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FrEUNDLICHE UNTErDrÜCKUNG IST VIEL EFFIzIENTEr“ INTErVIEW mIT CYrIL SCHäUBLIN ÜBEr UNrUH

AchT BERgE

Zwei Lebenswege

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Mit der bittersüßen, musikalischen Liebesgeschichte THE BROKEN CIRCLE schufen Charlotte Vandermeersch und Felix van Groeningen basierend auf dem Theaterstück von Johan Heldenbergh das Drehbuch zu einem der emotional kraftvollsten Filme des vergangenen Jahrzehnts. Mit ACHT BERGE adaptierten sie nun den gleichnamigen Roman von Paolo Cognetti erneut als Gemeinschaftsprojekt und führten auch erstmals gemeinsam Regie. Über mehrere Jahrzehnte hinweg erzählt der Roman von der Freundschaft zweier Jungs, deren Wege sich in einem kleinen Bergdorf im italienischen Aostatal kreuzen. Pietro kommt aus der Stadt, Bruno ist das letzte Kind in der entlegenen Siedlung. Trotz ihrer Gegensätze werden sie Freunde. Doch ihr Heranwachsen zu Männern lässt sie auseinanderdriften. Während es Pietro in die Welt zieht, bleibt Bruno dem Leben in den heimischen Bergen treu. Das Schicksal führt sie schließlich wieder zusammen. Ganz getragen von der mächtigen Naturkulisse und den zwei überzeugenden Hauptdarstellern Luca Marinelli (MARTIN EDEN) und Alessandro Borghi (SUBURRA) erzählt ACHT BERGE von unterschiedlichen Lebenswegen und Konzepten, dem Verlust von und dem sturen Festhalten an Idealen. Ist es besser, sich selbst treu zu bleiben, oder die Veränderung zu suchen? Einfühlsam führen Vandermeersch und Groeningen zweieinhalb Stunden durch zwei Leben, die sich gegenseitig bereichern. Eine Beziehung mit Höhen und Tiefen. Es sind die großen Themen – Familie, Freundschaft

Originaltitel: Le otto montagne D Italien/Belgien 2022 D 147 min D R: Felix van Groeningen, Charlotte Vandermeersch D B: Charlotte Vandermeersch, Felix van Groeningen D K: Ruben Impens D S: Nico Leunen D D: Alessandro Borghi, Luca Marinelli, Filippo Timi, Elena Lietti D V: DCM Film

und Verlust – verhandelt im Kleinen einer Beziehung zwischen zwei Menschen. Bei den Filmfestspielen in Cannes gab es dafür den Großen Preis der Jury. Die ACHT BERGE zu erklimmen, ist ein Kraftakt, aber die Aussicht von der Spitze ist wahrhaftig und

wundervoll. D Lars Tunçay ¢ Start am 12.1.2023

Over decades, two friends cross paths, lose touch and find each other again in a small mountain village in the Italian Aosta Valley.

Originaltitel: The Albanian Virgin D Albanien/Belgien/Deutschland/Kosovo 2021 D 120 min D R: Bujar Alimani D B: Katja Kittendorf D K: Jörg Widmer D S: Philipp Thomas D M: Olaf Didolff D D: Rina Krasniqi, Kasem Hoxha, Mimoza Azemi, Shkurte Sylejmani D V: Splendid Film

lUANAs schwUR

Status: Mann

Frauen in patriarchalen Gesellschaften sind eingesperrt in viele miteinander verwobene Zwänge. Wer rebelliert, stolpert statt in ein freies Leben oft nur in neue Zwangskonstrukte hinein. So ergeht es der titelgebenden Hauptfigur im Spielfilm LUANAS SCHWUR des albanischen Regisseurs Bujar Alimani. In den 50er Jahren wächst sie in Albanien auf, eines der ärmsten Länder Europas und von 1944 bis 1990 kommunistische Diktatur. Von den geschichtlichen Umwälzungen bekommen Luana und ihre Familie auf dem Land nicht viel mit – sie leben noch immer nach den Regeln des Kanun, ein Verhaltenskodex aus dem 15. Jahrhundert, sowie ihres christlichen Glaubens. „Wir brauchen die Regeln, sie machen uns zu Menschen, egal wie grausam sie uns erscheinen mögen“, sagt ihr Vater, als er erfährt, dass Luana heimlich das Lesen gelernt hat. Luana gibt sich Mühe, sich an seine Weisungen zu halten, doch ihre unerhörten jugendlichen Befreiungsversuche holen sie im Erwachsenenalter wieder ein. Schließlich trifft sie die Wahl, zur Burrnesha zu werden – zur „eingeschworenen Jungfrau“, die ihren Status als Frau aufgibt und in der Gesellschaft die Rolle eines Mannes übernimmt. Was gewaltvolle Traditionen wie das Gebot der Jungfräulichkeit, Zwangsehen und die Tradition der Blutrache mit Frauen und Familien machen, erzählen Alimani und die deutsche Drehbuchautorin Katja Kittendorf schonungslos. Zugleich betrachten sie auch streitbare Figuren wie Luanas Eltern mit einem differenzierten Blick und zurückhaltendem Optimismus. LUANAS SCHWUR ist ein dichtes Historiendrama, das mit bewegenden Naturaufnahmen in der Abgeschiedenheit der albanischen Berge eine subtile Westernatmosphäre entfaltet. Dabei hinterlässt gerade auch der hervorragende, mit albanischen Volksliedern gespickte Soundt-

rack einen bleibenden Eindruck. D Eva Szulkowski ¢ Start am 9.2.2023

Albania in the 50s: the emancipatory attempts of young Luana cause her to come in conflict with the traditions of the village community. She decides to become a Burrnesha – a “sworn virgin”, who gives up her status as a woman and is considered a man in society.

Originaltitel: Petrovy v grippe D Russland 2021 D 145 min D R: Kirill Serebrennikov D B: Kirill Serebrennikov D K: Vladislav Opelyants D S: Yuriy Karikh D D: Chulpan Khamatova, Semyon Serzin, Yulia Peresild, Yura Borisov, Yuri Kolokolnikov D V: Edition Salzgeber

pETRov’s FlU

Reise in die russische Nacht

Mehrere Jahre stand der russische Theater-, Opern-, und Filmregisseur Kirill Serebrennikov unter Hausarrest, vage Vorwürfe der Untreue schränkten seine Freiheit ein, die Gefahr einer Verurteilung und der Lagerhaft hingen in der Luft. Es hilft, mit diesem Wissen Serebrennikovs neuen Film PETROV’S FLU zu sehen, die Verfilmung eines Romans von Alexey Salnikov – eine atemlose, irritierende, delirierende Reise in die russische Nacht. Vom ersten Moment an schwebt ein Gefühl der Paranoia, der Bedrohung über den Bildern, die Russland Anfang der Nuller Jahre zeigen. Schauplatz ist Jekaterinburg, eine Stadt wenige Kilometer östlich des Urals, also der fiktiven Grenze zwischen Europa und Asien, zwischen West und Ost. Hauptfigur ist Petrov, ein Automechaniker, der wie fast alle Bewohner*innen der Stadt von einer Grippe geplagt ist. (Bezüge zur Corona-Pandemie sind natürlich zufällig, aber nicht weniger reizvoll.) Von einem Freund bekommt er ein Medikament, das vor allem dafür sorgt, dass Petrov – und mit ihm der Zuschauer – in einen wilden, oft auch wirren Strom aus Gedanken und Erinnerungen gezogen wird. Bilder aus Petrovs Vergangenheit vermischen sich mit der Gegenwart, kontemplative Momente wechseln ab mit Szenen, in denen der Verfall der staatlichen Ordnung überdeutlich wird. War Serebrennikovs vorheriger Film LETO geprägt von sommerlichen Bildern und Melancholie, ist PETROV’S FLU durchzogen von Chaos und Anarchie. Weniger eine nachvollziehbare Handlung, als lange Kamerafahrten halten das Geschehen zusammen, verbinden in fließenden Einstellungen die disparaten Ideen und Gedanken. Viel zu viel ist das oft, gespickt mit Anspielungen an die russische Realität, die aus der Ferne kaum zu verstehen sind, wild und ungezügelt, voller eindringlicher Bilder und Momente, auf die es

sich einzulassen lohnt. D Michael Meyns ¢ Start am 26.1.2023

Petrov, a car mechanic, is plagued by the flu like almost all the residents of the city. He gets medication from a friend that causes him to go into a wild and often tumultous stream of thoughts and memories. Originaltitel: Maria rêve D Frankreich 2022 D 93 min D R: Lauriane Escaffre, Yvonnick Muller D K: Antoine Sanier D S: Valérie Deseine D M: René Aubry D D: Karin Viard, Grégory Gadebois, Philippe Uchan, Noée Abita D V: Atlas Film

mARIA TRäUmT – oDER: DIE kUNsT DEs NEUANFANgs

Beschwingt-romantisch Nachdem die alte Dame, bei der Maria (Karin Viard) jahrelang geputzt hat, das Zeitliche gesegnet und ihrer ehemaligen Angestellten nichts als eine Messingtaube hinterlassen hat, findet Maria eine Putzstelle an der renommierten Pariser Académie des Beaux-Arts. Doch kaum hat sie dort angefangen, passiert ihr das erste Malheur. Getreu ihrer Devise „Immer zweimal wischen!“ entfernt sie beherzt zerlaufene Butter von einem Sockel, die sich im Nachhinein als das Werk eines brasilianischen Künstlers entpuppt. Doch Hausmeister Hubert (Grégory Gadebois), heimlicher Hobbytänzer und gute Seele der Hochschule, rettet Maria – und ersetzt das Œuvre durch Butter aus der Kantine. Maria, die auf dem Heimweg in den Vorort Gedichte schreibt, und Hubert, der sich mit YouTube-Tutorials den Hüftschwung à la Elvis beizubringen versucht, sind sich sympathisch, doch Maria ist verheiratet. Das Regieduo Lauriane Escaffre und Yvonnick Muller stellt in MARIA TRÄUMT eine Mittfünfzigerin in den Mittelpunkt – allein das ist angesichts fehlender Sichtbarkeit älterer Frauen auf der Leinwand bemerkenswert. Unsichtbar zu sein ist das, was Reinigungskraft Maria an ihrem Job gefällt. Doch in der Kunsthochschule erkennen Hub und Studentin Naomie (Noée Abita) Marias Talente. Bald sitzt Maria – zunächst verschämt, dann zunehmend selbstbewusster – abends als Aktmodell im Zeichensaal. Die dreifache César-Gewinnerin Karin Viard, bekannt aus VERSTEHEN SIE DIE BÉLIERS (2014), trägt die beschwingt-romantische Komödie mit ihrer immer losgelösteren Darstellung einer erfahrenen Frau, die nicht nur die Liebe, sondern vor allem sich selbst findet – und dabei aufblüht. Escaffre und Muller, die zwei Nebenrollen spielen, widmen ihren feministischen Film „allen Marias der Welt“.

D Stefanie Borowsky ¢ Start am 19.1.2023

After the old lady who Maria cleaned for dies, Maria finds a cleaning job and new perspectives at the renowned Parisian Académie des Beaux-Arts.

DER gEschmAck DER klEINEN DINgE

Gérard Depardieu spielt den berühmtesten Chefkoch Frankreichs. Gabriel Carvin kann sich allerdings schon lange nicht mehr an seinem Erfolg freuen, seine Familie ist in Trümmern, seine Frau betrügt ihn mit einem Restaurant-Kritiker, und nicht einmal das Essen schmeckt mehr. Als Carvin einen Herzinfarkt erleidet, beschließt er, sein Leben umzukrempeln und reist zu einem ehemaligen Konkurrenten nach Japan, um sich genauer mit dem „Umami“ jener fünften Geschmacksnote neben süß, sauer, salzig und bitter zu beschäftigen.

¢ Start am 9.2.2023

Originaltitel: Umami D Frankreich 2022 D 92 min D R: Slony Sow D D: Gérard Depardieu, Pierre Richard, Kyôzô Nagatsuka, Rod Paradot, Sandrine Bonnaire

AkRopolIs BoNJoUR

Thierry (Jacques Gamblin) geht seit seiner Pensionierung allen mit der Archivierung der Familienfotoalben auf die Nerven. Als seine Frau Claire (Pascale Arbillot) sich – nicht nur deswegen – trennen will, bequatscht er sie, ein letztes Mal mit der ganzen Familie Urlaub zu machen, bevor sie es den beiden erwachsenen Kindern sagen. Das Ziel: Griechenland 1998 – der schönste Urlaub aller Zeiten. Thierry versucht, alles exakt so zu rekreieren wie damals, alle anderen sind vornehmlich genervt. Kathartisches Chaos ist die Folge.

¢ Start am 16.2.2023

Originaltitel: On sourit pour la Photo D Frankreich 2022 D 95 min D R: François Uzan D D: Jacques Gamblin, Pascale Arbillot, Pablo Pauly, Agnès Hurstel, Ludovik

„FREUNDlIchE UNTERDRückUNg IsT vIEl EFFIzIENTER!“

Interview mit Cyril Schäublin zu UNRUH

Cyril Schäublin, geboren 1984 in Zürich, entstammt einer Uhrmacherfamilie und wuchs in der Schweiz auf. Zwischen 2004 und 2006 lebte er in China, wo er in Peking Mandarin und Film studierte. Es folgte ein Regiestudium an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin (DFFB). Zurück in der Schweiz drehte er seinen Debütfilm DENE WOS GUET GEIT über eine Callcenter-Mitarbeiterin, die in ihrer Freizeit ältere Frauen mit dem „Enkeltrick“ ausnimmt. Der Film wurde in Locarno uraufgeführt und erhielt eine Nominierung für den Europäischen Filmpreis. Sein Zweitling UNRUH (OT: Unrueh) spielt in einem beschaulichen Schweizer Bergdorf anno 1877, in dessen Uhrenfabrik die Arbeiter*innen sich in der internationalen anarchistischen Bewegung organisieren. Auf der Berlinale gab es dafür den Regie-Preis der Sektion „Encounters“. Mir dem Regisseur sprach Dieter Oßwald. INDIEKINO: Die Figuren in UNRUH sind extrem freundlich im Umgang miteinander. Was hat es damit auf sich?

Das ist mein Erleben. Ich habe meine Familie befragt, meine Großtanten und Großonkel, die in einer Uhrenfabrik gearbeitet hatten, wie damals deren Verhältnis zu den Vorgesetzten war. Zu meinem Erstaunen war die Antwort immer dieselbe: Man empfand diese Autoritäten als sympathische, fürsorgliche Leute, welche auf einen aufgepasst haben.

Wie lässt sich das erklären? Alles nur gute Menschen in der Schweiz?

Ich glaube, diese freundliche Unterdrückung oder fürsorgliche Gewaltausübung ist eigentlich furchtbarer als eine offensichtlich gewaltvolle Haltung. Denn diese Methode ist eben viel effizienter.

In China verliefen die Übergänge von den kaiserlichen Dynastien zur kommunistischen Revolution sehr schnell. Der Bezug zu Gewaltausübung und Autorität ist unglaublich viel komplexer als in Europa. Erstaunlich ist, wie diese Ordnungen für die Menschen so hingestellt und dann irgendwie gelebt werden, trotz aller Brüche, die vorhanden sind. Es wird sich auch in China nie vollständig kontrollieren lassen, wie die Menschen sich begegnen und organisieren. Auf sozialen Netzwerken muss sich jeder total zurücknehmen mit seiner Meinung. Aber sobald man in ein Restaurant oder einen Park geht, wird dort ohne Probleme geflucht und abgekotzt über die Regierung.

Bei der Schweiz dürften die meisten eher an Banken als an Anarchie denken. Wie bekannt ist dieses Kapitel der Geschichte?

Das Wissen darum beschränkt sich auf linke Kreise. Derweil kennt jedes Kind bei uns die Heldenlegende des Arnold Winkelried und der Schlacht bei Sempach. Auch in UNRUEH soll diese Schlacht ja von den Nationalisten nachgestellt werden. Solche nationalistischen Mythologien sind viel stärker im Geschichtsbewusstsein der Menschen. Es gibt viele Dokumente, die bezeugen, dass die Anfänge der anarchistischen Bewegung sehr respektiert waren in diesem Tal. Es stimmt wirklich, dass der Direktor der Uhrenfabrik ein Abonnent der anarchistischen Zeitung war.

Wie haben Sie diese anarchistischen Wurzeln in der Uhrenindustrie freigelegt?

Während seines Anthropologiestudiums in England entdeckte mein Bruder Emanuel, der mich später als ethnografischer Berater für den Film unterstützte, die anarchistische Theorie und Bewegung des 19. Jahrhunderts und ihre Verbindungen zur Schweizer Uhrenindustrie. Er brachte mich dazu, Texte des russischen Anarchisten Pyotr Kropotkin zu lesen. Als ich über das autobiografische Zitat stolperte, in dem Kropotkin beschreibt, wie er zum Anarchisten wurde, nachdem er ein Schweizer Uhrmachertal und dessen anarchistische Bewegung besucht hatte, wusste ich sofort, dass dies Teil des Films sein würde – neben einer Figur, die von meiner eigenen Großmutter inspiriert war, einer Uhrenfabrikarbeiterin, die die Unruhe herstellte

Was wurde aus dem realen Anarchisten Pyotr Kropotkin?

Pyotr Kropotkin ist aktuell einer der am meisten gehypten politischen Schriftsteller des 19. Jahrhunderts. In Frankreich und den USA gibt es Neuauflagen seiner Bücher. Sehr empfehlen kann ich sein Werk „Gegenseitige Hilfe“. In anarchistischen und linken Kreisen ist Kropotkin sehr bekannt und berühmt. In Moskau gibt es sogar eine Metro-Station, die seinen Namen trägt. An der Berliner Filmschule hörte ich von russischen Kommilitonen oft die Klage, dass die Darsteller in russischen Filmen meist nicht echt wirkten und mit falschem Dialekt sprechen. Deswegen war mir wichtig, die Rolle glaubwürdig mit einem Muttersprachler zu besetzen, der zudem einen Bezug zu der Figur hat. Mit Alexei Evstratov hatte ich dann einen absoluten Kropotkin-Aficionado gefunden - und er hat dazu auch ein schönes Gesicht.

Was hat es mit dieser Liebegeschichte zwischen der Arbeiterin und dem Anarchisten auf sich?

Meine ursprüngliche Idee war es, die „Liebesgeschichte“, den bekannten „Boy-meets-Girl“-Aspekt, in eine Art Persiflage des Genres zu packen. Sie gipfelt in der Schlussszene, wenn die Begegnung zwischen Josephine und Pyotr von den Leuten, die ihre Fotos kaufen, fiktionalisiert und vermarktet wird. Amüsanterweise fiktionalisiert und vermarktet die „Liebesgeschichte“ auch den eigentlichen Film und wertet ihn dahingehend vielleicht auf. Aber letztlich nimmt der Film, zumindest für mich, eine Position ein, die weit von einer Persiflage entfernt ist.

Visuell fühlt man sich in Ihrem Film bisweilen an Wimmelbilder erinnert, bei denen man erst genauer hinschauen muss, um die Akteure zu entdecken. Was hat es mit diesem Konzept auf sich?

Ich finde es manchmal nicht so einfach, über Bilder zu reden. Es ist ja auch das Schöne an Bildern, dass Sprache immer nur versuchen kann, darüber zu sprechen. Gar nichts zu wissen und alles ist möglich, waren die beiden Leitlinien für meinen Kameramann Silvan Hillmann und mich bei unserer Suche nach Motiven. Wir wollten in einen Austausch treten mit diesen Orten. Wir wollten vermuten, dass es eine Intelligenz gibt der Mauern, der Straßen und Fabriken, die man selbst vielleicht gar nicht verstehen kann. Jeder Film, und historische Filme insbesondere, bieten immer eine Auswahl von Informationen. Man kann die Vergangenheit nicht als objektive Wirklichkeit zeigen. Deswegen wollten wir Bilder schaffen, bei denen man seinen eigenen Blick organisieren kann. Wo man selbst überlegt, wohin der Blick geht und wem die Aufmerksamkeit in diesem Wimmelbild geschenkt wird. Wer spricht wo? Was wird repräsentiert? Und wer darf überhaupt im Bild sein?

Was sagt Ihre Familie zu dem Film?

Traurigerweise sind fast alle, die ich für den Film befragt hatte, mittlerweile verstorben. Mein Großonkel Paul ist jetzt 99 Jahre, für ihn werde ich UNRUEH in seinem Altersheim zeigen. Was mich besonders freut, ist der Umstand, dass Uhrmacher, die den Film vorab gesehen haben, bestätigen, dass die handwerklichen Abläufe alle stimmig sind.

UNRUh

Antihierarchisches Projekt

Was haben Schweizer Uhren mit dem Anarchismus gemeinsam? Was wie ein Witz klingt, ist ein weitgehend vergessener historischer Zusammenhang: Die Schweizer Uhrenindustrie im Berner Juragebirge war im 19. Jahrhundert ein Zentrum der internationalen anarchistischen Bewegung. Die Organisation der Arbeiter*innen war auch eine Reaktion auf ihre zunehmend prekären Arbeitsbedingungen. Die Industrialisierung der Produktion machte die menschliche Arbeitskraft schlecht bezahlt und austauschbar, die zunehmend globale Konkurrenz drückte die Löhne weiter. Trotzdem brachten die Arbeiter*innen noch regelmäßig Geld auf, um anarchistische Gruppen in Nordamerika, Spanien oder England zu unterstützen. Und Anarchist*innen aus der ganzen Welt, unter ihnen auch Bakunin und Kropotkin, besuchten ihrerseits die Genoss*innen im Juratal. Regisseur Cyril Schäublin hatte mit UNRUH jedoch kein Historiendrama und schon gar kein Biopic im Sinn. Der Film bewegt sich zwischen konkreter Geschichte und assoziativer Kritik: Es geht zwar auch um Kropotkins Zeit im Juratal, um die Umwälzungen der Uhrenindustrie und um anarchistische Selbstorganisation, aber auch abstrakter um das kapitalistische Diktat der Zeit, um fotografische Vermarktung, um subtile Unterdrückung und stillen Widerstand. UNRUH stellt gängige Konzeptionen von Zeit, Arbeit, Erinnerung, kollektiver Identität und nicht zuletzt von filmischer Erzählung in Frage, aber nicht in den Fokus. Auch die

Originaltitel: Unrueh D Schweiz 2022 D 93 min D R: Cyril Schäublin D K: Silvan Hillmann D M: Li Tavor D D: Clara Gostynski, Alexei Evstratov, Monika Stalder, Hélio Thiémard, Li Tavor D V: Grandfilm

Laienschauspieler*innen bevölkern die ruhigen Einstellungen mehr als sie sie dominieren. UNRUH scheint selbst ein antihierarchisches Projekt zu sein, ein friedliches Nebeneinander von Umgebungsgeräuschen, historischen Charakteren und diskursiven Bezügen. Schäublin schafft hier einen sanften und atmosphärischen, doch dadurch nicht weniger kritischen Film. D Yorick Berta

¢ Start am 5.1.2023

UNRUH is about Kropotkin‘s time in the Jura valley, the upheavel of the watchmaking industry in the 19th century and the anarchist self-organization of the watch workers, but also about the capitalist dictate of time, subtle oppression and quiet resistance.

Originaltitel: Women Talking D USA 2022 D 104 min D R: Sarah Polley D B: Sarah Polley D K: Luc Montpellier D S: Christopher Donaldson D M: Hildur Guðnadóttir D D: Frances McDormand, Claire Foy, Rooney Mara, Jessie Buckley, Sheila McCarthy, Judith Ivey, Ben Whishaw D V: Universal Pictures

DIE AUsspRAchE

Feministisch-didaktisch

DIE AUSSPRACHE, Sarah Polleys Adaption von Miriam Toews Roman, ist ein eigenwilliger Film. Die Kinobilder der ländlichen Mennoniten-Gemeinde in „Jahrhundertwende-Grau-Blau“ sind eingängig und irgendwie vertraut aus zahllosen Filmerzählungen. Die theaterhafte, fragmentarische Inszenierung ist gewöhnungsbedürftig. Die Dialoge sind gewollt didaktisch und scheinen mal im Jetzt, mal in einer vor-industriellen Vergangenheit verortet. Das Ganze irritiert, entfaltet aber doch auch einen Sog. Wesentlicher Ort der Handlung ist ein Heuboden. Hier beraten die Frauen einer tiefreligiösen Gemeinde über ihr weiteres Schicksal. Wie es zu dieser Situation kam, handelt der Film kurz im Vorspann ab: Männer der Gemeinde haben jahrelang Frauen und Mädchen vergewaltigt und ihnen eingeredet, die Angriffe würden von Dämonen begangen. Als die Frauen einen der Männer erwischen, werden die Täter verhaftet. Die Gemeinde hat Kaution gezahlt, und die Frauen haben nun zwei Tage, um zu überlegen, was sie tun sollen: Nichts tun, bleiben und kämpfen oder gehen. Acht Frauen, darunter die strenge Janz (Frances McDormand), die kluge Ona (Rooney Mara) und die wütende Agata (Claire Foy), sollen die Entscheidung für alle treffen, und der sanfte Lehrer August – der einzige Mann mit Sprechrolle – schreibt Protokoll. Der Film folgt der mäandernden Diskussion und verflicht sie mit kurzen, schockierenden Rückblenden und kleinen Ausblicken – ins Feld, in eine leere Küche oder in die Schule, in der nur die Jungen lernen. Auf dem Heuboden geht es um Schuld (Sind einzelne Männer oder das System verantwortlich?), um Widerstand (Bedeutet Gehen Fliehen?) um Erziehung (Sind die Knaben noch rettbar?) und um Gott (Was wäre der gottgefällige Weg?). Dazwischen streiten die Frauen, sie weinen und trösten einander und singen „Nearer, my

Wo ist Anne Frank

EIN FILM VON ARI FOLMAN

God, to Thee“. D Hendrike Bake ¢ Start am 9.2.2023

After the men of a Mennonite community get convicted of multiple rapes, the women have to decide what they are going to do. Sarah Polley’s unconventional adaptation of Miriam Toew’s novel follows the womens’ discussion.

UTAmA

Der Himmel über dem Altiplano

Manche Filme sind fast zu schön, um sie auf dem Papier zu beschreiben. UTAMA, das Regiedebüt des bolivianischen Fotografen Alejandro Loayza Grisi ist so ein Fall. Jedes Bild dieses kleinen, ergreifend liebevollen Dramas über Vermächtnis, Verlust und Wandel ist so sorgfältig komponiert, dass man für einen Moment alles andere ausblendet und nur dem Blick der Kamera folgt. Diesem Sog, den die unglaubliche Kraft der Natur erzeugt.

Das zeigt schon die erste Einstellung: Tief hängt der Himmel über dem Altiplano – einem Hochplateau der Anden im Dreiländereck von Peru, Bolivien und Chile. Nur ein schmaler greller Streifen Sonnenlicht am Horizont kämpft sich bereits durch. Ein Mann zieht einsam in den Tag hinaus, und die Geschichte nimmt ihren Lauf. Langsam lernen wir Virginio (José Calcina) und seine Frau Sisa (Luisa Quispe) kennen, deren ausgezehrte Gesichter so rissig sind wie die Erde unter ihren Füßen. Er verbringt seine Tage damit, eine kleine Herda Lamas durch die Steppe zu schieben auf der Suche nach Gras. Sie kocht, wäscht, macht den Haushalt – all das ohne fließendes Wasser und Strom. Ihr gemeinsames Leben ist hart, einfach und arm. Aber sie haben einander, mehr brauchen sie nicht. Die beiden Laienschauspieler sind auch in Wirklichkeit ein Paar. Man kann die Nähe zwischen ihnen in jeder Geste spüren. Und in der Stille, dem Schweigen – ihr schwerer Atem verrät mehr als jedes Wort.

Originaltitel: Utama D Bolivien 2022 D 87 min D R: Alejandro Loayza Grisi D B: Alejandro Loayza Grisi D K: Bárbara Álvarez D S: Fernando Epstein D M: Cergio Prudencio D D: José Calcina, Santos Choque, Luisa Quispe D V: Kairos Film

Erst als ihr Enkel Clever (Santos Choque) auftaucht, um die beiden Alten zu überreden, in die Stadt überzusiedeln, entlädt sich der Konflikt, der im Zentrum des Films steht: Der Junge versteht nicht, was seine Großeltern so zwingend in dieser Einöde hält, in der es nicht mehr regnen will und der fortschreitende Klimawandel ein Überleben zunehmend unmöglich macht. Das eigentliche, hochbrisante Problem wird jedoch niemals beim Namen genannt. Stattdessen bestimmen poetische Fabeln, ein Bergritual und die innige Verbundenheit zwischen Virginio und Sisa zueinander und zu ihrem Land die zerbrechliche Welt von UTAMA. Eine Welt, der man sich ebenso schwer entziehen kann wie die Menschen, die in ihr leben, vom ersten Wimpernschlag bis zum letzten, schmerzlichen Augenblick. D Pamela Jahn

¢ Start am 9.2.2023

Life in the Andes highlands gets increasingly more difficult for Vigilio and Sisa, who belong to the indigenous Quechua community. Their grandson urges them to move to the city.

ThE sToRy oF lookINg

Pragmatisch poetisch

Aufstehen und rausgehen oder sich nur vorstellen, was er dort sehen, wem er begegnen würde? Der Tag vor der unvermeidlichen wiewohl bedrohlichen Augenoperation soll adäquat genutzt werden. Mark Cousins (Regie, Buch, Kamera), nackt unter die Decke gekuschelt, spricht von seinem Bett aus direkt in die sehr nahe Kamera, plaudert Intimes aus und stellt philosophische Fragen. Videotagebuch, Blog oder eine Videokonferenz mit dem Publikum? Eines wird schnell klar: THE STORY OF LOOKING ist alles andere als eine akademische Abhandlung über das Sehen. Der Filmhistoriker, Buchautor und Filmemacher Cousins lässt uns vielmehr zutraulich teilhaben an seinem persönlichen Nachdenken über Gesehenes und die Bedeutung des Schauens fürs menschliche Leben. Dabei wählt er als losen roten Faden die Entwicklungsstationen der optischen Wahrnehmung beim Menschen. Babies sehen zunächst unscharf. Es kommt Bewegung hinzu, Blickkontakt wird wichtig, dann spielen Farben eine Rolle, Licht wird als es selbst geschätzt. Zu jedem dieser Wahrnehmungselemente assoziiert Cousins Bildmaterial, das mal eigenständig erzählt, mal den gesprochenen Text stützt. Es mischen sich Erinnerungsschnipsel mit Landschaften, Sonnenauf- und -untergänge mit Abrißszenen und Spiegelungen, vieles mit einer unbekümmert subjektiven Kamera notiert. Aber auch kurze Kinofilmausschnitte sowie Gemäldebetrachtungen tragen pointiert und sinnlich zur Erörterung bei. Introspektiv aufs Bildbuch der Erinnerungen oder welterkundend nach außen gehend, die Perspektive dieses Essays ist pragmatisch poetisch. Es schält sich heraus, wie stark das Ansehen von Dingen über das Reflexionsmoment hinaus auch einfach etwas Entlastendes haben kann. Die Liebe zu einem visuellen Moment wird verstanden als Reaktion

auf das Vergängliche der Zeit. D Anna Stemmler ¢ Start am 9.2.2023

Film historian, writer, and filmmaker Mark Cousins confides in us and lets us participate in his personal thoughts about being seen and the meaning of looking in human life.

„Was ist ein gutes Leben? Ich hab keine Ahnung davon. Aber die Luft will ich auch mal riechen.“

Ein Film von Tine Kugler und Günther Kurth

AB 26. JANUAR IM KINO

Spanien/Deutschland 2022 D 95 min D R: André Szardenings D B: André Szardenings D K: André Szardenings D S: Antonia-Marleen Klein D M: NOIA D D: Julius Nitschkoff, Lana Cooper, Karin Hanczewski D V: missingFILMs

BUllDog

Symbiotische Beziehung

Bruno (Julius Nitschkoff) und Toni (Lana Cooper) haben Spaß. Das Leben ist ein großes Abenteuer für den 21-Jährigen und seine flippige Mutter mit den pinken Haaren, die gerade mal 15 Jahre älter ist. Die beiden arbeiten als Reinigungskräfte auf der Sonneninsel Ibiza, zu ernst nehmen sie ihren Job dabei nicht. Sie albern am Pool herum, chillen, jagen sich durch die Außenanlagen, lachen. Darüber kaugummisüßer Neo-Pop der Band Cults: „You and me, always forever …“. Sie machen einfach alles zusammen und schlafen sogar in einem Bett. Die symbiotisch-harmonische Beziehung nimmt mit dem Einzug von Tonis neuer Partnerin Hannah (Karin Hanczewski) aber ein abruptes Ende. Bruno ist eifersüchtig, und als er aus dem Bett verbannt wird, rastet er aus. Immer mehr verliert er die Kontrolle über sich und sein Leben, das ja eigentlich nur aus Toni bestand. In seinem Langfilmdebüt lässt André Szardenings den Konflikten, die sich auftun, viel Zeit. Folgt ihnen vom Brodeln zur Explosion zur anschließenden Ruhe. Regisseur und Kameramann in einer Person, kommt Szardenings den Figuren ganz nah, blickt mikroskopisch auf die Brüche und verschiebt die Perspektive immer wieder neu. Der verspielte Umgang miteinander, die unordentliche Ferienwohnung, der Alkohol, die Ruhelosigkeit, was in den ersten Bildern so frei und leicht erscheint, ist vielleicht doch nur einer chaotischen Lebensführung geschuldet. Die Mutter-Sohn-Beziehung irgendwie verkehrt. Bruno schuftet nach Feierabend für den Chef der Ferienanlage weiter, während Toni mit Hannah blaumacht und die Miete nicht bezahlt. Akribisch manövriert BULLDOG durch diese Beziehungs- und Identitätskrise und fokussiert sich auf deren Prozesse, statt Lösungen zu suchen. Ein atmosphärisches Coming-of-Age-Drama, das in der empathisch gezeichneten Hauptfigur Bruno auflebt.

D Clarissa Lempp ¢ Start am 2.2.2023

The symbiotic-harmonious relationship between son Bruno and mother Toni comes to an abrupt end when Toni’s new partner Hannah moves in. Climate activists occupy the Dannenrod Forest in 2019 in order to prevent the construction of a highway. The documentary follows the operation and also portrays the alliances that are made between the protestors and the locals.

BARRIkADE

Selbstorganisation

Der Dannenröder Forst ist ein ca. 250 Jahre alter Mischwald in Hessen, 20 km östlich von Marburg. Im Oktober 2019 besetzen Umweltaktivist*innen ein Teilstück des Waldes, das für den Weiterbau der A 49 abgeholzt werden soll. Sie bauen Baumhäuser und „Tripods“ – Dreieckskonstruktionen aus Baumstämmen, auf denen Protestierende die Räumung erschweren können. Im Sommer 2020 ist der Wald immer noch besetzt. In seinem überwiegend beobachtenden Dokumentarfilm begleitet David Klammer die Besetzer*innen über mehrere Monate immer wieder. Er ist bei der Begrüßung von Neulingen dabei – „Wegrennen ist keine Ordnungswidrigkeit“, „Morgen ist Kletterkurs“ – und filmt die Baumbewohner*innen in ihrem Alltag. Eine Frau erzählt, dass sie einen großen Teil ihrer Zeit damit zubringt, Sachen von A nach B durch den Wald zu schleppen. Ein Mann erzählt, dass er im Wald schon mal einen halben Tag unter einem Baum sitzt und wartet, wenn er sich mit jemandem treffen will, der kein Handy hat. So nebenher wird dabei klar, dass ein großer, wichtiger, vielleicht der wichtigste Teil des Protestes die Selbstorganisation ist. Strukturen schaffen und bewahren, Interessen ausgleichen, den Müll wegbringen. Die jungen Aktivist*innen werden dabei von älteren Bürger*innen der angrenzenden Orte unterstützt. Gemeinsam verursacht dieser überraschend kleine Haufen von Leuten ziemlich viel Mühsal für die Polizei, die ab Herbst 2020 täglich bis zu 2.000 Einsatzkräfte einsetzt, um den Wald Stück für Stück zu räumen. Sie geht, zumindest wenn Klammerers Kamera dabei ist, verhältnismäßig soft vor. Das Cello darf noch weggeräumt werden, die Protestierenden werden vorsichtig abgeseilt – zu groß ist die Gefahr ernsthafter Verletzungen bei Baumhäusern, die teils in über 10 Meter Höhe gebaut wurden. D Toni Ohms

¢ Start am 2.2.2023

Großbritannien 2022 D 123 min D R: Florian Zeller D B: Christopher Hampton, Florian Zeller D K: Ben Smithard D S: Yorgos Lamprinos D M: Hans Zimmer D D: Hugh Jackman, Laura Dern, Vanessa Kirby, Anthony Hopkins, Zen McGrath, Danielle Lewis D V: Leonine

After THE FATHER, Florian Zeller has shot another psychological portrait of a family in crisis. This time it’s about depressed teen Nicholas, whose suffering is causing his divorced parents to despair.

ThE soN

Familie in der Krise

Nach THE FATHER, dem Porträt eines demenzkranken älteren Herren (Darsteller-Oskar für Anthony Hopkins), hat Florian Zeller nun erneut das Psychogramm einer Familie in der Krise gedreht. Der erfolgreiche Anwalt Peter (Hugh Jackman) lebt mit seiner neuen weit jüngeren Frau Beth (sehr gut in einer undankbaren Rolle: Vanessa Kirby) und dem neuen Baby in einer New Yorker Loft-Wohnung. Zurückgelassen hat er seine Ex-Ehefrau Kate (Laura Dern) und einen Teenager, den wütenden und depressiven Nicholas (Zen McGrath). Nachdem Nicholas mehrere Monate die Schule geschwänzt hat, bittet Kate Peter um Hilfe, und die Familie einigt sich darauf, dass der Junge zu Peter und Beth zieht. Äußerlich scheint das zunächst zu funktionieren, aber unter der Oberfläche eskaliert Nicholas’ destruktives, selbstzerstörerisches Verhalten bis zum Suizidversuch. Obwohl der Film THE SON heißt, geht es Zeller vor allem um den Vater, der inmitten der kalten Designausstattung seiner Wohnung (Beton, Ziegel, Anthrazit) und der spiegelnden Businessoberflächen seines Alltags (immer wieder: Flure und Aufzüge) mit Schuldgefühlen und der eigenen Vaterbeziehung kämpft und darüber den Sohn so sehr nicht sieht, dass man kaum Sympathie entwickelt. Sogar als Nicholas gleich mehrfach mit einer für einen wortkargen Teenager erstaunlichen Eloquenz formuliert, was ihm fehlt: „Ich komme mit dem Leben nicht zurecht. Es schmerzt.“, kommt niemand auf die Idee, mal mit ihm zum Psychiater zu gehen. Man möchte die Eltern schütteln, aber auch den Drehbuchautor und Regisseur, der seinen Bildern, den an sich hervorragenden Darsteller*innen (Laura Dern!) und vor allem dem Publikum nichts zutraut und noch die kleinste Regung in über-offensichtlichen Dialogen ausbuchstabiert oder mit erklärender Musik unterlegt. D Hendrike Bake

¢ Start am 26.1.2023 »LUKAS DHONT HAT FÜR IMMER DIE HERZEN DES PUBLIKUMS GESTOHLEN.«

VRT BELGIEN

»DHONTS JUNGE HAUPTDARSTELLER SIND ZUM NIEDERKNIEN GUT.«

BLICKPUNKT:FILM »WUNDERSCHÖN

UND ZART, EIN GRANDIOSER FILM ÜBER FREUNDSCHAFT.«

THE TELEGRAPH

ein film von lUKAS DHonT

ZUM TRAILER

AB 26. JANUAR IM KINO

eDen DAmBRine

GUSTAv De WAele

Émilie DeQUenne lÉA DRUCKeR

FINAl cUT oF ThE DEAD

Meta-Zombies

Originaltitel: Coupez! D Frankreich 2022 D 110 min D R: Michel Hazanavicius D B: Michel Hazanavicius D K: Jonathan Ricquebourg D S: Mickael Dumontier D M: Alexandre Desplat D D: Bérénice Bejo, Romain Duris, Matilda Anna, Ingrid Lutz, Luàna Bajrami D V: Weltkino

Ein Film im Film im Film. Michel Hazanavicius, Regisseur von THE ARTIST, hat erneut einen vergnüglichen Metafilm übers Filmemachen gedreht. Diesmal mit Zombies und einer atemberaubenden und rasend komischen Plansequenz. Hazanavicius hat seinen Spaß mit einem Film über ein französisches Remake der japanischen Horrorkomödie ONE CUT OF THE DEAD, in der echte Zombies den Dreh eines Zombiefilms aus dem Ruder laufen lassen. In todkomischen Szenen geht es unter anderem um die retardierenden Momente in Zombiefilmen und -serien, also die Terrorpausen, in denen Darsteller sich unter anderem darüber unterhalten, wer „okay“ ist, und wer doch einen Kratzer hat, um panische Blicke in leere Korridore, um Darstellerinnen, die zu sehr in ihrer Rolle aufgehen, und um die tragische Liebe zu Untoten. Am besten ist es, möglichst wenig über den Film zu wissen und sich einfach von den überdrehten Wendungen überraschen zu lassen. D

¢ Start am 16.2.2023

A film in a film in a film. Michel Hazanavicius, the director of THE ARTIST, has made a new enjoyable meta-film about filmmaking. This time it‘s with zombies and a breath-taking plan sequence.

Großbritannien 2023 D 108 min D R: Shekhar Kapur D B: Jemima Khan D K: Remi Adefarasin D S: Guy Bensley, Nick Moore D M: Nitin Sawhney D D: Lily James, Emma Thompson, Taj Atwal, Shazad Latif, Shabana Azmi D V: STUDIOCANAL

When Zoe, a young, aspiring documentarian looks for a hook for her next project, she spontaneously thinks of Kazim, a close friend and neighbor from her childhood days who just told her that he will be having an arranged marriage.

whAT’s lovE goT To Do wITh IT?

Reality-Dreh-Rom-Com Richard Curtis’ Drehbücher lieferten in den 1990er Jahren die Vorlagen für einige der größten britischen RomCom-Klassiker überhaupt. Sein Regiedebüt LOVE ACTUALLY (dt. „Tatsächlich … Liebe“, 2003) wird gefühlt mit jedem Weihnachtsfest beliebter. Shekhar Kapur (ELIZABETH) versucht nun, an die bewährte Erfolgsformel anzuknüpfen, allerdings mit einem bewusst zeitgemäßen multikulturellen Ansatz. Die Geschichte, die nichts mit dem gleichnamigen Tina-Turner-Biopic zu tun hat, stützt sich vage auf die persönlichen Erfahrungen der britischen TV- und Filmproduzentin Jemima Khan, die ihre Karriere einst als Journalistin begann. Lily James spielt Zoe, eine junge, aufstrebende Dokumentarfilmerin, die nach einem Aufhänger für ihr nächstes Projekt sucht. Als sie sich von ihren Geldgebern in die Ecke gedrängt fühlt, fällt ihr spontan Kazim (Shazad Latif) ein, ihr enger Freund und Nachbar aus Kindertagen, der ihr gerade erzählt hat, dass er eine arrangierte Ehe eingehen wird – und zwar angeblich aus eigenem Antrieb und nicht aus elterlichem Zwang. Zoe ist von der Idee verstört und fasziniert zugleich. Dennoch überredet sie Kaz, ihn vom ersten Kennenlernen mit seiner zukünftigen Frau via Skype bis zur Hochzeit in Lahore mit ihrer Kamera zu begleiten. Seine pakistanisch-britische Großfamilie sitzt ihm dabei ebenfalls pausenlos im Nacken, was der Geschichte ein solides Tempo, humorvolle Momente und beiläufige interne Konflikte beschert. Zudem taucht Emma Thompson in einer etwas arg überzogenen Nebenrolle als Zoes Mutter auf, um komödiantische Beihilfe zu leisten. Obwohl Khans Drehbuch es grundsätzlich vermeidet, thematisch in die Tiefe zu gehen, schafft es Kapur, seinem Film einen gewissen Charme zu verleihen, der vor allem dem lässigen Spiel zwischen James und

Latif entspringt. D Pamela Jahn ¢ Start am 23.2.2023 Originaltitel: Tourment sur les îles D Frankreich/Spanien/Deutschland/Portugal 2022 D 163 min D R: Albert Serra D B: Albert Serra D K: Artur Tort D M: Marc Verdaguer D D: Benoît Magimel, Sergi Lopez, Pahoa Mahagafanau, Matahi Pambrun, Montse Triola D V: Filmgalerie451

M. De Roller (Benoît Magimel) is the French High Commissioner on Tahiti. There are rumors that the French will resume atomic testing at Mururoa.

pAcIFIcTIoN

Südsee-Paranoia

Albert Serra hat in den letzten Jahren vor allem eigensinnige Filme in historischen Settings gedreht – vielleicht noch am bekanntesten ist der morbide DER TOD VON LUDWIG XIV. Serras neuer Film PACIFICTION wirkt dagegen, als hätte ein Thriller von Alan J. Pakula (THE PARALLAX VIEW, 1974) in tropischer Hitze zu viele Mai Tais getrunken. Serras Film ist eine sehr gegenwärtige, schwüle Fantasie über den Südsee-Kolonialismus und die Atomtests in Französisch-Polynesien. In großen Kinobildern, oft in grandiosen Lichtstimmungen zu Sonnenaufgang und -untergang gefilmt, entfaltet der Film über drei Stunden ein Panorama der Paranoia in Bars, Hotels und Investitionsruinen auf Tahiti. M. De Roller (Benoît Magimel) ist der französische Hochkommissar, im weißen Anzug mit Paisley-Hemd, blauer Sonnenbrille und einer Frisur wie ein alternder französischer Popstar in den achtziger Jahren. Sein Büro scheint er im Proberaum einer einheimischen Tanztruppe zu haben. Aber De Roller ist permanent auf der Arbeit. Jede Begegnung ist eine Verbindung aus Kumpelei und Business, Verführung und Drohung. Mal muss der Rat der Einheimischen umschmeichelt werden, mal einem Priester damit gedroht werden, dass seine Kirche sich auch gut als Kulturhaus der Community machen würde. Aber De Roller hat nicht alles unter Kontrolle. Es gibt Gerüchte, dass die Atomtests auf Mururoa, die Frankreich bis 1996 durchgeführt hat, wieder aufgenommen werden sollen. Ein Marine-Admiral taucht mit Seeleuten in der Bar „Paradies“ auf. Verdächtige Geschäftsleute haben Kontakt zum Admiral. Angeblich liegt ein U-Boot ohne Positionsleuchten vor Tahiti, zu dem am Wochenende Frauen mit einem Boot gebracht werden. M. De Rollers Kolonial-Paradies geht nicht nur, wie etwa in Lucrecia Martels Film ZAMA, einem allmählichen, fauligen Verfall entgegen. Es droht die vollständige Auslöschung. D Tom Dorow ¢ Start am 2.2.2023

Originaltitel: Till D USA 2022 D 130 min D R: Chinonye Chukwu D B: Keith Beauchamp, Chinonye Chukwu, Michael Reilly D K: Bobby Bukowski D S: Ron Patane D M: Abel Korzeniowski D D: Danielle Deadwyler, Jalyn Hall, Jamie Renell, Whoopi Goldberg, Sean Patrick Thomas D V: Universal Pictures

TILL tells the story of teenager Emmett Till who was lynched by White people in the 1950s and of his mother Mamie Till who spent her whole life being involved in the civil rights movement.

TIll – kAmpF Um DIE wAhRhEIT

Geschichte eines Hassverbrechens

Es ist eins der erschütterndsten Bilder der amerikanischen Geschichte: Der tote Emmett Till, aufgebahrt in einem Leichenschauhaus, sein Gesicht eine nicht zu identifizierende Masse aus Fleisch und Knochen, gelyncht von weißen Rassisten. Im Hintergrund ist seine Mutter Mamie zu sehen und von ihr handelt Chinonye Chukwus TILL. Die Geschichte beginnt Mitte der 50er Jahre. Emmett und seine Mutter leben in Chicago, wo Rassismus spürbar, aber meist nicht lebensbedrohlich ist. Ganz anders im Süden, wohin Emmett fahren wird, um ein paar Tage seine Verwandten zu besuchen. In Mississippi ist Emmett ein Fremdkörper, viel selbstbewusster als es ein Schwarzer hier sein darf, sein sollte, wenn er Konflikten mit Weißen aus dem Weg gehen will. Seine Mutter hatte ihn gewarnt, hatte ihm eingebläut, sich „klein“ zu machen, bloß keinen Weißen zu provozieren, doch Emmett ist ein Teenager und nimmt die Worte seiner Mutter nicht ernst. Ein unbedarfter Flirtversuch mit einer weißen Frau reicht aus, um die Situation zu eskalieren: Die Verwandten der Frau entführen Emmett, foltern und lynchen ihn. Kaum auszuhalten ist der Anblick seiner geschundenen Leiche, die Chukwu unbarmherzig zeigt, genauso wie Mamie Till den Anblick ihres toten Sohnes ganz bewusst zur Schau stellte. Emmett Till wurde in einem offenen Sarg aufgebahrt, so dass jeder sehen konnte, jeder sehen musste, welche brutalen Folgen Rassismus haben kann. Die Bilder gingen um die Welt, Mamie Till engagierte sich den Rest ihres Lebens in der Bürgerrechtsbewegung, die langsam, viel zu langsam Erfolg hatte: Erst Anfang 2022 wurde ein Gesetz verabschiedet, das Lynchen als Hassverbrechen ächtete, der „Emmett Till Antilynching Act“. Für den Mord an Emmett Till büßte jedoch niemand: Seine beiden weißen Mörder wurden

freigesprochen. D Michael Meyns ¢ Start am 26.1.2023

CHARLOTTE GAINSBOURG

QUITO RAYON-RICHTER

NOEE ABITA

MEGAN NORTHAM

EMMANUELLE BEART PASSAGIERE DER NACHT

ILLUSTRATION: RIKI BLANCO, MADRID | GRAFIK: STEPHANIE RODERER, MÜNCHEN

„Diese Chronik von Paris der 80er Jahre ist von großer Sanftheit geprägt.“

Le Figaro

„Charlotte Gainsbourg in der Hauptrolle ist von überwältigender Gefühlstiefe.“

Le Parisien

Deutschland 2022 D 94 min D R: Vera Brückner D B: Vera Brückner D K: Felix Pflieger D S: Sophie Oldenbourg D M: Guliano Loli, Florian Paul, Nils Wrasse D V: W-Film Myanmar/Kanada/Deutschland 2022 D 92 min D R: Snow Hnin Ei Hlaing D B: Snow Hnin Ei Hlaing D K: Soe Kyaw Htin Tun D M: Olivier Alary, Johannes Malfatti D V: jip Film & Verleih

soRRy gENossE

Waghalsige Flucht

Hedi und Karl-Heinz verlieben sich auf den ersten Blick, als sie sich 1969 auf Tante Klärchens Familienfeier kennenlernen. Mondlandung und Vietnamkrieg halten die Welt in Atem – und die Mauer trennt die Thüringer Medizinstudentin und den Frankfurter Linksaktivisten. Jahrelang schreiben sie sich Briefe und träumen davon, endlich zusammenzuleben. Voller Sehnsucht nach Hedi entscheidet sich Antikapitalist Karl-Heinz dazu, in die DDR überzusiedeln. Doch die Stasi hat ihn schnell im Visier und will ihn in West-Berlin als Spion einsetzen. Als auch Hedi unter Schikanen leiden muss, schmieden die beiden mit den Freund*innen Gitti und Lothar einen Plan: Mit einem Ersatzpass, den sie in Bukarest beantragen wollen, soll es für Hedi unter Gittis Identität über Rumänien und Österreich nach Westdeutschland gehen. Die echte Gitti soll vorgeben, von Lothar in eine Falle gelockt worden zu sein. Blauäugig und überzeugt von ihrem „bombensicheren“ Plan machen sich die vier auf den Weg. Doch kaum in Rumänien angekommen, geht alles schief. In SORRY GENOSSE bringt Vera Maria Brückner in verspielter Form die tragikomische Geschichte einer waghalsigen Flucht auf die Leinwand. In Studiokulissen im Retro-Look stellt sie Szenen bei den Behörden in Rumänien mit Karl-Heinz und Hedi nach, die aus ihren alten Briefen vorlesen. Andere Orte, die eine Rolle für den Weg der beiden spielten, besucht sie mit ihnen noch einmal und lässt sie dort von ihren Erlebnissen erzählen. Ergänzt durch Archivaufnahmen und alte Fotos und untermalt von Ton Steine Scherben-Songs verbindet die 1988 geborene Regisseurin deutsch-deutsche Geschichte mit den persönlichen Erinnerungen der sympathischen Protagonist*innen Karl-Heinz und Hedi, die sich weder durch den Eisernen Vorhang noch durch Stasi und

Securitate aufhalten ließen. D Stefanie Borowsky ¢ Start am 9.2.2023

Hedi and Karl-Heinz fall in love at first sight when they meet in 1969, but the wall separates the Thuringian med student and the Frankfurter leftist activist. Director Vera Maria Brückner directs the tragicomic story of a risky escape in a playful documentary format.

mIDwIvEs

Mintgrüne Klinik

Respektvolle Nähe. Vielleicht ist es das, was diesen Dokumentarfilm vor anderen Dingen auszeichnet. Da ist etwa, gleich zu Beginn, die Szene, in der man auch als Zuseher froh ist, als der Kleine endlich zu schreien beginnt: Wir wohnen einer Geburt bei, sind ganz dicht mit dran. Und doch hat man, ähnlich wie in fast allen Szenen dieses unaufgeregten und doch eindringlichen Films, das Gefühl, dass hier weder die Intimgrenze des Babys, noch die der Mutter überschritten wird. MIDWIVES begleitet zwei Hebammen (engl.: Midwives), eine Buddhistin und eine Muslima, die in einer winzigen Klinik im Westen Myanmars zusammenarbeiten. Beide helfen den muslimischen Rohingya – eine der, laut UN, am stärksten verfolgten Minderheiten der Welt: Dem Militär Myanmars werden unter anderem ethnische Säuberungsaktionen gegen die Rohingya-Muslime vorgeworfen. Hla, so der Name der Buddhistin, führt die Klinik, Nyo Nyo, die Muslima, unterstützt sie als Assistentin. Obwohl Nyo Nyos Familie seit Generationen in der Region lebt, werden sie als Eindringlinge betrachtet. Nyo Nyo hat einen Traum, der angesichts der Umstände kaum je realisierbar erscheint: Eines Tages möchte sie selbst eine Klinik eröffnen. Dabei besitzt sie als Muslima noch nicht einmal einen Ausweis. Einst, so heißt es irgendwann in diesem mit Archivbildern von Ausschreitungen und Totalen von Reisfeldern gleichermaßen arbeitenden Film, waren die Buddhisten und Muslime der Region miteinander befreundet. Die kleine mintgrüne Klinik, in der Nyo Nyo und Hla allen Verboten und Vorbehalten zum Trotz zusammenarbeiten, wird zum Hoffnungssymbol für ein, dereinst womöglich wieder herstellbares, friedliches interreligiöses Miteinander. D Matthias von Viereck

¢ Start am 26.1.2023

Midwives accompanies two midwives in a small clinic in western Myanmar – one of the woman is a Buddhist, the other a Muslima.

BERlIN JwD

Eine Winterreise nach (J)anz (W)eit (D)raußen oder JWD, wie man in Berlin sagt. Die märkischen Landschaften hinter der Stadtgrenze wurden am Ende des 19. Jahrhunderts von proletarischen Erholungssuchenden überrannt. Kurz darauf fraß der Moloch Großstadt die scheinbar unschuldige Idylle. Seitdem wechseln Um-, Ab- und Aufbrüche in nicht vorhersehbarer Folge. Wie Exkremente einer vergangenen Zukunft liegen die ehemaligen Rieselfelder, zerfallenen Grenzanlagen, aufgelassenen Fabriken und begrünten Müllberge in der Landschaft verstreut.

¢ Start am 12.1.2023

Deutschland 2022 D 74 min D R: Bernhard Sallmann

EINE REvolUTIoN – AUFsTAND DER gElBwEsTEN

In Chartres, einer Stadt mit knapp 40.000 Einwohner*innen 90 Kilometer südwestlich von Paris besucht der Historiker und Dokumentarfilmer Emmanuel Gras Mitstreiter*innen der „Gilets jaunes“ wie Agnès, die ihren behinderten Sohn pflegt, und Nathalie, die mit ihren zwei Kindern von 1200 Euro im Monat leben muss. Ihr Engagement für die Gelbwesten schweißt sie zusammen. Gras ist nah dran, begleitet die Protagonist*innen zu Diskussionen und Demonstrationen, lässt auch Gegenstimmen zu, und fängt ein, wie auf große Erwartungen die Enttäuschung folgt. ¢ Start am 12.1.2023

Originaltitel: Un peuple D Frankreich 2022 D 104 min D R: Emmanuel Gras

TARA

Der mythische Taras war ein Sohn des Meergottes Poseidon, der als Stadtgründer der Stadt Taranto (Tarent) gilt. Auch der kleine Fluss Tara ist nach dem Göttersohn benannt. Einige Einheimische glauben an die heilenden Kräfte seiner Wasser. Der Dokumentarfilm von Volker Sattel und Francesca Bertin zeigt Badende im Fluss und einen Marienaltar im Schilf und taucht mit der Kamera ins Wasser. Aber allmählich enthüllen sich auch Bilder der benachbarten Fabriken, ein Stahlwerk und eine Deponie. Das Wasser des Tara ist kontaminiert.

¢ Start am 19.1.2023

Deutschland/Italien 2022 D 86 min D R: Francesca Bertini, Volker Sattel D D: Jasmine Pisapia, Adriana Sellani, Cataldo Ranieri, Marco Tomasicchio, Vincenzo Romito

AUF DER sUchE NAch FRITz kANN

Der erste Mann von Marcel Kolvenbachs Großmutter hieß Fritz Kann. Er wurde 1942, neun Monate vor der Geburt von Kolvenbachs Vater, auf Grund seiner jüdischen Herkunft deportiert. Der Filmemacher begibt sich auf Spurensuche nach diesem möglichen Großvater. In Ermangelung von Bildern oder Archivmaterialien wird das Suchen selbst zum Thema seines Films, die oft zum Scheitern verurteilten Versuche von Angehörigen, Hinweise zu finden, noch so vage Spuren nach Eltern oder Großeltern, die in der Mordmaschine des Dritten Reichs ums Leben gekommen

sind. ¢ Start am 12.1.2023

Deutschland 2022 D 100 min D R: Marcel Kolvenbach

Man kann den Film PASSAGIERE DER NACHT so sehen: Eine Frau wird von ihrem Mann verlassen, bekommt einen Job beim LateNight-Radio, trifft eine junge Obdachlose, die sie in ihr Haus aufnimmt, und die zwar bald wieder verschwindet, aber sie selbst und ihre Familie dazu inspiriert, ein freieres Leben zu führen. Alles wird gut, und schließlich wird auch die Obdachlose gerettet. Das ist nicht sehr interessant. Aber so wurde der Film bei der Berlinale von Vielen verstanden.

Mikhaël Hers, der mit AMANDA (dt. Mein Leben mit Amanda) einen der besten Filme über die Folgen des Terrors für das Leben und Träumen von Pariser*innen gedreht hat und auch dort mit sehr subtilen Realitätsverschiebungen arbeitete, gibt zahlreiche Hinweise darauf, dass diese Geschichte nicht ganz für bare Münze genommen werden kann. Die Hauptfigur Elisabeth (Charlotte Gainsbourg) hat oder hatte Brustkrebs. Ihre Geschichte beginnt am 8. Mai 1981. Der Sozialist François Mitterand ist gerade zum französischen Staatspräsidenten gewählt worden. Auf den Straßen wird gefeiert. Tatsächlich war die Wahl aber zwei Tage später, am 10. Mai.

Elisabeth freut sich im Auto ihrer Familie mit den Feiernden auf den Straßen. Im Autoradio läuft die Radiosendung „Les passagers de la nuit“, und die Moderatorin kündigt als erstes Lied „Regarde“ von Barbara an. Darin gibt es die Verse: „Regarde, au ciel de notre histoire, une rose, à nos mémoires, dessine le mot espoir …“ („Sieh es dir an: Am Himmel unserer Geschichte, zeichnet eine Rose zu unseren Erinnerungen das Wort Hoffnung“). Aber das Lied ist nicht zu hören. Über den Kamerablicken auf moderne Architektur und Feiernde in der Nacht liegen melancholische Synthesizer-Sounds.

PASSAGIERE DER NACHT kündigt sich als ein Film über die Erinnerung an die Hoffnung an. Im Moment, in dem der Radio-Ton verschwindet, entgleitet die Realität. Ist Elisabeth am 8. Mai gestorben, und halluziniert sich zwei Tage in die Zukunft, und von dort aus vier, acht Jahre weiter in eine Zukunft, in der – mit Hilfe einer Traumfee, der obdachlosen Talulah (Noée Abita), alles gut wird? Die Fee war bereits zuvor erschienen. In den ersten Bildern des Films steht Talulah vor dem Stadtplan in der Pariser U-Bahn, auf dem die möglichen Fahrtstrecken damals mit Leuchtpunkten markiert wurden und auf Knopfdruck erstrahlten. Der analoge Zauber der Großstadt liegt in einer Überblendung auf ihrem Gesicht. Man kann ihre Figur als ein weiteres „manic pixie dream girl“ verstehen, eines dieser hübschen, etwas verpeilten, aber mit hoher Energie ausgestatteten Film-Mädchen, die in tausenden Coming-of-Age Filmen schüchterne Jungs, neuerdings auch schüchterne Mädchen, aus ihrer Lethargie reißen, um dann selbst gerettet zu werden oder verloren zu gehen. Aber Talulah ist klarer als ein geisterhaftes Phantasma markiert als in klassischen Coming-of-Age-Filmen.

Der Film macht nach diesen ersten Szenen zwei Zeitsprünge, nach 1984 und 1988. 1984 hat Elisabeth ihre Krebs-Erkrankung überwunden, aber ihr Mann hat sich getrennt, und sie hat Geldsorgen.

Sie braucht einen Job, hat aber nie gearbeitet. Sie bekommt einen Job in der von Wanda (Emmanuelle Béart) moderierten Show „Les passagers de la nuit“. Dort lernt sie Talulah kennen, die als Gast eingeladen wurde, aber danach einsam auf einer Parkbank sitzt. Elisabeth nimmt das Mädchen mit nach Hause und quartiert sie in einer romantischen Dachkammer ein, ein Raum nahe dem Dach des Hochhauses, in dem die Familie wohnt – das moderne, imaginäre Äquivalent zum Gartenhaus im viktorianischen Roman, mit dem dieser Film einiges gemein hat. Talulah wird von allen geliebt und geht gern mit Elisabeths Teenager-Kindern ins Kino, und verschwindet wieder.

Vier Jahre, 1988, später taucht Talulah als Junkie wieder auf, wird aber geheilt, als wäre Heroinsucht ein böser Schnupfen. Sie will ins Kino, den Film VOLLMONDNÄCHTE von Eric Rohmer sehen. Matthias erklärt ihr, dass die Schauspielerin aus dem Film – Pascale Ogier – gestorben sei. „Das kann nicht sein“ murmelt Talulah immer wieder. Pascale Ogier war in den frühen achtziger Jahren der größte junge weibliche Star des französischen Kinos. Sie starb 1984, im gleichen Jahr, in dem auch Rohmers VOLLMONDNÄCHTE ins Kino kam. Talulah ist aus der Zeit gefallen. Warum?

Kurz vor ihrem Tod hatte Pascale Ogier in dem Experimentalfilm GHOST DANCE von Ken McMullen mitgespielt, in dem sie mit Jacques Derrida ein Gespräch über Film als Kunst der Geisterbeschwörung führt. Eine Erklärung für die Brüche in diesem Film wäre, dass die ganze Geschichte das Phantasma von Elisabeth auf der Grenze zwischen Leben und Tod erzählt, aus der Perspektive von 1981, auf dem Weg zum oder aus dem Krankenhaus. Dem Tod nahe, denkt sie darüber nach, was passieren könnte, wenn es ihr gelänge, den Krebs zu überleben. Weitere Spuren sind angelegt, die auch die anderen Figuren geisterhaft erscheinen lassen, trotz der über weiteste Strecken realistisch-psychologisch wirkenden Inszenierung. Aber wenn im Schlussbild Mutter Elisabeth mit ihren Kindern, Großvater und Talulah fröhlich im Park sitzen – ist das ein Happyend oder eine Erinnerung an die Hoffnung von 1981? Die Passagiere der Nacht sind auch die Gespenster derjenigen, die in den 80er Jahren verloren gingen.

Man kann den Film natürlich auch anders sehen. Dann ist alles sehr liebenswert und schön gespielt, aber ein bisschen banal. Ein Phantasma dagegen muss nicht unbedingt originell sein, Phantome sind es auch nur selten. D Tom Dorow

pAssAgIERE DER NAchT

Erinnerung an die Hoffnung

¢ Start am 5.1.2023

Originaltitel: Les passagers de la nuit D Frankreich 2022 D 111 min D R: Mikhaël Hers D B: Maud Ameline, Mikhaël Hers D K: Sébastien Buchmann D S: Marion Monnier D M: Anton Sanko D D: Charlotte Gainsbourg, Quito Rayon-Richter, Noée Abita, Megan Northam, Thibault Vinçon, Emmanuelle Béart D V: eksystent distribution

Director Mikhaël Hers integrated many ruptures in the story of a young woman who is left by her husband, gets a job at a late night radio show and takes in a young homeless person.

Deutschland/Frankreich/Tunesien/Luxemburg 2021 D 95 min D R: Samir Nasr D B: Sonallah Ibrahim, Samir Nasr D K: Darja Pilz D S: Hansjörg Weißbrich D M: Oli Biehler D D: Ahmed Al Munirawi, Fadi Abi Samra, Khaled Houissa, Jihed Cherni D V: barnsteiner film

shARAF

Zwei-Klassen-System

Die Welt, in der sich Sharaf (Ahmed Al Munirawi) bewegt, ist korrupt, eng und brutal. Seit er hinter Gittern sitzt, weil er einen Mord begangen haben soll, ist er gefangen in einem isolierten Zwei-Klassen-System, das keine Gnade und nur eine harte Währung kennt: Wer nicht mit Zigaretten zahlen kann, muss im Flügel der „staatlichen“ Gefangenen unter widrigsten Bedingungen ausharren, während den „königlichen“ Insassen diverse Privilegien wie freie Kleiderwahl und besseres Essen zustehen. Sharaf lernt schnell, sich in diesem Mikrokosmos zu behaupten, geschickt navigiert er zwischen den Fronten, passt sich an, wenn er muss, und stellt sich quer, wenn er kann. Doch seine Familie ist arm und hat Mühe einen verlässlichen Anwalt zu finden, der ihn aus der Gefangenschaft befreit. Samir Nasrs düsteres Drama konzentriert sich ausschließlich auf Sharafs Leben hinter den Gefängnismauern. „Dies ist eine erfundene Geschichte, die in einer fiktiven Welt spielt“, heißt es zu Beginn des Films. „Wir können glücklich sein, dass die Realität besser und schöner ist.“ Aber ganz erdichtet ist das Drehbuch nicht. Es basiert auf dem gleichnamigen, autobiografisch gefärbten Roman des ägyptischen Schriftstellers Sonallah Ibrahim, in dessen Ausführungen sich immer wieder auch die komplexen Machtgefälle innerhalb arabischer Gesellschaften zwischen Diktaturen, Armut und Klassenkonflikten widerspiegeln. Die Bilder, die Nasr dafür findet, sind in gedämpften Farben gehalten und von einer Monotonie geprägt, die Sharafs tristem Alltag hinter Gittern entspricht. Das lässt den Film insgesamt manchmal etwas träge erscheinen. Dennoch funktioniert SHARAF, weil der Regisseur in vielen kleinen Szenen und flüchtigen Momenten die Grausamkeiten des Systems offenlegt, in dem sein Protagonist sich zurechtfinden muss, ohne

es wirklich zu verstehen. D Pamela Jahn ¢ Start am 26.1.2023

Sharaf, who allegedly committed murder, quickly learns how to assert himself in prison. He skillfully navigates between the fronts, adapts when he has to, and is protective when he can be. Emigholz’ essay film which was developed in Bolivia, Argentina and Berlin traces the connections and influence between European and Latin American fascism, colonial crimes and commemorative culture.

schlAchThäUsER DER moDERNE

Architektur und Faschismus

Bekannt wurde der deutsche Filmemacher Heinz Emigholz durch seine streng komponierten Architekturfilme, in denen er der Formensprache der Architekturmoderne nachspürte. Kurze Einstellungen, oft verkantet, kein Kommentar, nur Häuser, Gebäude, pure Architektur. Mit DIE LETZTE STADT legte Emigholz 2020 erstmals einen Spielfilm vor, zumindest ansatzweise. Schauspieler theoretische Sentenzen vor, in denen natürlich über Architektur reflektiert wurde, aber auch über den Zusammenhang von Architektur und Faschismus. Emigholz jüngstes Werk SCHLACHTHÄUSER DER MODERNE nimmt diesen Gedanken nun in Form eines Essayfilms auf, der in Bolivien, Argentinien und Berlin entstand und Verbindungen und Einfluss zwischen europäischem und lateinamerikanischem Faschismus nachspürt, Kolonialverbrechen und Erinnerungskultur. Im wahrsten Sinne des Wortes Schlachthäuser entwarf der argentinische Architekt Francisco Salamone in der Provinz Buenos Aires in den 30er Jahren, längst verfallene Kathedralen der Moderne, die der expandierenden Produktion des weltweit gefragten argentinischen Rindfleisches dienten und an den Stil des italienischen Art Deco erinnern. Ganz anders das Barock des wiederaufgebauten Berliner Stadtschlosses, in dem einst der deutsche Kaiser den Genozid an den namibischen Völkern der Hereros und Namas in die Wege leitete, ein direkter Vorläufer und Inspiration des Holocaust. Emigholz bietet vielfältige Bezüge an, zieht Verbindungen zwischen einer Ruinenstadt in Bolivien und der missglückten Stadtplanung Berlins, schlägt eine Brücke von Jorge Luis Borges zu den Bauten Freddy Mamani Silvestres, der im Hochland Boliviens Häuser baute, die an die Pop Art erinnern. D Michael Meyns

¢ Start am 19.1.2023

Schweden 2021 D 93 min D R: Kristina Lindström, Kristian Petri D B: Kristina Lindström, Kristian Petri D K: Erik Vallsten D S: Dino Jonsäter, Hanna Lejonqvist D M: Filip Leyman, Anna Von Hausswolff D V: missingFILMs

The documentary portrays Björn Andrésen, who played Tadzio at 15 in Visconti’s DEATH IN VENICE and was labeled as “the most beautiful boy in the world”.

ThE mosT BEAUTIFUl Boy IN ThE woRlD

Der wahre Tadzio

Für seine Thomas-Mann-Verfilmung DER TOD IN VENEDIG reiste Luchino Visconti durch ganz Europa, um einen Jungen „mit honigfarbenem Haar, wie ein Gott aus der griechischen Mythologie“ zu finden, mit dem er die Rolle des Tadzio, einer Verkörperung reiner Schönheit, besetzen konnte. Diese Suche, die unangenehm an die Auswahl engelsgleicher Opfer in Pasolinis DIE 120 TAGE VON SODOM erinnert, führt das Filmteam schließlich nach Schweden. Hier begegnen sie dem 15-jährigen Björn Andrésen, der direkt engagiert und von Visconti bei der Premiere in London als „The Most Beautiful Boy in the World“ tituliert wird – auch wenn er langsam schon älter und hässlicher werde. Von Visconti vermarktet, in der Pariser Bohème herumgereicht und an die japanische Popindustrie ausgeliehen, machen seine Schönheit und ein erschreckender Mangel an Fürsorge Andrésen schnell zur Ware. „Es hat sich angefühlt wie ein Schwarm Fledermäuse um mich, die ganze Zeit. Es war ein lebender Alptraum.“ Aus diesem vampiristischen Alptraum, in dem vor allem ältere Männer sich an Andrésens Jugend und Schönheit gütlich tun, scheint auch der heute 65-Jährige noch nicht ganz aufgewacht zu sein. Die Erlebnisse seit dem ersten Treffen mit Visconti haben ihn sichtbar gezeichnet – doch erzählt THE MOST BEAUTIFUL BOY IN THE WORLD mehr als nur von den bleibenden Folgen seiner ‚Entdeckung‘. Porträtiert wird der Heilungs- und Entdeckungsprozess eines sensiblen, verschrobenen, und ja, immer noch umwerfend gutaussehenden Mannes mit langen Silberhaaren und Ledermantel, der sich, zurückhaltend begleitet von Kristina Lindström und Kristian Petri den Stationen seines Missbrauchs und seiner düsteren Familiengeschichte stellt. D Yorick Berta „EINE IRRWITZIGE KOMÖDIE UND EIN STATEMENT FÜR GIRLPOWER“ FBW PRÄDIKAT BESONDERS WERTVOLL

¢ Start am 29.12.2022

sEAsIDE spEcIAl

Good Old England

Die Seebrücke im kleinen Seebadeort Cromer an der Küste von Norfolk beherbergt eine Rarität: die letzte europäische „End-ofPier-Show“. Im Pavillon am Ende des Piers findet in den Sommermonaten und zu Weihnachten täglich eine Variety-Show statt, ein buntes Programm aus Gesangs- und Tanzeinlagen, Zauberstücken und Comedy. Regisseur Jens Meurer, der über ein Studium und seine englische Frau eng mit der Insel verbunden ist, hat nun einen sehr persönlichen und liebevollen Film über die Show, den Ort und England in der Zeit der fatalen Brexit-Entscheidung gedreht. SEASIDE SPECIAL (wie auch die Show heißt) verfolgt die Produktion eines Sommerprogramms anhand einiger Protagonist*innen. Da ist die Regisseurin Di Cooke, die das Team zusammenstellt, die Musiknummern auswählt und Kostüme abnickt, Mrs. Duniam, die an der lokalen Tanzschule die jüngsten Bühnenstars unterrichtet und ihre aufgedrehten Zwillingstöchter, der Krabbenfischer und Brexit-Enthusiast John Lee und der lokale Conferencier Olly Day, der durch den Film wie durch eine Revue führt. Die Jahreszeiten vergehen, die Produktion nimmt Form an, und im Hintergrund nimmt das Jahr 2019, das vielleicht bizarrste Jahr der Brexit-Saga, seinen Lauf. Der EU-Vertrag wird abgelehnt, der Brexit verschoben, Theresa May tritt zurück und Boris Johnson wird gewählt, und immer noch liegt etwas Hoffnung in der Luft, dass es ein Zurück geben könnte. SEASIDE SPECIAL – in leuchtendem, berührenden 16 mm gedreht – war schon zum Drehzeitpunkt ein nostalgischer Film, der von Traditionen und Zusammenhalt und einem leicht verschrobenen „good old England“ erzählte und dessen drohenden Verlust betrauerte. Nun mischt sich beim Ansehen der Theaterproben noch das Wissen um die unmittelbar bevorstehende Corona-Pandemie und das

Brexit-Disaster hinein. D Hendrike Bake ¢ Start am 19.1.2023

vogElpERspEkTIvEN

Arten erhalten

Es ist wahrlich keine vollkommen neue und überraschende Botschaft, die am Anfang von Jörg Adolphs Dokumentarfilm VOGELPERSPEKTIVEN steht: Vögel sind eine bedrohte Art. In den letzten 60 Jahren hat Deutschland fast die Hälfte seines Artenreichtums verloren. Wer im Frühjahr und Sommer in der Natur unterwegs ist, dem wird aufgefallen sein, dass das Gezwitscher abgenommen hat. Jörg Adolph behandelte mit seinem Dokumentarfilm zum Besteller von Peter Wohlleben DAS GEHEIME LEBEN DER BÄUME bereits das Schwinden der Arten. In VOGELPERSPEKTIVEN begleitet er Ornithologen und Vogelschützer mit seiner Kamera. Dr. Norbert Schäffer ist Vorsitzender des Landesbunds für Vogel- und Naturschutz in Bayern. Er hat sich die Rettung der Vogelwelt zum Ziel gesetzt und leistet Lobbyarbeit in der Politik ebenso wie aktiven Umweltschutz. Arnulf Conradi wiederum ist Gründer und früherer Verleger des Berlin Verlages und begeisterter Birdwatcher seit Kindertagen. Vor der Kamera und zu faszinierenden Naturaufnahmen erzählt er von seiner Begeisterung für die heimische Vogelwelt. Dazu liefert Jörg Adolph einen Blick hinter die Kulissen der Umweltpolitik und zeigt konkrete Beispiele des Artenschutzes wie etwa die Wiederansiedlung des Bartgeiers in Bayern. Adolph nähert sich dem Thema auf einer Gefühlsebene, klammert aber auch die Fakten nicht aus. Sein Film ist bewusst keine Anklage. Stattdessen will er Mut machen, sich einzusetzen für den Erhalt der Vogelwelt. Vielleicht haben wir uns etwas zu selbstverständlich an der Allgegenwärtigkeit der gefiederten Lebewesen gewöhnt. VOGELPERSPEKTIVEN ruft ins Gedächtnis, dass etwas fehlt, wenn sie nicht mehr da sind. D Lars Tunçay

¢ Start am 16.2.2023

Director Jens Meurer filmed a very personal and loving film about Europe’s last “End-of-Pier-Show”, in the seaside resort Cromer in Norfolk and England during the fatal Brexit decision. In VOGELPERSPEKTIVEN, nature documentarian Jörg Adolph follows ornithologists and bird conservationists with his camera.

closE

Etwas verschiebt sich

Der zweite Spielfilm des belgischen Regisseurs Lukas Dhont taucht wie sein Debüt GIRL in die nicht immer einfache Welt Jugendlicher ein. Im Drama CLOSE behandelt er den Suizid eines 13-Jährigen. Leo (Eden Dambrine) und Remi (Gustav De Waele) sind beste Freunde, und Remi übernachtet fast täglich bei Leo. Remi, dessen Eltern riesige Blumenfelder bewirtschaften, ist eigentlich schon ein Teil von Leos Familie. Bis sich irgendetwas zwischen den beiden verschiebt. Leo wird Remi zu viel. Er will ständig an seiner Seite sein. Auch da, wo Remi ihn nicht haben will. Zum Beispiel beim Hockey-Training. Nach einem Streit kommt Leo nicht mehr in die Schule. Remi kämpft mit Schuldgefühlen, mit Scham gegenüber Leo und seiner Familie. Gerade auf dem Sprung zum (männlichen) Teenager, denkt Remi, dass er da allein durch muss und setzt auf Wut. Auf die Erwachsenen, die mit Stuhlkreisen in der Schule oder am Abendessentisch Trauerbewältigung anstreben, angesichts der Tragödie aber selbst hilflos erscheinen. Remi, der Sportler, findet ein Ventil im Körperlichen. Er powert sich beim Hockeyspielen aus. Arbeitet bis in die Nacht auf den elterlichen Feldern, schneidet Dahlien und erntet ihre Zwiebeln als Saatgut. Remi der stille Held. Der alles mit sich ausmacht. In den atmosphärischen Bildern wirkt Remi aber fehl am Platz, wenn er durch regnerische Nächte läuft oder wie ein Besessener Blumenzwiebeln rupft. Als müsste da jetzt eigentlich ein erwachsener Mensch an seiner Stelle stehen, denn wie soll ein Kind das so bewältigen?

CLOSE seziert schmerzhaft Remis Gefühlswelt, ergötzt sich aber nicht am Thema. Immer in Remis Perspektive, erfahren wir nur so viel wie er. Tasten uns mit ihm durch das, was passiert ist und zu dem, was wirklich hilft, um weiterzumachen - so wie die zarten Dahlien, die im Frühling wieder aus den Zwiebeln treiben.

Belgien/Niederlande/Frankreich 2022 D 105 min D R: Lukas Dhont D B: Lukas Dhont, Angelo Tijssens D K: Frank van den Eeden D S: Alain Dessauvage D M: Valentin Hadjadj D D: Léa Drucker, Kevin Janssens, Émilie Dequenne, Igor van Dessel D V: Pandora Film

Like in his debut GIRL Lukas Dhont’s CLOSE ventures into the complicated inner world of adolescents.

USA 2021 D 85 min D R: Josef Kubota Wladyka D K: Ross Giardina D S: Benjamin Rodriguez Jr. D M: Nathan Halpern D D: Kali Reis, Daniel Henshall, Tiffany Chu, Michael Drayer, Kimberly Guerrero, Lisa Emery, Kevin Dunn D V: drop-out cinema

Ex-boxer Kaylee has a mission: she wants to take revenge on the organization that drives girls and young women, many of them Native American, to prostitution due to a lack of prospects.

cATch ThE FAIR oNE

Rape-Revenge-Thriller

Unterwürfig nimmt sie, die Servicekraft, jedes Motzen der Gäste im Diner auf sich, packt sich aus Hunger Essensreste ein, schläft im Frauenwohnheim. Sie war Boxerin, jetzt lässt sie sich ein auf Selbstverteidigungs- und Kampftraining mit großen, massigen Männern. Sie unterliegt jedes Mal. Aber sie hat ein Ziel, eine Mission: Einen Informanten hat sie bereits aufgetan, und einen Weg in die Organisation, die Mädchen und junge Frauen aus der Perspektivlosigkeit in die Prostitution treibt - und die Kaylees Schwester geschnappt hat. Kaylee, die Kämpferin, lässt sich selbst einschleusen, lässt sich verschleppen auf der Spur nach oben, zum Kopf des Menschenhändlerrings. Kaylee wird von Kali Reis gespielt, Boxweltmeisterin im Halbweltergewicht. Reis hat auch am Drehbuch mitgearbeitet, es ist offenkundig eine Geschichte, die ihr am Herzen liegt: die aussichtslose Situation von native americans, die rassistischen Sexualverbrechern in die Hände spielt. Reis ist selbst aktive Unterstützerin der Bewegung für vermisste und ermordete indigene Frauen MMIWG. Reis und Regisseur Josef Kubota Wladyka gelingt in CATCH THE FAIR ONE die Verbindung von Sozialdrama, Action und Rape-Revenge-Thriller, sie lassen keinen Zweifel, dass die blutige Rache, die Kaylee zu üben gewillt ist, aus ihrer eigenen Lage kommt, nichts mehr zu verlieren zu haben. Geschickt fusioniert der Film Genreelemente mit der Realität der US-indigenen Bevölkerung, erzählt ist er in düsteren Bildern zwischen sachter Stilisierung und realistischer Unmittelbarkeit (Kamera: Ross Giardina). Wie der Film ein konstruiertes, aber ehrliches Porträt sozialer Realität liefert, wie er Genreelemente einsetzt, wie er Klischees von bösen Mädchenhändlern spielerisch unterläuft – das hat offensichtlich auch Darren Aronofsky überzeugt, der als Executive Producer

fungiert. D Harald Mühlbeyer ¢ Start am 26.1.2023 Originaltitel: Ezrah Mudag D Israel 2022 D 82 min D R: Idan Haguel D K: Guy Sahaf D S: Shauly Melamed D M: Zoe Polanski D D: Shlomi Bertonov Ariel Wolf D V: Edition Salzgeber

¢ Start am 2.2.2023 Ben and Raz have just gotten comfortable in their new apartment in a trendy Tel Aviv neighbourhood. Then Ben becomes partially responsible for a police brutality case and his self-image is shaken.

coNcERNED cITIzEN

Bürger in der Krise

Etwas stimmt nicht, das merkt man gleich. Dabei läuft eigentlich alles gut für Ben (Shlomi Bertonov) und Raz (Ariel Wolf). Gerade haben es sich die beiden in ihrer neuen Wohnung in einem angesagten Viertel in Tel Aviv gemütlich gemacht. Jetzt wollen sie Eltern werden. Doch als Ben eines Abends vom Fenster aus einen Fall von brutaler Polizeigewalt beobachtet, gerät sein Weltbild ins Wanken. Er hatte kurz zuvor selbst die Behörden eingeschaltet, weil zwei junge Migranten den jungen Baum nicht in Ruhe lassen wollten, den er zum Einzug vor dem Haus gepflanzt hat. An derart harsche Folgen hatte er dabei nicht gedacht. Der Vorfall bringt Bens Leben aus dem Tritt. Erst ist es nur eine leichte Anspannung, die sich wie ein Schleier über sein Gemüt legt. Aber immer öfter reagiert er Raz gegenüber passiv-aggressiv. Er wird hypersensibel für alles, was in seiner unmittelbaren Umgebung nicht stimmt. Auch die Wohnung ist plötzlich am falschen Ort – für ihn als schwulen Mann, und für das ungeborene Kind sowieso. Als er einen Makler engagiert, ohne Raz davon zu erzählen, bringt er damit auch ihre Beziehung in Gefahr. Idan Haguels dritter Spielfilm, der im letzten Jahr im Panorama der Berlinale lief, will einen sozialkritischen Blick auf die heutige Zeit richten. In vielen kleinen Details gelingt ihm das auch. Nur vergisst er darüber, seiner Hauptfigur die nötige Aufmerksamkeit zu schenken, um seine Beobachtungen in eine Charakterstudie zu verwandeln. Oft bewegt sich die Handlung in einer Art Grauzone, weil so große Themen wie Schuld und Sühne, Einwanderung und Rassismus, Armut und Stadtentwicklung angesprochen, aber nicht ausreichend reflektiert werden. Trotzdem schafft es der Regisseur, eine rätselhafte, seltsam schwebende Spannung zu erzeugen, die auf faszinierende Weise zum Weiterschauen ver-

leitet. D Pamela Jahn

Deutschland/Frankreich 2022 D 106 min D R: Helena Wittmann D B: Helena Wittmann D K: Helena Wittmann D S: Helena Wittmann D D: Angeliki Papoulia, Ferhat Mouhali, Gustavo de Mattos Jahn, Ingo Martens, Mauro Soares D V: Grandfilm Verleih

After departing from the harbor, the sea takes over the rhythm more and more. Waves determine the camera movements. The cabins are filled with the creaking of the ship day and night.

HUmAN FLOWErS OF FLESH

Magnetische Wirkung

Schon mit ihrem Debüt DRIFT zog die Künstlerin und Filmemacherin Helena Wittmann aufs Meer, und auch ihr zweiter Film spielt wieder auf, in und mit der See. Segelbootbesitzerin Ida (Angeliki Papoulia) macht darin mit ihrer Schiffscrew Halt in Marseille. Dort trifft die Gruppe auf Fremdenlegionäre. Ida und die Männer sind wie gebannt von den Söldnern und den Legenden um sie und machen sich schließlich über das Mittelmeer auf, in das algerische Sidi bel Abbès, das bis 1962 Hauptquartier der Französischen Fremdenlegion war. Mit dem Verlassen des Hafens übernimmt die See immer mehr den Rhythmus. Wellen bestimmen die Kamerabewegungen. Die Kajüten sind Tag und Nacht mit dem Knarzen des Schiffs gefüllt. Eine sehnsüchtige Sprachnachricht für die an Land Gebliebenen wird verschickt. Auf dem Deck lesen sich die Männer der Crew Gedichte vor und tanzen mit Ida zu Elektro, das Meer reflektiert die Nachtlichter wie eine Diskokugel. Dazwischen mikroskopische Aufnahmen von Plankton und blaue Unterwasserwelten. Die bestechenden Bilder verschmelzen mit dem Sound der Hamburger Musikerin und Künstlerin Nika Son zu betörenden Szenen. Wittmann, die auch Kamerafrau ist, nutzte trotz der erschwerten Bedingungen Filmmaterial und arbeitete u.a. mit Cyanotypie. HUMAN FLOWERS OF FLESH ist kein Erzählfilm, viel mehr stupst er Emotionen und innere Narrative an. Dekonstruiert nautische Mythen um brummige Seebären und wütende Fluten. Neben historischen und mythologischen Referenzen greift Wittmann auch auf Filmzitate zurück. So trifft Ida zum Ende auf „Galoup“, gespielt von Denis Lavant, der 1999 eine gleichnamige Rolle in Claire Denis’ DER FREMDENLEGIONÄR besetzte. Aber auch ohne jeden Verweis zu entschlüsseln, erzeugt der atmosphärische Film eine magnetische Wirkung – unerklärlich und sirenenhaft, wie

das Meer selbst. D Clarissa Lempp  Start am 2.2.2023

RETURN To sEoUl

Impulsiv

Originaltitel: Retour à Séoul D Belgien/Deutschland/Frankreich/Qatar 2022 D 116 min D R: Davy Chou D B: Davy Chou D K: Thomas Favel D S: Dounia Sichov D M: Jérémie Arcache, Christophe Musset D D: Ji-Min Park, Guka Han, Yoann Zimmer, Ouk-Sook Hur D V: rapid eye movies

Freddie wurde als Baby von einem französischen Ehepaar adoptiert. Doch ihre Wurzeln liegen in Südkorea. Einem Impuls folgend reist sie in das Land ihrer leiblichen Eltern. Regisseur Davy Chou (DIAMOND ISLAND), der als Kind kambodschanischer Eltern in Frankreich aufwuchs und auch erst als Erwachsener Kambodscha kennenlernte, kennt sich aus mit der Zerrissenheit, die man spürt, wenn man sich immer im Dazwischen bewegt, nie wirklich zugehörig ist. Und diese innere Verbindung mit seiner filmischen Geschichte spiegelt sich auch in seiner sensiblen Inszenierung. Zudem thematisiert er Koreas Geschichte als „Baby-exportierende Nation“, die bis heute schambesetzt ist. Nach dem KoreaKrieg hatte Südkorea zunächst aus wirtschaftlichen Gründen angefangen, in Vielzahl vor allem Waisen und amerikanisch-koreanische Säuglinge ins Ausland zu vermitteln, aber auch später, als aufstrebende Industrienation, nicht damit aufgehört. Die konfuzianische Tradition des Landes stützt sich stark auf Blutsverwandtschaft und Ahnenlinien, die als Voraussetzung für eine intakte Familie gelten. Deshalb gelten adoptierte Kinder immer noch als minderwertig, auch wenn sich in den letzten Jahren die Einstellung der koreanischen Gesellschaft hierzu langsam verändert. Mittlerweile steigen die Inlandsadoptionen. Chou lässt vielleicht auch deshalb Freddie in einem Mix aus Auflehnung und Selbstsabotage über koreanischen Boden fegen und dabei alle Grundpfeiler der Benimm-Codes, die in Korea unausgesprochen gelten, mit sich reißen. Sie mag sich nicht den Gepflogenheiten anpassen, ist fordernd und bis an die Schmerzgrenze extrovertiert. Vermittelt durch die staatliche Adoptionsagentur trifft sie auf die Familie ihres Vaters, die sie mit Entschuldigungen überschüttet aber auch fast umgehend der Meinung ist, dass Freddie in Korea leben und einen koreanischen Mann heiraten soll. Chou zeigt, in mehreren Zeitsprüngen über acht Jahre, Freddies Reibungen und Häutungen auf der Suche nach sich selbst und einem Ankerpunkt im Leben, hinreißend intensiv dargestellt von Park Ji-min in ihrer ersten Rolle – Freddie, als Sinnbild für den Stachel, der bis heute tief in der südkoreanischen Gesellschaft

sitzt. D Susanne Kim ¢ Start am 26.1.2023

Freddie was adopted by a French married couple as a baby, but her roots are in South Korea. Following an impulse, she travels to the country of her biological parents.

Deutschland 2022 D 99 min D R: Tine Kugler, Günther Kurth D B: Tine Kugler, Günther Kurth D K: Günther Kurth D S: Tine Kugler, Günther Kurth D M: Philip Bradatsch D V: mindjazz Pictures

The long-term documentary KALLE KOSMONAUT about a childhood in East Berlin in the 2010s follows young Pascal, nicknamed Kalle, over 10 years.

DANIEl RIchTER

Unprätentiös

Eine klassische Künstler*innendoku ruht auf drei Säulen: Aufnahmen bei der Arbeit, Selbstreflexionen und Kommentare von Freunden und Weggefährtinnen. Die erste Säule von DANIEL RICHTER ist solide: Wir sehen den Künstler in seinem Westberliner Hinterhofatelier, an den Wänden lehnen riesige Leinwände, auf dem Boden liegen Perserteppiche. Im Gegensatz zu Richters immer verschmierter Kleidung lassen sie keinen Tropfen Farbe erkennen. Durch die Luft fliegen Papageien, im Hintergrund laufen Platten, Reggae, Hip-Hop, Elektronisches. Die Szenen im Studio sind immersiv und energetisch und bringen Richters Kunstpraxis tatsächlich näher. Die zweite Säule ist angenehm schlicht: Für einen dokumentarfilmwürdigen Künstler wirkt Daniel Richter sympathisch und unprätentiös, seine Beobachtungen beschließt er gern mit trockener Selbstironie. Er versucht erst gar nicht, Tiefgründiges über die Malerei und die Welt zu sagen, daher erfahren wir nichts sonderlich Interessantes, aber auch nichts Peinliches. In einer bezeichnenden Passage erklärt eine Kunsthistorikerin den politischen Gehalt von Richters Gemälde „Tarifa“ von 2001, das geflüchtete Menschen auf einem Schlauchboot im Mittelmeer zeigt, und schaut im Anschluss online dessen Versteigerung bei Christie’s zu: 950.000 €, ein anonymer Kauf über das Telefon. Zwar äußert sich Richter auch über die Funktion von Kunst als Anlage und Geldwaschmittel, so richtig scheint ihn trotzdem nicht zu interessieren, woher sein Geld kommt. Der vom Künstler selbst initiierte Film darf auch die Schattenseiten erfolgreicher Kunst beleuchten; Richters Bestreben, nicht nur ein cooler, sondern auch ein linker Millionär zu sein, wird vom Filmemacher Pepe Danquart jedoch nicht weiter hinterfragt. Und die dritte Säule: ist Jonathan Meese. Yorick Berta D

¢ Start am 2.2.2023

kAllE kosmoNAUT

Aufwachsen in Marzahn-Hellersdorf

Tief im Berliner Bezirk Marzahn-Hellersdorf liegt die Allee der Kosmonauten. Hier wächst Pascal, den alle nur Kalle nennen, bei seiner Mutter und deren Freund auf. Für den persönlichen und sozialkritischen Langzeit-Dokumentarfilm KALLE KOSMONAUT über eine Jugend in Ost-Berlin in den 2010ern begleiten Tine Kugler und Günther Kurth Kalle zehn Jahre lang. Kalle steht vor einem Plattenbau. „Ich hab Angst, wie’s mit mir weitergeht“, sagt der 16-Jährige. Unter Drogeneinfluss hat er einen Mann verletzt. Mit 10 Jahren ist Kalle allein zuhause. Seine Mutter hat ihm einen Zettel mit Anweisungen dagelassen: „Kein Blödsinn.“ Kalle spielt Fußball, Kalle hält Händchen, Kalle rappt. Die Kamera ist dabei. Dann der Einschnitt: Kalle muss eine Gefängnisstrafe von zwei Jahren und drei Monaten absitzen. Düstere Animationen von Alireza Darvish zeigen Kalle im Knast, aus dem er dem Filmteam nur Briefe schreiben kann. Ein riesiger Rabe symbolisiert das Unheil, das über Kalles jungem Leben kreist. Auf der mit Respekt und Empathie gefilmten Reise durch eine schwierige Berliner Jugend werten Kugler und Kurth nicht, treten Kalle und seiner Familie nie zu nahe und lassen Raum für eigene Erklärungsversuche: Wie ist es, in Marzahn-Hellersdorf aufzuwachsen? Mittlerweile trocken, schildert Kalles Oma, wie ihr Partner und sie vor Kalle tranken. Kalles Opa sehnt sich nach der „guten“ DDR-Zeit. Kalles Mutter Kerstin musste viel arbeiten und fragt sich, ob sie zu wenig Zeit für Kalle hatte. Seinen Vater hat Kalle seit Jahren nicht gesehen. Hätten sich Kalles Straftaten verhindern lassen? Eigentlich sei Kalle ein lieber Kerl, sagt die Kiezpolizistin. Kalle selbst ist fest entschlossen, nie wieder in einer Zelle zu landen. Ob er es schafft, weiß der reflektierte junge Mann nicht: „Was ist ein gutes Leben? Ich hab keine Ahnung davon! Aber die

Luft will ich auch mal riechen.“ D Stefanie Borowsky ¢ Start am 26.1.2023

Deutschland 2021 D 98 min D R: Sabine Lamby, Cornelia Partmann, Isabel Gathof D B: Sabine Lamby, Cornelia Partmann, Isabel Gathof D K: Nicolas Mussell D S: Martin Hoffmann D M: Matthias Vogt D V: Real Fiction

The documentary accompanies two current trials against the former concentration camp warden. Experts provide insight into the trial and the history of the trials against Nazi criminals in the federal republic in a clear and detailed way.

FRITz BAUERs ERBE

Späte Prozesse

2018 steht der frühere SS-Wachmann Johann R. in Münster vor Gericht. Möglich wurde die Anklage dank der Zeugenaussage von Judy Meisel (USA), Überlebende des KZ Stutthof, die den Mann auf einem Foto identifizierte. Zwei Jahre später wird in Hamburg ein weiterer Wachmann des KZ Stutthof angeklagt; Zeugin ist die über 90-jährige Roza Bloch, die aus Israel anreist, um ihre Aussage zu machen. Beide Damen und ihre Familien stellen der deutschen Justiz die gleiche Frage: Warum hat es mehr als ein halbes Jahrhundert gedauert, diese Männer vor Gericht zu bringen? Dieser Frage versucht sich der Dokumentarfilm FRITZ BAUERS ERBE anzunähern. Das Team begleitete die Nebenklägerinnen, ihre Angehörigen und die Rechtsanwälte, die sie vor Gericht vertreten, während der Verfahren. Verständlich und detailliert geben Expert*innen in Gesprächen Einblicke in die Vorgänge vor Gericht, ihre Archivarbeit sowie die Geschichte der Prozesse gegen KZ-Verbrecher in der Bundesrepublik. Erst 1963 fand auf Initiative des jüdischen Generalstaatsanwalts Fritz Bauer mit dem Auschwitzprozess in Frankfurt zum ersten Mal ein Versuch statt, die „kleinen Rädchen“ im Getriebe des industriellen Massenmordes zur Rechenschaft zu ziehen. Seine „Rädchentheorie“ lehnte die deutsche Justiz jedoch ab – erst mit den Prozessen zum 11. September wurden Präzedenzfälle geschaffen, die es möglich machten, Mittäter an Massenverbrechen in Bauers Sinne zu verurteilen. Regisseurinnen Sabine Lamby, Cornelia Partmann und Isabel Gathof lassen uns in ihrem einfühlsam gefilmten Film nachvollziehen, wie tief die Verbrechen (und die Verbrecher) der Nazizeit in der deutschen Gesellschaft verwurzelt sind, und warum es auch nach über 70 Jahren immer noch sinnvoll und noch unabdingbar ist, dafür zu kämpfen, dass diese Taten so lange wie möglich juris-

tisch verfolgt werden. D Eva Szulkowski ¢ Start am 2.2.2023

„Eine verspielte, leichtfüßige Erzählung.“

Variety

Offizielle Auswahl 60. New York Film Festival

2022

Offizielle Auswahl Toronto Int. Film Festival

2022

Offizielle Auswahl San Sebastian Film Festival

2022

Offizielle Auswahl BFI London Film Festival

2022

Offizielle Auswahl Mostra Int. Film Festival São Paulo

2022

www.grandfilm.de

Ein Schweizer Sommer der Anarchie.

U RUH N

Ein Film von Cyril Schäublin

IN DER NAchT DEs 12.

Polizeifilm

Schon zu Beginn von Dominik Molls Film IN DER NACHT DES 12. erklärt eine Texttafel, dass es um einen unaufgeklärten Mord auf der Basis eines wirklichen Falls gehen wird. Die Sicherheit vermittelnde Form des Krimis, an dessen Ende mit der Aufklärung der Tat die Ordnung wieder hergestellt ist, wird ausdrücklich von Molls ungewöhnlichem Polizeifilm zurückgewiesen.

Eine junge Frau, Clara, ist auf dem Heimweg von einer Freundin von einem Unbekannten mit Benzin übergossen und lebendig verbrannt worden. Der brutale Mord schockiert auch die Polizisten Yohan (Bastian Bouillon) und Marceau (Bouli Lanners). Sie verdächtigen Claras Sex-Bekanntschaften, von denen es mehr gibt, als Claras beste Freundin zunächst verrät. Nanie macht sich dadurch selbst verdächtig, aber sie fürchtet vor allem eine Vorverurteilung ihrer Freundin. Alle Beziehungen von Männern zu Clara sind von Gewalt kontaminiert, auch die der Polizisten. Im Revier reagiert die zunächst ausschließlich männliche Belegschaft zwar schockiert auf die Bilder der verbrannten Toten, ein Witz über ein Missgeschick bei der letzten Grillparty löst das Entsetzen aber schnell wieder auf. Der jüngste Freund von Clara beginnt im Verhör zu kichern, als er Details erfährt, ein Verdächtiger war wegen Gewalt gegen Frauen im Gefängnis, wieder ein anderer stalkte Clara. Aber der Mord selbst lässt sich keinem der Männer nachweisen. Die fehlende Auflösung trotz jahrelanger, sorgfältiger Polizeiarbeit führt dazu, dass sich etwas anderes enthüllt: die latente Drohung männlicher Gewalt, die ständiger Bestandteil des Geschlechterverhältnisses ist. Sie wird zu einem Grundton des Films, der so eine fundamentale Verunsicherung erzeugt. In Molls Filmen gibt es oft ein dunkles Element, das eine permanente Bedrohung anzeigt oder ein Unglück ankündigt. In diesem kühlen, rationalen Polizeifilm ist dies nicht ein düsteres Omen wie in LEMMING oder eine exzessive Leidenschaft wie in DIE VERSCHWUNDENE, sondern die andauernde Ungewissheit und das alltägliche Potential zur Gewalt von Männern im Umgang mit Frauen, aber auch in ihren Gesprächen untereinander. D Tom Dorow

Originaltitel: La nuit du 12 D Belgien/Frankreich 2022 D 114 min D R: Dominik Moll D B: Dominik Moll, Gilles Marchand D K: Patrick Ghiringhelli D S: Laurent Rouan D M: Olivier Marguerit D D: Bastien Bouillon, Bouli Lanners, Anouk Grinberg, Sylvain Baumann D V: Neue Visionen Filmverleih

¢ Start am 12.1.2023

Dominik Moll has made an intense crime thriller – about a case with no resolution.

Deutschland 2022 D 111 min D R: Hanna Doose D B: Hanna Doose D K: Markus Zucker D S: André Nier D M: Kangding Ray D D: Bibiana Beglau, Gina Henkel, Katarina Schröter, Alexander Fehling, Godehard Giese D V: MFA+

In her second feature film, Hanna Doose brings together a group of forty-somethings with a shared past in a siuation that reopens old conflicts and forces them to break through the years of silence.

19–25 Jan 2023 Sputnik Kino City Kino Wedding Acudkino

wANN kommsT DU mEINE wUNDEN küssEN?

Tiefe Gefühle

Regisseurin Maria (Bibiana Beglau) macht sich von Berlin auf zum elterlichen Hof im Schwarzwald, weil ihre Schwester an Krebs im Endstadium leidet. Den Hof bewirtschaften inzwischen Laura (Gina Henkel) und Jan (Alexander Fehling), die als Schauspielerin und DJ früher Marias engste künstlerische Verbündete waren und sich im Landleben größere Freiheit erträumt haben. Doch der Hof fordert viel Kraft, dazu kommt die Sorge um Marias Schwester Kathi (Katarina Schröter), die versucht, ihre Krankheit mit schamanischen Ritualen im Winterwald zu kurieren. Marias Auftauchen löst eine Welle von Konfrontationen aus, in denen nach und nach Bruchstücke der gemeinsamen Geschichte sichtbar werden. Immer mehr Informationen über die Vergangenheit werden ausgegraben, immer mehr verschiedene Interpretationen und Versionen der Geschichte tauchen auf, die die vier durch tiefe Gefühle und heftige Verletzungen aneinanderbindet. Der Film ist ohne Drehbuch entstanden, Regisseurin Hanna Doose hat die Grundzüge der Geschichte festgelegt und die Szenen mit den Schauspielern in Improvisationen am Set entwickelt. Diese Arbeitsweise merkt man dem Film an. Die Figuren wirken dadurch sehr lebendig und authentisch, der Geschichte hätte ein stärkerer dramaturgischer Zugriff wahrscheinlich an manchen Stellen gutgetan. In der Überfülle an Plot verliert sich mitunter, worum es eigentlich geht. „Nichts ist gefährlicher für unsere Herzen als der Staub“ sang die Hauptfigur in Dooses erstem Film STAUB AUF UNSEREN HERZEN, das könnte hier auch das Motto sein. Die Konfrontation mit der Vergangenheit wirkt als Katalysator für Veränderung und zwingt zu neuem Aufbruch. D Susanne Stern

¢ Start am 2.2.2023 Kino Intimes www.britishshorts.de

BAByloN

BABYLON, der neue Film von Damien Chazelle (LA LA LAND, WHIPLASH) entlehnt seinen Titel sicher nicht zufällig dem legendären Buch „Hollywood Babylon“ von jedermanns Lieblingssatanisten Kenneth Anger. Das starbesetzte Sündenpfuhl-Drama (Brad Pitt, Margot Robbie, Olivia Wilde) über den Übergang der Stummfilm- und den Übergang in die Tonfilmepoche in Hollywood soll, so raunt es nach ersten Andeutungen nach Probescreenings in den USA, ein „wilder Ritt“ der „Ausschweifung“ sein. Wir werden sehen.

¢ Start am 19.1.2023

Originaltitel: Babylon D USA 2022 D 189 min D R: Damien Chazelle D D: Brad Pitt, Margot Robbie, Tobey Maguire, Samara Weaving, Flea, Olivia Wilde, Jean Smart, Spike Jonze, Katherine Waterston, Max Minghella

EIN mANN NAmENs oTTo

EIN MANN NAMENS OVE (2015) war in Schweden einer der erfolgreichsten Filme aller Zeiten. Er erzählt vom grantigen Ove, der sich nach dem Tod seiner geliebten Frau eigentlich umbringen möchte – aber immer kommt etwas dazwischen: Die Nachbarin braucht Hilfe beim Heizungsentlüften, und jemand muss sich um die streunende Katze kümmern. Vor allem ist da die gut gelaunte und hochschwangere Iranerin Parvaneh, die sich von Oves Grummelei nicht abschrecken lässt und ihn resolut in ihre Projekte einspannt. Im Remake heißt Ove Otto und wird von Tom Hanks

gespielt. ¢ Start am 2.2.2023

wAR sAIloR

WAR SAILOR ist die bislang teuerste norwegische Filmproduktion aller Zeiten. Der Film spielt im zweiten Weltkrieg und handelt von den Handelsmatrosen Alfred Garnes und Sigbjørn (Wally) Kvalen, die im Atlantik um ihr Überleben kämpfen. Jederzeit kann ihr Frachter von deutschen U-Booten angegriffen und ausgeraubt werden. Auch die Nachrichten, die sie aus der Heimat erreichen, sind erschreckend. In Bergen, wo Alfreds Frau mit drei Kindern auf ihn wartet, hat die britischen Luftwaffe irrtümlich eine Grundschule und Wohnhäuser bombardiert.

¢ Start am 9.2.2023

Originaltitel: Krigsseileren D Norwegen/Deutschland/Malta 2022 D 150 min D R: Gunnar Vikene D D: Kristoffer Joner, Pål Sverre Hagen, Ine Marie Wilmann, Henrikke Lund Olsen

ARBoRETUm

Kurz nach der Jahrtausendwende warten die besten Freunde Erik und Sebastian in einem Thüringer Kaff nahe der ehemaligen Grenze darauf, dass endlich „etwas Großes“ passiert. Sie haben schon einen Plan, der Stadt zu zeigen, wer sie sind, aber bis sie den umsetzen, zocken sie Videospiele, werden von den örtlichen Faschos schikaniert und üben das Schießen mit dem NVA-Gewehr von Eriks Vater. Hauptsache, nicht im Saufalltag unterzugehen, mit dem die erwachsenen „Schafe“ ihre Traumata bekämpfen. Doch dann lernt Erik ein Mädchen kennen, Elli, die weg will, sobald sie 18 ist. ¢ Start am 9.2.2023

BIggER ThAN Us

Mit 12 Jahren hat Melati Wijsen eine Kampagne gegen Einweg-Plastik in Indonesien ins Leben gerufen. Mit 18 beschließt sie, die Welt zu bereisen, und andere junge Aktivist*innen zu treffen. Mit ihr zusammen besucht der Dokumentarfilm Mohammed, der in Libanon eine Schule für Geflüchtete aufgebaut hat, Mary, die sich auf Lesbos in der Flüchtlingshilfe arbeitet, Memory, die sich in Malawi für eine Anhebung der Alters, in dem Mädchen heiraten dürfen, auf 18 Jahre einsetzt und Rene der mit 12 begann, über das Leben in den Favelas zu schreiben.

¢ Start am 16.2.2023

wANN wIRD Es ENDlIch wIEDER so, wIE Es NIE wAR

Sonja Heiss (HEDI SCHNEIDER STECKT FEST) hat den autofiktionalen Roman von Joachim Meyerhoff verfilmt: Der kleine Joachim wächst als Sohn des Direktors einer Kinder- und Jugendpsychiatrie in Schleswig-Holstein inmitten von 1.500 Patient*innen auf – die meisten Kinder, aber auch einige Erwachsene sind darunter, die hängengeblieben sind. Joachim kommt gut mit ihnen zurecht, weit schwerer tut er sich mit der eigenen kriselnden Familie. Der Film folgt dem Protagonisten im Alter von sieben, 16 und schließ-

lich 25 Jahren. ¢ Start am 23.2.2023

Frankreich 2021 D 96 min D R: Flore Vasseur Deutschland 2023 D 116 min D R: Sonja Heiss D D: Laura Tonke, Devid Striesow

ein film von SABINE LAMBY CORNELIA PARTMANN ISABEL GATHOF

Gerechtigkeit verjährt nicht

Im Verleih von

Originaltitel: Tytöt! Tytöt! Tytöt! D Finnland 2022 D 100 min, FSK: 12 D R: Alli Haapasalo D B: Ilona Ahti, Daniela Hakulinen D K: Jarmo Kiuru D S: Samu Heikkilä D D: Aamu Milonoff, Eleonoora Kauhanen, Linnea Leino, Mikko Kauppila, Amos Brotherus D V: Edition Salzgeber

gIRls! gIRls! gIRls!

Freundinnen-Freitage

Die Freundinnen Mimmi (Aamu Milonoff) und Rönkkö (Eleonoora Kauhanen) stehen mit ihren 17, 18 Jahren an der Schwelle zum Erwachsenwerden. An drei aufeinanderfolgenden Freitagen schütteln verschiedene Erlebnisse ihre Gefühle gründlich durch. Mimmi, deren Mutter sie vernachlässigt und die vor Wut schon mal mit dem Hockeyschläger ausholt, verliebt sich in die leistungsorientierte Eisläuferin Emma (Linnea Leino), die sie beim Jobben im Smoothie-Laden kennenlernt. Rönkkö dagegen spürt beim Sex nichts – und das muss sich dringend ändern! Die in dunklen und Pastellfarben im finnischen Winter inszenierte Coming-of-Age-Story dreier Teenagerinnen ist der dritte Spielfilm der 1977 in Helsinki geborenen Alli Haapasalo, die sich als Regisseurin oft starken weiblichen Figuren widmet. In GIRLS! GIRLS! GIRLS! (Drehbuch: Ilona Ahti, Daniela Hakulinen) rückt sie drei unterschiedliche junge Frauen in den Fokus, die sich unbekümmert, frei und selbstbewusst ihren Raum nehmen. Offen, detailliert und auf so frische und witzige Art wie sie Smoothies mit sprechenden Namen mixen, reden die Heldinnen über ihre sexuelle Orientierung und über weibliche Lust. Haapasalo nähert sich feinfühlig, ernsthaft und dennoch mit Humor der Lebens- und Gedankenwelt der drei. Mimmi, Rönkkö und Emma dürfen Fehler machen, Wut rauslassen, sich ausprobieren und scheitern, ohne dass sie jemand dafür verurteilt. Der Feminismus im Film, der mit seinem 4:3-Format an Apps wie Instagram erinnert und mit Songs des weiblichen finnischen Rap-Duos SOFA unterlegt ist, bildet die selbstverständliche Grundlage der Geschichte der Teenagerinnen, die ihre eigenen Ziele und Träume auch gegen Widerstände verfolgen und sich trauen, Grenzen zu setzen. GIRLS GIRLS GIRLS ist ein Film von Frauen über Frauen – für alle Geschlechter und

Altersgruppen. D Stefanie Borowsky ¢ Start am 23.2.2023

A variety of experiences shake up the feelings of friends Mimmi and Rönkkö on three consecutive Fridays. Originaltitel: Så jävla easy going D Schweden/Norwegen 2022 D 91 min, FSK 12 D R: Christoffer Sandler D B: Christoffer Sandler, Lina Åström, Jessika Jankert, Linda-Maria Birbeck D K: Nea Asphäll D S: Jens Christian Fodstad, Robert Krantz D M: Gustaf Spetz D D: Nikki Hanseblad, Melina Paukkonen, Shanti Roney, Emil Algpeus D V: Edition Salzgeber

so DAmN EAsy goINg

Gefühlskarussell

Joana scheint auf den ersten Blick eine durchschnittliche Jugendliche zu sein. Bis sie eines Tages ihre Medikamente nicht bekommt, weil die letzten Rechnungen noch nicht bezahlt wurden. Ab da entwickelt sich ein echtes Gefühlskarussell, denn ohne ihre ADHS-Tabletten dreht sich für Joana die Welt noch schneller als sowieso schon – und gerade da bemerkt sie die Neue in der Schule, Audrey, die Joana zusätzlich den Kopf verdreht. Wie also an Geld für neue Medikamente kommen und dabei nicht total anstrengend für alle anderen werden? Kurz gesagt: Joana versucht „einfach normal“ zu sein – und das ist sie hier auch. SO DAMN EASY GOING erzählt unaufgeregt, wie vielfältig Normalität aussehen kann: Da ist der Junge von nebenan, der beim Sex zu viel flucht, aber mit seinem Marihuana-Vorrat vielleicht die nötige Geldspritze für Medikamente geben kann. Und es gibt auch den Vater, der um Joanas Mutter trauert und zu Hause gegen seine Depressionen Tierquiz-Sendungen schaut, während die Rechnungen sich türmen. Mit viel Leichtigkeit und warmherzigem Witz zeichnet Christoffer Sandler in diesem Coming-of-Age-Film fast wie nebenbei ein Bild von ADHS, das die Klischees von hyperaktiven Kippel-Kindern unterläuft, indem er gerade keine Krankheitsgeschichte erzählt. Seine Aufnahmen pulsieren, und oft sind die Übergänge zwischen ADHS und Teenage-Angst fließend: Egal, ob Joana ins eiskalte Wasser im skandinavischen Winter springt, um ihre Gedanken zu ordnen, oder versucht, ihre zitternden Hände vor Gleichaltrigen in der Sauna zu verbergen – am Ende geht es um den Mut, sie selbst zu sein. Dass dabei eine Liebe zwischen zwei Mädchen entsteht, ohne Vorurteile von außen, lädt zum

Träumen ein. D Anna Hantelmann ¢ Start am 12.1.2023

When Joana has to get by without her ADHS pills due to the accumulation of unpaid bills, the teen‘s world spins faster than it already does – and just then she notices the new girl in school.

Originaltitel: Where Is Anne Frank? D Belgien/Luxemburg 2021 D 99 min, FSK (beantragt): 6 D R: Ari Folman D K: Tristan Oliver D S: Nili Feller D M: Ben Goldwasser, Karen O D V: farbfilm Verleih

Wo ist Anne FrAnk

Aus der Geschichte lernen

Der israelische Regisseur Ari Folman widmet sich in seinem Animationsfilm WO IST ANNE FRANK? dem bewegenden, vielfach verfilmten Schicksal des jüdischen deutsch-niederländischen Mädchens Anne Frank. Der Film entstand auf Initiative des von Annes Vater Otto gegründeten Anne Frank Fonds mit dem Ziel, in Zeiten des wachsenden Antisemitismus und Rassismus die junge Generation zu erreichen. Nachdem Anne zu ihrem 13. Geburtstag am 12. Juni 1942 ein Tagebuch geschenkt bekommen hat, entscheidet sie, ihre Einträge in Briefform an Kitty zu richten, eine imaginäre beste Freundin, die gut zuhört und der sie alles anvertrauen kann. Viele Jahre später bricht ein starkes Gewitter über Amsterdam herein. Im Anne Frank-Haus, dem weltbekannten Museum, in dem Annes Tagebuch ausgestellt ist, zerspringt das Glas, das es schützt. Aus dem Buch heraus erwacht Kitty zum Leben, die sich wundert, dass Anne und ihre Familie nicht da sind. Auf der Suche nach Anne streift Kitty samt Tagebuch durch das heutige, winterlich-düstere Amsterdam, in dem Geflüchtete in Zelten nahe den Grachten hausen. Kitty freundet sich mit Peter an, der eine illegale Unterkunft für Geflüchtete betreibt, und mit dem vor Krieg geflüchteten Mädchen Awa. Mithilfe des Tagebuchs, das mittlerweile die ganze Stadt sucht, reist Kitty immer wieder in Annes Leben zurück, spricht mit ihr – und erfährt nach und nach, was nach ihrem letzten Brief mit Anne passiert ist. In WO IST ANNE FRANK?, für dessen 2D-Animation Lena Guberman verantwortlich zeichnet, schlägt Ari Folman (WALTZ WITH BASHIR) eindrücklich eine Brücke zwischen Kindern wie Anne, die während des Nationalsozialismus ihr Land verlassen mussten, und geflüchteten Kindern heute. D Stefanie Borowsky

¢ Start am 23.2.2023

In the animated film WHERE IS ANNE FRANK? Ari Folman (WALTZ WITH BASHIR) creates a connection between children like Anne, who had to leave their country during National Socialism, and the refugee children of today. Deutschland/Luxemburg/Polen 2021 D 92 min, FSK: 6 D R: Barbara Kronenberg D B: Barbara Kronenberg D K: Konstantin Kröning D S: Rune Schweitzer, Paul Maas D M: André Dziezuk D D: Romy Lou Janinhoff, Jonas Oeßel, Hildegard Schroedter, Luc Feit, Anja Schneider D V: farbfilm Verleih

Mission Ulja FUnk

Tolle Heldin

Die 12-jährige Ulja (Romy Lou Janinhoff), jüngstes Kind einer russlanddeutschen Familie, liebt das Weltall. Sie kennt sie sich nicht nur bestens mit Himmelskörpern aus, sondern hat sogar einen entdeckt: Den Meteoriten VR-24-17-20, der in Weißrussland auf die Erde treffen soll. Als sie im Kindergottesdienst ihrer Freikirche davon erzählt, ist die Gemeinde nicht begeistert von ihren wissenschaftlichen Erkenntnissen. Vor allem ihre sehr gläubige Oma Olga (Hildegard Schroedter) ist schockiert und betet zu Gott, dass er ihre Enkelin „auf den rechten Weg“ führen möge. Doch der einzige Weg, den Ulja gehen möchte, ist der zum Landeplatz ihres Meteoriten. Weil sie sehr zielstrebig und erfindungsreich ist, tritt sie zusammen mit ihrem Mitschüler Henk (Jonas Oeßel) die Reise durch Polen nach Weißrussland an. Versehentlich entführen sie dabei Oma Olga – und bald sind ihnen auch Uljas Eltern und ihre Glaubensgemeinschaft auf den Fersen. MISSION: ULJA FUNK ist der erste lange Spielfilm von Regisseurin Barbara Kronenberg, die auch die Geschichte geschrieben hat. Der Film, der schon einige Preise gewonnen hat, wurde mit einer großen Crew aus verschiedenen Ländern realisiert. Man muss bei dieser turbulenten Komödie oft richtig laut lachen, viele Späße sind aber auch ganz schön heftig (zum Beispiel, wenn der betenden Oma einfach das Kreuz auf den Kopf fällt und sie ohnmächtig wird!). Ulja ist auf jeden Fall eine tolle Heldin: Sie erinnert ein bisschen an Wednesday Addams, die gerade mit der nach ihr benannten Netflix-Serie viele Herzen erobert hat. Auch sie lacht selten, hat starke Nerven und lässt sich von nichts und niemandem verbiegen. Gerade weil sie so nerdig und eigensinnig ist, begleitet man sie sehr gerne, während sie sich langsam mit Henk anfreundet, mit ihrer Familie streitet und unaufhaltsam

ihren Träumen nachgeht. D Eva Szulkowski ¢ Start am 12.1.2023

12 year old Ulja, the youngest child in a Russian-German family, loves outer space. When she discovers that meteorite VR-24-17-20 is meant to hit Earth in Belarus, she hits the road with her classsmates.

DEr BESTE FILm ALLEr zEITEN: JEANNE DIELmAN, 23, QUAI DU COmmErCE, 1080 BrUXELLES

Seit 1952 hält die vom British Film Institute herausgegebene Filmzeitschrift „Sight and Sound“ alle zehn Jahre unter Filmjournalist*innen, Kurator*innen, Filmwissenschaftler*innen und Filmemacher*innen eine Umfrage nach den besten Filmen aller Zeiten ab, aus denen der Filmkanon der „100 besten Filme aller Zeiten“ generiert wird. Mindestens für den englischsprachigen Raum ist die Sight and Sound-Liste die wichtigste und bekannteste Leitlinie für wichtige Filme. 1952 befand sich Vittorio de Sicas neorealistischer Film Fahrraddiebe, damals gerade vier Jahre alt, auf Platz 1. Über 50 Jahre lang regierte ab 1962 Orson Welles’ CITIZEN KANE die Liste. Erst 2012 lösten Alfred Hitchcocks Vertigo in der „Critic’s Poll“ bzw. Yasuhiro Ozus TOKYO MONOGATARI (Die Reise nach Tokyo) in der „Director’s Poll“ Welles’ technisch brillanten Klassiker ab. Die „Sight and Sound Poll 2022“ ist gerade erschienen, und zum ersten Mal steht ein Film einer Frau auf der Spitzenposition: Chantal Akermans JEANNE DIELMAN, 23, QUAI DU COMMERCE, 1080 BRUXELLES. Akermans Film, mit einer Laufzeit von knapp dreieinhalb Stunden, war selten im Kino zu sehen, und auch im Internet ist JEANNE DIELMANN nicht zu finden. Aktuell zeigen einige Kinos den experimentellen feministischen Klassiker in Sondervorstellungen (Ausschau halten!) Die ganze Liste findet ihr hier: bfi.org.uk/sight-and-sound/greatest-films-all-time

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