Leseprobe

Amelie Reichenbecker

Singapur Swing Trotz der kühlen Luft im Gebäude drang die angespannte Schwüle in die Räume; nicht in Form von Wärme, sondern als eine pudrige Schicht, die alle Menschen und Dinge in eine unsichtbare, isolierende Watte zu hüllen schien. In den umliegenden Gebäuden arbeiteten dunkel gekleidete Menschen in Büroräumen aus Glas und Stahl, während in den tiefer gelegenen Stadtteilen die Lichter der Häuser miteinander verschwammen, sodass es aussah, als würde Lava in Strömen ins Tal fließen. Die Häuser dort waren weniger hoch, aber die Lichter drängten sich dicht aneinander, und die Wohnungen lagen Termitenhügeln gleich unregelmäßig übereinander. In der Ferne wurde das Licht zwar schwächer, aber immer wärmer. Die beleuchteten Straßen erinnerten an Adern. Der Puls der Stadt schlug am schnellsten in den dünnsten Verästelungen, im Zentrum der Metropole hingegen stand er fast still. Hier war das Licht unnatürlich kalt und hart. Man sah von oben auf die Straßen hinab und der Blick verlor sich dort, wo immer mehr Lichter erst vereinzelt, dann immer geschlossener aufleuchteten, um den Anfang der hereinbrechenden Nacht in einem umgekehrten Sonnenaufgang zu begrüßen.

Manchmal schwirrten die Worte, die sie an einem Tag gehört hatte am Abend, wenn sie im Bett lag, wild durcheinander, vermischten sich und tönten als Echos durch ihren Kopf. Die einzelnen Stimmen vermengten sich allmählich zu einem Einheitsbrei, der vor sich hin trocknete, bis er auf die Größe einer Murmel geschrumpft war. Wie bei einem altmodischen Flipperautomaten stieß diese dann an Hindernisse, prallte zurück und sauste in die gegenüberliegenden Windungen ihres Gehirns. Es dauerte für gewöhnlich eine ganze Weile, bis sie ihr Ziel erreicht hatte und die Maschine mit einem metallischen Freudengesang den Betrieb für den jeweiligen Tag einstellte. Nicht aber an diesem Abend. Kaum war sie – eine auf den ersten Blick nicht weiter erwähnenswerte junge Frau – nach der Arbeit zu Hause angekommen, fiel sie in einen unruhigen, flatterhaften Angsttraum.

Sie befand sich auf einer Lichtung, die von urwaldartigem Gewächs umspannt war. Von Stille umgeben drückte das Gefühl von Ausweglosigkeit sie zu Boden, und sie fröstelte an den nackten Zehen, die von zäher Erdmasse umschlossen wurden. An einigen Stellen 1

umspülte diese ihre Füße sanft wie Wasser, während sie an anderen hart wie zerbrochene Tonscherben in ihre Fußsohlen schnitt. Wind bewegte die trockenen Blätter der Bäume, die wie kleine Schellen aneinander rieben und einen sich immer weiter steigernden Gesang anstimmten. Einzelne Äste umschlossen Ruinen aus rötlichem Stein. Sie durchbrachen Dächer, wölbten sich aus Öffnungen, die vor langer Zeit einmal Fenster gewesen sein mussten, und würgten Säulen. Ein neues Dach aus großflächigen Blättern ersetzte das zerstörte steinerne.

Alles, was sie umgab, war übermächtig, der Boden unter ihren Füßen weichte immer mehr auf und traumhaft bemerkte sie, wie das Regenwasser, das erst langsam durch die Blätter hinab gelaufen war, nun mit immer größerer Kraft seinen Weg Richtung Erdboden suchte.

Innerhalb weniger Augenblicke flossen ganze Bäche auf sie hinunter. Die Tropfen hatten ein Loch in das Blätterdickicht gerissen, und das Wasser drohte alles in seiner Gestalt aufzulösen, sodass Farben und Formen ineinanderliefen und die Landschaft vor ihren Augen zu einer einzigen, grotesken Leinwand aus verwaschenen Farbströmen zusammenfand.

Als sie erwachte, regnete es tatsächlich. Ihr Haus befand sich am Stadtrand, wo die Natur wieder dichter wurde und Pflanzen in einer freien und doch hierarchischen Form wuchsen.

Es war noch dunkel, als sie sich langsam anzog. Nur an vereinzelten Stellen schimmerte der milchige Himmel hinter den Wolken hervor, die in unzähligen Grautönen ineinander wirbelten.

Der Tag blieb wolkenverhangen, nicht einmal im Schutz der Hochhäuser und gläsernen Gänge, die die einzelnen Gebäude zu einem weitläufigen Labyrinth verbanden, konnte man sich vor dem immer düsterer werdenden Licht verstecken. Die Menschen liefen mit gesenkten Köpfen, standhaft und den Blick nach innen und auf neue Ziele gerichtet.

Einigen standen Schweißperlen auf der Stirn, die kalte Luft im Aufzug ließ sie frösteln, als sie nach oben fuhren. All dies nahm sie im Vorbeigehen war, die Absätze ihrer hohen Schuhe begleiteten ihren Gang wie ein Metronom, von dem sie sich zur Eile angetrieben fühlte. Ohne dieses vertraute Geräusch hätte sie weder den Weg durch die Empfangshalle, noch den Gang in die oberste Etage des Büros zurücklegen können, sie brauchte die Gewissheit, dass ihre Schritte sie mit jedem einzelnen Geräusch näher ans Ziel brachten, die Gewissheit, dass ihre Füße den Boden berührten.

2

Die Tür zu den Büroräumen war mit undurchsichtigem Glas versehen, man erkannte nur Schatten, die vorbeihuschten. Entlang der langen Fensterreihe standen Tische, jedoch blickten die wenigsten nach unten, wo vereinzelt Menschen auf dem Weg von einem Gebäude in das nächste waren, Garküchen den Nebel noch vermehrten und Gärtner die heranwachsenden Pflanzen am Straßenrand zurück schnitten. Diese waren das einzige Anzeichen dafür, dass man sich unweit der Tropen befand. Die unnatürlich intensiven Farben der Blätter und die vereinzelten Unwetter, die heftig und ursprünglich wirkten, erinnerten daran, dass die peinlich sauberen Straßen und die Gebäude den Urwald nur verdrängt hatten.

Ihre Finger fanden sich nur unsicher auf der Tastatur zurecht, als sie sich an ihren Arbeitsplatz setzte. Jedoch beruhigte sie die makellos glänzende Oberfläche des Schreibtisches, auf dem es unmöglich war, Fingerabdrücke zu hinterlassen. Sie spürte die angenehme Kühle, die von allen Gegenständen im Zimmer ausging, denn ihre Haut war feucht und klebrig, obwohl sie weniger als eine Minute draußen verbracht hatte. Es war ein Film aus schwüler Nässe, an den sie sich trotz der zwei Jahre, die sie schon in Singapur lebte, nicht hatte gewöhnen können. Ebenso die Mutlosigkeit, die sie ganz plötzlich fühlte, wenn sie am Abend zwischen blinkenden Reklameschildern nach Hause lief.

In diesen Momenten wich alle Kraft aus ihr. Die Arme fühlten sich dem Körper nicht mehr zugehörig, ihr Gesicht war eine traumwandlerische Grimasse, aber Müdigkeit lenkte sie erst am frühen Morgen in den Schlaf. Vielen Ausländern, mit denen sie gesprochen hatte, ging es ähnlich, weshalb die Bars jeden Abend voll Menschen waren. Wenige von ihnen schienen an diesen Ort zu gehören. Sie selbst jedoch hatte den Zustand, sich in der Schwebe zu befinden, bereits seit langer Zeit gespürt. Es war nicht unangenehm, ein Gefühl, als wäre man leichter als die Welt, als könnten all die fremden Gesichter, die Gerüche sie von allen Angewohnheiten befreien, die sie in der Vergangenheit beschwert hatten. Diese Stadt glich einem eleganten Spielplatz für gut gekleidete Kinder, die niemand am Abend abholen würde, wenn sie müde vom Tag und der Unabhängigkeit in die vertraute Umgebung kriechen wollten. Man war nicht unglücklich in diesen Momenten, aber erschöpft und ließ die Dinge um sich herum geschehen, als wäre man Zuschauer und kein Akteur.

Erst nach einiger Zeit hatte sie sich der stillen und stolzen Haltung angepasst, die von einem 3

erwartet wurde, wenn man in den dunklen Ledersesseln einer Bar saß und die Anonymität der glänzenden Hochhäuser genoss. Sie wurde ganz still, als sie merkte, wie dieser Ort sie veränderte. Fast traute sie sich nicht zu sprechen, wenn sie die Perfektion dieser Augenblicke bemerkte. Die schwere Ereignislosigkeit der Tage und die altmodische koloniale Einrichtung der Gebäude gaben einem das Gefühl, zwischen den Welten an einem Ort zu sein, an dem die Zeit keine Rolle spielte.

Am Tag jedoch merkte man nicht, was nachts mit der Stadt geschah. Nur der dunstige Schleier, der sich am späten Nachmittag ausbreitete, kündigte die ruhige Eleganz an, die in den folgenden Stunden Oberflächen und Menschen mit einem unwiderstehlichen Glanz überziehen würde. An diese Abende dachte sie, als sie mechanisch schrieb. Man fühlte sich körperlich schwer und doch schien der Geist so leicht und flüchtig, als könne ihn die kleinste Bewegung zum Zerstäuben bringen.

4