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BERLINALE GEWINNER BAD LUCK BANGING OR LOONY PORN
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Berlinale-Gewinner
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Realismus, Wahnsinn und eine unbändige Wut auf geschichtsvergessene, rechtsradikale, sich selbst für die anständige Mitte haltende Dummbürger und -bürgerinnen geben sich in Radu Judes Berlinale-Gewinner die Hand.
Es gibt drei Teile, die von fröhlichen pinkfarbenen Zwischentafeln und Kirmesmusik ebenso beschwingt wie schäbig eingeleitet werden. Der erste begleitet die Lehrerin Emi durch Bukarest, Emi ist gestresst. Ein privat gedrehtes Sexvideo von ihr ist im Internet aufgetaucht und hat einen Shitstorm ausgelöst. Eltern und Schulleitung haben sie vorgeladen. Ebenso gestresst wie Emi ist auch die ganze Stadt, ständig bricht Streit aus und fette SUVs parken bräsig die Fußgängerüberwege zu. Eine beobachtende Kamera folgt Emi auf Distanz und schaut sich dabei in den Straßen um: Menschen mit Masken, kaputte Fassaden, billige Werbung. Pandemie-Alltag im Spielfilm, unglaublich erleichternd zu sehen nach den Monaten, in denen Kino sich nur noch in fantastischen Parallelwelten zu bewegen schien, völlig abgekoppelt von dem, was eigentlich gerade in der Welt passiert. Bei Jude ist die Pandemie nicht groß Thema, aber sie ist da – in den Masken am Arm, im Abstand zwischen den Menschen oder in der Szene, in der die kleine alte Dame zum Gespräch in der Apotheke die Maske runterzieht und daraus, natürlich, wieder ein Streit entsteht.
Realism, madness, and an unbridled anger towards those who ignore history, right-wing radicals, and stupid citizens who regard themselves as decent converge in Radu Jude’s three-part farce. Rumänien/Luxemburg/Kroatien/Tschechische Republik 2021 D 106 min D R: Radu Jude D B: Radu Jude D K: Marius Panduru D S: Cătălin Cristuțiu D M: Jura Ferina, Pavao Miholjevi D D: Katia Pascariu, Claudia Ieremia, Olimpia Mălai, Nicodim Ungureanu, Alexandru Potocean, Andi Vasluianu D V: Neue Visionen Filmverleih
Der zweite Teil ist eine Sammlung von kurzen und kürzesten Anekdoten, die Radu Jude seinem Publikum offenbar einfach mal um die Ohren knallen wollte. Es gibt jeweils einen Titel, zum Beispiel „Bücherregal“, ein Bild oder einen kleinen Film, in diesem Fall das Foto eines Bücherregals, und einen kleinen erläuternden Text, hier ist das die schöne Sentenz „Aus den Bibliotheken gehen die Schlachter hervor“. Zu „Vergewaltigung“ erfährt man, dass 55% der Rumän*innen diese unter Umständen für nachvollziehbar halten, etwa wenn Drogen im Spiel sind, sie mit nach Hause gegangen ist oder sich provokant angezogen hat. Etwa zwei Dutzend dieser Kurzschnipsel bilden eine wütende Tirade, deren Zusammenfassung sich vielleicht in jenem Abschnitt findet, der „Politik“ heißt und mit dem Satz beginnt „Politische Indifferenz kommt moralischer Fäulnis nahe.“
Im dritten und letzten Teil verhandeln Eltern und Schulleitung dann – mit Abstand und Masken im Schulhof – über Emis Zukunft. Zunächst wird nochmal das Sex-Tape gezeigt, während Emi daneben sitzt, dann wird ein Tribunal gehalten, in dem vom Blowjob über Bill Gates bis hin zum Holocaust alles, was an Ressentiments in vernebelten Hirnen gerade so in Umlauf ist, zur Sprache kommt. Es gibt zotige Zwischenrufe, persönliche Angriffe, ausführliche, vom Handy verlesene wissenschaftliche Texte zum Thema Kindererziehung, und Emi zitiert zu ihrer Verteidigung obszöne Gedichte des Nationaldichters Eminescu. Dieser Teil, der zugleich Kammerspiel und eine wilde, dicht inszenierte Farce ist, legt nochmal an Fahrt zu und steigert sich immer weiter ins Absurde.
„Kein Film erzählt per se die Wahrheit. Man muss die Filme mit der Realität vergleichen.“, singt der Abspann. D Hendrike Bake
¢ Start am 8.7.2021
»Mein Herz klopft vor Freude, vor Ungeduld, vor Erregung. Ganz allein, ich und mein Fiat Millecento, und der ganze Süden vor mir. Das Abenteuer beginnt.« Pier Paolo Pasolini
Durch Italien auf den Spuren von Pier Paolo Pasolini
Cloe Zhaos NOMADLAND hat 2020 nahezu alle wichtigen Oscars gewonnen: für den Besten Film, die Beste Regie und Beste Hauptdarstellerin (Frances McDormand). Nach der emotionalen Wucht ihres herausragenden Films THE RIDER (2017) war es eigentlich nur eine Frage der Zeit und der Anwesenheit mindestens eines Stars in einem Film von Zhao, wann es die ersten Oscars regnen würde. Die Oscars für NOMADLAND sind gerechtfertigt, der Film ist großartig. Wie bereits in SONGS MY BROTHERS TAUGHT ME und THE RIDER, die in der Pine Ridge Reservation in South Dakota gedreht wurden, erzählt Zhao eine psychologische Geschichte vor einem dokumentarischen Hintergrund, und die Landschaftsaufnahmen von ihrem regelmäßigen Mitarbeiter und Kameramann Joshua James Richards sind ähnlich überwältigend. Hier aber werden die Hauptrollen von professionellen Schauspieler*innen gespielt, die Nebenfiguren dagegen spielen sich selbst.
NOMADLAND erzählt von Fern (McDormand), die ihren Ehemann in der ehemaligen Bergbau- und heutigen Geisterstadt „Empire“ bis zu seinem Tod gepflegt hat. Nach der Schließung einer Gips- und Bauteilefabrik ist die Stadt zusammengebrochen. Fern lebt seitdem in einem zum Wohnwagen ausgebauten Kleinbus als Nomadin. Der Film beginnt kurz vor Weihnachten, als Fern auf das Gelände einer riesigen Amazon-Lagerhalle fährt, um dort als Zeitarbeiterin zu jobben. Offenbar hat Amazon einen eigenen Campingplatz für nomadisch lebende Arbeiter*innen: Die Finanzkrise von 2007/2008 war für viele US-Amerikaner*innen vor allem eine Immobilienkrise, denn sie verloren mit ihren Hypotheken und ihren Umschuldungsmodellen oft auch ihre Häuser und Wohnungen. Entlang der Landstraßen entstanden große „RV-Parks“ (R=Recreational Vehicle=Wohnmobil), die die Trailer-Parks mit den vergleichsweise komfortablen Großwohnwagen der 70er-90er Jahre ergänzten. Sie sind eine amerikanische Version der deutschen Dauercampingplätze und Laubenkolonien, in denen ja auch in Deutschland oft Menschen dauerhaft – und hierzulande oft am Rande der Legalität – leben. Fern hat gelernt, mit sehr wenig zu leben, und sie ist darauf bedacht, Begegnungen freundlich, aber nicht allzu herzlich und intim werden zu lassen. Erst als es ihr nicht gelingt, einen Job zu finden, folgt sie der Einladung einer ebenfalls nomadisch lebenden Kollegin bei Amazon, zu einem Treffen von Nomad*innen mit Bob Wells zu fahren. Bob Wells ist ein echter Nomade, wie die meisten Personen, denen Fern auf ihrer Reise begegnet. Wells ist Autor eines Buches über das Leben in Wohnwagen und Vans, betreibt eine Website und bietet kostenlose Youtube-Lektionen über den Lebensstil an. Das „Rubber Tramp Rendezvous“ ist der Höhepunkt des Jahres für seine Organisation „Home on Wheels Alliance“. NOMADLAND ist zugleich ein Porträt dieses nomadischen Lebensstils am armen Rand der US-amerikanischen Gesellschaft und die Erzählung des Heilungs- und Trauerprozesses, den Fern durchlebt. Der fiktionale Erzählstrang und das dokumentarische Interesse am Nomaden-Lebensstil gehen hier nicht ganz so nahtlos zusammen wie in THE RIDER. Dort erzählte Zhao die reale, gefunden Geschichte eines Cowboys, der nicht mehr reiten durfte und porträtierte seine Lebenswelt. Hier sind die Gespräche, die Frances McDormand mit echten Nomad*innen führt, episodisch in die Handlung eingefügt, aber nur lose mit ihr verbunden. Das hat immer noch eine große emotionale (und politische) Wucht, auch weil Frances McDormand nicht nur die Herzen im Kino zufliegen, sondern sie auch einen Draht zu den Laiendarsteller*innen entwickelt und echtes Interesse an deren Leben zu haben scheint. Aber Zhaos Methode der Immersion in minoritäre Kulturen und der Kombination von dokumentarischen Elementen mit einer gradlinigen Dramaturgie der fiktionalen Erzählung lässt sich nicht endlos fortführen. Sie droht zu einer Masche zu werden, die Außenseiter und Minoritäten zum Authentizität vorgaukelnden Dekor werden lässt. Man wird das in den nächsten Jahren bei Epigonen von Zhaos Stil sehen. NOMADLAND ist vorerst der filmische Höhepunkt eines Stils, der das postdramatische Theater seit einigen Jahren dominiert. D Tom Dorow
¢ Start am 1.7.2021
nomadLand
Zwischen Armut und Freiheit
NOMADLAND centers on Fern (Frances McDormand), a silent, restless woman who becomes one of the “nomads“ after the death of her husband. The community lives in trailers at the margins of society leading a life that‘s somewhere between poverty and freedom. USA 2020 D 108 min D R: Chloé Zhao D B: Chloé Zhao D K: Joshua James Richards D S: Chloé Zhao D M: Ludovico Einaudi D D: Frances McDormand, David Strathairn, Linda May, Charlene Swankie D V: Walt Disney Company
The Chaos Computer Club (CCC) was founded in 1981 in the editorial offices of taz and has been fighting for open communication, freedom of information, and the protection of personal data ever since.
aLLes Ist eIns. aUsser der 0.
Informationsfreiheit und Datenschutz
Wer einen Krieg vorbereitet, wird versuchen, die Kommunikation zu unterbinden. Menschen, die miteinander reden, gehen nicht aufeinander los. Diese pazifistische Einsicht ist eine der Prämissen, unter denen der Chaos Computer Club, kurz CCC, in Deutschland für ein Menschenrecht auf ungehinderte Kommunikation und für öffentliche Informationsfreiheit bei gleichzeitigem Schutz der privaten Daten kämpft. Während der Coronakrise nicht zuletzt mit umfassender Kritik an der Luca-App hervorgetreten, hat die Hackervereinigung auch schon mal ein unabhängiges Medienzentrum beim G20 eingerichtet. „Dr. Waus Chaos Computer Club Film”, wie die Titelergänzung zu ALLES IST EINS. AUSSER DER 0 lautet, schildert die Historie des CCC in einer flott geschnittenen Mischung aus privatem und TV-Archivmaterial, Animationen, found footage aus zeitgenössischen Nachrichten wie auch Werbung, von Punkkonzerten und aus dem Film 23. Der wilde Video- und Bilderreigen wird sanft strukturiert von Erzähler Peter Glaser, dem ehemaligen Chefredakteur der CCC-Zeitschrift „Datenschleuder“, und dicht zusammengezurrt von einem Soundtrack Alexander Hackes. So ergibt sich ein Überblick über die verschiedenen markanten Stationen von der Gründung des CCC 1981 über den medienwirksamen BTX- hin zum beängstigenderen NASA- und KGB-Hack sowie die connections zu Snowden und Wikileaks, es entsteht aber auch ein liebevolles Porträt des verstorbenen zentralen Gründungsmitglieds und CCC-Philosophen Dr. Wau. Eine seiner messages ist aktueller denn je: Es geht nichts über unmittelbare Erfahrung und direkten zwischenmenschlichen Austausch ohne mediale Ver-
mittlung. D Anna Stemmler ¢ Start am 29.7.2021 Originaltitel: 16 printemps D Frankreich 2020 D 73 min D R: Suzanne Lindon D B: Suzanne Lindon D K: Jérémie Attard D S: Pascale Chavance D M: Vincent Delerm D D: Suzanne Lindon, Arnaud Valois, Frédéric Pierrot, Dominique Besnehard D V: MFA
16 year old Suzanne doesn’t get on with her peers. The melancholy actor in his thirties working in a small boulevard theater that she passes by on her way to school every day is far more interesting.
FrühLInG In ParIs
Gleichklingende Melancholie
Suzanne Lindon, die Tochter des französischen Superstar-Schauspielerpaars Sandrine Kiberlain und Vincent Lindon, war gerade mal 15 Jahre alt, als sie das Drehbuch zu FRÜHLING IN PARIS geschrieben hat, und auch in der Verfilmung des Stoffes, die sie nun im Alter von 21 Jahren realisiert hat, steckt noch viel Teenager. Zum Beispiel ist da diese Kombination aus extremer Schüchternheit gepaart mit einem ausgeprägten Überlegenheitsgefühl. Lindon spielt sich selbst, bzw. eine 16-Jährige mit dem Namen Suzanne, die mit ihren Mitschüler*innen wenig anfangen kann. Inmitten von Freundinnen wirkt sie verloren, hört kaum, was diese sagen. Als ein Mädchen sie auf dem Weg zu einer Party fragt, wie sie die Jungs in der Klasse auf einer Skala von 1 bis 10 bewerten würde, sagt sie erst, dass sie das prinzipiell blöd findet, um dann anzufügen „Wenn ich unbedingt müsste – alle eine fünf.“ Interessanter findet Suzanne einen melancholischen Theaterschauspieler Mitte Dreißig, der in einem kleinen Boulevardtheater spielt, an dem sie täglich auf dem Schulweg vorbeikommt. Sie lungert dort herum und lernt ihn kennen. Sie trinken eine Limonade zusammen. Wo nun im klassischen französischen Autorenkino rehäugige Erotik an der Grenze zur Legalität folgen würde, bleibt es in FRÜHLING IN PARIS fast kindlich versponnen. Momente der Nähe ersetzt Lindon mit Tanzeinlagen, die eher von gleichklingender Melancholie als von Körperlichkeit erzählen. Sie illustrieren weniger die Beziehung der beiden, als das Bild von Liebe und Erwachsensein, das Suzanne mit sich herumträgt. FRÜHLING IN PARIS ist sehr eigen, schwer zu fassen und vielleicht, wie die Suzanne im Film, noch zu sehr im eigenen Kopf verfangen, um wirklich Kontakt mit dem Publikum aufzunehmen, macht aber sehr neugierig auf den weiteren
Weg der Regisseurin. D Hendrike Bake ¢ Start am 17.6.2021
Deutschland 2021 D 92 min D R: Daniel Brühl D B: Daniel Kehlmann D D: Daniel Brühl, Peter Kurth, Rike Eckermann, Aenne Schwarz, Gode Benedix D V: Warner Bros.
nebenan
Am Tresen mit Daniel Brühl
Wer kennt schon seine Nachbarn – also so wirklich? Mal begegnet man sich flüchtig im Hausflur, holt ein Paket ab, führt ein bisschen Smalltalk über den Balkon hinweg. Oder man trifft sie in der Kneipe um die Ecke, so wie Daniel, der dort eines Morgens einkehrt, weil seine Agentur das Taxi zum Flughafen viel zu früh bestellt hat. Der Schauspieler, gespielt von Daniel Brühl als Überhöhung seiner selbst, ist auf dem Weg zum Casting nach London, wo eine Rolle als Superheld auf ihn wartet. Doch die Begegnung mit Bruno (Peter Kurth in formidabler Form), der nicht nur mit dem Werk des eitlen Stars bestens vertraut ist, neben dem er seit Jahren wohnt, ruiniert ihm binnen kürzester Zeit nicht nur den Tag, sondern gleich sein ganzes schön geordnetes Leben. Denn Bruno, so viel steht fest, ist extrem sauer. Auf Daniel. Auf die Wendegewinnler. Ach was, auf die ganze gottverdammte Welt. Und so sitzt er da am Tresen, schlürft gemächlich sein Bier und lässt eine unschöne Wahrheit über Daniels Privatsphäre nach der anderen vom Stapel, genüsslich und behutsam, so dass die Wirkung ihr Ausmaß mit aller Kraft entfalten kann. Für Kurth, der definitiv die besten Sätze und Pointen aus Daniel Kehlmanns Drehbuch abgegriffen hat, ist NEBENAN ein Hauptgewinn. Die Rolle des vernichtenden Ossi-Rächers steht ihm so gut, dass man manchmal vergessen könnte, dass dies eigentlich Brühls Film ist oder zumindest sein soll, der hier erstmals auch selbst Regie geführt hat. Und schlecht macht auch er seine Sache nicht – weder vor noch hinter der Kamera. Nur will sich zwischen diesen beiden Top-Schauspielern trotz der bisweilen schmissigen Dialoge kein rechter Rhythmus einstellen. Immer wieder stockt die Dynamik, kippt das Gleichgewicht zugunsten des teuflischen
Deutschland/Weißrussland 2021 D 90 min D R: Aliaksei Paluyan D K: Tanya Haurylchyk, Jesse Mazuch D S: Behrooz Karamizade D V: Rise and Shine Cinema
coUraGe
Protest in Belarus
Erst im Mai zwangen die belarussischen Behörden ein Flugzeug zur Landung, um einen Regimekritiker zu verhaften, und forderten der EU eine Reaktion ab, deren Folgen kaum absehbar erscheinen. Zumindest für den Moment war Belarus damit im Bewusstsein der westlichen Öffentlichkeit – wie der Alltag im zwischen Polen und Russland liegenden Pufferstaat abläuft, davon wird im Westen dagegen wenig bekannt. Auch davon berichtet Aliaksei Paluyan in seinem Dokumentarfilm COURAGE. Der Film über den Widerstand in Belarus wurde im Sommer 2020 gedreht, rund um die Präsidentschaftswahl vom 9. August, nach deren fragwürdigem Ergebnis zehntausende Bewohner*innen der Hauptstadt Minsk auf die Straßen gingen, oft gekleidet in weiß-roter Kleidung oder weiß-rote Fahnen schwenkend, in Anlehnung an die Fahne, die in der damaligen Weißrussischen Volksrepublik zwischen 1917 und 1919 wehte. Damals war das Land kurze Zeit demokratisch, inzwischen gilt es als brutalste Diktatur Europas, die der Herrscher Alexander Lukashenko mit eiserner Hand führt. Immer wieder brandet Protest auf, regelmäßig erheben sich die Menschen, meist die jüngeren, gehen auf die Straße und werden verhaftet. Doch letzten Sommer geschah Außerordentliches: Die ältere Generation, die Eltern, die noch im Kommunismus aufgewachsen waren, schlossen sich dem Protest an, zogen vor das berüchtigte Foltergefängnis, in dem ihre Kinder und Enkel inhaftiert waren und erzwangen deren Freilassung. Paluyan hatte schon vorher angefangen zu drehen, doch das Spektakuläre seines Films sind die Bilder des Protestes. Gerade das Wissen, dass den Demonstrierenden bei einer Verhaftung Folter drohen kann, macht ihren Mut so eindrucksvoll. Und COURAGE zu einem so
Nachbarn. D Pamela Jahn ¢ Start am 15.7.2021
Vain actor Daniel Brühl (playing himself) is at a corner bar when he encounters bitter neighbor Bruno (Peter Kurth) who takes the opportunity to settle the score with him. wichtigen Dokument. D Michael Meyns ¢ Start am 1.7.2021
Aliaksei Paluyan’s documentary COURAGE about the resistance movement in Belarus was filmed in the summer of 2020 during the presidential election on August 9th. After the dubious election results ltens of thousands of citizens took to the streets in Minsk, the capital.
das mädchen Und dIe sPInne
Genauer Rhythmus
Ständig, wirklich ständig läuft irgendjemand ins Bild, die Nachbarin, die nur mal gucken wollte, wer denn da jetzt einzieht, ein fremdes Kind, das sich aus dem Treppenhaus verirrt hat, und sei es nur eine Spinne, die sich ohne eigenes Zutun in der Wohnung wiedergefunden hat. In DAS MäDCHEN UND DIE SPINNE lösen Mara (Henriette Confurius) und Lisa (Liliane Amuat) ihre WG auf, in der sie mit einem Mitbewohner (Ivan Georgiev) leben. Lisa ist in eine neue, eigene Wohnung gezogen und die Kamera von Alex Haßkerl ist mit eingezogen. Zwischen Kisten, Türen und Fenstern begrüßen Mara und Lisa Freundinnen, Handwerker, die Mutter, die Nachbarin, stehen in Türrahmen und in der Küche, betrachten die Waschmaschine und den Esstisch, verhandeln Lebensabschnitte, Erotik und Vergangenes in wenigen Sätzen und anhand ihrer Gegenüber. Die Bilder sind statisch. Die Figuren und Verhältnisse sind es nicht: Lisas Mutter (Ursina Lardi) wird von ihrer Tochter zusammengestaucht und lässt sich auf einen Flirt in der Wohnung ein, Maras Verhalten wirkt gegenüber allen verletzend, im Haus treffen außerdem fremde Katzen auf alte Frauen und in der Wohnung darunter ein schüchterner Mann auf eine moderne Vampirin. Wie es sich miteinander lebt, in Räumen und in Beziehungen, das verhandeln Ramon und Silvan Zürcher in präzisesten Bildern und genau komponiertem Rhythmus. Mit DAS MERKWÜRDIGE KäTZCHEN feierten die Brüder Zürcher einen Festivalerfolg. Der Film über eine erweiterte Familienkonstellation, die sich in einer Wohnung aufhält und sich ähnlich von Raum zu Raum und Gespräch zu Gespräch bewegt, lief 2013 im Forum der Berlinale. Acht Jahre später wirkt ihr neuer Film, als hätten sie ihr eigenes Werkzeug nochmal geschärft. Die Dialoge sind zugespitzter, die Blicke noch aufgeladener, zwischen dem ganz Alltäglichen und scheinbar Nebensächlichen hängt immer auch eine Spur Bedrohung oder sexuelle Anziehung in der Luft. Noch gibt es aus den Wohnungen kein Entkommen: Ihr nächster Film soll der letzte Teil der Trilogie werden. D Lili Hering
Schweiz 2021 D 98 min D R: Ramon Zürcher, Silvan Zürcher D B: Ramon Zürcher, Silvan Zürcher D K: Alexander Hasskerl D S: Ramon Zürcher, Katharina Bhend D M: Philipp Moll D D: Henriette Confurius, Esmée Liliane Amuat, Ursina Lardi, Flurin Giger, André M. Hennicke D V: Edition Salzgeber
¢ Start am 8.7.2021
Mara and Lisa are giving up their flatshare which they share with one other roommate. Ramon and Silvan Zürcher depict what it‘s like for them to live together, in rooms and in relationships, with exacting images and a precisely composed rhythm.
rosas hochzeIt
Rosa ist Mitte 40 und hetzt durch ihr Leben. Von ihrer Chefin wird die Kostümbildnerin zu jeder Tages- und Nachtzeit ans Set gerufen. Wenn sie nicht arbeitet, muss sie sich um ihren Vater kümmern. Ihre Geschwister und ihre Tochter sind ihr dabei keine Hilfe, sondern halsen ihr nur zusätzliche Aufgaben auf. Kurzentschlossen verlässt Rosa eines Tages Sevilla, um die ehemalige Dorfschneiderei ihrer Mutter wiederzubeleben. Um den Beginn vom Rest ihres neuen Lebens zu feiern, organisiert sie eine Hochzeit: Sie möchte endlich „Ja“ zu Rosa sagen.
¢ Start am 1.7.2021
matthIas & maxIme
Maxime will für zwei Jahre nach Australien auswandern, um Abstand von seiner alkoholkranken Mutter zu gewinnen. Doch die Veränderung, die seine Entscheidung nicht nur für ihn, sondern auch für seinen engen Freundeskreis mit sich bringt, ist größer als erwartet. Vor allem Matthias, der mit Job und Freundin bereits mitten im Leben steht, hat mit dem Abschied zu kämpfen, erst recht, nachdem er und Max nach einer verlorenen Wette knutschen müssen… Der neue Dolan: schnelle Dialoge, ausgelassene Partystimmung, toller Soundtrack.
¢ Start am 29.7.2021
Kanada 2019 D 119 min D R: Xavier Dolan D D: Xavier Dolan, Harris Dickinson, Anne Dorval, Catherine Brunet, Adib Alkhalidey, Pier-Luc Funk
Originaltitel: La Boda de Rosa D Spanien 202 D 97 min D R: Iciar Bollain D D: Candela Pena, Sergi Lopez, Nathalie Poza, Ramón Barea
Originaltitel: Proxima D Frankreich 2019 D 107 min D R: Alice Winocour D B: Alice Winocour D K: Georges Lechaptois D S: Julien Lacheray D D: Eva Green, Matt Dillon, Lars Eidinger, Zélie Boulant D V: Koch Films USA 2021 D 118 min D R: Daniel Lindsay, T.J. Martin D B: T.J. Martin, Daniel Lindsay D K: Dimitri Karakatsanis, Megan Stacey D S: Taryn Gould, Carter Gunn, T.J. Martin D M: Danny Bensi, Saunder Jurriaans D V: Piece of Magic
ProxIma
Der Druck wächst
Sarah Loreau (Eva Green) ist zerrissen. Ihre Sehnsucht nach den Sternen hat sie dahin gebracht, wo sie heute ist: Als Teil einer internationalen Crew wird sie die Landung der ersten Menschen auf dem Mars vorbereiten. Für ein Jahr wird sie gemeinsam mit dem Russen Anton Ocheivsky (Aleksey Fateev) und dem Amerikaner Mike Shannon (Matt Dillon) auf einer Raumstation im Orbit kreisen. Das heißt auch, dass sie ihre Tochter Stella (Zélie Boulant) zurücklassen muss. Der Abschied fällt schwer. Das zerrüttete Verhältnis zu Stellas Vater Thomas (Lars Eidinger) macht es nicht einfacher. Der Umzug nach Darmstadt, das neue Umfeld, die neue Schule und dazu die Trennung von der Mutter setzen der Achtjährigen zu. All das muss Sarah hilflos mit anhören, ist sie doch tausende Kilometer weit entfernt in Baikonur, um sich auf ihre Mission vorzubereiten. Das Training ist erbarmungslos. Als einzige Frau im Team muss sie sich zusätzlich beweisen. Der Druck wächst, je näher der Countdown rückt. In intimen Einstellungen zeigt PROXIMA die enorme Entbehrung für Frauen in der Raumfahrt. In den Momenten mit ihrer Tochter wird spürbar, welche Qualen Sarah durchlebt, während sie nach außen hin stark wirken muss. Hinzu kommt der Chauvinismus in einer Männerdomäne, der hier vor allem durch Matt Dillons Charakter verkörpert wird. Das starke Sounddesign legt Telefonate mit Stella und Sarahs Tagebucheinträge, unterlegt mit Ryuichi Sakamotos elektronischem Score, über Montagen der Ausbildung. Die Etappen des Trainings wurden zum Teil im European Astronaut Centre der ESA bei Köln gedreht. Der naturalistische Ansatz und die starke Leistung von Hauptdarstellerin Eva Green verleihen PROXIMA eine Faszination und Dringlichkeit, die nach dem Abspann, der die Leistungen der Pionierinnen der Raumfahrt
würdigt, weiterwirkt. D Lars Tunçay ¢ Start am 24.6.2021
Sara is part of an international crew that is preparing a mission to Mars. Saying goodbye to her daughter is difficult and the pressure in the male team mounts the closer they get to the countdown.
tIna
Zurückhaltendes Porträt
Zu Beginn des Films über ihre Karriere sitzt Tina Turner im schwarzen Tuxedo in einem Sessel und sagt: „Ich rede nicht gern über mein Leben, weil es kein schönes Leben war. Es gab gute Momente, aber sie wiegen die schlechten nicht auf.“ Dann erzählt sie doch noch einmal die Geschichte, die sie eigentlich nie wieder erzählen wollte: von der Gewalt durch Ike Turner, den Bandleader, Gitarristen und Produzenten, der aus der 17-jährigen Anna Mae Bullock den Star Tina Turner machte. Seit ihrem ersten Hit „A Fool in Love“ (1960) bildeten Ike und Tina Turner für die Öffentlichkeit eines der dynamischsten PopPaare. Aber hinter den Kulissen war Ike ein brutaler Schläger, der Tina psychisch und körperlich misshandelte. Tina verließ Ike 1976. Bei der Scheidung behielt Ike sämtliche Songrechte und das gesamte Vermögen. Tina ließ sich gerichtlich bestätigen, dass sie den Namen Tina Turner weiter benutzen durfte. Sie wollte die erste schwarze Stadionrocksängerin werden und schaffte das schließlich in den 1980er Jahren mit Hilfe von europäischen Produzenten, die das Potential in ihr erkannten, und sie zunächst den Eurotrash-Song „What’s Love Got to Do with It?“ von Bucks Fizz covern ließen. Tina Turner machte daraus einen feministischen Torch-Song und begann eine zweite Karriere als Rocksängerin, die gekrönt war von Auftritten vor 180.000 Fans in Rio und einer Rolle als Kampfgöttin in MAD MAX: BEYOND THE THUNDERDOME. Der Dokumentarfilm TINA erzählt zurückhaltend und liebevoll über Tina Turner. Aber hinter dem Missbrauch durch Ike verschwindet auch das Hauptwerk von Tina Turner mit Ike, von den frühen Soulstompern der sechziger bis zu den Rock-Coverversionen der frühen siebziger Jahre. Die Frage drängt sich auf, was in einer weniger brutalen, patriarchalen und rassistischen Welt aus ihrer
Musik hätte werden können. D Tom Dorow ¢ Start am 13.6.2021
The restrained, affectionate documentary TINA tells the story of Tina Turner from her early success, to the abuse she suffered at the hands of Ike Turner, up until her comeback.
the troUbLe wIth beInG born
Ersatz-Persönlichkeiten
In Sandra Wollners erstem Spielfilm THE TROUBLE WITH BEING BORN gibt es eine Androidin, aber es geht nur am Rande um künstliche Intelligenz. Es gibt auch einen pädophilen Androidenbesitzer, aber der Missbrauch ist eher ein Beispiel für Gewalt- und Besitzverhältnisse. Die Androidin „Elli“ lebt mit ihrem „Papa“, einem gutsituierten Ingenieur mittleren Alters zusammen und sieht aus wie ein zehnjähriges Mädchen. Im Laufe des Films wird klar, dass die aktuelle künstliche Elli ein Ersatz für eine frühere Elli ist. „Papas“ Begehren ist pervers, aber in postfreudianischen österreichischen Filmen ist ja immer alles Begehren pervers. Tun wir so, als sei es normal, wenn „Papa“ morgens Ellis Zunge und Geschlechtsteile herausnimmt und sie in der Spüle reinigt. Wollners Film fragt vor allem nach den Bedingungen des Geborenwerdens eines Ichs. Was bei Elli den Anschein des Bewusstseins hat, sind die Sprachreste des väterlichen Begehrens, die ihr einprogrammiert sind. Sie wiederholt immer wieder die gleichen Phrasen: „Wir waren die ganze Nacht munter“, „Du hast nach Sonnenöl und Zigaretten gerochen“ usw. Gebrochene Wortfetzen seiner Erinnerung, die zu einer Art Ich-Simulation werden sollen. Aber mit den Erinnerungsresten scheinen auch deren unbewusste psychische Folgen programmiert worden zu sein. Elli ist weggelaufen, und auch die neue, nicht fertig geborene ErsatzElli verschwindet und muss in einer neuen Situation eine neue Ersatz-Persona annehmen, was noch schlechter gelingt, weil sich die alten Programme immer wieder Bahn brechen, und die neuen andere Traumata mitbringen. Die Frage, die Sandra Wollners Film vor allen anderen stellt – neben der nach den Beschädigungen durch Missbrauch und durch die Angst, Trauer und Neurosen der älteren – ist, wie überhaupt jemand (oder etwas) sich aus der Begegnung mit anderen, aus diesem Begehrensgeflecht, eine Art Identität konstruieren soll. Ein sehr ungemütlicher Film, der sich
Deutschland/Österreich 2020 D 94 min D R: Sandra Wollner D B: Sandra Wollner, Roderick Warich D K: Timm Kröger D S: Hannes Bruun D M: David Schweighart D D: Lena Watson, Ingrid Burkhard, Dominik Warta, Jana McKinnon D V: eksystent distribution
Sandra Wollner‘s debut about ten year old android “Elli“ who lives together with her “dad,“ a well-off middle-aged engineer, is a very uncomfortable film that stays with you.
Italien/Deutschland 2020 D 117 min D R: Pepe Danquart D K: Thomas Eirich-Schneider D S: Andrew Bird D M: Amiina D D: Ulrich Tukur D V: Neue Visionen
Vor mIr der süden
Auf den Spuren Pasolinis
Im Sommer 1959 bricht Pier Paolo Pasolini auf eine erste Rundreise durch Italien auf, um die Veränderungen des Landes durch die Industrialisierung und die Migration von Süd- nach Norditalien zu dokumentieren, befragt die Bewohner*innen aber auch zu ihren Wünschen, Überzeugungen und sexuellen Vorlieben. 2019 mietet sich der Regisseur Pepe Danquart das mittlerweile zum Oldtimer gewordenen Automodell Pasolinis und fährt dieselbe Route ab – einmal um die gesamte Küstenlinie des Stiefels. Seine Filmaufnahmen werden übereinandergelegt mit Auszügen aus Pasolinis Texten, woraus ein bisweilen interessanter Verfremdungseffekt entsteht. Auch setzt Danquart verschiedene Filmebenen und Filter ein, um die Identifikation mit Pasolini und die Differenz zu seinen Erfahrungen zu veranschaulichen. Danquart selbst bleibt jedoch unsichtbar, er offenbart nichts über seine Motivation zu dieser Reise, sein Interesse an Pasolini oder die Rolle der Sehnsucht der Deutschen nach dem Süden, die seinem Film eingeschrieben ist. Danquart porträtiert ein Land, das von zwei Bewegungen geformt wird: den Tourist*innen aus dem Norden und den Migrant*innen aus dem Süden. Parzellierte Strände wechseln sich ab mit den Zeltstädten prekarisierter Zugewanderter. Auch die Rezeption und Aktualität von Pasolini spielt immer wieder eine Rolle, da Danquart überall glühende Verehrer des Regisseurs zu entdecken scheint. Nicht alle dieser Beiträge und Interviews sind interessant, aber immer wieder entfaltet sich ein feiner Witz, der den Film mehr trägt als sein politischer Anspruch. Für diesen Anspruch steht VOR MIR DER SÜDEN zu unentschieden zwischen Roadmovie, Biografie und Sozialporträt und kann mit dem Engagement seines Vorbilds nicht mithalten. D Yorick Berta
¢ Start am 1.7.2021
Pepe Danquart follows the traces of Pier Paolo Pasolini all across Italy with a Fiat Millecentro. Großbritannien 2021 D 84 min D R: Prano Bailey-Bond D B: Prano Bailey-Bond, Anthony Fletcher D K: Annika Summerson D S: Mark Towns D M: Emilie Levienaise-Farrouch D D: Niamh Algar, Michael Smiley, Nicholas Burns, Vincent Franklin D V: Kinostar
censor
Video-Horror
Als „Video Nasties“ bezeichnete eine konservative Medienkampagne Filme, die laut der britischen Staatsanwaltschaft „obszön“ seien und zu Verrohung und Sittenverfall führten. Auf der Liste fanden sich, neben heute als Klassikern angesehenen Filmen wie THE EVIL DEAD vor allem billige europäische Horrorfilme, aber auch Zulawskis POSSESSION. Enid (Niamh Algar), die jeden Tag entscheidet, was filmisch gesellschaftsverträglich ist, ist als Zensorin beim „British Board of Film Censors“ (BBFC), der britischen Version der „Freiwilligen Selbstkontrolle der Filmwirtschaft“ (FSK) nicht nur dem eigenen Anspruch verpflichtet, sondern sieht ihre Entscheidungen auch ständig hinterfragt. Enid ist zudem durch das mysteriöse Verschwinden ihrer jüngeren Schwester traumatisiert und hofft immer noch, sie wiederzusehen. Als sie wegen einer Freigabe öffentlich angegangen wird, glaubt sie – vielleicht wegen des massiven Drucks – Nina in dem neuen Slasher-Film „Don’t go in the Church“ zu entdecken. Je mehr sie über den Film und seinen Regisseur herausfindet, desto mehr zeigen sich Parallelen zwischen Ninas Verschwinden und dem Horrorfilm und desto mehr taucht Enid in die Welt der Videos ein. Bei aller offensichtlichen Liebe der Regisseurin Prano Bailey Bond für die vermeintlichen Schmuddelfilme, die aus den Gängen der BBFC in rotes Licht getauchte brutalistische Alpträume macht, ist CENSOR keine ironische Nostalgietour, sondern befragt die These, dass Menschen, die viele Horrorfilme schauen, diese irgendwann nicht mehr von der Realität trennen können. Gleichzeitig bedient der Film aber auch alle Ansprüche des Genres, und die Mitarbeit von Dan Martin (u.A. POSSESSOR) garantiert bizarre Spezialeffekte, wegen denen früher empörte Briefe an MPs geschrieben wurden.
D Christian Klose ¢ Start am 29.7.2021
England, at the height of the “video nasty” era in the mid 80s. Enid works at the censorship board and evaluates horror films, but ends up going deeper and deeper into her own nighmare.
Palästina/Frankreich/Deutschland/Posrtugal 2020 D 87 min D R: Tarzan Nasser, Arab Nasser D B: Tarzan Nasser, Arab Nasser D K: Christophe Graillot D S: Véronique Lange D M: Andre Matthias D D: Salim Daw, Hiam Abbass, Maisa Abd Elhadi, George Iskandar D V: Alamode Film
Gaza mon amoUr
Modernes Märchen
In Gaza lebt der schüchterne 60-jährige Fischer Issa (Salim Dau) allein, seit er als junger Mann vergeblich versuchte, ein Mädchen zu heiraten, das schöner war als der Mond. Als er eines Tages seiner resoluten Schwester anvertraut, er wolle heiraten, beginnt die, eine passende Frau für ihren Bruder zu suchen. Insgeheim hat sich Issa allerdings längst entschieden: Sein Herz gehört der verwitweten Schneiderin Siham (Hiam Abbass), die ihre Waren wie Issa auf dem Markt anbietet. Eines Nachts geht Issa ein Fang ins Fischernetz, der das Leben des bedächtigen Junggesellen auf den Kopf stellt: eine bronzene Statue des griechischen Gottes Apollo – mit erigiertem Penis. Im Schutz der Dunkelheit gelingt es Issa, seinen pikanten Fund auf seinem Lastendreirad nach Hause zu schaffen und dort zu verstecken. Der Fang der Statue gibt Issa neuen Mut: Er versucht alles, um endlich der abweisenden Siham näherzukommen, die ihrerseits von ihrer geschiedenen Tochter Leila (Maisa Abd Elhadi) zum Heiraten ermutigt wird. Mit ihrem tragikomischen, durch den Fund einer antiken Apollo-Statue im Jahr 2013 im Meer vor Gaza inspirierten zweiten Spielfilm GAZA MON AMOUR wurden die Regisseure und Zwillingsbrüder Tarzan und Arab Nasser 2020 auf die Filmfestivals in Toronto und Venedig eingeladen. Das Drehbuch zu der von zarter Wehmut durchzogenen Geschichte einer späten Liebe verfassten die 1988 in Gaza geborenen Brüder gemeinsam – und setzen nicht nur ihrem Vater, dem sie den Film widmen, sondern auch ihrer Heimatstadt und deren Bewohner*innen ein filmisches Denkmal. Dabei bildet die angespannte politische Lage im Gazastreifen den Hintergrund für ihren anrührenden, mit leisem Humor und ausgezeichneten Darsteller*innen inszenierten Film.
D Stefanie Borowsky ¢ Start am 22.7.2021
Gazan Arab Nasser and Tarzan Nasser depict a fairy-tale romance between shy fisherman Issa and widowed seamstress Siham.