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WAS WÄRE, HÄTTE GOTT DIE WELT OHNE ALKOHOL GESCHAFFEN?“ INTERVIEW MIT THOMAS VINTERBERG ZU DER RAUSCH

INDIEKINO: Herr Vinterberg, als Sie auf der Berlinale DER RAUSCH ankündigten, prophezeiten Sie einen Shit-Strom wegen des Feierns von Alkohol. Nun bekommen Sie auf Festivals beste Kritiken dafür ...

Thomas Vinterberg: Das Projekt hat sich verändern. Zu Beginn war die Idee, etwas Sensationelles, leicht Provokatives über Alkohol zu erzählen. Churchill zum Beispiel schickte 200.000 Zivilisten in den Krieg. Bei dieser Entscheidung war er nicht betrunken, aber vermutlich eben auch nicht nüchtern. Aber dann erkannte ich, viel faszinierender ist das Thema, wie diese akzeptierte Droge die Menschen beflügeln und gleichzeitig tödlich sein kann.

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Stimmt diese Story mit Churchill oder ist das eine Legende?

Wir wissen nicht, ob diese Geschichte stimmt. Aber viele Zeitzeugen erzählen von seiner Vorliebe von Champagner zum Frühstück. Für mich klingt sein Vorhaben auch nicht nach einer Idee im Suff. Vielmehr ist es ein sehr mutiger und überzeugend irrationaler Plan - genau solche Ideen bekommt man im Stadium zwischen nüchtern und betrunken. Vielleicht ist die Sache mit Churchill auch nur ein Mythos - aber machte das etwas aus? Leistung steigere. Gibt es diesen Trinker-Denker oder haben Sie ihn erfunden?

Finn Skårderud existiert, seine Theorie existiert seit 20 Jahren und er steht bis heute dazu. Er sagt, durch Alkohol wird man mutiger und kreativer, doch das meint er polemisch. Ich habe ihn getroffen und er war begeistert, dass wir seine Theorie im Film aufgreifen. Vor allem mochte er, dass wir dieses Thema nicht mit einer moralischen Botschaft versehen.

Schauspieler, die Betrunkene spielen, wirken selten glaubhaft. Wie haben Sie das Problem gelöst, mit echtem Alkohol für die Akteure?

Die Schauspieler haben beim Dreh keinen Alkohol getrunken - was sie in den Pausen im Wohnwagen gemacht haben, weiß ich allerdings nicht (lacht). Einen zwölfstündigen Drehtag würde man betrunken nicht durchstehen. Einen Besoffenen zu spielen, bedeutet harte Arbeit, zudem viel Recherche: Wir haben reichlich russische Videos auf YouTube angeschaut!

Vom besoffenen Russen lernen, heißt siegen lernen. Was war die Lektion der Wodka-Videos?

Gemeinsam mit seinem dänischen Landsmann Lars von Trier gehört Thomas Vinterberg zu den Verfasser*innen des „Dogma 95“-Manifestes, das eine puritanische Haltung beim Einsatz von Technik forderte, und zu den weltweit bekanntesten dänischen Regisseur*innen. Von Vinterberg stammen unter anderem das Familiendrama DAS FEST (1998), das in Cannes den Jurypreis bekam, DIE JAGD (2012) und DIE KOMMUNE (2016). Thomas Vinterbergs jüngster Film DER RAUSCH wurde im Frühjahr mit dem Oscar für den besten fremdsprachigen Film ausgezeichnet und gewann den europäischen Filmpreis. Ausgangspunkt des Films ist eine Männerfreundschaft und eine fixe Idee: Martin (Mads Mikkelsen) und seine Freunde sind angeödet von ihrem Leben und dem Job als Lehrer. Um ihr Potential auszureizen, testen sie eine Theorie des norwegischen Philosophen Finn Skårderud. Demnach soll ein Mensch mit einer halben Promille Alkohol im Blut zu geistigen Höchstleistungen im Stande sein. Das Resultat ist verblüffend, doch dann eskaliert das Experiment.

¢ Start am 22.7.2021

Dieter Oßwald hat sich mit Thomas Vinterberg über seinen Film unterhalten.

Originaltitel: Druk D Dänemark 2020 D 110 min D R: Thomas Vinterberg D B: Tobias Lindholm, Thomas Vinterberg D K: Sturla Brandth Grøvlen D S: Janus Billeskov Jansen D D: Mads Mikkelsen, Thomas Bo Larsen, Lars Ranthe, Magnus Millang, Maria Bonnevie D V: Weltkino

Male friendship and an obsession: Martin and his friends test the Norwegian philosopher Finn Skårderud‘s theory. According to him, people with half a mil of alcohol in their blood are able to perform at the peak of their mental ability.

„was wäre, hätte Gott dIe weLt ohne aLkohoL GeschaFFen?“

Interview mit Thomas Vinterberg zu DER RAUSCH

Hände noch davor zu halten. Diesen Ablauf haben wir für den Film übernommen, natürlich mit den notwendigen Sicherheitsmaßnamen für die Schauspieler.

Neben dem Fallen geht es auch ums Tanzen. Zum Happy End darf Mads Mikkelsen zeigen, was er einst auf der Tanzschule gelernt hat. Wie kam es zu diesem fröhlichen Schluss à la Fred Astaire?

Fred Astaire oder besser: Alexis Sorbas! Solche Dinge bekommt man als Bonus, wenn man Rollen schreibt für Leute, die man gut kennt. Aus diesem Grund schreibe ich meine Figuren fast immer mit vertrauten Schauspielern im Hintergrund. Bei Mads wusste ich von seiner Tänzer-Vergangenheit und ich wollte zeigen, wie sich seine Figur sich mit diesem Tanz regelrecht befreit. Es bedurfte allerdings einiger Überredung, bis Mads dazu bereit war. Beim Tanzen gibt man schließlich sehr viel von sich preis.

Nicht nur Ihren Filmhelden gelingt dieses Wagnis vor allem mit Alkohol ...

Stimmt, dieses Phänomen wollte ich im Film erforschen. Machen wir ein Gedankenexperiment: Was wäre, hätte Gott die Welt ohne Alkohol geschaffen? Ich bin sicher, wir hätten dann eben einen anderen Weg zum Unkontrollierbaren gefunden. Was wäre passiert, hätten sich Ihre Lehrer an die 0,5 PromilleGrenze gehalten. Mit diesem Level ging es ihnen doch tatsächlich sehr viel besser?

Ich habe gelernt, dass Alkohol in Phasen kommt. In Stufe 1 wird die Person eine außergewöhnlich beflügelte Version ihrer selbst. In Stufe 2 muss man trinken, um wieder man selbst zu sein. Denn jetzt ist man ein miese Version seiner selbst und braucht Alkohol, um in den ursprünglichen Zustand zu kommen. Der Übergang von Phase 1 zu 2 geschieht unmerklich. In Stufe 3 schließlich kommt es zu körperlichen Problemen, wenn man nicht trinkt. Deswegen empfehle ich, in Stufe 1 zu bleiben. Wer ehrlich zu sich ist, wird erkennen, wie knapp man vor Stufe 2 steht: Du brauchst deinen Wein zum Essen, um weniger missgelaunt zu sein. Oder du trinkst jeden Abend deine Flasche Roten. An dieser Stelle sollte man aufhören, und zwar für eine längere Zeit. Nur so kommt man zurück in Stufe 1.

Wie lange haben Sie sich in Stufe 1 aufgehalten?

Mein Leben ist das ganze Gegenteil von Stufe 1, es wird bestimmt durch Kinder, Karriere, Kontrolle und Planung. Oft denke ich: Die Zeit vergeht und ich trinke nicht genug. Aktuell stimmt das nicht ganz, weil ich mit dem Film auf Festivals unterwegs bin, da schleicht sich Alkohol ständig überall ein.

Originaltitel: V Siti D Tschechische Republik/Slowakei 2020 D 100 min D R: Barbora Chalupová, Vít Klusák D B: Barbora Chalupová, Vít Klusák D K: Adam Krulis D V: Filmwelt

GeFanGen Im netz

Erschütterndes Filmexperiment

Das Experiment, das Barbora Chalupová und Vít Klusák mit ihrem Dokumentarfilm GEFANGEN IM NETZ wagen, bringt die Abgründe des Cybergroomings ans Licht. Der Film beginnt mit dem aufrüttelnden Casting volljähriger, aber sehr jung aussehender Schauspielerinnen. 19 der 23 jungen Frauen haben Cybergrooming – die Kontaktaufnahme mit Minderjährigen im Internet, um sexualisierte Gewalt anzubahnen – als Teenagerinnen selbst erlebt. Für die drei ausgewählten Schauspielerinnen baut das Filmteam in einem Studio drei Kinderzimmer nach und dekoriert sie mit deren Kinderfotos. Als die auf diversen Onlineplattformen erstellten Fake-Profile der angeblich 12-jährigen Mädchen online gehen, kommen sofort Kontaktanfragen. Die darauffolgenden Gespräche und Chats mit den im Film unkenntlich gemachten Männern filmt das Team mit und gibt den Darstellerinnen Anweisungen. Dabei ähnelt sich das Verhalten der zahlreichen Täter: Sie schicken Dickpics und Links zu Pornos, onanieren live vor der Webcam, betteln um Treffen – und fordern immer wieder Nacktfotos. Als eine der jungen Frauen eine Nacktfotomontage verschickt, ihre Brüste aber nicht vor der Kamera zeigen will, erpresst der Täter sie und stellt „ihr“ Nacktbild ins Netz. Einige Male gerät das Team, das juristisch und psychologisch begleitet wird, an Grenzen: etwa, als die Maskenbildnerin einen der Täter erkennt – er betreut Ferienfreizeiten für Kinder und Jugendliche. 2458 Männer melden sich während der zehn Drehtage bei den drei Frauen. Etwa 50 Strafverfahren zog Tschechiens meistgesehener Dokumentarfilm 2021 nach sich. Eine gekürzte Schulversion des Films soll Schüler*innen über das Thema aufklären. GEFANGEN IM NETZ erschüttert und verdeutlicht, welche Gefahr für Kinder und Jugendliche im Internet lauert. D Stefanie

Borowsky ¢ Start am 24.6.2021

A disturbing documentary experiment about “cybergrooming”. Three very young looking actresses go online with fake profiles and pretend to be minors. During the ten day shoot, 2,458 men contact them.

zUstand Und GeLände

Unmittelbar nach der Reichstagswahl am 5. März 1933 begannen die Nazis mit Verhaftungen politischer Gegner. Es entstanden „wilde“ Konzentrationslager, in denen sogenannte „Schutzhäftlinge“ gefangen gehalten und drangsaliert wurden. In Sachsen, wo die organisierte Arbeiterbewegung besonders stark war, gab es besonders viele dieser frühen Lager. ZUSTAND UND GELäNDE besteht fast ausschließlich aus Original-Dokumenten und Berichten über die Lager und die Geschichte des Umgangs mit diesem Erbe in der DDR und nach 1990. Goldene Taube DOK Leipzig.

¢ Start am 17.6.2021

Deutschland 2019 D 119 min D R: Ute Adamczewski

Originaltitel: Ruben Brandt, a gyujto D Ungarn 2018 D 96 min D R: Milorad Krstic D D: Gabriella Hámori, Ivan Kamarás, Zalán Makranczi

rUben brandt

Ein Zug rast durch die Nacht. Auf den Gleisen voraus gleitet eine Schnecke. Gerade noch schafft sie es runter vom Eisen, bevor die Räder des Zugs donnernd über sie hinwegrauschen. Von alledem bemerkt Ruben nichts. An Bord hat er mit seinen eigenen Dämonen zu kämpfen. Die Mädchenfigur aus einem Gemälde von Diego Velázquez ist ihm auf den Fersen. Traum, Wirklichkeit und Kunst vermischen sich auf kongeniale Weise in Milorad Krstics Trickfilm um einen Psychologen, der in seinen Träumen von den Figuren berühmter Kunstwerke verfolgt wird.

¢ Start am 1.7.2021

dIe dohnaL

Sabine Derflinger hat einer Ikone der Frauenbewegung, der Politikerin und Vorkämpferin für Frauenrechte Johanna Dohnal ein filmisches Denkmal gesetzt. Derflinger stellt dabei Tagebuchaufzeichnungen von Johanna Dohnal, Archivaufnahmen aus den 70-iger bis 90-iger Jahren und Interviews mit Zeitzeug*innen Gesprächen mit der jüngsten Generation von österreichischen Frauenrechtler*innen entgegen und zeigt damit, wie dick die Bretter sind, die in Sachen Lohngleichheit, unbezahlte Arbeit und Rollenmuster bis heute zu bohren sind.

¢ Start am 29.7.2021

Österreich 2019 D 105 min D R: Sabine Derflinger

Im FeUer – zweI schwestern

Als junges Mädchen kam Rojda aus dem Irak und blieb, als der Rest ihrer Familie irgendwann dorthin zurückging, in Deutschland, passte sich an, und ging zur Bundeswehr. Erst, als sie ihre Mutter aus einem griechischen Flüchtlingsheim zu sich holt, wird ihr vor Augen geführt, dass sie eine ganze Welt und eine Art zu leben, und auch ihre Schwester Dilan, zurückgelassen hat. Rojda lässt sich als Dolmetscherin in eine Gebirgsjägereinheit versetzen, die in der Grenzregion kurdische Partisaninnen ausbildet, in der Hoffnung, dort Kontakt mit Dilan aufzunehmen.

¢ Start am 15.7.2021

Deutschland/Griechenland 2020 D 93 min D R: Daphne Charizani D D: Almila Bagriacik, Zübeyde Bulut, Maryam Boubani, Christoph Letkowski

neU Im JULI

stILL the water

Japan 2014, R: Naomi Kawase Ein Junge aus der Stadt, ein Mädchen von der Insel und die wilde See.

aUsserdem: aLIce Und das meer waterProoF beLLe e PerdUta the PUrPLe sea Und andere

der IndIekIno cLUb brInGt streamInG indie kino cLUB

IndIekIno cLUbcard

Name: Kim Musterperson

Geburtsdatum: 10.10.1980 Club-Abo: 1.7.2021–30.6.2022

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Und kIno zUsammen. Clubmitglieder können online ausgewählte Arthouse- und Indie-Filme nach Belieben streamen, und sie erhalten mit ihrer ClubCard ermäßigten Eintritt in allen teilnehmenden Berliner Kinos: b-ware!ladenkino, Brotfabrik Kino, Bundesplatz-Kino, City Kino Wedding, Filmrauschpalast, fsk-Kino, Il Kino, Klick Kino, Sputnik Kino, Wolf

Los reyes

Feuchte Nasen und raue Pfoten

Santiago, Chile: Am traditionsreichen Skatepark Los Reyes (dt. „Die Könige“) ist kaum was los, denn es ist verdammt heiß und es gibt kaum Schatten. „Wer soll auch kommen bei der Scheißhitze außer uns“, klagen diejenigen, die trotzdem immer da sind. Der Park ist ihr Zuhause, und doch haben sie es nur geborgt: von Futbol und Chola, zwei großen braunen Hunden, die hier die wahren Herrscher sind.

ähnlich wie schon Ceyda Toruns KEDI (Türkei 2017), in dem Katzen und Menschen aus den Straßen Istanbuls porträtiert werden, erzählt auch LOS REYES von der Koexistenz von Mensch und Tier im Lebensraum Stadt, richtet seinen Fokus aber noch stärker auf das tägliche Leben der vierbeinigen Protagonisten. Ruhig und aufmerksam beobachtet die Kamera die beiden Rüden in ihrem Revier, beim Hecheln und beim Schattensuchen, beim Spielen und beim Schlafen, studiert in Detailaufnahmen die feuchten Nasen und rauen Pfoten. Der temperamentvolle Chola bellt gerne und jagt passierende Motorräder; Futbol ist gelassener und schon zufrieden, wenn er eine Plastikflasche gefunden hat, die er im Mund halten kann. Trotz der so unterschiedlichen Gemüter sind sie unzertrennlich, und ihre Freundschaft geht richtig ans Herz.

„Niemand soll mir sagen, was ich zu tun habe“ – was sich die Kids im Skatepark wünschen, ist für die Straßenhunde Alltag. Dass diese Streunerromantik einige Haken hat, sparen die Regisseur*innen Bettina Perut und Ivan Osnovikoff nicht aus. Wenn ein Leinenhund daheim im Trockenen liegt, trotzen Futbol und Chola draußen den Sturmfluten, die die eben noch staubtrockene Stadtlandschaft vollkommen verändern. Und so gibt es schöne Tage und traurige, Tragik und Glück – Hundeleben halt. D Eva Szulkowski

Originaltitel: Los Reyes D Chile/Deutschland 2018 D 77 min D R: Bettina Perut, Ivan Osnovikoff D V: UCM.One

¢ Start am 8.7.2021

LOS REYES depicts the co-existence between humans and animals in the city environment with the help of street dogs Futbol and Chola, who live in a skate park in Santiago, Chile.

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