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MACHT EUCH FREI DIE GRASROOT-IDEOLOGIE ERREICHT DIE GESTALTER
A n d r e Wo o d w a r d
L e Ba lt o
Nathalie Miebach
Die
Orte
Der
zivilisierte
der
Himmel 端ber
Natur
Entschleunigung
Maine
EdITOrIal
Editorial Berlin, im Oktober 2011
Handlungen sind gelegentlich romantisch. Im Winter vorletzten Jahres entdeckten wir ein abgerissenes Haus an der Berliner Spree, das zum ehemaligen Münzamt der Stadt gehörte. Es stand seit 20 Jahren leer. Früher lebten hier die Direktoren der Münze auf feudalen Etagen, im Krieg wurden einige Museumsschätze in den unterirdischen Tresoren versteckt. Die DDR prägte an Ort und Stelle noch einmal Münzen, ab da: Leerstand. Als wir zum ersten Mal das schöne Treppenhaus hinaufstiegen, zog der Wind durch die Fenster und Filmteams drehten hier ab und zu. Ansonsten geschah nichts. Das leere Haus warf einfach nur einen großen Schatten. Aber das mitten in Berlin! Am nächsten Morgen bezogen wir das Haus. Wir wussten zwar nicht genau, wie wir die vernichtende bauliche Situation in den Griff bekommen sollten, aber wir wollten im „Direktorenhaus“, wie wir es nannten, bleiben. Wände, zerfurchte Fußböden, abgerissene Heizungen – hier wollten wir sein. In der Folgezeit riegelten wir das Haus ab und versuchten, Herr der Lage zu werden. Lastwagen fuhren vor, und ein Handwerker-Casting folgte dem nächsten. Am Ende machten wir fast alles selbst. Eines Nachmittages im Juni 2010 sagten wir uns, dass genug getan war und eröffneten das Direktorenhaus mit einer Ausstellung des Illustrators Olaf Hajek. Die Erstürmung war zu Ende, aber vieles war noch zu tun. Unser Plan, endlich die nächste Objects-Ausgabe fertig zu stellen, wurde von Monat zu Monat verschoben. Diese Runden dauerten fast ein Jahr. Jetzt endlich, nach dieser langen Pause, erscheint wieder ein Heft und es sieht fast so aus, als könnte das jetzt wieder regelmäßig der Fall sein! Ich möchte jedenfalls allen danken, die das möglich gemacht haben. Pascal Johanssen
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OBJECTS No.5
I N h a lT
2 Editorial
3 Inhalt
4 Panorama
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Essays
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das auge isst mit
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Warum ist es heute so schwierig ist, ein neues Tafelservice zu gestalten?
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der Wert der dinge
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Future perfect
118 Kritik
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Wie die „neuen Gypsies“ ein Leben im Postkapitalismus zelebrieren
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„Diamonds are a girl’s best friend”: Welche Bedeutung hat Schmuck noch?
die neuen aufklärer FormaFantasma arbeiten an der Zukunft dessen, was schon verloren schien: der Aura des Objektes.
reduktion und Verbrechen Warum der mühsame Kampf um Minimalismus und Vereinfachung hoffnungslos ist
Artikel
Review
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Berlin und ich
Impressum
Nick Currie, Schotte und Autor, lebt in Berlin. Warum eigentlich, Nick? 135
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Backlist
das System der ruhe Die Möbelskulpturen von Valentin Löllmann
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The Future human Die Londoner Textil-Designerin Jenny Bich van Lee entwirft „Digital Skins“ für den Menschen von morgen
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paNOrama
Überblick
Was gibt es Neues?
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Was gibt es Neues?
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Adelaide
Just nice Mit ihrer Kollektion D.E verhilft das junge australische Design- und Ehepaar Daniel To und Emma Aiston – alias Daniel Emma – dem Lebensraum Schreibtisch zu ein bisschen Crazyness. Ihre SchreibtischAccessoires sind einfach und gewitzt. Der „Magnetic Tower“, an dem alles Metallene haften bleibt, ist aus Holz, was aussieht wie ein aufgeblasener Legostein, dient in Wahrheit zur Aufbewahrung von Büroklammern und anderem Kleinkram. Hübsch auch die klobigen Briefbeschwerer aus Messing. Die beiden Mitzwanziger halten ihre Entwürfe bewusst unterambitioniert. Als ziemlich entspannt beschreiben sie auch ihren Design-Prozess: Ihre Ideen diskutieren sie am Frühstückkstisch, beim Radfahren oder nachts um drei im Bett. Trotz ihrer jungen Jahre sind die beiden Produktdesigner schon ganz weit vorn. Im vergangenen Jahr erhielten sie Australiens renommiertesten Design-Preis, den Bombay Sapphire Discovery Award Bei ihrer aktuellen Kollektion haben sie auf einfache Materialien und Vor-Ort-Produktion geachtet. Deshalb sind die guten Stücke gar nicht mal so teuer. Der kleine Kork-Konus als Pinnwandersatz ist zum Beispiel schon für 80 Euro zu haben.
www.daniel-emma.com
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Was gibt es Neues?
oben D.E Collection 2011/2012
unten links Hemispheres Material angefragt, 2011, Preis angefragt
unten Mitte Small Pot Holz, Acryl, 2011/2012, Preis angefragt
unten rechts Rubberband Ball Chrom, 端berzogenes & bearbeitetes Aluminium, Harz, 2011/2012, X EUR
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paNOrama
unten The Magician & 9
rechts The Magician & Hearts
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ly r I K
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Titel
Isabell steht auf
Cocktailschirmchen Analverkehr und House und hat 186 Freunde ansonsten weiĂ&#x; ich nichts Ăźber sie
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Designtheorie
reduktion und Verbrechen
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Reduktion und Verbrechen
Nach wie vor regiert die „less is more“-Doktrin die Designwelt. Warum der mühsame Kampf um Minimalismus und Vereinfachung hoffnungslos ist von Roman Bittner
Ein wichtiger Hauptbezugspunkt meiner eigenen Arbeiten, den Illustrationen, waren vor allem die englischen Präraffaeliten. Ich spreche jetzt zum Beispiel von den Tapeten für das Direktorenhaus, die in einer Ausstellung im Herbst letzten Jahres gezeigt wurden. An dem Wänden sah man Entwürfe, die sich vor allem auf den Arts-and-Crafst-Künstler William Morris beziehen. Im Gegensatz zu früheren Arbeiten, die sich vor allem mit Architektur und verdichteten städtischen Strukturen beschäftigten, steht hier die Natur im Vordergrund. Bei den Tapeten gab es noch William Morris, der mich inspirierte, auch viele andere wie Burn-Jones, Ruskin, Leighton und Waterhouse. Nachdem ich zu Beginn meines Studiums noch ein großer Bewunderer der klassischen Moderne vom Bauhaus bis zur Schweizer Grafik gewesen bin, habe ich eine Wende hin zum Ornament vollzogen. Ein erster Einfluss war damals Alfons Mucha. Er war wie die Präraffaeliten ein Künstler, der zwischen Jugendstil, Romantik und Historismus steht. Diese Phase, die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts, in der alle Stile und Ornamente der europäischen und außereuropäischen Stilgeschichte noch einmal aufgegriffen wurden, sind für einen Gestalter von heute ein dankbarer Anknüpfungspunkt. Und ich bin ihm dankbar! Nicht zuletzt auch, weil wir uns gerade in einer ähnlichen Phase wie damals befinden, nur dass sich heute die digitale Medien mit rasanter Geschwindigkeit verändern, während ehedem vor allem mechanische und elektrische Kommunikationsträger wie Zeitung, Buch, Fotografie und Telegrafie die Gesellschaft durcheinanderwirbel-
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ten. In beiden Fällen aber funktionieren diese Multiplikatoren als Motoren von Stilvielfalt und Unkontrollierbarkeit der Stile. I. Wenn man nun meine Tapeten sieht oder aber auch die Einladungskarten, die für das Direktorenhaus entwickelt wurden, gebe ich zu: ja, sie sind ornamental, bildmächtig, voll. Das Gegenteil von „clean“. Das Gegenteil von „cool“. Sie sind antimodern. Aber sind sie das wirklich? Sind sie so retrograd, wie es den Anschein hat? Um diese Frage ehrlich zu beantworten, sollte man prüfen, ob die Wende hin zum Minimalismus, der seit Jahrzehnten die Gestaltung dominiert wie ein Heilsversprechen die Bedürftigen, wirklich nur zu begrüßen ist. War das Weglassen des Ornaments tatsächlich eine Verbesserung? Ich habe da meine Zweifel. Letztendlich muss man immer noch der modernen Architektur den Vorwurf machen, dass sie zwar für die „Villa am Hang“ und das „Museum in der Stadtmitte“ aufregende Lösungen gefunden hat; aber für die Stadt, das Mietshaus, den Bahnhof ist es ihr nicht gelungen, eine überzeugende Vision einer modernen Stadt zu formulieren. Chandigarh und Brasilia werden nur Anziehungspunkt für Architekturfans bleiben. Aber wohin wollen alle Menschen? Alle wollen nach Paris und New York reisen, alle wollen im Prenzlauer Berg wohnen. Aber keiner will so bauen. Den Unterschied macht meiner Ansicht nach das Ornament.
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Grundsätzlich sind zwischen Lehmann-BrothersPleite und Fukushima die Begriffe „Fortschritt“, „ewiges Wachstum“ und „Innovation“ gar keine uneingeschränkt positive belegten Begriffe mehr. Auch ist die Frage ist auch immer noch offen, warum etwa um 1900 die Parameter „Neuheit“ und „Innovation“, deren Reiz letztendlich dem Siegeszug der Wissenschaft und Forschung entsprang, von profanen Automobilausstellungen und Landwirtschaftsmessen kritiklos auf Kunst und Ästhetik übertragen wurden. Gehorchen der Kunstbetrieb und auch das Design nicht allen gewöhnlichen Reflexen der Konsumwelt?
So wie wir über „less is more“ hinaus sind, so sind wir schon über „more is more“ hinaus Ich denke, so wie wir über „less is more“ hinaus sind, so sind wir schon über „more is more“ hinaus. Es ist schwierig zu verstehen, dass wir vermutlich schon mit dem ersten Massenmedium, dem Buch, das ab 1800 in großen Stückzahlen produziert werden konnte, in eine neues Zeitalter eingetreten sind, in dem die alten Faustformeln der Kulturkritik viel von ihrer Gültigkeit verloren haben. Medienerfahrung ersetzte von da an und bis zum heutigen Tag mit sich steigernder Wirkung Lebenserfahrung. Das bedeutet vor allem das Ende von Eindeutigkeit, Gewissheit und Linearität. Trotzdem, oder gerade deswegen wurde mit wachsendem Engagement versucht, diese neue Zeit mit dem intellektuellen Handwerkszeug des vorindustriellen Zeitalters zu verstehen. Einzigartigkeit, Originalität, Innovation – vielleicht alles nur hilflose Versuche das alte Europa zu retten und Pfosten der Individualität in die Flut der Entindividualisierung des Massenmedienzeitalters zu schlagen. Schlussendlich ist aber der „weniger ist mehr“-Kampf um Reduktion und Vereinfachung auch immer ein hoffnungsloser Kampf gegen Komplexität gewesen. Ein Kampf gegen die verworrenen Strukturen eines neuen Zeitalters. Wenn heute Ingenhoven, der Architekt des neuen Stuttgarter Bahnhofs, hinter Stuckfassaden eine ver-
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logene Bürgerlichkeit zu erkennen glaubt, dann wird deutlich, dass die von der Wiener Avantgarde gleichgesetzte Oberflächlichkeit der Gesellschaft mit ihren prunkvollen Fassaden immernoch als Denkmuster funktioniert – obwohl es diese Gesellschaft längst nicht mehr gibt und sich in den alten Gründerzeitmietskasernen hauptsächlich Migranten, Künstler und Studenten-WGs niedergelassen haben. II. Als Urheber der großen Skepsis dem Ornament gegenüber wird oft Adolf Loos genannt. Der österreichische Architekt und Theoretiker betitelte seinen berühmten Aufsatz mit „Ornament und Verbrechen“, und nicht mit – wie man so oft hört – „Ornament ist Verbrechen“. Er untersuchte die Rolle des Ornaments an Gebrauchsgegenständen, vor allem dem Bauornament, aber er setzte nur in Bezug, ohne gleichzusetzten. Dieser hundert Jahre alte Slogan, in seiner vom Volksmund durch das „ist“ verschärften Form, vielleicht eine der mächtigste Werbebotschaften im Design des zwanzigsten Jahrhunderts, hat offensichtlich bis heute nichts von seiner Bedeutung verloren. Marshall McLuhan bemerkte in den sechziger Jahren, dass sich unser Blick auf eine vorhergegangene Zeitwende verändert, wenn wir eine neue Zeitwende erleben. An einem solchen Punkt sind wir heute auch gerade. Mit dem Eintritt in die digitale Zukunft verändert sich gleichzeitig unser Blick auf den Übergang vom mechanischem ins elektrischem Zeitalter, der mit der Industrialisierung zwischen 1840 und 1914 vollzogen wurde. Kennt jemand noch das Märchen von Hans Christian Andersen, „Des Kaisers neue Kleider“? Das Märchen handelt von einem Kaiser, der sich von zwei Betrügern für viel Geld neue Gewänder weben lässt. Diese machen ihm weis, die Kleider seien nicht gewöhnlich, sondern könnten nur von Personen gesehen werden, die ihres Amts würdig und nicht dumm seien. Tatsächlich geben die Betrüger nur vor zu weben und dem Kaiser die Kleider zu überreichen. Aus Eitelkeit und innerer Unsicherheit erwähnt er nicht, dass er die Kleider selbst auch nicht sehen kann und auch die Menschen, denen er seine neuen Gewänder
Opium Den Poster, Roman Bittner, 2010
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Reduktion und Verbrechen
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ly r I K
DESIGNER klingt nach Glastisch
GRAFIKER klingt nach Zirkel
KÜNSTLER klingt nach Beziehungsstress
Gestalter klingt nach nichts. Das bin ich.
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Titel
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