID 2 und HAWIK IV untersucht. Zudem wurde explorativ eine Verhaltensprobe durchgeführt. Anhand von einfachen T‐Tests wurden Abweichungen in den einzelnen Gedächtnisleistungen im Vergleich zum Populationsmittelwert überprüft. Mögliche Risikofaktoren wurden mittels exakter Fisher-Tests und Rangvarianzanalysen analysiert. Die Ergebnisse aus der Verhaltensprobe wurden mithilfe von exakten Fisher-Tests betrachtet. Ergebnisse: Die Ergebnisse zeigen, dass Kinder mit einem Hirntumor sich signifikant und bedeutsam hinsichtlich der automatischen Aktivierung des auditiven Rehearsals, dem Merken und Abrufen von kontextbezogenen auditiven Inhalten sowie hinsichtlich der Einspeicherung von auditiven Inhalten ins Langzeitgedächtnis von der Norm unterscheiden. Bedeutsame, aber nicht generalisierbare Unterschiede zeigen sich zusätzlich hinsichtlich der zentralen Exekutive, welche die Steuerinstanz des Arbeitsgedächtnisses darstellt. Keine Beeinträchtigungen weisen sie hingegen bezüglich der visuellen Gedächtnisteilfunktionen sowie im auditiven Lernen auf. Mögliche Einflussfaktoren konnten nicht hinreichend untersucht werden. Jedoch ist zu beachten, dass eventuelle sich entwickelnde Beeinträchtigungen unterschätzt wer© 2016 Hogrefe


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den, da die Tumordiagnose in der Stichprobe relativ kurz zurücklag (Md = 29 Monate; QA = 37 Monate). Diskussion und Schlussfolgerung: Die Studie verdeutlicht, wie wichtig es ist, die Gedächtnisleistungen differenziert zu erfassen, da gezeigt werden konnte, dass Kinder mit einem Hirntumor hinsichtlich einzelner Gedächtnisteilleistungen beeinträchtigt sind, während andere Gedächtnisteilleistungen sich nicht von der Norm unterscheiden. Insbesondere auditive Bereiche des Gedächtnisses sind betroffen, während visuelle Gedächtnisleistungen intakt scheinen und sich somit als Kompensationsstrategie anbieten.

6 Realitätsnahe Entscheidungen: Effekt von Alter und leichter kognitiver Beeinträchtigung (MCI) Pertl, M-T.1,2, Benke, T.1, Zamarian, L.1 und Delazer, M.1 1 Universitätsklinik für Neurologie, Medizinische Universität Innsbruck 2 Institut für Psychologie, Leopold Franzens Universität Innsbruck

Hintergrund: Gesundheitsentscheidungen sind von höchster Relevanz für ältere Personen und für Patienten mit leichten kognitiven Beeinträchtigungen (MCI). Studien haben gezeigt, dass sowohl gesunde ältere Personen wie auch Patienten mit MCI Schwierigkeiten haben, günstige Entscheidungen in experimentellen „Gamble“Aufgaben zu treffen. Darüber hinaus zeigte sich, dass die Fähigkeit günstige Entscheidungen zu treffen mit guten exekutiven Funktionen und numerischen Fähigkeiten assoziiert ist [1 – 5]. Das Ziel dieser Studie war erstens Alterseffekte und zweitens den Effekt von leichten kognitiven Beeinträchtigungen auf das Treffen günstiger Entscheidungen unter realitätsnahen Bedingungen zu untersuchen. Aus diesem Grund wurden 35 gesunde ältere Kontrollen und 14 Patienten mit leichten kognitiven Einschränkungen (MCI) mit einer neuen realitätsnahen Entscheidungsaufgabe getestet. Zusätzlich wurden verschiedene neuropsychologische Aufgaben durchgeführt (CERAD plus, Clox, FAB, Kopfrechnen, Umgang mit Wahrscheinlichkeiten, Zahlen vergleichen). Methode: Die Patienten mit MCI wurden einer prospektiven neurologischen und neuropsychologischen Standarduntersuchung unterzogen. Die Diagnose-Kriterien für MCI basierten auf den klinischen Kriterien vorgeschlagen von [6 – 7] (subjektiv nachlassende kognitive Leistungen, Beeinträchtigung in einer oder mehreren kognitiven Domänen in einer standardisierten neuropsychologischen Untersuchung, Selbstständig im Alltag, keine Demenz). Ausschlusskriterien waren neurologische oder psychiatri© 2016 Hogrefe

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sche Vorerkrankungen sowie internistische Krankheiten, welche Auswirkungen auf die kognitiven Funktionen haben können. Die Entscheidungsaufgabe bestand aus 12 Items welche jeweils 2 Alternativen (A und B) zu einem gesundheitsbezogenen Thema (z. B.: Krankenversicherung, Reha-Anstalt, …) darstellten. Jede der beiden Alternativen beinhaltete zwei verschieden relevante numerische Informationen. Für jedes Item gab es eine klar günstigere Alternative. Dies wurde zuvor in einer Pilotstudie mit 29 gesunden jungen Probanden validiert. Ergebnisse: Die Gruppe der gesunden Kontrollen wurde mittels Median in zwei gleich große Gruppen (Gruppe I: Alter = 51 – 68; n = 18; Gruppe II: Alter = 71 – 81; n = 17) geteilt. Für diese beiden Gruppen ergab sich ein signifikanter Unterschied bei der Gesamtanzahl günstiger Entscheidungen (Gruppe I Mdn = 12 vs. Gruppe II Mdn = 9). Es konnte kein Unterschied zwischen den gesunden alten Kontrollen (Gruppe II) und den Patienten mit MCI gefunden werden (Gruppe II Mdn = 9 vs. MCI Mdn = 9). In einer Korrelationsanalyse für die gesamte Kontrollgruppe konnte ein signifikanter negativer Zusammenhang zwischen der Anzahl günstiger Entscheidungen und dem Alter gefunden werden. Die Anzahl günstiger Entscheidungen, Anzahl der Ausbildungsjahre, die Aufmerksamkeitsspanne, exekutive Funktionen (Arbeitsgedächtnis, Konzeptualisieren, Inhibitionskontrolle) und numerische Fähigkeiten (Kopfrechnen, Umgang mit Wahrscheinlichkeiten, Mengenvergleich von Prozenten, Brüchen und Häufigkeiten) korrelierten signifikant positiv. Bei den Patienten mit MCI korrelierten die Anzahl günstiger Entscheidungen, exekutive Funktionen (Arbeitsgedächtnis, figurales Konzeptualisieren) und Kopfrechen signifikant positiv miteinander. In einer Regressionsanalyse mit den gesunden Kontrollen (N = 35), in die das Alter, die Anzahl der Ausbildungsjahre, exekutiven Funktionen und numerischen Fähigkeiten eingegeben wurden, kristallisierte sich ein Model mit exekutiven Funktionen als Prädiktoren für die Anzahl günstiger Entscheidungen heraus. Das Model klärte 39,4 % der Varianz auf. Diskussion: Die Ergebnisse der Untersuchung zeigen, dass gesunde ältere Personen und Patienten mit MCI Schwierigkeiten haben, günstige realitätsnahe Entscheidungen zu treffen. Die Fähigkeit günstige Entscheidungen zu treffen ist wesentlich von guten exekutiven Funktionen bestimmt. Bei Defiziten in exekutiven Funktionen scheint eindeutige, einfach strukturierte Information besonders wichtig um gute Entscheidungen zu treffen. Literatur Albert et al. (2011) Alzheimers Dement 7, 270 – 279. Brand & Markowitsch (2010) Gerontology 56, 319 – 324. Brand & Schiebener (2013) J Clin Exp Neuropsychol 35, 9 – 23. Zeitschrift für Neuropsychologie (2016), 27 (1), 53–63


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Pertl et al. (2015) J Alzheimers Dis, im Druck. Petersen RC (2004) J Intern Med 256, 183 – 194. Zamarian et al. (2008) Neuropsychology 22, 645 – 657. Zamarian et al. (2011) J Gerontol B Psychol Sci Soc Sci 66, 23 – 31.

7 Einfluss des endogenen Opioidsystems auf neuronale Korrelate der Verhaltensüberwachung Pfabigan, D. M.1, Pripfl, J.1, Kroll, S. L.1,2, Sailer, U.3 und Claus Lamm1 1 Social, Cognitive and Affective Neuroscience Unit, Institut für Psychologische Grundlagenforschung und Forschungsmethoden, Fakultät für Psychologie, Universität Wien, Österreich 2 Psychiatrische Universitätsklinik Zürich, Schweiz 3 Institut für Psychologie, Fakultät für Sozialwissenschaften, Universität Göteborg, Schweden

Hintergrund: Aktuelle Forschungsergebnisse legen nahe, dass nicht nur das dopaminerge Neurotransmittersystem an der Verhaltensüberwachung beteiligt ist, sondern deuten auch eine Beteiligung des endogenen Opioidsystem an. Basierend auf dieser Annahme untersucht die aktuelle Elektroenzephalographie (EEG) Studie den möglichen Zusammenhang zwischen dem funktionellen 68-bp VNTR Polymorphismus des Opioidpeptids Prodynorphin (PDYN) und Korrelaten der Verhaltens-überwachung. Methode: Nach einem genetischen Screening-Verfahren konnten 47 gesunde Versuchspersonen (26 Frauen) zu der EEG-Studie eingeladen werden, die sich annähernd gleich auf drei Gruppen aufteilten: Versuchspersonen mit hoher vs. mittlerer vs. geringer PDYN Genexpression. Alle Versuchspersonen bearbeiten eine einfache Reiz-Reaktionsaufgabe während EEG gemessen wurde. Ergebnisse: Auf Verhaltensebene zeigten sich keine Unterschiede zwischen den drei Gruppen bezüglich Reaktionszeiten, Fehlerraten und Korrekturverhalten nach Fehlern. Hingegen war auf neuronaler Ebene eine Differenzierung der Gruppen zu beobachten. Jene Versuchspersonen mit hoher PDYN Genexpression zeigten eine stärkere Verarbeitung von fehlerhaften Reaktionen, die sich in erhöhten Amplituden der ERN („Error-Related Negativity“) Komponente widerspiegelte, im Vergleich zu Versuchspersonen mit mittlerer oder geringer PDYN Genexpression. Spätere Komponenten der Fehlerverarbeitung sowie jene, die stimulus-bezogenen Konflikt reflektieren, waren jedoch nicht vom PDYN Genotyp beeinflusst. Diskussion: Die aktuellen Ergebnisse unterstützen die Annahme eines indirekten Effekts des endogenen Opioidsystems auf die Verhaltensüberwachung, der möglicherweise über das dopaminerge System agiert. Gesamt Zeitschrift für Neuropsychologie (2016), 27 (1), 53–63

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betrachtet deuten die erhöhten ERN Amplituden der Versuchspersonen mit hoher PDYN Expressionsrate auf ein hyper-aktives Verhaltensüberwachungssystem hin, welches aus der klinischen Perspektive als Risikofaktor für Angsterkrankungen und Depression gehandelt wird. Schlüsselwörter: Prodynorphin (PDYN), ERN Komponente, Dopaminsystem, Opioidsystem

8 Impaired manual imitation and motor learning in Alzheimer’s disease Sanin, G.1 & Benke T.1 1 Department of Neurology, Medical University Innsbruck, Austria

Introduction: despite the fact that limb apraxia is listed among the several diagnostic criteria of AD (NINCDSADRDA, DSMIV) it is still an underrepresented domain in AD research. Meaningless gesture tasks require visuospatial analysis, control and programming of the spatial organization of limb positions, as well as sequencing and timing of movements. The use of non-symbolic motor tasks may evidence ‘pure’ visuospatial and motor defects which are not caused by the frequently observed semantic impairment in AD. The aim of this study is to explore if AD and MCI patients are impaired in imitating manual movements compared to a sex, age and education matched control group. Neuropsychological variables were correlated to praxis performance in AD and it was examined how well these tasks can be discriminated between elderly normals, AD patients and subjects with MCI. Methods: in this cross-sectional study 57 AD patients, (mean age = 77,93; 7,26 SD), 24 MCI patients (mean age = 75,25; 6,54 SD) and 50 sex, age and educational matched healthy normal controls were included. AD patients met the NINCDS-ADRDA criteria for probable and possible AD (McKhann et al. 1984) whilst Mayo clinical criteria (Petersen 1999, Winblad 2004) were used for diagnosis of MCI. Cognitive functions were assessed by the German version of the CERAD Plus test battery. In the apraxia assessment subjects were asked to imitate a sequence of unimanual hand movements (FEP), bimanual static handpostures (IFT) and simultaneous alternating movements (AHP), also including rhythm cued tapping. Results: a one-way ANOVA revealed significant differences between groups in terms of age (F(2,128) = 4.353, p < 0.05) and education in years (F(2,128) = 3.782, p < 0.05). Tukey post-hoc tests showed that NC subjects were younger (p < 0.05) and better educated than AD patients (p < 0.05). ANCOVAs for each subtest of praxis © 2016 Hogrefe


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assessment were calculated with age and education as covariates. This resulted in a statistically significant group effect on the FEP task (F(2, 126) = 9,197, p < 0,0005, partial η2 = 0,127), on the IFT (F(2, 125) = 19,319, p < 0,0005, partial η2 = 0,227) and the AHP task (F(2, 125) = 20,611, p < 0,0005, partial η2 = 0,248). After taking Sidak adjustment for multiple group comparisons into account ADs performed significantly worse than normal controls in FEP (AD vs NC: p < 0,0005; AD vs MCI: p < 0,028), in IFT (AD vs NC: p < 0,0005; AD vs MCI: p < 0,003) and in AHP as well (AD vs NC: p < 0,0005; AD vs MCI: p < 0,004). No differences were found between control subjects and MCIs over all apraxia subtests. Finally we underwent a spearman correlation between the total score of the apraxia assessment and neuropsychological testscores of AD patients. Yet, tests of constructional praxis and executive functions correlated significantly with total praxis performance. Conclusion: AD patients performed poorly in all nonsymbolic praxic tasks – bimanual static hand postures, unimanual sequencing, simultaneous alternating hand movements and rhythm cued tapping whilst MCI subjects achieved comparable performances to those of the controll group. This suggests that the neurodegeneration of AD disintegrates several brain regions controlling visuospatial analysis and complex motor functions. Testing for apraxia is a simple and cheap diagnostic procedure and discriminates well between normal aging subjects and AD patients.

9 Funktionelle Äquivalenz? Placeboeffekte bei Empathie für Schmerz Seidel, E-M.1, Ruetgen, M.1, Hummer, A.2,3, Windischberger, C.2,3, Silani, G.4,5 und Lamm, C.1 1 Social, Cognitive and Affective Neuroscience Unit, Faculty of Psychology, University of Vienna, Vienna, Austria 2 Center for Medical Physics and Biomedical Engineering, Medical University of Vienna, Vienna, Austria 3 MR Center of Excellence, Medical University of Vienna, Vienna, Austria 4 Cognitive Neuroscience Sector, International School for Advanced Studies, SISSA-ISAS, Trieste, Italy 5 Department of Applied Psychology, Faculty of Psychology, University of Vienna, Vienna, Austria

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tisiert werden, dass ähnliche, räumlich überlappende neuronale Repräsentationen alleine keine Schlussfolgerungen auf die tatsächliche funktionelle Äquivalenz der neuronalen Mechanismen zulassen [2]. Daher versucht die vorliegende Studie mit einer experimentellen Manipulation diese indirekten Schlüsse explizit zu testen. Hierzu wurde mit einer Placeboinduktion gearbeitet bei der die eigene Schmerzempfindung reduziert wurde und getestet wurde ob sich dies in gleichem Maße auf Empathie auswirkt. Methoden: 120 Teilnehmer wurden zufällig auf eine Kontroll- (n = 60) und eine Placebogruppe (n = 60) aufgeteilt. Nach individueller Kalibrierung der Schmerzschwellen, folgte die Placeboinduktion in der Placebogruppe mittels einer unwirksamen Pille, die als Schmerzmittel verabreicht wurde. Dann wurden fMRT Daten und Schmerzratings von allen Teilnehmern während einer Empathieaufgabe erhoben. Hier wurden 30 Schmerzreize und 30 nicht-schmerzhafte Kontrollreize auf den Handrücken mittels eines elektrischen Schmerzstimulators appliziert. Die Hälfte der Reize wurde dem Teilnehmer verabreicht, die andere Hälfte einer zweiten Person, die neben dem MR Scanner saß. Ergebnisse: Subjektive Schmerzratings: Es zeigte sich ein signifikanter Gruppenunterschied (Kontrollgruppe > Placebogruppe) in den Schmerzratings (Schmerz – Kontrollreiz) sowohl für die selbst erlebten als auch die empathischen Ratings. fMRT Daten: Die fMRT Daten spiegelten diese Befunde auf neuronaler Ebene. Für alle drei Gehirnregionen (midcingulate Cortex, bilaterale anteriore Insula) konnten Gruppenunterschiede in der erwarteten Richtung für beide Bedingungen beobachtet werden. Diskussion: Das Ergebnis einer identischen schmerzspezifischen Modulation von selbst erlebtem Schmerz und Empathie für Schmerz zeigt erstmalig direkte Evidenz für funktionelle Äquivalenz von geteilten Repräsentationen als Grundlage für Empathie. Damit stützen unsere Daten aktuelle Theorien, dass Empathie auf einer Simulation der Gefühle anderer beruht [3]. Danksagung: Diese Studie wurde finanziert vom Wiener Wissenschafts- und Technologiefonds (WWTF, CS11 – 016).

Literatur Hintergrund: Aktuelle Empathiestudien zeigen relativ übereinstimmend, dass eigenes Schmerzerleben und Empathie für Schmerz mit ähnlichen neuronalen Aktivitätsmustern einhergehen [1]. Das darauf basierende Modell der „geteilten Repräsentationen“ hat in den letzten Jahren wesentlich zum Verständnis des komplexen Phänomens der Empathie beigetragen. Jedoch kann kri© 2016 Hogrefe

Bastiaansen, J. A., Thioux, M., Keysers, C. (2009), Evidence for mirror systems in emotions, Philos Trans R Soc Lond B Biol Sci, vol. 364, pp. 2391 – 2404. Lamm, C., Majdanzic, J. (2014), The role of shared neural activations, mirror neurons, and morality in empathy – A critical comment, Neurosci Res, In Press. Singer, T., Lamm, C. (2009), The social neuroscience of empathy, Ann N Y Acad Sci, vol. 1156, pp. 81 – 96. Zeitschrift für Neuropsychologie (2016), 27 (1), 53–63


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10 Entwicklung von Leitlinien für die neuropsychologische Diagnostik von Aufmerksamkeitsstörungen im Kindesund Jugendalter Weiler, L. J.1, Pletschko, T.1, Schwarzinger, A.1, Slavc, I.1 und Leiss, U.1 1 Universitätsklinik für Kinder- und Jugendheilkunde, Subeinheit Neuroonkologie, Medizinische Universität Wien

Hintergrund: Aufgrund moderner medizinischer Behandlungsmethoden steigen die Überlebenschancen von Kindern und Jugendlichen mit neurologischen Erkrankungen stetig an. Damit gehen deutliche Spätfolgen, insbesondere Störungen der Aufmerksamkeit, einher. Mangelnde Begriffsdefinitionen und -konfusionen erschweren eine korrekte Diagnose von Störungen der Aufmerksamkeit bei Kindern und Jugendlichen. Es war das Ziel Leitlinien für die neuropsychologische Diagnostik von Aufmerksamkeitsstörungen im Kindes- und Jugendalter zu entwickeln um in Folge eine optimale Behandlung für Kinder und Jugendliche zu ermöglichen. Methoden: Zur Beschreibung der Aufmerksamkeit wurde eine Taxonomie für Kinder- und Jugendliche mit differenzierbaren Aufmerksamkeitskonstrukten entwickelt und mit neuropsychologischen Testverfahren mittels Strukturgleichungsmodell (SEM) geprüft. Zudem wurden zwei weitere Beurteilungsebenen entwickelt: Standardisierte Verhaltensbeobachtung und Fragebogen zur Einschätzung der Aufmerksamkeit (AUF-PS 24/7-E). In die Untersuchung wurden N = 757 gesunde Kinder und Jugendliche zwischen 6 und 16 Jahren aus unterschiedlichen Schulstufen und –formen und 180 mit unterschiedlichen neurologischen Erkrankungen bzw. Verhaltens- emotionalen Störungen oder Entwicklungsstörungen inkludiert. Die Gruppen wurden statistisch analysiert mittels ANOVA, Mann-Whitney-U-, Kruskal-Wallis-, Welch-Test or X²-Test. Ergebnisse: Alle Beurteilungsebenen konnten als valide und reliable Methoden für die Aufmerksamkeitsdiagnostik beschrieben werden, wenn auch mit unterschiedlicher Qualität. Bemerkenswert ist die hohe Anzahl der Kinder und Jugendlichen, welche trotz Schwierigkeiten nach Verhaltensbeobachtung und/oder Elternbeurteilung allein unentdeckt bleiben. Die Taxonomie der Aufmerksamkeit für Kinder und Jugendliche konnte bestätigt werden unter Berücksichtigung der Entwicklung und Beurteilungsebene. Auch konnten krankheitsspezifische Unterschiede in der Aufmerksamkeitsfunktion beschrieben werden. Diskussion: Erst die multidimensionale Aufmerksamkeitsdiagnostik, ermöglicht eine differenzierte Diagnostik Zeitschrift für Neuropsychologie (2016), 27 (1), 53–63

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von Aufmerksamkeitsstörungen. Aufgrund der Ergebnisse konnte eine Leitlinie für das Vorgehen in der neuropsychologischen Diagnostik vorgeschlagen werden. Auf dessen Basis kann das Konzept einer AWMF Leitlinie weiter erarbeitet und implementiert werden.

11 Framing effects in multiple sclerosis: How patients may be misled by the way medical information is presented Zamarian, L.1, Berger, T.1, Pertl, M. T.1, Bsteh, G.1, Benke, T.1, and Delazer, M.1 1 Medical University of Innsbruck, Department of Neurology

Background: Patients with multiple sclerosis (MS) have to face important decisions as concerns their medical treatment. Risk understanding is essential to actively participate in health care and make informed decisions. Recent investigations have found that patients with MS make poorer decisions than healthy controls [1 – 4]. Patients also show a lower perception of risk relative to their physicians [5]. To our best knowledge, no study has assessed framing effects [6] in MS so far. It is unknown to which extent a positive/negative frame affects the patients’ interpretation of medical information. Typically, in medical care, people show a more favourable attitude towards positively framed treatments than towards negatively framed treatments [7]. In this study, we expected more pronounced framing effects for the patients relative to controls, and that these framing effects are related to poorer executive functions. Methods: Patients with relapsing-remitting MS (n = 26; mean EDSS 1.60/SD 1.33; mean FSS 35.50/SD 13.07; mean age 41.50/SD 11.35 years; mean education 12.42/ SD 2.28 years) were compared to healthy age- and education-matched controls (n = 66; mean age 39.51/SD 14.52 years; mean education 13.23/SD 2.23 years). Participants underwent an extensive neuropsychological assessment including tests of executive functions, number processing, decision making, and framing effects. In the framing task, participants evaluated the outcome of an unknown medication on a 7-point scale (n = 20 items). Medications were described either in positive terms (positive frame) or in negative terms (negative frame). Results: In the framing task, both groups evaluated the positively framed medications more positively than the negatively framed medications. These framing effects were more pronounced in the patient group than in the control group, t(90) = 2.18, p < .05. Groups also differed from each other in tests of executive functions (attention span, work© 2016 Hogrefe


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ing memory, logical reasoning) and number processing (quantity comparison, ratio processing), t‐tests, ps < .01, with the patients scoring lower than the controls. No significant group difference was found in response inhibition, mental complex calculation, and decision making, ps > .1. Higher framing effects in the patient group correlated with lower performance in tests of response inhibition and complex mental calculation, ps < .05. Response inhibition and mental complex calculation explained 29.6 % of variance in the framing effects of patients. Conclusions: Patients with relapsing-remitting MS may be relevantly biased in the interpretation of medical information by the way this information is presented. Their susceptibility to positive and negative formulations is related to impulse control and calculation abilities. Patients with MS prefer an active role in treatment decisions [8]. Therefore, careful attention should be paid to the way information is presented when we communicate with patients with MS. Acknowledgement: This study was supported by MUIStart Project: 2014 – 05 – 001.

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References Heesen C, et al. Risk perception in natalizumab-treated multiple sclerosis patients and their neurologists. Mult Scler 2010; 16 (12): 1507 – 12. Heesen C, et al. Decisional role preferences, risk knowledge and information interests in patients with multiple sclerosis. Mult Scler 2004; 10(6): 643 – 50. Kleeberg J, et al. Altered decision-making in multiple sclerosis: a sign of impaired emotional reactivity? Ann Neurol 2004; 56: 787 – 95. Moxey A, et al. Describing treatment effects to patients. J Gen Intern Med 2003; 18: 948 – 59. Nagy H, et al. The effects of reward and punishment contingencies on decision-making in multiple sclerosis. J Int Neuropsychol Soc 2006; 12: 559 – 65. Roca M, et al. Cognitive deficits in multiple sclerosis correlate with changes in fronto-subcortical tracts. Mult Scler 2008; 14: 364 – 9. Simioni S, et al. Multiple sclerosis decreases explicit counterfactual processing and risk taking in decision making. PLoS One. 2012; 7(12): e50718. doi: 10.1371/journal.pone.0050718. Tversky A, Kahneman D. The framing of decisions and the psychology of choice. Science 1981; 211: 453 – 8.

Zeitschrift für Neuropsychologie (2016), 27 (1), 53–63


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