WerkNetz 2008

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Werk Netz

ACAR2: ACADéMIE POUR L‘AVENIR DE L‘ARTISANAT

Umgestaltung von ENTWURF, Produktion, Handwerk, VERTRIEB, KONSUM, GEBRAUCH

INSTITUT HYPERWERK HGK FHNW

Wie alles kam und worauf wir hoffen Wenn man bereits über mehrere Jahre an einem Projekt arbeitet, mag eine Schilderung des bis dahin zurückgelegten Weges helfen zu klären, wo man sich in der Projektlandschaft gerade befindet. Resu­ mée für ein Publikum, aber auch Selbstverständigung zur eigenen Orientierung. Lagebericht und Ausblick. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts wurden in vielen europäischen Zentren Schulen für Gestaltung eröffnet, sei dies in Form von Gewer-­ be oder Kunstgewerbeschulen, Zeichenkursen, Modellierwerkstätten oder gar ersten produktorientierten Entwurfsklassen an Kunstakade­ mien. Den Antrieb und oft auch die Finanzierung lieferten sowohl die aufkommende Industrie mit ihrem offensichtlichen Gestaltungsdefizit als auch die nach dem Zusammen­bruch­ der Feu­dal­gesellschaft ökonomisch gefährdete­ Klasse der Handwerder, die Anwendungsfelder ihres Entwurfsvermögens in der Massenproduktion suchte. Diese Bewegung weg von der Formensprache der Repräsentation hin zu derjenigen der Imitation kann man beispiels­weise in der Entwicklung der Pressglasindustrie ausgezeichnet verfolgen. Aus unbeholfenen ersten Ausdrucksversuchen mit dem Medium Massenproduktion ergab sich dann bald das Bedürfnis nach einer eigenen Formensprache industrieller Verfahren. Angesichts der Verbilligung und Beschleunigung der Warenproduktion, die im Zuge der Industrialisierung möglich wurde, schien die nun entwertete Rolle des Handwerks nicht ins Gewicht zu fallen. Parallel dazu wurden die bisher isolierten Regionen durch das Bahnnetz erschlossen; im Zuge der Industrialisierung entstand beispielsweise in der Schweiz das weltweit dichteste Bahnnetz, das mit seinen über 1800 Bahnhöfen auch noch dem kleinsten Weiler den raschen Zugang zur Welt eröffnete. Weitere Dimensionen des industriellen Aufbruchs bestanden in beschleunigten Formen des Informationstransfers sowie im etwas kurzsichtigen Abbau nicht erneuerbarer Ressourcen. Etwas mehr als 150 Jahre später befasst sich unser Vorhaben WerkNetz, das hier dargestellt werden soll, mit all diesen geschichtlichen Ebenen. Diese werden heute wieder relevant, weil die Form der Industrialisierung, welche sowohl die Gestaltungsarbeit diszipliniert, die Informationsflüsse beschleunigt, die Ressourcen ausgereizt als auch die Regionen erschlossen hat, heute in Europa an ihr vorläufiges Ende gekommen wirkt. Die Verschiebungsgeschwindigkeit von Materie und Information haben eine drastische Globalisierung ermöglicht, während die Verbreitung der Industriegesellschaft und die Verfeinerung ihrer Abbautechniken zu Ressourcenverknappung und Treibhausproblematik geführt haben. Unter solchen Umständen wächst der Druck auf das industrielle System, dessen europäische Vertreter mit der deutlich einsetzenden Internationalisierung des ­Design ein bisheriges Alleinstellungsmerkmal zu verlieren drohen. Heute scheint diese Form der Industriegesellschaft zwar am Ende ihrer Glaubwürdigkeit angekommen zu sein, doch leider sind ihre Folgen weiter wirksam. Neue Ansätze sind gefragt, die alternative Umgangsformen, nämlich ein neues Prozessdesign für den Umgang mit Ressourcen, Mobilität und Regionalität zu entwickeln wagen – und hier setzt das WerkNetz an. Die Massenproduktion von Konsumgütern ist nach Asien abgewandert, wo unterdessen auch entsprechend leistungsfähige Designschulen aufgebaut werden. Die Unterstützung durch europäische Designschulen beim Aufbau der eigenen globalen Konkurrenz wirkt so befremdlich wie kurzsichtig, denn diese Verlagerung gefährdet direkt die Arbeitsaussichten ihrer Designstudierenden als auch die Position von Unternehmen, die trotz allem noch an eine

europäische Produktionsmöglichkeit im Konsumgüterbereich glauben. Ebenfalls ändern sich die Nutzungsformen und Funktionen unserer Bahnen drastisch. Ein neues Reiseverhalten sowie die zunehmende Digitalisierung und Automatisierung haben eine Entwertung der Bahnhofsgebäude bewirkt, die ihre ursprünglichen Funktionen verloren haben. Das regionale Stellwerk wird heute von der Zentrale aus gesteuert, das Bahnhofsbuffet ist zu einem Kaffeeautomaten auf dem Perron verkommen, der Ticketschalter zum Ticketautomaten, und das früher oft umfassende Bahnhofs-Warenlager wurde zumeist gänzlich abgeschafft. Da die Bahnstationen, um die sich rasch das dörfliche Leben sammelte, während Jahrzehnten identitätsbildend wirkten, hat sich der Abbau ihrer Funktionen in den letzten Jahren drastisch auf die Dorf- und Stadtbildentwicklung ausgewirkt. Aus dieser zeichenhaften Rolle der Bahn heraus sollte sich eine eventuelle Neunutzung von Bahnhofsgebäuden im Kontext der Regionalentwicklung verstehen – denn hier geht es um bedeutend mehr als um eine Renditenoptimierung schlecht genutzter Immobilien: Hier geht es um eine einmalige historische Chance, die es zu ergreifen gilt. Gerade in unseren Zeiten der Globalisierung wird eine Rollen- und Richtungsumkehrung des Bahnhofs denkbar; denn vielleicht geht es neuerdings beim Bahnhof gar nicht mehr so sehr um seine Funktion als Tor zur Welt, sondern in umgekehrter Sichtweise um das Tor für die Welt zur Region. Nämlich um den Zugang zu all der regionalen Einzigartigkeit, welche die Globalisierung einzuebnen droht, was natürlich im Gegenzug dazu führt, dass sich viele Menschen, grad die Städter, nach ihr sehnen. Dieses Bedürfnis kennt zwei Standorte, nämlich den von aussen hinein in die Region blickend und den aus dem regionalen Zentrum nach aussen, als Selbstdarstellung. Lassen sich Bahnhöfe also als verdichtete Schaufenster konzipieren, mit welchen regionale Kompetenzen und Anliegen dargestellt werden können? Wir erkennen darin einen spannenden Ansatz, dessen Umsetzung wir mit unserem Vorhaben versuchen wollen. Solche vielschichtigen Veränderungen zu reflektieren, sie als Eröffnung von Möglichkeitsräumen zu verstehen und entsprechende Strategien zu erarbeiten – diese Aufgabe kann mit Hilfe von ProzessgestalterInnen angegangen werden. Die AbsolventInnen von HyperWerk studieren das entsprechende Arbeitsfeld des Postindustrial Design, obwohl unser Institut offiziell immer noch Industriedesigner ausbildet; unser modifiziertes Jobprofil der Gestaltungsarbeit verlässt die Gestaltung von Produkten und besetzt die Prozessgestaltung als Anspruch, den der Kontext unserer Dienstleistungsgesellschaft einfordert. Wir meinen, dass sich die gesellschaftliche Umwälzung auch an der aktuellen Entfunktionalisierung der Bahnhöfe ablesen lässt und dass hier eines der bedeutendsten gesellschaftlichen Recycling-Projekte ansteht. Die Investition des neunzehnten Jahrhunderts in das regionale Bahnnetz war erheblich und hat sich nachhaltig ausgewirkt; es durch die Entwicklung innovativer Nutzungsformen aus seinem langen Siechtum zu neuem Leben unter den besagten neuen Vorzeichen zu erwecken, ist angesichts rapide steigender Ölpreise nicht nur aus kultureller und ökologischer Sicht geboten.

Die Umnutzung industrieller Hallen zur Kreativzone hat sich in vielen Städten als Strategie bewährt. Ausgelöst wird solch ein städtisches Revival zumeist durch eine kulturelle Randszene, die auf günstigen Raum angewiesen ist, dessen assoziationsreiche postindustrielle Anmutung sich als idealer Nährboden für Unerwartetes erwiesen hat. Dass sich diese vordergründig unattraktiven Zonen zumeist an den vergessenen Rändern bilden, verdeutlicht die regionalpolitische Relevanz einer Wertschätzung und Pflege dieser Ressourcen, die nur allzu oft kurz vor ihrer absehbaren Umnutzung endgültig abgerissen werden. In dieser Hinsicht sind Krisenregionen kranken Kindern vergleichbar, die leider zumeist genau dann aus dem Bett springen wollen, wenn es wieder etwas aufwärts geht, wenn sie vermessen meinen, ausreichend Kraft zu diesem Schritt zu haben, statt sich zu schonen. Wie im Leben des Einzelnen gilt es auch im Leben von Gemeinschaften, in der Krise durchzuhalten und nicht in hilflosen Aktionismus zu verfallen. Der Ansturm der Globalisierung bewirkt eine Krise vieler Regionen, die bis zur gelähmt hingenommenen Entwertung gehen kann – doch angesichts all der gleichmacherischen Tendenzen wird auch schon absehbar, dass sich das Einzigartige, das im besten Sinne Merkwürdige von Regionen als ihr herausragendes Verkaufsmoment verstehen und darstellen lässt. Das Techno-Park-Prinzip kann als Versuch zur künstlichen Herbeiführung solch einer “Soho-Situation” verstanden werden, und nicht zuletzt deshalb setzen immer mehr Hochschulen und Regionalförderstellen auf dieses Modell. Oft dient solch ein Park auch als Nachweis der wirtschaftlichen Relevanz von Hochschulen, die wegen wachsender Konkurrenz vermehrt auf entsprechende Leistungsschaufenster angewiesen sind. Und trotz der Erfahrung der unterdessen überstandenen dot.com-Krise ziehen Venture-Kapitalisten eigene Parks hoch, um ein unternehmerisches Mikroklima zu schaffen, das sich neuen Potenzialen gegenüber offen verhalten kann. Unser Ansatz zielt in zwei einander ergänzende Richtungen: Einerseits möchten wir die Randständigkeit der Regionalbahnhöfe als vielfältiges, vernetztes und dezentrales Gesamtsystem in der Form eines dezentral geführten Techno-Parks verstehen. Dieses System, das einer Reihe von Design-Start-ups als Ausgangsbasis dienen soll, wirkt als unternehmerischer Jungbrunnen, der eine in der Provinz willkommene Atmosphäre grossstädtischer Aufbruchsstimmung einbringen dürfte. Gerade das interdisziplinäre Arbeitsfeld der Gestaltung vermag anregende Kreativität auszustrahlen und als verbindende Qualität in den unterschiedlichsten Situationen zu wirken. Gleichzeitig wirkt das Umfeld zur Unternehmensgründung ideal – es verbindet hohe Sichtbarkeit mit einer leistungsfähigen Logistik, die Ausgangsmaterialien,

Kunden, Maschinen und Endprodukte im Stundentakt der Bahn dynamisch verschieben kann. Unter diesen Umständen wird beispielsweise auch eine Intensivnutzung von mobilen Hightech-Maschinen denkbar, die als geteilte Ressource von einem Verbund von Jungunternehmen im Netzwerk genutzt werden können. Wenn der Lasercutter am Dienstag anrollt und der Waterjet jeweils zum Monatsbeginn, dann verfügen auch Kleinstunternehmen über leistungsfähige Produktionsmittel. Selbstverständlich sind solche Geräte oft empfindlich und sollten weder Vibrationen noch Transporten ausgesetzt werden. Und auch das halbautomatische Beladen/Entladen schwerer Spezialmaschinen dürfte ohne das entsprechende Personal einiges Kopfzerbrechen bereiten. Gleichzeitig wirken solche Probleme prinzipiell lösbar, falls die Vorteile einer regionalen Produktion nachgewiesen werden können – um solche Fragen zu klären, braucht das WerkNetz seine Pilotphase. Die Kombination solch eines Gründernetzes mit der Bandbreite an regionalen Institutionen, die als Partner, Lieferanten und Kunden zu wirken vermögen, verwandelt die Mühsal der grossen Distanzen unseres virtuellen Industriequartiers in einen stabilen Vorteil. Und auch den Regionen bringt solch ein Nutzungsvorschlag viel, denn der Unterschied ist erheblich, ob man bloss ein einzelnes Kleinunternehmen in einem Bahnhof ansiedelt oder den Bahnhof unter neuen Vorzeichen als Tor zur Welt versteht und ihn dabei als Zugang zu einem Verbund von Start-ups und als Ort der öffentlichen Selbstdarstellung nutzt. Das Kunstwort “glocal” steht für ein neues Regionalverständnis unter den Vorzeichen der Globalisierung, mit welchem sich lokale und globale Qualitäten ergänzen; als Verkörperung dieser Verbindung bildet der Bahnhof die ideale Schnittstelle zwischen regionalen, nationalen und internationalen Gegebenheiten. Solch offenes Denken findet sich vor allem in Hochschulen und bei Unternehmen, die sich in der Gründungsphase befinden; da stehen die Chancen also ganz gut, dass sich unser dezentraler Bahnhofs-Technopark in eine Pilotplattform für auf Nachhaltigkeit bedachte Firmen entwickeln kann. Junge Firmen könnten sich geschickt und im Rahmen ihrer begrenzten Mittel an einer aufgeladenen gesellschaftlichen Schnittstelle positionieren. - Durch ihre Beteiligung am grösseren Geschehen des Schienennetzes, das den ganzen nationalen Raum umfasst und durchquert, und durch das Engagement im Kontext von Recycling und ÖV entsteht hier eine breit abgestützte Plattform mit einem hohen Sympathiebonus in der Öffentlichkeit.


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