Interkulturelles Arbeiten im Gesundheitsamt - Handbuch

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Handbuch zum interkulturellen Arbeiten im Gesundheitsamt

Berlin/Bonn, M채rz 2000


Herausgeber: Beauftragte der Bundesregierung f체r Ausl채nderfragen 11017 Berlin 53107 Bonn Postfach 14 02 80 Internet: http://www.bundesauslaenderbeauftragte.de Druck: Bonner Universit채ts-Buchdruckerei


INHALTSVERZEICHNIS Seite

Vorwort. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zur Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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GABRIELE WESSEL-NEB ¹Die ¸anderen` sind zwar da, aber sie gehören nicht dazuª Persönliche Gedanken zur interkulturellen Öffnung des Öffentlichen Gesundheitsdienstes. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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ANKE SETTELMEYER Einige Daten zur ausländischen Bevölkerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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SIBEL KORAY Interkulturelle Kompetenz ± Annäherung an einen Begriff . . . . . . . . . . . . . . . .

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DR. MED. MARKUS HERRMANN Kulturspezifische Krankheitskonzepte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Das interkulturelle Gesundheitsamt: Die organisatorische Ebene . . .

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KLAUS HEHL Neuorientierung des Öffentlichen Gesundheitsdienstes. Leitbilder, Leitlinien und Ziele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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INGRID GEIGER Interkulturelle Organisations- und Personalentwicklung im Öffentlichen Gesundheitsdienst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Das interkulturelle Gesundheitsamt: Regelaufgaben . . . . . . . . . . . .

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DR. MED. NORBERT SCHMACKE Migrationsspezifische Ansätze in der amtsärztlichen Begutachtung . . . . . . . .

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DR. ZAHRA MOHAMMADZADEH Die Erstuntersuchung nach § 62 Asylverfahrensgesetz ± Interkulturelle Öffnung der Gesundheitsversorgung für Asylsuchende und Kriegsflüchtlinge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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DR. MED. MARGARETHE PETERS Infektionsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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JOHANNA MARIE KÖRBER Prävention von sexuell übertragbaren Krankheiten bei thailändischen Prostituierten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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BIRGIT KRAUSS & ULRICH WÖHLER Primärprävention von HIV/AIDS für MigrantInnen im Landkreis Hildesheim . . .

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JOHANNA MARIE KÖRBER Migrationsspezifische Ansätze in der Schulgesundheitspflege. Schulsprechstunde als niederschwelliges Angebot, insbesondere für Kinder aus Migrantenfamilien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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MARC VAN STEENKISTE, JUTTA BRESTEL-VON HAUSSEN, MERYEM TUKA Gruppenprophylaxe bei türkischen Migranten im Rems-Murr-Kreis ± Erfahrungsbericht.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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FATIH GÜÞ Bikulturelle und multiprofessionelle Arbeit des Kinder- und Jugendpsychiatrischen Dienstes Berlin in Kreuzberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Das interkulturelle Gesundheitsamt: weitere Arbeitsbereiche. . . . .

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CHRISTOPH GÜRTLER Migrationsbezogene Gesundheitsberichterstattung auf kommunaler Ebene am Beispiel der Stadt Nürnberg. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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BRIGITTE SCHMID Migration und Auswirkungen auf die Ernährung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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KARIM MASHKOORI Flüchtlinge und Ernährung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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CHRISTINA PITTELKOW-ABELE Praktische Ernährungsberatung bei Migranten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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DR. HANS WOLTER Migrantenversorgung im Stadtgesundheitsamt Frankfurt am Main am Beispiel der ¹Roma- und Sinti-Sprechstundeª . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Anhang Definitionen: Kultur, kulturelle Kompetenz, Interkulturalität, interkulturelle Kompetenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Informationen zum Bundesweiten Arbeitskreis Migration und öffentliche Gesundheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Vorwort Die Bundesrepublik Deutschland blickt seit der Anwerbung von ausländischen Arbeitnehmern auf eine mehr als vierzigjährige Migrationsgeschichte zurück. Migranten der ersten Generation und ihre Kinder leben oftmals seit vielen Jahren, Flüchtlinge oder nachgezogene Familienangehörige manchmal erst seit kurzer Zeit in unserem Land. Und auch in Zukunft kann die Bundesrepublik als Industrieland in der Mitte Europas mit einer relevanten Zuwanderung ± aber auch Abwanderung ± rechnen. Die Auswirkungen dieser Zuwanderung sind in vielen Lebensbereichen spürbar: in Schule und Ausbildung, in der Arbeitswelt oder den Wohnquartieren. In vielen Lebensbereichen bringt die Anwesenheit von Bevölkerungsgruppen ausländischer Herkunft neue Gestaltungsaufgaben mit sich. So wurde mit der Reform des Staatsangehörigkeitsrechts, die Anfang dieses Jahres in Kraft getreten ist, ein wichtiger Schritt zur Anpassung des Rechts an die Realität einer Einwanderungsgesellschaft getan. Die lange und kontrovers geführte öffentliche Diskussion um diese Reform hat gezeigt, wie eng bei diesen Fragen auch immer unser Selbstverständnis als Deutsche und unser Verständnis von Deutschland berührt ist. Seit vielen Jahren wird in Fachkreisen über das Selbstverständnis sozialer Dienste und Institutionen der öffentlichen Hand, so auch der Institutionen des Gesundheitswesen, eine Diskussion hinsichtlich ihrer Orientierung auch auf die ausländische Bevölkerung hin geführt. Es geht um interkulturelle Öffnung dieser Dienste als Zeichen der Anerkennung des unumkehrbaren Zuwanderungsprozesses, der auch in diesen Institutionen zu Veränderungen führen muss. Während im allgemeinen anerkannt wird, dass Öffnungsprozesse vollzogen werden müssen, werfen das Wie und das notwendige Ausmaû solcherlei Öffnungsprozesse Fragen auf. Für beide Fragen kann es keine fertigen Rezepte geben. Sie sind nur unter Beachtung der z.T. sehr unterschiedlichen Gegebenheiten vor Ort zu beantworten. Für den öffentlichen Gesundheitsdienst sucht der Bundesweite Arbeitskreis Migration und öffentliche Gesundheit, der von mir koordiniert wird, Antwort auf die genannten offenen Fragen. Er befördert Prozesse der interkulturellen Öffnung seit bereits sechs Jahren. Er bietet hierzu Interessierten, die sich dieser langfristigen und kontinuierlichen Arbeit stellen wollen, eine Plattform der Zusammenarbeit. Sein Informationsdienst dient der regelmäûigen Information und der Vernetzung der an dieser Arbeit Interessierten. Das vorliegende Handbuch ist aktuellstes Ergebnis der Arbeit des Bundesweiten Arbeitskreises. Das Handbuch umfaût neben konkreten Beispielen interkulturell orientierter Arbeit auf der organisatorischen Ebene und in verschiedenen Arbeitsfeldern in Gesundheitsämtern auch allgemein gehaltene, in die Thematik einführende Beiträge. Während erstere Anregungen geben für interkulturelles Arbeiten im Gesundheitsamt vor Ort, sind letztere auch als Werbung für eine solche Orientierung der Arbeit zu verstehen. Das Handbuch wird begleitet durch ein Plakat und eine Tagung, die die Akademie für öffentliches Gesundheitswesen in Düsseldorf in Zusammenarbeit mit dem Bundesweiten Arbeitskreis im März diesen Jahres durchführen wird. Allen Mitwirkenden sei vielmals gedankt!

Marieluise Beck 5


Einleitung Mit diesem Handbuch zum interkulturellen Arbeiten im Gesundheitsamt stellt der Bundesweite Arbeitskreis Migration und öffentliche Gesundheit das neueste Ergebnis seiner Arbeit vor. Noch immer nehmen Migranten und Migrantinnen Angebote der Regeleinrichtungen oft seltener wahr als Deutsche, auch wenn ihnen diese formal und tatsächlich in der Regel genauso offen stehen wie den Deutschen. Die Zugangsbarrieren sind meist nicht rechtlicher Natur. Es sind Barrieren anderer Art, die bereits vielfach beschrieben wurden: Es sind z. B. auf Seiten der Migranten fehlende Deutschkenntnisse oder fehlende Informationen über bestehende Dienste, Angst vor aufenthaltsrechtlichen Folgen oder eine bereits früher einmal erfahrene unfreundliche Behandlung. Auf Seiten der Regeldienste, die ihre Leistungen für die gesamte Bevölkerung Deutschlands erbringen sollen, sind dies z. B. die nicht ausreichende Berücksichtigung dieser Zielgruppe bei der Angebotsgestaltung, zu wenig interkulturelle, d. h. auch muttersprachliche, Angebote oder eine zu geringe Vernetzung mit migrantenspezifischen Diensten vor Ort. Wer ist hier aufgerufen, zu reagieren? Dies sind zum einen die Zuwanderer selbst, die Anstrengungen erbringen müssen, indem sie sich beispielsweise ausreichend informieren. Aufgerufen sind aber auch die Regeldienste, die ihre Angebote dahingehend überprüfen müssen, ob auch Zuwanderer von ihnen angesprochen werden. Und was ist zu tun? Die seit vielen Jahren geführte Diskussion um die Öffnung von Regeldiensten für Migranten und Migrantinnen hat die Notwendigkeit von Schritten zur Neuorientierung ihrer Angebote deutlich gemacht und gezeigt, dass noch viel Handlungsbedarf besteht. Die bestehenden Dienste sollen ihre Angebote so gestalten, dass alle Bevölkerungsgruppen diese tatsächlich wahrnehmen. So auch die Angebote, die Gesundheitsämter für die Bevölkerung erbringen: Gesundheitsämter sollen von sich sagen: Wir sind für alle da ± so das Motto dieses Handbuchs zum interkulturellen Arbeiten im Gesundheitsamt und des zugehörigen Plakats. Zur interkulturellen Öffnung in Gesundheitsämtern beizutragen, ist ein Ziel des Bundesweiten Arbeitskreises Migration und öffentliche Gesundheit. So will er für migrationsbedingte Aspekte von Gesundheit sensibilisieren, die soziale Kompetenz der Amtsleitungen und Mitarbeiterschaft im öffentlichen Gesundheitsdienst fördern und dazu beitragen, dass die zugewanderte Bevölkerung als Zielgruppe im öffentlichen Gesundheitsdienst wahrgenommen und in der Angebotsstruktur angemessen berücksichtigt wird. Um einen Schritt in diese Richtung zu tun, hat sich der Bundesweite Arbeitskreis Migration und öffentliche Gesundheit die Aufgabe gestellt, bestehende Ansätze interkulturellen Arbeitens in Gesundheitsämtern zusammenzutragen und diese als Beispiele guter Praxis über ihren Wirkungsort hinaus bekannt zu machen. Wir hatten dabei das Bild eines Gesundheitsamtes vor Augen, in dem in den verschiedensten Arbeitsbereichen die Angebote so gestaltet sind, dass sie auch von Migranten in Anspruch genommen werden, also interkulturell sind. Wir haben uns auf die Suche nach solchen Angeboten gemacht und sind ± wie das Handbuch zeigt ± fündig geworden. 7


Bevor Autoren und Autorinnen Einblick in ihr interkulturelles Arbeiten in verschiedenen Gesundheitsämtern Deutschlands geben, führen im allgemeinen Teil des Handbuchs persönliche Gedanken zur interkulturellen Öffnung des Gesundheitsamts in das Thema ein. Einige Daten machen die Notwendigkeit der Öffnung der Regeldienste aus dem statistischen Blickwinkel deutlich. Zu diesem ersten Teil gehören darüber hinaus Erläuterungen der Begrifflichkeit ¹Interkulturalitätª und eine Darstellung kulturspezifischer Krankheitskonzepte. ¹Unserª interkulturell arbeitendes Gesundheitsamt wird im folgenden Teil vorgestellt; es setzt sich aus vielen einzelnen Bausteinen zusammen: auf der für Prozesse der Öffnung bislang nicht hinreichend beachteten organisatorischen Ebene werden Ansätze zur Entwicklung eines interkulturellen Leitbildes und Hinweise zu einer entsprechenden Personal- und Organisationsentwicklung gegeben. Es folgen Darstellungen zu Regelaufgaben eines Gesundheitsamts: Gutachtenerstellung, Erstuntersuchung von Asylbewerbern, Maûnahmen des Infektionsschutzes, des Schulärztlichen Dienstes und zahnmedizinischer Prophylaxe, Möglichkeiten der AIDS- und Sucht-Prävention sowie ein modellhaftes Vorgehen der Unterstützung der seelischen Gesundheit von Migranten. Den Abschluss bilden Beiträge, die Arbeitsfelder umfassen, die nicht immer in Gesundheitsämtern zu finden sind: Gesundheitsberichterstattung, Ernährung und Ernährungsberatung sowie ein spezifisches Angebot des Stadtgesundheitsamts Frankfurt am Main zur Verbesserung der gesundheitlichen Situation der Roma. Im Anhang finden Sie weitere Informationen zum Bundesweiten Arbeitskreis Migration und öffentliche Gesundheit. Auch wenn wir viele Bausteine zusammentragen konnten, ist diese Handreichung nicht vollständig. Die Vielfalt möglicher Aktivitäten in einem Gesundheitsamt möge Sie zu eigenem Handeln anregen und ermutigen, vor Ort selbst aktiv zu werden. Als Ansprechpartner stehen die jeweiligen Autorinnen und Autoren gerne zur Verfügung. Der Lesbarkeit wegen benutzen wir nicht durchgehend zusätzlich die weibliche Form. Gedankt sei an dieser Stelle allen Autoren und Autorinnen, die für dieses Handbuch einen Beitrag geschrieben haben und all jenen, die dafür Beiträge gesammelt haben. Gedankt sei für die Arbeit an dem Plakat Wir sind für alle da, das von Herrn Vatter-Balzar entworfen wurde. Gedankt sei darüber hinaus allen Mitgliedern des Bundesweiten Arbeitskreises Migration und öffentliche Gesundheit, die zum Gelingen und zur Verbreitung dieses Handbuchs zum interkulturellen Arbeiten in Gesundheitsamt beigetragen haben und beitragen werden. Um möglichst viele Interessierte zu erreichen, ist das Handbuch nicht nur in dieser gedruckten Form zugänglich, sondern auch als Text im Internet (www.bundesauslaenderbeauftragte.de) abrufbar. Die Redaktionsgruppe Dr. med. Markus Herrmann, Prof. Dr. med. Carla Rosendahl, Anke Settelmeyer, Gabriele Wessel-Neb, Dr. Hans Wolter

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Zur Einf端hrung



¹Die ¸anderen` sind zwar da, aber sie gehören nicht dazuª1 Persönliche Gedanken zur interkulturellen Öffnung des Öffentlichen Gesundheitsdienstes GABRIELE WESSEL-NEB Als die Bundesrepublik in den 50er Jahren begann, aus arbeitsmarktpolitischen Gründen ¹Gastarbeiterª aus Italien (1955), Spanien (1960), Griechenland (1960), Portugal (1961), der Türkei (1961) und Jugoslawien (1968) anzuwerben, ging man von der Fiktion eines jeweils vorübergehenden Aufenthalts aus und verzichtete auf eine konsequente Eingliederungspolitik. Dafür, dass ± wie Max Frisch es formulierte ± wir Arbeitskräfte riefen, aber Menschen kamen, entwickelte sich erst allmählich ein Bewusstsein. Im Laufe der siebziger und achtziger Jahre, etablierten sich unterschiedliche Initiativen und Angebote (wie z. B. die Deutsch-Ausländischen Begegnungsstätten 1980 in Hamburg), die sich gemeinsam mit Einrichtungen zumeist der Wohlfahrtsverbände oder der Kirchen der sozialen Integration dieser Menschen annahmen. Heute, fast vierzig Jahre später, von denen die letzten vierzehn durch eine kontinuierliche Zuwanderung geprägt sind, kann ich folgendes nicht übersehen: Bundespolitische und gesetzgeberische Entscheidungen (oder Nicht-Entscheidungen) haben jahrzehntelang ernsthafte Absichten einer rechtlichen und sozialen Integration vermissen lassen und damit die Ungleichheit zwischen ¸uns` und den ¸anderen` festgeschrieben. Viele nichtdeutsche Einwohner konnten zu recht den Eindruck gewinnen, ¹sie seien zwar zur Erledigung bestimmter Arbeiten, als Steuerzahler und zur Stabilisierung der Systeme der sozialen Sicherung akzeptiert, aber nicht als Bürger in einem Staat, für den sie beträchtliche Leistungen erbracht haben und weiter erbringenª.2 Heute ist fast jeder 11. Einwohner ausländischer Herkunft3, die Bundesrepublik längst ein Einwanderungsland. Unsere Gesellschaft erfährt hierdurch einen nachhaltigen und unumkehrbaren sozialen Wandel, der mich zusammen mit vielen anderen (gesellschaftlichen, technologischen, wirtschaftlichen, politischen) Entwicklungen stark verunsichert und ängstigen kann. Angesichts dessen würde ich mich manchmal gern auf mein Alter (51) zurückziehen, mir gestatten, dass ich vieles nicht mehr lernen und verstehen können muss und dass ich ¸früher` ohnehin alles anders, einfacher und vielleicht sogar besser fand. Gleichzeitig ist das genau eine Haltung, die ich bei anderen nicht akzeptiere und die ich mir erst in vielleicht dreiûig Jahren gestatten möchte. Ich muss anerkennen, dass mir ständig Gewissheiten verloren gehen. Aber ich will mir die Bereitschaft abverlangen, neue Wirklichkeiten kennenzulernen, zu versuchen, sie zu verstehen und mit ihnen angemessen umzugehen. Hierzu gehören auch die internationalen und interkulturellen Öffnungsprozesse wie z. B. die wirtschaftliche und monetäre Zusammenführung Europas, die wachsende Bedeutung über-nationaler Kompetenz-Instanzen oder die mediale und wirtschaftliche Globalisierung. 1

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Zitiert aus: S. Handschuck, Sozialreferat/Stadtjugendamt der Landeshauptstadt München, Anhang zum Leitlinienentwurf für eine interkulturell orientiert arbeitende Kinder- und Jugendhilfe, 1999 I.Kurz, M.Plesch, Antirassistische und/oder interkulturelle Orientierung für Ausbildung und Praxis der Sozialen Arbeit, in: standpunkt sozial, Hamburger Forum für Soziale Arbeit, Heft 2, 1998, S.3 Vgl. Vorwort in: A.J.Seiler, Siamo italiani: Die Italiener, Zürich 1965, S.8 G.Apel, Senator a.D., Ausländerbeauftragter des Senats der Freien und Hansestadt Hamburg, Dritter Bericht an den Senat, Zur Arbeit des Ausländerbeauftragten innerhalb seiner Amtszeit von 1990 bis 1998 (Abschlussbericht) und Tätigkeitsbericht für die Jahre 1996 bis 1998, Hamburg 1998, S.6 Vgl. Bundesministerium des Innern, Ausländer- und Asylpolitik in der Bundesrepublik Deutschland, Bonn 1998, S.18

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Globalisierung meint insbesondere: die Mauern der Entfernungen brechen zusammen; immer mehr Fremde und Fremdheiten geraten in den Horizont des eigenen Lebens. U. Beck, Wie aus Nachbarn Juden werden, Stuttgart 1995 Ich befinde mich ± ob ich will oder nicht ± mit auf dem Weg in die ¸Weltgesellschaft` und kann mich damit der Notwendigkeit nicht verschlieûen, die veränderte Wirklichkeit unserer nationalen, multikulturellen Gesellschaft in der Bundesrepublik anzuerkennen und sie aktiv mitzugestalten. Mir ist klar, dass der Zeitpunkt ohnehin ein später ist, denn während auf der einen Seite bekannt werdende Akte von Fremdenfeindlichkeit und Rassismus allerseits öffentlich verurteilt werden und die Politik Integrationsleistungen als einzige Alternative zur Ausgrenzung einfordert , scheinen die praktischen Bemühungen hierum auf der Stelle zu treten. In allen Bereichen unserer Gesellschaft lassen sich offene oder verdeckte Formen von Ungleichbehandlung ausmachen. Warum gelingt uns Integration so wenig ? Möglicherweise hält auch ein Teil von mir an einer -überkommenen- Vorstellung fest, Integration sei doch vor allem eine Anpassungsleistung der jeweils ¸anderen`, denen ich bereit bin, Hilfestellung zu geben. Doch dieses Bild passt nicht mehr, wenn es überhaupt je passend war, basiert es doch auf der Annahme, es gäbe eine homogene Minderheit, der eine homogene ± und sich überlegen fühlende ? ± homogene Mehrheit gegenübersteht. Weltweite Wanderungsbewegungen bedingen einen stetigen Zuzug von Menschen, die sich durch ethnische, kulturelle und religiöse Verschiedenheiten voneinander und von uns als Aufnahmegesellschaft unterscheiden. d. h. Unsere Gesellschaft wird immer heterogener. Und obgleich Gesellschaft immer Heterogenität bedeutet hat und bedeuten wird, lebe auch ich mit der Vorstellung von gewisser Homogenität. Wahrscheinlich, weil es beruhigend wirkt, bei all den gegenwärtigen Beunruhigungen. Denken Sie doch ± was kann da nicht alles vorgekommen sein in einer alten Familie. Vom Rhein ± noch dazu. Vom Rhein. Von der groûen Völkermühle. Von der Kelter Europas! Und jetzt stellen sie sich doch mal Ihre Ahnenreihe vor ± seit Christ Geburt. Da war ein römischer Feldhauptmann, ein schwarzer Kerl, braun, wie ,ne reife Olive, der hat einem blonden Mädchen Latein beigebracht. Und dann kam ein jüdischer Gewürzhändler in die Familie, das war ein ernster Mensch, der ist noch vor der Heirat Christ geworden und hat die katholische Haustradition begründet. Und dann kam ein griechischer Arzt dazu, oder ein keltischer Legionär, ein Graubündener Landsknecht, ein schwedischer Reiter, ein Soldat Napoleons, ein desertierter Kosak, ein Schwarzwälder Flöûer, ein wandernder Müllerbursch vom Elsaû, ein dicker Schiffer aus Holland, ein Magyar, ein Pandur, ein Offizier aus Wien, ein französischer Schauspieler, ein böhmischer Musikant ± das alles hat am Rhein gelebt, gerauft, gesoffen und gesungen und Kinder erzeugt ± und ± der Goethe, der kam aus demselben Topf, und der Beethoven, und der Gutenberg und der Matthias Grünewald, und ±ach was- schau im Lexikon nach. Es waren die Besten, mein Lieber! Die Besten der Welt! Und warum? Weil die Völker sich dort vermischt haben. Vermischt ± wie die Wasser aus Quellen und Bächen und Flüssen, damit sie zu einem groûen, lebendigen Strom zusammenrinnen. Carl Zuckmayer, Des Teufels General, Frankfurt 1996

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Wenn ich uns aber immer weiter als eine Gesellschaft von ± mehr oder weniger ± Gleichen verstehen will, deren Gemeinsamkeit sich in Kultur, Sprache und Hier-Geboren-Sein begründet und die sich von den ¸anderen`, den ¸neuen`, den ¸fremden` unterscheidet, verweigere ich mich der Realität und bleibe damit hinter unserer Zeit zurück. Schaue ich dagegen sorgfältig hin, dann erkenne ich (an), dass unsere Gesellschaft von allen hier lebenden Menschen permanent geschaffen, verändert und geprägt wird und dass alle diese Menschen ¸Teile` des Ganzen bilden. Dann weiû ich auch, dass die zunehmende Internationalität unserer Gesellschaft mein Denken und meine Grenzen enorm erweitert haben. Ist es nicht gar nichts besonderes mehr, dass mein Sohn ein Schuljahr im Ausland verbrachte oder heute eine ursprünglich ¸indianische` Sportart betreibt, die (mir) bis vor Jahren genauso unbekannt war wie z. B. Tai chi oder Quigong ? Finde ich es nicht bereichernd, dass ich private wie berufliche Kontakte mit Menschen unterschiedlicher Nationalitäten und Kulturen habe? Ist es mir nicht selbstverständlich, multinationale, deutsche Fuûballmannschaften zu erleben, neben christlichen Kirchen auch Moscheen zu entdecken, russische Filme zu kennen, fremdsprachige Zeitungen kaufen zu können, afghanisch, syrisch, japanisch essen zu gehen, beim ¸Türken`, im Asia- oder Afrika-shop einzukaufen, exotische Früchte oder Gewürze zu genieûen, griechischen Wein zu trinken ¼ ? In vielen persönlichen Bezügen also erfahre und begrüûe ich doch die zunehmende Vielfalt (und bin damit nicht allein). Warum trage ich ihr in beruflicher Hinsicht dann so wenig Rechnung ? Obgleich ich weiû, dass sich nur über Teilnahme und Teilhabe aller in einer Gesellschaft lebenden Menschen eine Gemeinschaft bildet, in der Ausgrenzung, Schlechterversorgung und soziale Konflikte zwischen Mehrheiten und unterprivilegierten Minderheiten vermieden bzw. gemindert werden können. ¹Die Integration von Menschen in eine Gesellschaft beinhaltet auch ihre gleichberechtigte Teilhabe am sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Vermögen, sowie an der politischen Gestaltung dieser Gesellschaft. Besondere Bedeutung kommt daher Teilpolitiken von verwirklichter Integrationspolitik zu, die ausgerichtet sind auf die gleichberechtigte Teilhabe an Bildung und Ausbildung, Arbeit und Wirtschaft, Wohnung, sozialer und gesundheitlicher Versorgung, rechtlichem Schutz sowie politischer Mitgestaltungª.4 Was bedeuten diese Überlegungen für mich als Mitarbeiterin im Öffentlichen Gesundheits- Dienst, der immer noch von einer ¹strukturellen wie institutionellen Diskriminierung der Migrantinnen und Migranten geprägtª ist ¹und ¼ insoweit auch der Bekämpfung der Fremdenfeindlichkeit und der Verbesserung des interkulturellen sozialen Klimas in Deutschland maûgeblich zuwiderª läuft.5 Sie bedeuten, dass ich sorgfältiger als bisher überprüfen möchte, worin die Barrieren bestehen, die es bis heute verhindern, dass unsere Angebote von Menschen ausländischer Herkunft ebenso wahrgenommen und erreicht werden können, wie von der deutschen Bevölkerung ? Liegen die Hindernisse wirklich nur in der Problematik sprachlicher Verständigung ? Was unternehmen wir ? Und wie gehen wir als Anbieter von Gesundheitsleistungen um mit der immer wieder angeführten -und 4

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Universität des Saarlandes, Zentrum Europa und Dritte Welt: Soziale Lage verschiedener Zuwanderergruppen in Deutschland unter besonderer Berücksichtigung von Flüchtlingen ± Integrationsmöglichkeiten und -perspektiven ±ª, erstellt für die Enqu tekommision ¸Demographischer Wandel` des Deutschen Bundestags, Saarbrücken 1997, S. 88, Randnr. (32) Die Ausländerbeauftragte des Landes Bremen, Vor allem zuständig für die Sauberkeit, Bremen 1995

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doch tatsächlich wenig bearbeiteten- Thematik des unterschiedlichen kulturellen Hintergrundes ? Was übersehen wir bei unseren Bemühungen ? Warum geben wir oft auf und finden uns mit einem ± insbesondere für diese groûe Gruppe unserer Klientinnen und Klienten ± eigentlich unhaltbaren Zustand ab: ¹Wir erreichen diese Menschen nicht.ª Gleichzeitig definieren wir die Erhaltung und Verbesserung der Gesundheit sozial benachteiligter, besonders belasteter oder schutzbedürftiger Menschen, zu denen ein Groûteil der hier lebenden ausländischen Bevölkerung fraglos zu zählen ist, als wesentliche Aufgaben des Öffentlichen Gesundheitsdienstes. Wenn ich meine Arbeit (Gesundheitsförderung für Migrantinnen und Migranten) unter den o. g. Fragen betrachte, fällt mir auf, dass ich mich lange Zeit als eine Mitarbeiterin verstanden habe, die quasi das Spezialgebiet ¸Migrantinnen und Migranten` abdeckte. Erst allmählich begann ich wahrzunehmen, dass ich mit diesem Selbstverständnis genau das bediente, was ich gesamtgesellschaftlich, als Integrationsleistung jedenfalls, für zum Scheitern verurteilt bezeichnen würde. Auch ich hatte -in guter Absicht- in meinem Denken die hier lebenden Menschen ausländischer Herkunft zu einer Sondergruppe, zu den ¸anderen` gemacht, sie nicht als dazugehörig definiert ! ¸Ich möchte aufhören, Migrantinnen und Migranten derart ein- und auszugrenzen und statt dessen ihre Belange in jedem Bereich innerhalb des Referats ( ob es um Gesundheitsförderung für Kinder, Frauen, alte Menschen, chronisch Kranke¼ geht) mitdenken und vertreten`. Sicher nicht zufällig kam ich zu dieser Erkenntnis, als ich wahrnahm, dass es für die Fragen, wie denn erfolgreiche und angemessene Integrationsbemühungen durch interkulturelles Arbeiten aussehen könnten, inzwischen ein groûes Problembewusstsein gibt und ± insbesondere im Bildungs-, Ausbildungs- und Sozialbereich- sich Studiengänge, Literatur, Curricula, Tagungen, vielfältige Konzepte und Ansätze mit der Aufgabe einer interkulturellen Öffnung der Regeldienste befassen. So hat, um nur ein Beispiel zu nennen, das Sozialreferat / Stadtjugendamt der Landeshauptstadt München (in dem es eine Beauftragte für Interkulturelle Arbeit gibt) in seinen Leitlinien als Ziele formuliert, ¹ ¼ ethnische Benachteiligung abzubauen, Ausgrenzungen zu verhindern, Integration zu ermöglichen, die Entwicklung sozialer und kultureller Kompetenz zu unterstützen und ein gewaltfreies Zusammenleben zu ermöglichen.ª6 Doch dieses Beispiel stellt -noch- eine Ausnahme dar und das Bewusstsein für die notwendige Interkulturalität der Arbeit im Öffentlichen (Gesundheits-)Dienst ist bisher wenig vorhanden. Was hindert uns an einer Neu-Konzeption unserer Arbeit unter quasi veränderten Vorzeichen: ¸Die Migrantinnen und Migranten gehören jetzt überall dazu` ? Gewiss bedeutet Veränderung Irritation und Abschied vom Gewohnten, aber nur das erklärt nicht den Widerstand, den allein die inzwischen etablierten Begrifflich 6

Sozialreferat / Stadtjugendamt München (Hrsg.), Das Sozialreferat ± unser Selbstverständnis, Bausteine zur Kultur des Sozialreferates, München 1996. Diese Leitlinien sind vom Stadtrat München noch nicht verabschiedet, ein Beschluss ist bis 2000 vorgesehen.

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keiten wie ¸Interkulturelle Öffnung`, ¸interkulturelle Kompetenz, ¸interkulturelle Kommunikation` bei vielen hervorrufen, als drohe durch die Beschäftigung damit gleich ein zusätzlicher Arbeitsauftrag, den es abzuwenden gilt. Ich vermute hinter dieser Abwehr einen viel grundsätzlicheren, ¸inneren` Vorbehalt dem ¸Neuen` gegenüber, das in der Akzeptanz der ¸anderen` als dazugehörig liegt. Ich muss anfangen, mich damit zu beschäftigen. (Und eigenartigerweise scheint das Wort ¸interkulturell` auch bei mir ganz andere Assoziationen zu wecken als das Wort ¸international`. Verbinde ich mit letzterem nicht sofort positiv Besetztes wie Weltoffenheit, Internationale Verbindungen, Messen, Festivals, aufregende Metropolen, eigene Reisen, das gute Image der eigenen Stadt etc. ?) Vielleicht schreckt zudem auch die Vorstellung von ¸öffnen`. Öffnen können sich Menschen und Einrichtungen nur, wenn sie bereit sind, sich ¸aufzuschlieûen`. Wer sich öffnet, zeigt anderen etwas von sich und begibt sich damit in Prozesse, die das Vertraute in Frage stellen und verändernd wirken können. Und vielleicht liegt hierin das gröûte Hindernis. (Denn ± von ¸auûen` betrachtet geht es bei der Befürwortung interkulturellen Arbeitens (¸nur`) darum, hinsichtlich Gesundheit und Integration mit höherer Qualität, Effektivität und Effizienz zu arbeiten. Und genau diese Ziele werden ja ± nebenbei gesagt- auch durch die Einführung der Neuen Steuerungsmodelle in der Öffentlichen Verwaltung verfolgt.) Was habe ich davon, wenn ich mich der Herausforderung stelle und mich auf den sicher nicht einfachen Weg zur interkulturellen Öffnung meines Arbeitsgebietes / meines Angebotes mache ? ¹Das sogenannte Interkulturelle könnte das Allgemeingeltende ¸up to date` bringen, die Qualität pädagogischer und sozialer Arbeit für alle verbessern.ª7 Das bedeutete, mein Gewinn wäre eine Steigerung/Verbesserung von Professionalität und die Erweiterung meiner sozialen Kompetenzen, verbunden mit der Möglichkeit, mich mit Menschen anderer Kulturen mir und ihnen gemäû angemessen und erfolgreich zu verständigen. Dass der Veränderungsprozess auch beinhalten wird, institutionelle / strukturelle Gegebenheiten zu reflektieren und zu verändern, darf hier nicht unerwähnt bleiben. Doch die Chance einer Qualifizierung der Einrichtungen mit dem Ziel, die Gesundheit von Migrantinnen und Migranten durch zeitgemäûe, integrative Angebote zu verbessern, kann m.E. ± für die Dienste wie für die Klientinnen und Klienten- nur gewinnbringend sein. Ich stelle mir den Weg zur Interkulturalität, den ich mitgestalten möchte ( denn Interkulturelle Öffnung ist ja weder eine Methode noch ein festumrissener Lehrstoff) auch als eine persönliche Herausforderung vor. Ich werde sicher viel erleben: Vielleicht eigene Vorurteile, Überlegenheitsgefühle, Grenzen kennenlernen und reflektieren, Anderes, Fremdes, Neues wahrnehmen und achten lernen, Wissen erwerben, Verhaltensmöglichkeiten erweitern, lernen, Ungewohntes zu akzeptieren und auszuhalten ¼ ¼ und damit interkulturelle Kompetenz erwerben. 7

A.Kalpaka, Von Elefanten auf Bäumen, Kompetentes pädagogisches Handeln in der Einwanderungsgesellschaft ± Anforderungen, Überforderungen, Chancen, in: Tagungsdokumentation: ¹Wie kommt der Elefant auf den Baum?ª, in: Forum für Kinder- und Jugendarbeit-Verbandskurier, 13.Jg., 4.Quartal, Hamburg 1998, S.16

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Und ich vertraue darauf, dass ¹Interkulturell geöffnete Dienste ¼ auch eine symbolische Wirkung haben und ein Zeichen setzen für die Identifikation der Dienste mit der multikulturellen Gesellschaft.ª8 Gabriele Wessel-Neb Behörde für Arbeit, Gesundheit und Soziales Amt für Gesundheit Tesdorpfstraûe 8 20148 Hamburg Telefon: 0 40/4 28 48-26 12 Telefax: 0 40/4 28 48-26 25

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S. Gaitanides, Stolpersteine auf dem Weg zur interkulturellen Öffnung, in: iza, Zeitschrift für Migration und soziale Arbeit, Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik (Hrsg.), Heft 3/4, 1997, S.22

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Einige Daten zur ausländischen Bevölkerung ANKE SETTELMEYER Bevor im folgenden verschiedene Möglichkeiten interkulturellen Arbeitens im Gesundheitsamt dargestellt werden, sollen hier zunächst einige statistische Hinweise über die Bevölkerung ausländischer Herkunft gegeben werden. Sie ist ja die Zielgruppe, um die es in diesem Handbuch geht. Anhand allgemeiner Fragen werden grundlegende Informationen zur Bevölkerung ausländischer Herkunft genannt und graphisch dargestellt. Da hier nur wenige Aspekte berücksichtigt werden können, sei auf eingehendere Veröffentlichungen der Beauftragten der Bundesregierung für Ausländerfragen verwiesen*. Wieviele Ausländer leben in Deutschland? Ende 1998 lebten insgesamt 7,3 Mio. Migrantinnen und Migranten in der Bundesrepublik Deutschland. Dies entsprach einem Anteil von ca. 9 % an der Gesamtbevölkerung. 1973, im Jahr des Anwerbestopps, lebten ca. 4 Mio. Ausländer in Deutschland, ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung betrug damals 6,4 %. Das folgende Schaubild zeigt die Entwicklung der Anzahl der Ausländer in Deutschland von 1998: Ausländer in der Bundesrepublik Deutschland von 1967 bis 1998 8.000.000

7.000.000

6.000.000

Ausländer

5.000.000

4.000.000

3.000.000

2.000.000

1.000.000

1 9 9 8

1 9 9 7

1 9 9 6

1 9 9 5

1 9 9 4

1 9 9 3

1 9 9 2

1 9 9 1

1 9 9 0

1 9 8 9

1 9 8 8

1 9 8 7

1 9 8 6

1 9 8 5

1 9 8 4

1 9 8 3

1 9 8 2

1 9 8 1

1 9 8 0

1 9 7 8

1 9 7 9

1 9 7 7

1 9 7 6

1 9 7 5

1 9 7 4

1 9 7 3

1 9 7 2

1 9 7 1

1 9 7 0

1 9 6 9

1 9 6 8

1 9 6 7

0

Jahr

Welches sind ihre Herkunftsländer? Die beiden folgenden Schaubildern zeigen für die Jahre 1998 und 1973 die ausländische Bevölkerung in Deutschland nach Staatsangehörigkeit. * Daten und Fakten zur Ausländersituation, Bonn 1999; Migrationsbericht, Berlin 1999, Bericht der Beauftragten über die Lage der Ausländer in der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 1999

17


Ausländer und Gesamtbevölkerung der Bundesrepublik Deutschland von 1967 bis 1998 90.000.000

80.000.000

70.000.000

Bevölkerung

60.000.000

50.000.000 Deutsche Ausländer 40.000.000

30.000.000

20.000.000

10.000.000

1 9 9 7

1 9 9 5

1 9 9 3

1 9 9 1

1 9 8 9

1 9 8 7

1 9 8 5

1 9 8 3

1 9 8 1

1 9 7 9

1 9 7 7

1 9 7 5

1 9 7 3

1 9 7 1

1 9 6 9

1 9 6 7

0

Jahr

Ausländer in der Bundesrepublik Deutschland nach den häufigsten Staatsangehörigkeiten im Jahr 1998

3,9 % Polen

9,8 % BRJugoslawien

38,6 % Übrige Länder

2,6 % Bosnien-Herzegowina 5,0 % Griechenland

28,8 % Türkei 8,4 % Italien

2,9 % Kroatien

Ausländer insgesamt: 7.319.593

Quelle: Statistisches Bundesamt

Den Darstellungen ist zu entnehmen, dass die Zusammensetzung der ausländischen Bevölkerung in den letzten 25 Jahren erheblichen Veränderungen unterworfen war. 1998 stammte ca. 25 % der Ausländer aus einem Land der Europäischen Union; 1973 waren dies noch 46 %. Die gröûte Gruppe der ausländischen Wohnbevölkerung bildeten 1973 wie 1998 die Bevölkerung türkischer Herkunft mit ca. 23 % bzw. 29 %. Ihr Anteil hat in dieser Zeitspanne erheblich zugenommen. 18


Die ¾nderungen in der Zusammensetzung der ausländischen Bevölkerung Deutschlands nach ihrer Staatsangehörigkeit sind auf die stete Zu- und Abwanderung nach und aus Deutschland zurückzuführen. Die folgende Übersicht stellt diese Zu- und Fortzüge dar. Spricht man von Migration, wird oft vergessen, dass auch Deutsche aus- und einwandern. Um das Ausmaû auch dieser Wanderungsbewegungen darzustellen, werden auch Deutsche in das Schaubild aufgenommen.

Zuzüge über die Grenzen der Bundesrepublik Deutschland von Deutschen und Ausländern von 1973 bis 1998 1.600.000

1.400.000

1.200.000

Zuzüge

1.000.000

Ausländer 800.000

Deutsche

600.000

400.000

200.000

1 9 9 8

1 9 9 7

1 9 9 6

1 9 9 5

1 9 9 4

1 9 9 3

1 9 9 2

1 9 9 1

1 9 9 0

1 9 8 9

1 9 8 8

1 9 8 7

1 9 8 6

1 9 8 5

1 9 8 4

1 9 8 3

1 9 8 2

1 9 8 1

1 9 8 0

1 9 7 9

1 9 7 8

1 9 7 7

1 9 7 6

1 9 7 5

1 9 7 4

1 9 7 3

0

Jahr

Fortzüge über die Grenzen der Bundesrepublik Deutschland von Deutschen und Ausländern von 1973 bis 1998 900.000

800.000

700.000

600.000

Ausländer Deutsche 400.000

300.000

200.000

100.000

1 9 9 8

1 9 9 7

1 9 9 6

1 9 9 5

1 9 9 4

1 9 9 3

1 9 9 2

1 9 9 1

1 9 9 0

1 9 8 9

1 9 8 8

1 9 8 7

1 9 8 6

1 9 8 5

1 9 8 4

1 9 8 3

1 9 8 2

1 9 8 1

1 9 8 0

1 9 7 9

1 9 7 8

1 9 7 7

1 9 7 6

1 9 7 5

1 9 7 4

0

1 9 7 3

Fortzüge

500.000

Jahr

19


Wo in Deutschland leben sie? Die räumliche Verteilung der ausländischen Bevölkerung unterscheidet sich von Bundesland zu Bundesland wie zwischen Regionstypen erheblich. Allein in Bayern, Baden-Württemberg, Hessen und Nordrhein-Westfalen lebten 1997 gut 70 % aller Migrantinnen und Migranten. In den neuen Bundesländern sind die Anteile sehr gering. Ausländer in den Ländern der Bundesrepublik Deutschland im Jahr 1998 v. Hd.

Hamburg

Schleswig-Holstein Bremen 12,3%

5,2%

18,7%

MecklenburgVorpommern

5,2%

1,4%

1,4%

Brandenburg 6,0% Niedersachsen

2,1%

6%

NordrheinWestfalen

SachsenAnhalt 1,8%

1,1%

1

RheinlandPfalz 7,4% Saarland 7,4%

11,1%

Hessen 13,9%

14,2% 1,8%

Thüringen 1,3%

Berlin

2,1%

1,8%

1,3%

Sachsen 1,8%

13,9%

7,4%

Bayern BadenWürttemberg 12,1%

9,1%

9,1%

12,1%

Quelle: Statistisches Bundesamt

Die Bundesländer unterschieden sich nochmals deutlich hinsichtlich der dort lebenden nationalen Gruppen: so leben z. B. in Baden-Württemberg 183 000 Italiener, in Bayern nur ca. 87 000. Migranten leben vor allem in den Agglomerationsräumen der alten Bundesländer. Dabei bestehen, wie zwischen einzelnen Bundesländern auch zwischen Groûstäd20


ten und Ballungsgebieten Unterschiede hinsichtlich der Zusammensetzung der ausländischen Bevölkerung. Wie lange leben sie hier? Die Aufenthaltsdauer ist dem folgenden Diagramm zu entnehmen: Ausländer in der Bundesrepublik Deutschland nach Aufenthaltsdauer im Jahr 1997 485.500

380.200

30 Jahre und mehr

unter 1 Jahr

961.700

1.162.700

25 bis 30 Jahre

1 bis 4 Jahre

762.600 20 bis 25 Jahre 976.000 4 bis 6 Jahre

752.200 15 bis 20 Jahre 713.700 6 bis 8 Jahre 663.900 10 bis 15 Jahre

507.200 8 bis 10 Jahre

Quelle: Statistisches Bundesamt

30 % der ausländischen Wohnbevölkerung lebt demnach seit mehr als 20 Jahren in Deutschland, 50 % seit mehr als zehn Jahren. Auch aufgrund dieser langen Aufenthaltszeiten ist die ausländische Bevölkerung fester Bestandteil der Bevölkerung Deutschlands. Betrachtet man den Anteil der 1998 in Deutschland geborenen Kinder und Jugendlichen wird diese Feststellung noch verstärkt. 97 % der unter einjährigen Kleinkinder ausländischer Herkunft sind in Deutschland geboren, bei den 2-6 jährigen sind es 86,0 %, bei den 6-10-jährigen 68,5 %, bei den 10-18-jährigen 49,8 %. Zu beachten ist die erhebliche Zahl von Migranten und Migrantinnen mit kurzer Aufenthaltsdauer. Durch den stetigen Zuwanderungsprozess kommen immer wieder neue Zuwanderer nach Deutschland. Diese Tatsache ist gerade für die Gestaltung der Angebote von Regeldiensten von groûer Bedeutung, muss doch davon ausgegangen werden, dass diese neuen Zuwanderer in besonderem Maûe auf migrantensensible Angebote angewiesen sind. Wieviele Flüchtlinge leben in Deutschland? In der Bundesrepublik Deutschland stieg die Zahl der Flüchtlinge von 700 000 im Jahre 1987 auf rd. 1,9 Mio. im Jahre 1993. Bis zum Jahr 1997 sank die Zahl auf ca. 1,4 Mio.; Ende 1998 hielten sich noch ca. 1,1 Mio. Flüchtlinge im Bundesgebiet auf. 21


Dies entsprach 1987 einem Anteil von 16,5 %, 1993 einem Anteil von 28,0 %, 1997 einem Anteil von 19,0 % und 1998 einem Anteil von 14,9 % aller Migrantinnen und Migranten. Die genannten Zahlen umfassen sehr unterschiedliche Gruppen, so z. B. Asylberechtigte, Konventions-, Kontingentflüchtlinge, jüdische Zuwanderer aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion, Asylbewerber, de facto-Flüchtlinge und Kriegsflüchtlinge, v.a. aus Bosnien und Herzegowina. Diese unterschiedlichen Gruppen haben z. T. unterschiedliche Aufenthaltsstatus, die ihnen in unterschiedlicher Weise Zugang zu bestimmten sozialen Leistungen und zum Arbeitsmarkt eröffnen oder verwehren. Mehr als 20 % der Flüchtlinge haben einen formellen Flüchtlingsstatus als Ergebnis eines Anerkennungsverfahrens inne. Diese wenigen Daten zeigen, dass es die ausländische Bevölkerung in Deutschland nicht gibt, sondern dass groûe Unterschiede hinsichtlich Aufenthaltsdauer, Herkunft und rechtlichem Status bestehen. Hinzu kommt die unterschiedliche räumliche Verteilung der ausländischen Bevölkerung im allgemeinen und einzelner Gruppen im besonderen. Aus den aufgezeigten Unterschieden ergeben sich auch für die Angebotsgestaltung in Gesundheitsämtern wichtige Hinweise. So ist z. B. zu beachten, dass ständig Migrantinnen und Migranten nach Deutschland einreisen oder sich erst seit kurzer Zeit in Deutschland aufhalten. Sie verfügen in der Regel über sehr wenige Informationen über das Gesundheitssystem und dürften die deutsche Sprache kaum beherrschen. Angebote müssen diese Bedingungen berücksichtigen. Es ist ebenso zu berücksichtigen, dass selbst Migranten mit langen Aufenthaltszeiten aus verschiedenen Gründen von bestimmten Angeboten oft nur zögerlich Gebrauch machen. Bei allen Überlegungen ist den Besonderheiten vor Ort, z. B. groûer Zahlen bestimmter Gruppen, wie in Frankfurt am Main Roma und Sinti, Rechnung tragen. Anke Settelmeyer unter Mitarbeit Karin Eichberger Brigitte Frohn-Simon Beauftragte der Bundesregierung für Ausländerfragen Postfach 14 02 80 53107 Bonn

22


Interkulturelle Kompetenz ± Annäherung an einen Begriff SIBEL KORAY Es ist festzustellen, dass der Migrantenanteil innerhalb der Bevölkerung Deutschlands kontinuierlich gestiegen ist und die Aufenthaltsdauer der Migranten ebenso kontinuierlich zugenommen hat. Infolge der erfolgten Zuwanderung wurde auch die Frage aufgeworfen, ob denn für eine sich dauerhaft in Deutschland aufhaltende Bevölkerung ausschlieûlich spezielle Ausländersozialdienste beratende und versorgende Dienste übernehmen, oder ob sich nicht vielmehr Regeldienste diesem Teil der Bevölkerung öffnen sollten. Dieser Frage schloss sich eine weitere an: Wie müssen Dienste aussehen, die auch der ausländischen Bevölkerung offen stehen? Dies hat in den letzten Jahren verstärkt zu einer Diskussion um die Öffnung der sozialen Dienste für Migranten geführt. In diesem Zusammenhang stöût man unweigerlich auf den Begriff der ¹interkulturellen Kompetenzª. Was genau verbirgt sich hinter diesem schwer zu fassenden Ausdruck? Interkulturelle Kompetenz kann definiert werden als die Fähigkeit, ¹angemessen und erfolgreich in einer fremdkulturellen Umgebung oder mit Angehörigen anderer Kulturen zu kommunizieren1ª. Um dies zu erreichen, können ± bezogen auf Gesundheitsämter und andere soziale Dienste ± hierbei für die Arbeit vor Ort zwei Schwerpunkte abgeleitet werden: Zum einen die Öffnung auf der Ebene der Mitarbeiterschaft einzuführen, d. h. ± Fachkräfte, die ganz besonders qualifiziert für die Arbeit mit Migranten sind (z. B. sprachliche Kompetenz, eigene, reflektierte Migrationserfahrung, Wissen um kulturelle Differenz, groûe Affinität zum Thema). Gerade Fachkräfte ausländischer Herkunft sind hier oft sehr geeignet und müssen daher verstärkt eingestellt werden. -, Zum anderen müssen die ¹einheimischenª Beschäftigten bezüglich der verstärkt zu erwartenden Migrantenklientel sensibilisierend weiterqualifiziert werden. Das Qualitätsmerkmal ¹interkulturell kompetentª führt zu einer Verbesserung der Beratung sowohl für hilfesuchende Migranten wie auch für die deutsche Klientel, führt sie doch aufgrund ihrer Kultursensibilität und Toleranz gegenüber Mehrdeutigkeit zu einem personenorientierten flexiblem Eingehen auf den Klienten. Dabei gilt es zu beachten, dass interkulturelle Kompetenz nicht nur mit Hintergrundwissen über Kultur, Religion und sonstige Besonderheiten der Migrantenfamilien zu tun hat und, es auch nicht genügt, zusätzlich die Sprache des Anderen zu beherrschen. Ein sehr wesentlicher ± kulturunspezifischer ± Faktor ist die Haltung, die man dem Anderen gegenüber einnimmt: Eine den Anderen in seiner Art zu sein annehmende und respektierende Haltung, die weder einer herablassenden, abwertenden Behandlung Raum gibt, noch eine Art Bittstellertum zulässt und das Gegenüber auch nicht als Exot behandelt. Interkulturelle Kompetenz ist nichts anderes als eine graduelle Steigerung sozialer Interaktionsfähigkeit. Jeder professionelle Beratungskontakt sollte sich durch Empathie, Wertschätzung des anderen, Klarheit und Echtheit des Beratenden auszeichnen. Dies gilt für Beratungen von Menschen mit ¹identischemª kulturellen Hintergrund genauso wie von Menschen mit unbekanntem oder wenig vertrauten kulturellen Hintergrund. Bei letzteren können, z. B. aufgrund anderer Umgangsformen oder anderer Beziehungsgefüge die gerade genannten professionellen Fähigkeiten in einem höheren Maûe benötigt werden, um die gleiche Qualität und ein vergleichbares Ergebnis erzielen zu können. 1

Hinz-Rommel, Wolfgang: Interkulturelle Kompetenz und Qualität. in: IZA, 3 + 4, 1996: 20

23


schon erstrebenswert, empathisch und ¹echtª zu sein, so wird es in der interkulturellen Kommunikation aufgrund von eigener Unsicherheit und Sprachschwierigkeiten zu einer professionellen Unabdingbarkeit, dem Hilfesuchenden mit Wertschätzung, Freundlichkeit und Interesse, mit eigener Klarheit, Kompetenz und Bereitschaft, offen zu sein, entgegenzutreten, will man die Tätigkeit effektiv gestalten. Diese Voraussetzungen helfen, in der Berater-Klient-Interaktion einen transparenten Rahmen zu schaffen, der von beiden Seiten als konstruktiv erlebt werden kann. Es ist anzunehmen, dass Beratungssituationen in dieser Hinsicht noch verbesserungsfähig sind. In einer interkulturellen Beratungskonstellation können aus der Migrantenperspektive verschiedene Faktoren eine gelungene Kommunikation erschweren. Möglicherweise löst zum Beispiel der Berater selbst mit seinem institutionellen Hintergrund beim nicht-deutschen Hilfesuchenden Angst und Verunsicherung aus. Die Vorbehalte rühren oftmals daher, dass Migranten nur eine geringe Kenntnis über das hiesige Versorgungssystem haben, sprachliche Barrieren sie behindern, ihr Anliegen wunschgemäû und im für den Beratenden angemessener Weise zu formulieren und ihr deutsches Gegenüber hinreichend zu verstehen2, aller Wahrscheinlichkeit nach bislang Diskriminierungserfahrungen gemacht wurden oder sie unter Umständen Gefahr laufen oder die subjektive Befürchtung haben, dass die Inanspruchnahme von Hilfen mit aufenthaltsrechtlichen Konsequenzen verbunden sein kann. Diese Bedenken gilt es zunächst aus dem Weg zu räumen, bevor es um das eigentliche Anliegen gehen kann. Interkulturalität sollte im Zeitalter der Globalisierung nichts Besonderes, sondern etwas Selbstverständliches sein. Hierzu gehört auch, kompetente Fachkräfte für die Arbeit mit Migranten zu beschäftigen. Gerade für die zahlenmäûig groûen Migrantengruppen können Mitarbeiter entsprechender Herkunft eingestellt werden, die auch die Muttersprache beherrschen. Muttersprachliche Angebote können aufgrund der dynamischen und nicht immer vorhersehbaren Entwicklung innerhalb der Migrantenpopulation in der Regel nur für relativ groûe und stabile Gruppen formuliert werden. Auch daher ist eine grundsätzliche interkulturelle Qualifizierung der deutschen Mitarbeiter/innen für die Arbeit mit Migranten unverzichtbar. Die internationale Küche ist kaum noch aus deutschen Kochtöpfen wegzudenken. Es ist völlig unstrittig, dass nicht-deutsche Lebensmittel, Gerichte und Gewürze eine Bereicherung der Gaumenfreuden darstellen. Im Kontrast hierzu fühlen sich Fachkräfte mit Migrationshintergrund im (psycho-) sozialen medizinischen Bereich ± im übrigen anders als in Wirtschaft und Handel, wo ihr Wert zur Effektivitätssteigerung längst erkannt wurde ± mit einem Handikap versehen, wenn sie sich in sozialen Einrichtungen um eine Anstellung bewerben. Dabei haben sie in der Regel ihr Studium oder ihre Berufsausbildung in Deutschland absolviert und sind durchaus in der Lage, neben ihren Landsleuten auch die deutsche Klientel zu beraten und zu betreuen. Die Vorteile eines multikulturell zusammengesetzten Teams sind offenkundig: Es können wertvolle Impulse in die Arbeit Eingang finden, die möglicherweise vorher 2

Vgl. Koray, Sibel: Beratung und Therapie von Migrantenfamilien unter besonderer Berücksichtigung des Sprachaspektes in der Therapeut-Klient-Beziehung. in: Familiendynamik 16, 1991: 57±62

24


gar nicht bewusst waren und berücksichtigt werden konnten. Im regen Austausch miteinander kann ein gemeinsamer Konsens erarbeitet werden. Multikulturalität als Erweiterung des eigenen Horizontes birgt die Chance, sich mit ¹Prozessen der Ausklammerung, Abspaltung und Verdrängung zu konfrontieren und tabuisierte Bereiche anzusprechen3ª. Hierdurch kann eine Klärung und Standortbestimmung bei den einzelnen Teammitgliedern stattfinden, die auch der (Migranten-) Klientel zugute kommt (siehe auch die Beiträge von Geiger und Güç in diesem Handbuch) So sind zum Beispiel aktuell in unserer Einrichtung, dem Jugendpsychiatrischen Institut der Stadt Essen, in der neben Deutsch auch ein türkisch-, französisch- und englischsprachiges Beratungsangebot etabliert ist, Überlegungen in Gang, durch welche Maûnahmen (z. B. niedrigschwellige Angebote) die Beratung von Migrantenfamilien noch effektiver gestaltet werden kann und, die möglicherweise auch geeignet sind, ¹schwierigeª deutsche Klienten besser zu erreichen als bisher. Allerdings wäre es eine irrige Annahme zu glauben, die Beschäftigung einer oder einiger ausländischer Fachkräfte alleine mache aus einer sozialen Institution eine interkulturell ¹offeneª Einrichtung. Die Gefahr wäre gegeben, möglicherweise diese Mitarbeiter als primär Verantwortliche und für Migrantenklienten Zuständige zu betrachten ohne, dass die Einrichtung die Erfordernis erkannt haben müsste, sich in ihrer Gesamtheit mit der Migrantenthematik zu beschäftigen. Am Beispiel unserer Institution soll aufgezeigt werden, wie ein solcher Prozess typischerweise aussehen kann. Zu Beginn, vor über 10 Jahren, freute sich das Jugendpsychiatrische Institut ± die städtische Erziehungsberatungsstelle in Essen ± durch die Festeinstellung einer Psychologin türkischer Herkunft die multiprofessionelle Beratungsangebotspalette um eine muttersprachliche Beratungs- und Therapiemöglichkeit für türkische Eltern, Kinder und Jugendliche in unserer Stadt erweitert zu haben und erachtete diese Mitarbeiterin als Expertin für Migrantenfamilien und für alles, was mit dem Thema zusammenhing, ± während sich für den Rest der Mitarbeiterschaft keinerlei Veränderungsbedarf des Arbeitskonzeptes ableitete. Die Inanspruchnahme wuchs beständig, so dass die ¹Migrantenfachkraftª bald zu 80% türkische Klientel beriet, zu 10% Deutsche und zu weiteren 10% andere Nationalitäten. Der einjährige zwischenzeitliche Ausfall der betreffenden Mitarbeiterin bestätigte, wie sehr die Beratung von Migrantenfamilien durch die Präsenz dieser einen Person determiniert war: Die Zahl der Beratungen und Therapien von insbesondere türkeistämmigen Klienten ging während dieser Zeit drastisch zurück. Unsere Einrichtung war von der Annahme ausgegangen, dass sie einem vorhandenen Bedarf angemessen entsprochen hatte. Mit der Wiederaufnahme der Tätigkeit der muttersprachlichen Fachkraft stellten sich bald die Migrantenklienten wieder ein. Was jedoch jahrelang ¹funktioniertª hatte, war nicht mehr in gleicher Weise fortzuführen. Die Zahl der steigenden Anmeldungen türkischer Klienten war auf Dauer nicht mehr von einer Person alleine zu bewältigen. Hinzu kam, dass insgesamt verstärkt eine öffentliche Diskussion zur psychosozialen Versorgung von Migranten eingesetzt hatte, die Leitung zunehmend für das Thema sensibilisiert wurde. Auch galt es, den Anspruch auf Sozialraumbezug in gleicher Weise bezogen auf ausländische Essener Familien zu erfüllen. Ferner formulierte die Stadt Essen ¹Interkulturelle Orientierungª als ein Konzernziel. 3

Schlippe, Arist von; El Hachimi, Mohammed, Jürgens, Gesa: Systemische Supervision in multikulturellen Kontexten. in: Organisationsberatung-Supervision-Clinical Management, 3, 1997: 221

25


Schlieûlich wurde das Konzept der Beratungsarbeit mit Migrantenklienten in unserem Haus unter verstärkter Einbeziehung der türkischen Mitarbeiterin aktualisiert und weiterentwickelt. Mittlerweile wurden zwei weitere muttersprachliche Mitarbeiter eingestellt. Themen zu migrantenspezifischen Fragestellungen sind regelmäûig als institutsinterne Fortbildungs- und Diskussionsschwerpunkte vorgesehen; die deutschen Mitarbeiter zeigen gröûere Bereitschaft, ausländische Klienten zu beraten und sich diesbezüglich weiterzubilden. Vor kurzem wurden der Wartebereich und die Flure derart umgestaltet, dass sie vermitteln: Hier gehört Interkulturalität zum ganz normalen Beratungsstellenalltag (zweisprachige Kinderbücher, migrantenbezogenen Aushänge und Bilder an den Wänden¼). Die Bibliothek wurde um die Sparte ¹Migration/Interkulturellesª erweitert, eine migrantenspezifische Fachzeitschrift wird demnächst abonniert, ¼ Der Prozess der Sensibilisierung läuft, gerade im Laufe des letzten Jahres hat die Leitung diesbezüglich eine sehr aktive und gestaltende Rolle eingenommen. Mittlerweile hat die Bereitschaft zur bewussten Auseinandersetzung mit der Migrantenthematik die gesamte Mitarbeiterschaft erreicht. Interkulturelle Kompetenz kann für den einzelnen/die einzelne als Bereicherung auf der ganzen Linie gelten. Ursprünglich als Ansatz zur verbesserten Angebotsstruktur für Migranten gedacht, ist sie zudem hilfreich, um traditionelle Arbeitskonzepte zu aktualisieren und bedarfsgerecht anzupassen und somit die Qualität pädagogischer und sozialer Arbeit für alle zu verbessern (vgl. auch den Beitrag Interkulturelle Organisations- und Personalentwicklung im Öffentlichen Gesundheitsdienst in diesem Handbuch). Die Optimierung der eigenen Professionalität kommt auch einem persönlichen Wachstum zugute: Soziale Kompetenzen können erweitert und vertieft werden. Hier sind Leiter von Institutionen und Regeleinrichtungen in ihrer Vorbildfunktion in besonderer Weise herausgefordert4, konkret durch Festeinstellung kompetenter Fachkräfte für die Beratung von Migranten bei gleichzeitiger Förderung der Bereitschaft deutscher Mitarbeiter zur Sensibilisierung und Öffnung für andere Nationalitäten, angesichts steigender Zahlen von Migranten als potentielle ¹Kundenª Weitsicht zu beweisen und die erforderliche Flexibilität zu zeigen, um mit gesellschaftlichen Veränderungen konzeptionell und strukturell Schritt zu halten. Die Erfahrungen, die wir in unserer Einrichtung hierzu bislang sammeln konnten, ermutigen uns, in dieser Richtung fortzufahren. Sibel Koray Jugendpsychiatrisches Institut der Stadt Essen Papestraûe 1 45147 Essen Telefon: 0201/88-51 338 Telefax: 0201/88-51 597

4

Vgl. Beauftragte der Bundesregierung für die Belange der Ausländer (Hg.): Empfehlungen zur interkulturellen Öffnung sozialer Dienste, 1994, In der Diskussion Nr. 5.

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Kulturspezifische Krankheitskonzepte DR. MED. MARKUS HERRMANN Die Gesundheitsversorgung ist in Deutschland vor allem geprägt durch die Konzepte und Systematisierungen einer naturwissenschaftlich fundierten Medizin, die Krankheit auf biologische Veränderungen im menschlichen Organismus zurückführt. Auf dem Boden bestimmter individueller Beschwerden und weiterer mit Hilfe spezifischer Techniken am kranken Menschen erlangter medizinischer Befunde wird vom Arzt die Diagnose einer Krankheit gestellt. Diese ist Grundlage für die Beurteilung von Prognose und die Einleitung therapeutischer Schritte. Das medizinische System ist aber auch Teil des jeweiligen kulturellen und sozialen Systems. Krankheit und Gesundheit haben nicht in allen Gesellschaften die gleiche Bedeutung, da die Medizin einer Gesellschaft mitbestimmt wird durch bestehende Traditionen, Glaubensvorstellungen und kulturelle Praktiken, Techniken und Methoden der Heilung oder Vorbeugung von Krankheit, wie wissenschaftliche Untersuchungen der Ethnomedizin belegen. In jeder Kultur stehen Krankheit und die Individuen, die sie fühlen und behandeln, sowie die sozialen Institutionen, die mit ihr in Verbindung stehen, in systematischen Beziehungen zueinander. Zur Veranschaulichung der inneren Struktur von Gesundheitssystemen in unterschiedlichsten Kulturen und Gesellschaften wird in der Ethnomedizin zwischen drei Sektoren unterschieden, dem populären, dem professionellen und dem volksmedizinischen Sektor. Der populäre Sektor beinhaltet die gesundheitliche Unterstützung innerhalb einer Gruppe oder Familie durch Selbsthilfe und altbewährte Hausmittel. Er spielt die gröûte Rolle im Gesundheitssystem. Der professionelle Sektor ist der Bereich von Medizinern und Heilern, die eine standardisierte, überregional anerkannte, medizinische Ausbildung haben. In den meisten Gesellschaften ist dies die moderne wissenschaftliche Medizin, allerdings in den verschiedenen Kulturen unterschiedlich stark repräsentiert, wenn man sich vor Augen führt, dass in Deutschland einige hundert Menschen in ländlichen Teilen Anatoliens mehr als 20 000 Menschen auf einen Arzt kommen. Auch die traditionelle chinesische Medizin und die AyurvedaMedizin aus Indien und andere professionalisierte Medizinformen sind dem professionellen Sektor zuzuordnen. Der volksmedizinische Sektor betrifft nicht-professionalisierte und nicht-bürokratisierte Heiler. Er umfasst alle Arten von Heilern, die u. U. auch eine Ausbildung erfahren haben, die allerdings nicht überall anerkannt ist, wie z. B. Heilpraktiker, Geistheiler. Häufig überschneiden sich diese drei Sektoren und können sich gegenseitig befruchten. In fast jeder Gesellschaft gibt es einen medizinischen Pluralismus, d. h. parallel bestehende unterschiedliche Medizinsysteme stehen dem Patienten bei der Wahl einer Behandlungsmethode zur Verfügung. Auch in Deutschland war bis ins 18. Jahrhundert die Gruppe der Heiltätigen sehr heterogen. Neben studierten ¾rzten gab es die heterogene Gruppe von Chirurgen und Wundärzten, Barbieren und Hebammen sowie andere Laienheiler. Trotz des institutionalisierten Alleinanspruchs der ¾rzte als medizinische Experten in unserer Gesellschaft ist durch alternativmedizinische ärztliche Weiterbildung und das Heilpraktikerwesen auch in Deutschland von einem medizinischen Pluralismus auszugehen. Während aus standespolitischer Perspektive ein medizinischer Pluralismus immer wieder kritisiert und bekämpft wurde, aus der Sorge heraus in dem eigenen Universalanspruch auf medizinische Expertise an Bedeutung zu verlieren, ist aus ethnomedizinischer Sicht ein medizinischer Pluralismus notwendig, um unterschiedliche Zugangsmöglichkeiten der Deutung von Krankheitsprozessen zu ermöglichen und in einen sozial vermittel27


baren Kontext zu stellen, was, wie immer wieder kritisiert wird, in der modernen wissenschaftlichen Medizin zu kurz kommt. In der Arzt-Patienten-Beziehung treten auch unter Angehörigen des gleichen Sprachund Kulturraumes nicht selten Verständigungsprobleme auf, die auf der unterschiedlichen Konzeptionalisierung von Krankheit beruhen. So ist für die ärztliche Profession häufig die Krankheit als solches die Grundlage der Kommunikation mit dem Kranken. Im Englischen wird dafür der Begriff disease benutzt. Für den Kranken hingegen ist das persönliche Kranksein die Grundlage für die Interaktion. Die englische Sprache sieht dafür de Begriff illness vor. In der deutschen Sprache gibt es nur den Begriff Krankheit, der beides meint. Während im Englischen disease nur auf das einzelne betroffene Individuum bezogen wird, steht illness in einem direkten sozialen und kulturellen Kontext und bezieht meist noch andere Menschen, z. B. Familienangehörige, Freunde, usw. mitein. Während in unseren Breitengraden die Entwicklungen der modernen wissenschaftlichen Medizin Bestandteil unseres Kulturgutes geworden sind und damit auch das Verständnis von Illness verändert haben, ist dieser Prozess nicht unbedingt auf Menschen anderer Kulturen zu übertragen. Damit aber verschärft sich die ohnehin asymetrische Arzt-Patient-Beziehung bei MigrantInnen, so dass Verständigungsprobleme aufgrund der differenten Bezugssysteme nicht ausbleiben. Werden diese nicht transparent, resultiert in vielen Fällen mangelnde Compliance, was sowohl von Arzt als auch von Patient häufig als frustrierend erlebt und entsprechend verarbeitet wird. Nicht selten sind Überdiagnostik und Fehlbehandlungen die Folge. Beschwerdekomplexe, die in ihrer Bedeutung nur im Rahmen ihres kulturellen bzw. subkulturellen Kontextes verstanden werden können, werden als Kulturspezifische Syndrome (culture-bound disorders) bezeichnet. Ihre ¾tiologie symbolisieren zentrale Bedeutungsfelder und Verhaltensnormen der jeweiligen Gesellschaft und fassen diese zusammen. Susto (Schreck/Erschrecken) wird zu den kulturspezifischen Syndromen Lateinamerikas gezählt. Ausgelöst durch ein traumatisches Erleben kommt es zu vielfältigen Symptomen wie Antriebslosigkeit, Schwäche, Appetitlosigkeit, Blässe, Diarrhöe, Ruhelosigkeit, Erbrechen, Depression, Unruhe und Fieber bis u. U. sogar zum Tod. Als ursächlich für diese Beschwerden wird in diesem kulturellen Kontext ein Seelenverlust angenommen. Die dafür zuständigen Heiler versuchen ± je nach kulturellen und sozialen Kontext ± nach genau umschriebenen Heilritualen die verlorene Seele wieder zurückzuholen und den Kranken damit wieder zu gesunden. Im Unterschied zum christlichen Modell der Eine-Seele-Existenz, können in anderen Kulturen mehrere Seelen in einer Person vorhanden sein, so dass der Verlust einer Seele nicht notwendig zum Tod führen muss. Rund ums Mittelmeer ist die Vorstellung des ¹Bösen Blicksª als Ausdruck von Neid und Missgunst sowie Ursache für Krankheit beheimatet. Der böse Blick wird als Krankheitsursache bei seelischen Störungen, körperlichen Missempfindungen, bei Fruchtbarkeits- und Schwangerschaftsproblemen, bei Säuglings- und Kleinkinderkrankheiten sowie bei Unfällen aller Art herangezogen. Ob eine Krankheit dem Wirken des bösen Blicks zugeschrieben wird, hängt allein vom sozialen Kontext des Geschehens ab. Im Phänomen des bösen Blicks erfüllt Krankheit zwei Funktionen. Zum einen dient sie als Mittel zum Verständnis der sozialen Umwelt und der eigenen Stellung in ihr. Zum anderen dient Krankheit der sozialen Sanktion. Neid und Missgunst dienen der sozialen Nivellierung. Die zerstörerische Kraft des bösen Blicks verhindert die weitere Bereicherung einer bevorteilten Person. Neid führt gerade dort zu einer gerechten Verteilung von Gütern, wo die Ressourcen knapp und begrenzt sind, da hier der Erfolg einer Person immer auf Kosten einer anderen geht. Andere kulturspezifische Syndrome, die z. B. bei türkischen MigrantInnen auftreten, bei denen seelische Beeinträchtigungen und körperliche Beschwerden Hand in Hand gehen, sind: Nabelfall 28


(Bauch- und Magenbeschwerden, die mit Übelkeit, Schwindel, Schwäche und Müdigkeit einhergehen); Sikinti, ein Beklemmungsgefühl (Kopf-, Herzschmerzen, Enge- , Globus- und Erstickungsgefühl sowie Kurzatmigkeit aufgrund von Sorgen, ¾rger, Sehnsucht oder Schuldgefühlen), Lebervergröûerung (Leber- und Oberbauchschmerzen aufgrund von Traurigkeit , Sorgen und schwerem Leid). Auch in unserer Kultur werden Beschwerdebilder als kulturspezifische Syndrome beschrieben. Die Magersucht beispielsweise kann als Ausdruck einer spezifischen Dynamik betrachtet werden, eine Familie zusammenzuhalten. Ebenfalls lässt sich eine Beziehung zwischen dem Fasten unserer christlich geprägten Kultur und dem Hungern aus psychogenen Gründen herstellen. Im Zuge der Anpassung an unsere Kultur geht bei Migranten der komplexe Zusammenhang dieser traditionellen Krankheitsbilder verloren, was als eine Art Anpassungsleistung der Migranten an unsere Kultur verstanden werden kann. Die ärztliche Profession in unseren Breitengrade versteht die symbolische Dimension der körperlichen Beschwerden meist nicht und reduziert diese komplexen Beschwerdebilder nicht selten auf eine reine Somatisierung. Die in unserer Kultur seit vielen Jahrhunderten konzeptionell verankerte Trennung von Psyche und Soma ist vielen Kulturen fremd. Hinweise, körperliche Beschwerden seien zu verstehen als Reaktionen auf psychische Konflikte, können deshalb von Menschen anderer Kulturen nicht nur nicht verstanden werden, sie bedeuten auch nicht selten die Stigmatisierung als Verrückte. Auch Themen, die Sexualität oder die persönliche Ehre betreffen, sind heikel und vorsichtig anzusprechen. Um Missverständnisse zu vermeiden sind ausführliche Gespräche zwischen Arzt und Patient erforderlich, um Verständigungsprobleme aufzudecken und ein besseres Verstehen eigener und fremder Krankheitserfahrungen zu ermöglichen. Eine reine Sprachvermittlung dafür ist alleine nicht ausreichend. Vielmehr ist es notwendig, sich für den interkulturellen Vermittlungsprozess (Verweis) zu sensibilisieren und zu schulen, um Problemfelder, Möglichkeiten und Grenzen in der gesundheitlichen Versorgung von Migranten besser wahrzunehmen und bedarfsgerechter intervenieren zu können. Ein möglicher Zugang stellt der von Rogers entwickelte personenzentrierte Ansatz dar. Die therapeutischen Grundbedingungen der Empathie, Kongruenz und Akzeptanz können zu einer erfolgreichen und befriedigenden Arbeit im interkulturellen Kontext führen, da sie ermöglichen, den anderen so zu verstehen, zu akzeptieren und zu respektieren, wie er ist. g Wie werden Beschwerden geschildert? g Welchen Deutungen von Krankheitsprozessen begegne ich? g Wie werden geäuûerte Beschwerden von Betroffenen und deren Angehörigen gedeutet? g Wie würden die Beschwerden im Herkunftsland gedeutet werden? Wie würde darauf reagiert werden? g Welche Erklärungen für Erkrankung habe ich bislang herangezogen? Wie würde ich damit umgehen? g Wie bewerte ich die Deutungen von Krankheit anderer? g Was erlebe ich an den Deutungen anderer als fremd? Wieso? g Was kann ich dazu beitragen, dass eine befriedigendere und erfolgreiche Verständigung möglich wird? 29


Weiterführende Literatur zu dem Thema: c B. Pfleiderer, K. Greifeld, W. Bichmann (1995): Ritual und Heilung ± Eine Einführung in die Ethnomedizin; c M. Spinu, H. Thorau (1994): Captacao ± Trancetherapie in Brasilien ± Eine Ethnopsychologische Studie über Heilung durch telepathische Übertragung; Reimer, Berlin; c J. Collatz, E. Koch, R. Salman, W. Machleidt (1997): Transkulturelle Begutachtung: Qualitätssicherung sozialgerichtlicher und sozialmedizinischer Begutachtung für Arbeitsmigranten in Deutschland, VWB, Berlin; c F. B. Keller (1996): Krank ± warum? Vorstellungen der Völker, Heiler, Mediziner; Cantz Verlag, Ostfildern; c F. Nestmann (1993): Beratung von Migranten ± Neue Wege der psychosozialen Versorgung, Hrg.: Robert Bosch Stiftung, VWB, Berlin; c U. v. Esser, K. Sander, B. Terjung (1996): Die Kraft des Personzentrierten Ansatzes ± Erlebnisaktivierende Methoden, Gesellschaft f. wiss. Gesprächspsychotherapie. Dr. med. Markus Herrmann Abteilung für Allgemeinmedizin der Medizinischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin Schumannstraûe 20-21 10117 Berlin Telefon: 0 30/28 02 82 19

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Das interkulturelle Gesundheitsamt: die organisatorische Ebene



Neuorientierung des Öffentlichen Gesundheitsdienstes. Leitbilder, Leitlinien und Ziele KLAUS HEHL Die ethnische und kulturelle Zusammensetzung der Gesellschaft der Bundesrepublik hat sich in den letzten Jahrzehnten in vielen Bereichen gewandelt. So kamen z. B. zu den Migranten, die im Zuge der Anwerbung gekommen waren, im letzten Jahrzehnt mehr Flüchtlinge als vormals und neue Zuwanderergruppen, beispielsweise aus den osteuropäischen Ländern. Mehr als 50% der ausländischen Bevölkerung lebt länger als 10 Jahre hier; immer mehr Kinder mit ausländischem Pass sind bereits hier geboren. Die ausländische Bevölkerung ist zu einem festen Bestandteil unserer pluralistischen Gesellschaft geworden. Die Bundesrepublik Deutschland sieht sich einer faktischen Einwanderungssituation gegenüber. Insbesondere in den Ballungsräumen werden die Ausländeranteile voraussichtlich weiter steigen. Das Leben in unserer pluralen Gesellschaft muss von allen gemeinsam gestaltet werden. Die interkulturelle Öffnung ist eine Herausforderung an die verschiedensten Institutionen unserer Gesellschaft, so auch des öffentlichen Gesundheitsdienstes (ÖGD). Innerhalb des ÖGDs ist interkulturelle Öffnung Aufgabe der Führungskräfte; sie muss ebenso von den Mitarbeitern gewollt und akzeptiert sein. Geeignete Maûnahmen der Personalentwicklung und Unternehmensführung (vgl. Kapitel Interkulturelle Organisations- und Personalentwicklung im öffentlichen Gesundheitsdienst in diesem Handbuch) sind einzuführen. Die gewählten Maûnahmen können sehr unterschiedlicher Art sein. Zwei Beispiele mögen dies illustrieren. Beispiel 1: Das Sozialreferat der Landeshauptstadt München gab sich ein Leitbild, in das Interkulturalität wie folgt Eingang fand: ¹In Lage-, Planungslage-, Abteilungs- und Dienstbesprechungen sowie Arbeitsplanungsgesprächen werden die Situation der ausländischen Bevölkerung und die Verbesserung der Dienstleistung für die ausländische Bevölkerung regelmäûig zur Sprache gebracht. In Mitarbeitergesprächen wird der Umgang mit der ausländischen Klientel thematisiert.ª (Landeshauptstadt München, Sozialreferat, Interkulturelle Ziele des Sozialreferates für eine bessere Ausrichtung der Regeldienste auf die ausländische Wohnbevölkerung, November 1995, S.7, Punkt 5). Beispiel 2: ¹Die (vom Referat für Gesundheit und Umwelt bezuschussten) Einrichtungen und ihre Angebote haben die kulturellen Unterschiede zu respektieren und dürfen nicht selektierend wirken. Krankmachende Faktoren, die aus der Ausgrenzung, Missachtung oder der Nicht-Verständigung der Angehörigen verschiedener Kulturen resultieren, sollten im präventiven Sinne, wie auch in der gesundheitlichen Versorgung besondere Berücksichtigung finden. Die Konzeptionen der Einrichtungen und auch der Fortbildungsbereich müssen darauf abgestimmt werden. Um insgesamt den gesundheitsbezogenen Ansprüchen und Bedürfnissen der ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürger besser gerecht zu werden, ist ein höherer Beschäftigungsanteil ausländischer Fachkräfte in den Einrichtungen gefordert.ª (Landes 33


hauptstadt München, Referat für Gesundheit und Umwelt, Struktur- und Handlungsleitlinien für Gesundheitseinrichtungen, Oktober 1995, S. 10 f.) Die Beispiele machen deutlich, dass der interkulturellen Öffnung der Verwaltung geeigneterweise in einem Leitbild Ausdruck verliehen werden kann. Das Leitbild des ÖGD muss ein Bekenntnis zur multikulturellen Gesellschaft und zur interkulturellen Orientierung der Dienstleistungen enthalten. Das Leitbild ist ein Spiegel des Selbstverständnisses und der Philosophie eines Unternehmens. Es enthält eine ideale Vorstellung davon, wie das Unternehmen/die Organisation in Zukunft einmal sein soll. Es benennt das Ziel der Unternehmensentwicklung. ¹Leitbilder zeigen das Selbstverständnis einer Organisation und ihrer Mitarbeiter über die Arbeitsziele und deren Umsetzung in der Praxis. Sie sind ein Ausdruck der gemeinsamen Verantwortung und Selbstverpflichtung für die Gewährleistung einer effektiven und effizienten Leistungserbringung. Leitbilder verstehen sich als Positionsbestimmungen in einem Prozess, der eine regelmäûige Überprüfung und Anpassung an Veränderungen notwendig macht.ª (Workshop des Gesundheitsbeirats München 1998, Niederpöcking, J. v. Troschke, 1998). Mit der Verwaltungsreform des öffentlichen Dienstes, die die Ziele Bürgernähe, Kundenorientierung, Produktdefinition, Qualitätsmanagement und neue Führungsgrundsätze verfolgt, wird unter anderem die Erarbeitung von Leitbildern, Leitlinien und (Arbeits-)Zielen notwendig. Dies gilt entsprechend für den Öffentlichen Gesundheitsdienst, dem sich dadurch die Chance eröffnet, sich in einem differenzierten System der ambulanten und stationären Versorgung neu zu positionieren. Durch die Stärkung des individualmedizinischen Ansatzes, insbesondere in der ambulanten Versorgung, geriet in den letzten Jahrzehnten der das Leitbild des ÖGD bestimmende bevölkerungsmedizinische Ansatz in den Hintergrund. In neueren Leitbildern und Zielorientierungen des ÖGD wird gefordert, auch entsprechend der Vorgaben der WHO, Chancengleichheit sozial benachteiligter Gruppen herzustellen, zu erhalten, bzw. zu erhöhen. Zu den sozial benachteiligten Gruppen zählen teilweise Migrantinnen und Migranten. Wie dem Ausdruck verliehen werden kann, möge ein Beispiel verdeutlichen: ¹Im eigenen Interesse des Stadtfriedens muss eine Wendung angestrebt werden. Der Ausgleich von Benachteiligungen in allen Bereichen muss das Ziel sein. Sozialpolitisch ist die Partizipation notwendig, um den steigenden Anteil der ausländischen Wohnbevölkerung, die hier ihren Lebensmittelpunkt hat, die Gelegenheit zur Teilhabe zu geben, ehe sie sich anderweitig in Subsystemen orientiert.ª (Landeshauptstadt München, Sozialreferat, Interkulturelle Ziele des Sozialreferates für eine bessere Ausrichtung der Regeldienste auf die ausländische Wohnbevölkerung, November 1995, S.4). Neben der zielgruppenspezifischen Arbeit kommt den Kommunen bzw. dem ÖGD wegen seiner ökonomischen Neutralität eine wichtige Aufgabe in der Koordination und Kooperation der verschiedenen Anbieter zu. In einer Neuorientierung des ÖGD kann dessen diesbezügliche Schnittstellenfunktion deutlich gemacht werden. Beispiel: Im Gesetz über den öffentlichen Gesundheitsdienst (ÖGDG) des Landes Nordrhein-Westfalens vom 25.11.1997 sind ¹Neue Formen der Aufgabenwahrnehmung sowie neue Organisationsformenª (§§ 2, 4), ¹Koordinationª (§ 23) und ¹Kommunale 34


Gesundheitskonferenzenª (§ 24) genannt. Hier werden dem ÖGD weit über die medizinischen Dienstleistungen hinaus gesundheitspolitische Kompetenz auf kommunaler Ebene eingeräumt, die er zugunsten einer Neuorientierung des ÖGD auch im Sinne einer besseren Versorgung der Migrantinnen und Migranten nutzen kann.

Klaus Hehl Landeshauptstadt München Referat für Gesundheit und Umwelt Stabsstelle: Koordinierung Geschäftsführung des Gesundeitsbeirats Implerstraûe 9 81371 München Telefon: 0 89/2 33-2 49 11 Telefax: 0 89/2 33-2 05 70

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Interkulturelle Organisations- und Personalentwicklung im Öffentlichen Gesundheitsdienst INGRID GEIGER Unser Alltag in Stadt und Land hat mit der Zuwanderung von AusländerInnen, Flüchtlingen und auch AussiedlerInnen an Multikulturalität gewonnen, d. h.: ¹Was die Menschen scheidet ± religiöse, kulturelle und politische Unterschiede -, ist an einem Ort, in einer Stadt, immer öfter sogar in einer Familie, in einer Biographie präsent.ª (Beck 1998) Die Institutionen des Öffentlichen Gesundheitsdienstes (ÖGD) sind in besonderem Maûe mit dem Alltag der Menschen verbunden und tragen mit ihrem bevölkerungsmedizinischen und sozialökologischen Auftrag und Ansatz eine groûe Verantwortung für die gesundheitliche (Versorgungs-)Situation der verschiedenen Migrantengruppen vor Ort. Der ÖGD steht vor einer sehr groûen Herausforderung, denn die Gesundheit der MigrantInnen ist einem besonderen Spannungsfeld ausgesetzt. Komplexe Wechselwirkungsprozesse zwischen kulturspezifischen, migrationsbedingten sowie sozialökologischen Faktoren nehmen Einfluss auf die gesundheitliche Situation und Versorgung von MigrantInnen: Das Spannungsfeld ¹Migration und Gesundheitª wird erzeugt durch: g Kulturspezifische Faktoren

z. B. Gesundheits-/Krankheitskonzepte

g Migrationsbedingte Faktoren z. B. Sprachbarrieren, Informationsdefizite, aufenthaltsrechtliche Bedingungen g Sozialökologische Faktoren

z. B. ungünstige Wohnverhältnisse, Fremdenfeindlichkeit

Auf der Seite des Versorgungssystems verhindern zahlreiche (unsichtbare) Zugangsbarrieren (z. B. mangelhafte interkulturelle Fachkompetenzen, Angst vor ausländerrechtlichen Folgen etc.) eine angemessene Inanspruchnahme der Einrichtungen des Gesundheits- und Sozialwesens (Hinz-Rommel 1998) sowie der Altenhilfe (Geiger 1998). Darüber hinaus sind Einrichtungen mit überdurchschnittlicher Inanspruchnahme (z. B. Frauenhäuser in Frankfurt) (Gaitanides 1992) oder mit überregionaler Magnetwirkung (z. B. Psychiatrisches Landeskrankenhaus Marburg) (Koch 1997) möglicherweise ein Indiz für Versorgungslücken im Verantwortungsbereich. So komplex sich die gesundheitliche Situation von MigrantInnen zeigt, so vielfältig sind die möglichen Folgen bestehender Versorgungsschwächen ± Beispiele: g Fehldiagnosen (Collatz 1992), g Endlosdiagnostik (Collatz 1996), 37


g Verspätet einsetzende Therapie (Zimmermann 1995), g Vergabe von Medikamenten aus Hilflosigkeit (Brucks 1995), g Polypragmasie (Anwendung vieler Arzneimittel und Behandlungsverfahren gegen eine einzige Krankheit) (Kentenich 1996), g Chronifizierungen (Collatz 1996), g Drehtüreffekte (Koen-Emge et al. 1994) und g Verlängerte Verweildauern (Grube 1994) etc. Versorgungsstrukturen, die die Belange der MigrantInnen nicht berücksichtigen, wirken sich nicht nur ungünstig auf die Gesundheit von MigrantInnen aus, sie können sich auch als Kostenfaktoren niederschlagen. Der ÖGD hat wichtige Voraussetzungen zur Verbesserung der gesundheitlichen Situation und Versorgung von MigrantInnen vor Ort: c Der ÖGD ist frei von Partikularinteressen, das prädestiniert ihn für die Schnittstellenarbeit zwischen den Institutionen des Gesundheits- und Sozialwesens sowie der Altenhilfe mit den migrationsspezifischen Einrichtungen. c Auûerdem verfügt der ÖGD über eine multidisziplinäre Arbeitsstruktur und über interdisziplinäre Fachkompetenzen, das befähigt ihn zur interkulturellen und migrationssensiblen Entwicklung von Handlungskonzepten. c Darüber hinaus ist der ÖGD mit seiner Expertise ein wichtiger Partner in gesundheitsrelevanten Entscheidungen auf kommunaler Ebene, das macht ihn zum Anwalt für die Chancengleichheit im Gesundheitsbereich (Informationsdienst des Bundesweiten Arbeitskreises Migration und öffentliche Gesundheit 1/1997). Ein Meilenstein auf dem Weg zur migrationssensiblen Gesundheitsversorgung ist die qualitätsorientierte Interkulturelle Öffnung der Einrichtungen des ÖGD, die die bedarfsgerechte Entwicklung der Organisation und des Personals vorsieht. Die qualitätsorientierte Interkulturelle Öffnung des ÖGD umfasst zehn wichtige Handlungsfelder (vgl. Tab. 1). Tab. 1: 10 Handlungsfelder der qualitätsorientierten Interkulturellen Öffnung (IÖ) im ÖGD: IÖ im ÖGD ¼

weil es gute Gründe gibt:

¼ ist eine Führungsaufgabe und integraler Bestandteil des Qualitätsmanagements

weil die Zuwanderung von AusländerInnen und AussiedlerInnen und die damit verbundene soziodemographische Dynamik stets neue quantitative und qualitative Herausforderungen an die Einrichtungen des ÖGD stellen

¼ entwickelt und nutzt eine kultur- und migrationssensible Gesundheitsberichterstattung

weil die regionalen Unterschiede und Bedingungen eine differenzierte nicht stigmatisierende Analyse der (Versorgungs-)Situation der MigrantInnen fordern.

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¼ baut auf interkulturell kompetente und muttersprachliche Fach- und Führungskräfte

weil die Fach- und Führungskräfte (deutscher und ausländischer Herkunft) eine wesentliche Ressource bei der Verbesserung der gesundheitlichen Situation und Versorgung sind.

¼ fördert die interkultuweil die interkulturelle Orientierung nicht ausschlieûlich an das Personal ausländischer Herkunft delegiert relle Teamentwicklung werden kann, sondern alle Fachkräfte ihre Fachund Fortbildung des kompetenzen erwerben und erweitern müssen. Personals ¼ baut bestehende migrationsbedingte, sprachliche und kulturelle Zugangsbarrieren schrittweise ab

weil eine angemessene Inanspruchnahme bestehender Angebote durch MigrantInnen ein wichtiger Faktor und Indikator für eine verbesserte gesundheitliche Versorgung von MigrantInnen ist.

¼ entwickelt eine migrati- weil die Gesundheit der MigrantInnen einem besononssensible und interderen Spannungsfeld ausgesetzt ist, auf das kulturelle Konzeption, komplexe Wechselwirkungen aus kulturspezifidie die gesundheitlischen, migrationsbedingten sowie sozialökologichen Belange schen Faktoren wirken. Migration und Gesundder MigrantInnen beheit zeichnet sich damit als Querschnittsaufgabe rücksichtigt aus, die alle Aufgabenbereiche im ÖGD berührt. ¼ regt die regionale Ver- weil in der Zusammenarbeit nicht nur Versorgungsnetzung zwischen den lücken sichtbar werden, sondern auch SynergieEinrichtungen des SoEffekte beim Bau von Versorgungsbrücken gezial- und Gesundheitsnutzt werden können. Die Partizipation von Miwesens an und ermöggrantengruppen ist ein Beitrag zum Abbau von licht die Partizipation Zugangsbarrieren. von MigrantInnen ¼ beteiligt sich am über- weil im themenzentrierten Fachaustausch wichtige regionalen InformatiImpulse (z. B. in der Diskussion von Modellprojekten) für die Arbeit vor Ort gewonnen werden ons- und Erfahrungsund darüber hinaus die Interkulturelle Organisatiaustausch sowie an onsentwicklung vor Ort in einen breiten konzepder Konzeptentwicklung auf Landes- und tionellen Rahmen gebettet wird. Bundesebene sowie auf europäischer Ebene ¼ nutzt die Möglichkeiten weil Migration und Gesundheit eine Daueraufgabe der prozessbegleitenmit stets neuen Anforderungen an Personal und den Evaluation Organisation ist und damit im Sinne des Qualitätsmanagements begleitet werden muss. ¼ schafft Sichtbarkeit für die interkulturelle Orientierung nach innen und auûen

weil der multikulturelle Alltag sich auch an und in den Einrichtungen des ÖGD widerspiegeln muss (z. B. durch mehrsprachige Hinweise, Piktogramme) 39


Die einzelnen Handlungsfelder können weder isoliert betrachtet noch nacheinander abgearbeitet werden, denn das Ganze ist mehr als seine Teile. Bei der Interkulturellen Öffnung des ÖGD handelt es sich um einen komplexen und sich wechselseitig ergänzenden Prozess zwischen Organisations- und Personalentwicklung (vgl. Abb. 1). Abb. 1: Qualitätsorientierte Interkulturelle Öffnung des Öffentlichen Gesundheitsdienstes± ein handlungsorientiertes Modell -

Das Personal ist eine der kostbarsten Ressourcen des ÖGD und hat eine besonders groûe Bedeutung bei der schrittweisen Interkulturellen Öffnung. Die Interkulturelle Personalentwicklung ± die (Wieder-) Entdeckung, die Vertiefung und die Erweiterung Interkultureller Fachkompetenzen ± in den Einrichtungen des ÖGD ist ein wichtiger Schlüssel zur qualitätsorientierten Interkulturellen Öffnung des ÖGD (Tab. 2). Tab. 2: 10 Schlüssel-Fragen zur Interkulturellen Personalentwicklung im ÖGD h

Verfügen die Fachkräfte über spezifische Kenntnisse (Migrationshintergrund, ethnomedizinische Kenntnisse, Kommunikationsfähigkeit etc.), die sie für die Arbeit mit MigrantInnen qualifizieren ?

h

Verfügen die Fachkräfte über aktive Kenntnisse in den Sprachen der groûen Zuwanderergruppen ?

h

Nutzen die Fachkräfte Möglichkeiten (z. B. fremdsprachige Materialien, visuelle Medien, Einsatz von Sprach- und Kulturmittlern), um sprachliche, kulturelle und migrationsbedingte Kommunikationsprobleme mit den KlientInnen / KundInnen zu mildern ?

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h

Werden die Fragen zur gesundheitlichen Situation und Versorgung von MigrantInnen kontinuierlich in den verschiedenen Facharbeitsgruppen vor Ort diskutiert bzw. bei der kommunalen Gesundheitsberichterstattung berücksichtigt ?

h

Thematisieren die Fachkräfte die Hintergründe für unter- bzw. überdurchschnittliche Inanspruchnahme vorhandener Angebote durch verschiedene Migrantengruppen (z. B. Suchtberatung, Angebote der Altenhilfe, psychosoziale Beratung) ?

h

Vertiefen und erweitern die Fachkräfte (sowohl deutscher als auch ausländischer Herkunft) ihre interkulturellen Fachkompetenzen (z. B. durch die Teilnahme an Fortbildungen, Fachtagungen, Kongressen) ?

h

Beteiligen sich die Fachkräfte aktiv am Abbau von Zugangsbarrieren und Versorgungslücken (z. B. Versorgung von psychisch erkrankten MigrantInnen) und an der Weiterentwicklung ihrer migrationssensiblen Handlungskompetenzen (z. B. bei der gutachterischen Tätigkeit) ?

h

Stehen die Fachkräfte in Kontakt mit kommunalen / regionalen Einrichtungen für MigrantInnen (z. B. Migrantenberatung der Wohlfahrtsverbände, Behandlungszentren für Folteropfer) und nutzen sie den fachlichen Austausch ?

h

Sind die Fachkräfte informiert über Facharbeitskreise (z. B. Bundesweiter Arbeitskreis Migration und öffentliche Gesundheit) ?

h

Versorgen sich die Fachkräfte kontinuierlich mit aktueller Fachliteratur (z. B. verschiedene ± auch kostenfreie ± Infodienste) ?

Viele Einrichtungen des ÖGD haben bereits den Weg zur Interkulturellen Organisations- und Personalentwicklung eingeschlagen und mit konkreten Projekten kleine und groûe Schritte gemacht. Die vielen Beispiele in dieser Handreichung geben einen Einblick in das weite Handlungsspektrum eines Gesundheitsamtes. Es gibt darüber hinaus eine Vielzahl an Aktivitäten, für die die folgenden drei Beispiele stehen. Drei Beispiele aus der Interkulturellen Arbeit im ÖGD: Wer ?

Was ?

Behörde für Arbeit, Gesundheit und Soziales Hamburg

Verzeichnis fremdsprachiger Broschüren und Materialien im Gesundheitsbereich

Bezirksamt Kreuzberg / Berlin: Abteilung Soziales und Gesundheit

Aufbau eines Interkulturellen Gesundheitszentrums

Landratsamt Rhein-Neckar-Kreis ± Gesundheitsamt -

Koordination einer intersektoralen und interkulturellen Projektgruppe ¹Migration und Gesundheitª

Zahlreiche Institutionen des ÖGD sind bereits im Bundesweiten Arbeitskreis Migration und öffentliche Gesundheit vernetzt. 41


Die Interkulturelle Personal- und Organisationsentwicklung des ÖGD versteht sich als ein Beitrag zur nachhaltigen Entwicklung einer gesundheitlichen Versorgung für alle, denn Migration sowie Europäisierung und Globalisierung machen ¹Fremdheit zum allgemeinen Losª (Hahn 1993). Darüber hinaus ist die qualitätsorientierte Interkulturelle Öffnung des ÖGD auch ein aktiver Schritt im Rahmen der Europäisierung, denn mit dem Aufweichen der Grenzen werden die Fachdiskussionen über die verschiedenen ± von den jeweiligen kulturellen Konzepten beeinflussten ± Gesundheitssysteme in Europa zunehmen (vgl. Payer 1993).

Ingrid Geiger Ref. Gesundheitsförderung Landratsamt Rhein-Neckar-Kreis Gesundheitsamt Kurfürstenanlage 38 69115 Heidelberg Telefon: 0 62 21/5 22-8 25 Telefax: 0 62 21/5 22-8 40

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Zitierte sowie weiterführende Literatur: Barwig, Klaus, Wolfgang Hinz-Rommel (Hg.) (1995): Interkulturelle Öffnung sozialer Dienste. Lambertus-Verlag Freiburg/Brsg. Beauftragte der Bundesregierung für die Belange der Ausländer (1994): Empfehlungen zur interkulturellen Öffnung sozialer Dienste. In der Diskussion Nr. 5, Bonn. Beauftragte der Bundesregierung für die Belange der Ausländer (1995): Gesundheit und Migration. Modellprojekte von Gesundheitsämtern. In der Diskussion Nr. 6, Bonn. Beck, Ulrich (Hg.) (1998): Perspektiven der Weltgesellschaft. Suhrkamp Verlag Frankfurt a. M. Berg, Giselind (1995): Ausländische Frauen und Gesundheit. Migration und Gesundheit, in Bundesgesundheitsblatt 2: 46 - 51. Bollini, Paola, Harald Siem (1995): No real Progress Towards Equuity: Health of Migrants and Ethnic Minorities on the Eve of the Year 2000, in: Soc. Sci. Med. Vol. 41, 6: 819 - 828. Brucks, Ursula (1995): Probleme, die niemand kennt. Die psychosoziale Versorgung von Migrantinnen. in: Senatsverwaltung für Arbeit und Frauen Berlin (Hg.): Endstation Sehnsucht ? Neue Perspektiven in der Sozialarbeit mit Migrantinnen. Collatz, Jürgen (1992): Notwendigkeiten ethnomedizinischer Orientierungen in der psychosozialen und medizinischen Versorgung von Migranten. in: Informationsdienst zur Ausländerarbeit (IZA) Nr. 3 + 4: 42 ± 50. Collatz, Jürgen (1996): Die Welt im Umbruch. Zu Lebenssituation, Gesundheitszustand und Krankheitsverhütung von Migrantinnen und Migranten in Deutschland, in: ProFamilia Magazin 22. Jg., Heft 1: 2 ± 6. Gaitanides, Stefan (1992): Psychosoziale Versorgung von Migrantinnen und Migranten in Frankfurt am Main. Gutachten im Auftrag des Amts für Multikulturelle Angelegenheiten. in: Informationsdienst zur Ausländerarbeit 3 + 4: 127 ± 145. Geiger, Ingrid (1996): Gesundsein zwischen den Kulturen. Gesundheitsförderung für und mit Migrantinnen und Migranten: vom hohen Anspruch der Weltgesundheitsorganisation in die Niederungen der kommunalen Projektarbeit ± Beispiel Heidelberg. in: Blätter der Wohlfahrtspflege ± Deutsche Zeitschrift für Sozialarbeit, 3: 63 ± 66. Geiger, Ingrid (1997): ¹Macht Fremd-sein krank ? ± Migration und Gesundheit. Eine Projektgruppe stellt sich vor. in: Curare. Zeitschrift für Ethnomedizin, 20, 1: 75 - 78. Geiger, Ingrid (1998): Gesundheitsämter auf dem Weg zur Interkulturellen Öffnung. in: impulse. Newsletter zur Gesundheitsförderung, Nr. 20, 3. Quartal 1998: 6. Geiger, Ingrid (1998): Altern in der Fremde ± zukunftsweisende Herausforderungen für Forschung und Versorgung. in: David, Matthias, Theda Borde und Heribert Kentenich (Hg.): Migration und Gesundheit. Zustandsbeschreibung und Zukunftsmodelle. Mabuse Verlag Frankfurt a.M. 1998: 167 ± 184. 43


Grube, Michael (1994): Seele ohne Heimat ? ± Darstellung eines türkisch-deutschsprachigen Verbundmodells zwischen psychiatrischer Klinik und psychosozialer Beratungsstelle. in: Referat für Gesundheitsförderung am Gesundheitsamt Heidelberg und Projektgruppe ¹Macht Fremd-sein krank ?ª (Hg.): ¹Macht Fremd-sein krank ?ª ± Reader zur Heidelberger Veranstaltungsreihe im Juni 1993. Heidelberg: 32 - 36. Hahn, Alois (1993): Soziologie des Fremden. in: Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg (Hg.): Erfahrungen des Fremden. Vorträge des Studium Generale im Sommersemester 1992. Heidelberger Verlagsanstalt: 23 - 34. Handbuch Migration für AIDS-Hilfen, AIDS-Fachkräfte und andere im AIDS-Bereich Tätige. Erstellt vom Archiv für Sozialpolitik e. V. (AfS) in Kooperation mit dem Verband der Initiativgruppen in der Ausländerarbeit e. V. (VIA). Hg. von der Deutschen Aids-Hilfe e. V.. Deutsche AIDS-Hilfe, Berlin 1998. Hinz-Rommel, Wolfgang (1994): Interkulturelle Kompetenz. Ein neues Anforderungsprofil für die soziale Arbeit. Waxmann Verlag, Münster und New York. Hinz-Rommel, Wolfgang (1994): Interkultureller Selbsttest. Checkliste für die berufliche und ehrenamtliche Praxis sozialer Arbeit. Hg. vom Diakonischen Werk der evangelischen Kirche in Württemberg, Stuttgart. Hinz-Rommel, Wolfgang (1998): Interkulturelle Öffnung ± Hindernisse und Ansatzpunkte. in: impulse. Newsletter zur Gesundheitsförderung. Hg. von der Landesvereinigung für Gesundheit Niedersachsen e. V., Nr. 20: 4 ± 5. Informationsdienst des Bundesweiten Arbeitskreises ¹Migration und öffentliche Gesundheitª Hg.: Beauftragte der Bundesregierung für Ausländerfragen, Bonn 1/1997. Kentenich, Heribert (1996): Probleme von Migrantinnen in der Frauenheilkunde. in: ProFamilia Magazin 22. Jg., Heft 1: 14 ± 16. Koch, Eckhardt (1997): Migranten türkischer Herkunft am Psychiatrischen Krankenhaus Marburg ± eine Institution öffnet sich für Arbeit mit Ausländern. in: Curare. Zeitschrift für Ethnomedizin. 20, 1: 65 ± 74. Koen-Emge, Emy und Lygia Binz-Kern (1994): Sparen !!! Was ist billiger, Herr Seehofer ??? Doktorshopping und überflüssige Krankenhausaufenthalte oder ein Multikultureller Dolmetscherdienst. in: Referat für Gesundheitsförderung am Gesundheitsamt Heidelberg und Projektgruppe ¹Macht Fremdsein krank ?ª (Hg.): ¹Macht Fremd-sein krank?ª. Reader zur Heidelberger Veranstaltungsreihe. Heidelberg: 51 ± 55. Payer, Lynn (1993): Andere Länder, andere Leiden. ¾rzte und Patienten in England, Frankreich, den USA und hierzulande. Campus Verlag Frankfurt a. M. Zimmermann, Emil (1995): Erkrankungen von Migrantenkindern. in: Kiesel, Doron; Sabine Kriechhammer-Yagmur und Hans von Lüpke (Hg.): Bittersüûe Herkunft. Zur Bedeutung ethnisch-kultureller Aspekte bei Erkrankungen von Migrantinnen und Migranten. Haag und Herchen Verlag Frankfurt a. M.: 39 ± 56.

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Das interkulturelle Gesundheitsamt: Regelaufgaben



Migrationsspezifische Ansätze in der amtsärztlichen Begutachtung DR. MED. NORBERT SCHMACKE Der Begriff ¹amtsärztliche Gutachtenª umfasst zwei Arbeitsbereiche von Gesundheitsämtern 1. Die Erstellung individualmedizinischer Gutachten vor allem im Auftrag von Behörden der öffentlichen Verwaltung (Sozialamt, Ausländeramt, Schulamt usw.) 2. Stellungnahmen des Gesundheitsamtes zu Planungs- und Entscheidungsprozessen der Kommune (als Träger öffentlicher Belange, hier in Sachen Gesundheit, z. B. im gesamten Kontext der Stadtplanung) In beiden Feldern tauchen entsprechend auch migrationsspezifische Fragen auf, wobei immer die individualmedizinischen Fragen im Vordergrund gestanden haben und in den letzten Jahren die Aktivitäten sehr stark von den Auseinandersetzungen um das Asyl geprägt worden sind. c Individualmedizinische Gutachten Traditionell wird der öffentliche Gesundheitsdienst vor allem mit den Fragen des Aufenthaltsrechts konfrontiert, sei es im Rahmen des Ausländerrechts allgemein, sei es im Rahmen der Asylgesetzgebung. Im Rahmen der Zuwanderung verlangen alle Staaten eine ärztliche Untersuchung, bei der es im Kern immer um zwei Fragen geht: besteht bei Einreisenden eine übertragbare Erkrankung und liegen Erkrankungen vor, die eine kostenaufwendige Behandlung oder Pflege bedingen? Für die gesetzlich vorgeschriebene Erstuntersuchung von Asylsuchenden werden die meisten Ressourcen für die Feststellung übertragbarer Erkrankungen eingesetzt, eine auf den ersten Blick einleuchtende, vermutlich aber allein schon wegen des Punktcharakters der Untersuchung überschätzte Methode. Bewährter sind fraglos Untersuchungsangebote, die neben einer allgemeinmedizinischen Untersuchung vor allem Beratungselemente enthalten (zur Versorgungssituation im Gesundheitswesen, zu Rechtsansprüchen, zu Anlaufstellen für Migranten usw.), wobei die geeignete Fremdsprachenkenntnis bei dieser Gruppe der Neueingereisten im Grunde unverzichtbar ist. Während die ¹Wegweisungª durch die Leistungen des Gesundheitswesens vom öffentlichen Gesundheitsdienst gewährleistet werden sollte, ist bei rechtlichen und psychosozialen Fragen die Information über bestehende Beratungsangebote bei Kirchen, Wohlfahrtsverbänden etc. der entscheidende Schritt. Internationale Erfahrungen zeigen, dass eine gute allgemeine Gesundheitsberatung und Hilfestellungen bei der Inanspruchnahme des Versorgungssystems auch verhindern, dass ungezielt nicht-indizierte ärztliche und andere therapeutische Leistungen in Anspruch genommen werden. Eine gute Beratung und Unterstützung kann das Ausstellen mancher Rezepte unnötig machen. Dies erfordert von Seiten des öffentlichen Gesundheitsdienstes die Einrichtung von festen Sprechstundenzeiten in der Kommune (z. B. in der zentralen Gemeinschaftseinrichtung für Asylsuchende) und gute Kenntnis im örtlichen Beratungs- und Unterstützungssystem. 47


Die medizinischen und ethischen Probleme der Begutachtung treten vor allem bei den folgenden Fragen in Erscheinung: 1. bei der Frage nach der Reisefähigkeit von Menschen, deren Aufenthaltsrecht abgelaufen ist. Eine Reduzierung auf den Aspekt der Transportfähigkeit ist hier sicher nicht vertretbar; eine Ausklammerung der Vorgeschichte von Flüchtlingen und der jeweiligen Problematik in den Heimatländern widerspräche Grundprinzipien ärztlichen Handelns und ärztlicher Begutachtung. Zuletzt hat dies der Bundesverband der ¾rzte des öffentlichen Gesundheitsdienstes im Zusammenhang mit der Rückführung bosnischer Bürgerkriegsflüchtlinge deutlich zum Ausdruck gebracht. 2. bei der Frage nach der erforderlichen medizinischen Behandlung. Hier definiert das Asylbewerberleistungsgesetz einen eingeschränkten Rahmen (vor allem akute Erkrankungen, akute Schmerzzustände, Schwangerenbetreuung, Impfungen). Sowohl der Bundesverband der ¾rzte des ÖGD wie auch die Bundesärztekammer haben wiederholt deutlich gemacht, dass insbesondere die Ausgrenzung chronischer Krankheiten aus dem Leistungsanspruch für Asylsuchende nicht vertretbar ist und ± bei konsequenter Umsetzung ± die erforderliche Versorgung von Flüchtlingen verhindert (zur Problematik der Standards s. auch den Beitrag von Mohammadzadeh in dieser Broschüre) 3. wo immer Asylsuchende, Bürgerkriegsflüchtlinge oder andere Migrantinnen und Migranten begutachtet werden, die schwere Traumen erlitten haben ± und dies kann im Antrag auf das Gutachten thematisiert sein oder erst im Rahmen einer Untersuchung entdeckt werden -, können ¾rztinnen und ¾rzte in die Situation geraten, ungewollt zur Retraumatisierung der Betroffenen beizutragen. Die Ansprüche an die Begutachtung sind hier besonders hoch, zumal die Fragestellung (s. Reisefähigkeit) nicht immer mit ärztlichen Wertvorstellungen übereinstimmt. Hier können gezielte Fortbildungen und Hinzuziehung von Fachleuten, die in der Behandlung traumatisierter Flüchtlinge Erfahrung haben, Entlastung schaffen. Die Grundproblematik der Entwicklung von angemessenen Standards für die gesundheitliche Versorgung von Zuwanderern, insbesondere von Flüchtlingen und Asylsuchenden, kann sicher nur durch den Bundesgesetzgeber besser geregelt werden. Vor Ort kommt es aber darauf an, in Zusammenarbeit aller beteiligten Behörden deutlich zu machen, dass geeignete Beratungsangebote nicht als zusätzliche, kostenverursachende Leistung gesehen werden dürfen, sondern als Mittel der angemessenen Reaktion auf migrationsspezifische gesundheitliche Problemlagen. Eine gute Kooperation mit Ausländervereinen ermöglicht zudem die Bündelung der fast immer vorhandenen lokalen personellen und sächlichen Ressourcen. Eine der wichtigsten Aufgaben, die bei gutem Willen mit Erfolg angegangen werden kann und deren Bewältigung im Interesse aller beteiligten Seiten liegt, ist immer das Sprachproblem. Bei genauer Betrachtung lassen sich oft Lösungen erreichen, die im beiderseitigen Interesse liegen. Hierfür ist die Verpflegungsfrage ein gutes Beispiel. Wenn akzeptiert wird, dass die Ernährung von Menschen ein elementares Mittel zur Sicherung der persönlichen und familialen Integrität ist, dann finden sich leicht Wege, die spezifischen ethnischen Ernährungsgewohnheiten (zu weiteren Einzelheiten s. auch den Beitrag zur Ernährungsberatung in dieser Broschüre) ± sowohl innerhalb von Gemeinschaftsverpflegung als auch bei Einzelversorgung ± ausreichend zu berücksichtigen. Dies ist aus gesundheitlicher wie sozialer Sicht wünschenswert und keineswegs teurer als eine obligatorische Gemeinschaftsverpflegung nach deutschen 48


Rezepten. Wenn dies etabliert ist, erübrigt sich auch die Anforderung von amtsärztlichen Gutachten, die aus Unzufriedenheit mit einer nicht verträglichen Gemeinschaftsverpflegung notwendig werden. c Gutachterliche Stellungnahmen für die Kommune Bereits die genannte Verpflegungsfrage stellt ein Beispiel dafür dar, wie aus den Problemen, die in der Einzelbegutachtung vorgetragen werden, generelle Empfehlungen für die Kommune zu entwickeln sind. Dies soll nachfolgend beispielhaft erläutert werden, um dann den Zusammenhang zur lokalen Gesundheitsberichterstattung herzustellen. Ein groûes Problem stellt die Unterbringung von Zuwanderern in Gemeinschaftseinrichtungen dar, und zwar sowohl wegen der Kostenproblematik als auch der nicht immer vorhandenen Akzeptanz in der Bevölkerung. Viele Beschwerden von Betroffenen werden wieder über Einzelgutachten abgearbeitet, so vor allem über das Ansinnen, aus einer Gemeinschaftsunterkunft in eine Wohnung wechseln zu dürfen. Länder, die dauerhaft mit Zuwanderung konfrontiert sind, sollten unbedingt Standards für derartige Gemeinschaftsunterkünfte entwickeln, da hierdurch sowohl die Zufriedenheit der Bewohner deutlich steigt als auch Folgekosten durch Verwohnen drastisch gesenkt werden können. Bauart, Ausstattung und Organisation sollten so festgelegt sein, dass zum einen akzeptable Mindeststandards erreicht werden und zum anderen die Einrichtung vor Ort die notwendige Akzeptanz findet. Derartige Modelle sind aus hygienischen, humanitären, sozialen wie fiskalischen Gesichtspunkten heraus sinnvoll. Das Gesundheitsamt kann viel dazu beitragen, diese integrierte Sicht in der Kommune zu fördern. Die Wohnungsfrage ist ein herausgehobenes Beispiel für den Aufbau einer lokalen Gesundheitsberichterstattung (GBE), die migrationsspezifische Fragen ausreichend beleuchtet. Fachliche Stellungnahmen des Gesundheitsamtes zu Fragen der Ernährung, des Wohnens und der psychosozialen wie medizinischen Versorgung von Migrantenfamilien können flieûend in eine prozessorientierte GBE einflieûen und für den notwendigen langen Atem bei der Berücksichtigung der gesundheitlichen Belange der Migrantinnen und Migranten sorgen. Begonnen wurden eine solche GBE z.B: in der Stadt Nürnberg (s. Beitrag zur Gesundheitsberichterstattung in dieser Broschüre). Gelingt es, ein solches Konzept zum regulären Bestandteil der kommunalen Gesundheitspolitik zu machen, werden sich auch spezielle Angebote und Unterstützungssysteme (z. B. Dolmetscherdienste, Sprechstunden) auf die Dauer als vorteilhaft sowohl für die in der Kommune lebende deutsche Bevölkerung als auch für die Zuwanderinnen und Zuwanderer nicht nur als nötig sondern als hilfreich für beide Seiten erweisen. Ohne derartige Verständigungsmöglichkeiten entstehen nämlich oft erst die Konflikte, die weit häufiger als nötig ethnischen Unterschieden zugeschrieben werden.

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Literatur: Senator für Gesundheit, Jugend und Soziales (1993): Standards zur Unterbringung von Zuwanderern in Bremen. Collatz, Jürgen, Eckhardt Koch, Ramazan Salman, Wielant Machleidt (Hg.) (1997): Transkulturelle Begutachtung. Qualitätssicherung sozialgerichtlicher und sozialmedizinischer Begutachtung für Arbeitsmigranten in Deutschland, Verlag für Wissenschaft und Bildung Berlin Gesundheitsamt Bremen (Hg.) (1997): Asylum Seekers/ Refugees and Health in the Nineties. Bremen (Eigendruck) Schmacke, Norbert: Aufgabenfelder des öffentlichen Gesundheitsdienstes im Bereich Migration und Gesundheit. Vortrag bei der Expertentagung ¹Begutachtung im interkulturellen Feldª. Leibnizhaus Hannover 19. September 1997 (Tagungsband im Druck)

Dr. med. Nobert Schmacke Bundesverband der AOK Kortrjker Straûe 1 53177 Bonn Telefon: 02 28/8 43-3 28 Telefax: 02 28/8 43-7 24

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Die Erstuntersuchung nach § 62 Asylverfahrensgesetz ± Interkulturelle Öffnung der Gesundheitsversorgung für Asylsuchende und Kriegsflüchtlinge DR. ZAHRA MOHAMMADZADEH Einleitung Für Asylsuchende und Kriegsflüchtlinge in Deutschland sind der Gesundheitsversorgung durch eine restriktive Gesetzgebung enge Grenzen gesetzt. Ein im Juni 1993 eigens für diese Bevölkerungsgruppe erlassenes Bundesgesetz reduzierte die Versorgungsleistungen, abgesehen von einigen Regelungen für schwangere Frauen und Wöchnerinnen sowie Impfmaûnahmen, auf akute Erkrankungen und Schmerzzustände. Dieses Gesetz, das sogenannte Asylbewerberleistungsgesetz, wurde seither wiederholt überarbeitet, insgesamt mit dem Ziel weiterer Leistungsbeschränkungen und der Präzisierung und Ausweitung der Gruppe der Leistungsªberechtigtenª. Deren Berechtigung ist freilich gleichbedeutend mit dem Ausschluss von weitergehenden Ansprüchen nach der Regelversorgung beziehungsweise dem Bundessozialhilfegesetz. Auf der anderen Seite findet der seuchenhygienische Blickwinkel, unter dem die Gesundheit der Asylsuchenden und Kriegsflüchtlinge betrachtet wird, Ausdruck in einer Vorschrift des Asylverfahrensgesetzes. Ihr zufolge müssen sich ¹Ausländerª, die in Gemeinschaftsunterkünften wohnen, einer medizinischen Untersuchung auf Infektionskrankheiten unterziehen, wobei Art und Umfang dieser Untersuchung von der jeweils zuständigen obersten Landesbehörde bestimmt werden (vgl. § 62, AsylVfG). Für die meisten Zuwanderer, die heute nach Deutschland kommen, ist diese ¹Erstuntersuchungª in der Tat die erste Erfahrung mit der Gesundheitsversorgung ihres Aufnahmelandes. Die zugespitzte gesundheitliche Situation von Flüchtlingen Die Durchführungsverantwortung für die Erstuntersuchung liegt bei den Ländern. Dadurch ergibt sich für die jeweils zuständige Landesbehörde ein Spielraum, der im Sinne einer interkulturellen Öffnung der Gesundheitsversorgung für Asylsuchende und Flüchtlinge nutzbar ist. Zugleich wird hier die Relevanz sichtbar, die dieses besondere Betätigungsfeld der öffentlichen Gesundheitsdienste für die gesundheitlichen Fragen der Migranten allgemein haben kann. Flucht und Asylsuche sind besondere Formen von Migration, die in diesen Fällen in der Regel als eine erzwungene zu sehen ist. Entsprechend zugespitzt ist die gesundheitliche Problematik sowohl hinsichtlich der aus dem Herkunftsland mitgebrachten Faktoren wie der, die im Migrationsprozess selbst zu suchen sind. Und auch im Aufnahmeland treten manche gesundheitlich relevanten Probleme prägnanter zutage: Defizite des Unterkunftsstandards etwa, Ernährungsfragen, Sozialstatus, Arbeitssituation, Feindseligkeit des Umfelds, vor allem aber Zugangsbarrieren zu den Versorgungseinrichtungen, Schwierigkeiten der sprachlichen und kulturellen Kommunikation und transkulturelle Missverständnisse und Abwehrreaktionen. In dieser zugespitzten Situation sind gesundheitliche Probleme, die als migrationsspezifisch interpretiert werden können, besonders deutlich. Die Erstuntersuchung als migrantenspezifisches Gesundheitsprogramm Zwei Aspekte der Erstuntersuchung sind es, bei denen die Frage der interkulturellen Öffnung ausschlaggebend dafür ist, inwieweit das humanitäre Selbstverständnis der Aufnahmegesellschaft zum Tragen kommt. Der erste ist die Art der Durchführung der Untersuchung, selbst wenn diese sich auf den Minimalvorgang 51


des in der Betrachtungsweise des Infektionsschutzes unbedingt Notwendigen beschränkt. Der zweite Aspekt ist der Umfang der Untersuchung, mit dem über das bloû Vorgeschriebene hinausgegangen werden kann. Dabei kann nämlich der besonderen Situation der Flüchtlinge mit ihren unterschiedlichen Migrationserfahrungen, kulturellen Hintergründen, Herkunftszusammenhängen und gesundheitlichen und psychisch-sozialen Schädigungen Rechnung getragen werden. Auch wenn im Rahmen einer Erstuntersuchung nichts anderes möglich ist als den seuchenhygienischen Ansatz des § 62 AsylVfG zu erfüllen, sollten die damit verbundenen Maûnahmen wie Röntgen, Blutentnahme etc. auf eine Art und Weise vorgenommen werden, die der kulturell und sozial vielschichtigen Zusammensetzung des Klientel gerecht wird. Die unausbleiblichen Kommunikationsprobleme müssen minimiert werden. Viele der zu Untersuchenden haben unliebsame Erfahrungen mit Behörden und staatlichen Einrichtungen sowohl im Heimatland als auch in Durchgangsländern und schlieûlich im Aufnahmeland hinter sich und sehen sich nun erneut den VertreterInnen einer staatlichen Institution gegenüber, die sie ± im Vollzug der vorgeschriebenen Untersuchung ± einem Zwang aussetzen. Im Fall vergangener Erfahrungen von Folter oder sonst wie organisierter Gewalt kann eine Retraumatisierung eintreten. Aber selbst ohne dieses Extrem ist es allein mit der Bewältigung des Sprachproblems, wo immer nötig und möglich unter Hinzuziehung eines Dolmetschers, nicht getan. Ein Beispiel: wenn schon eine Röntgenaufnahme gemacht werden soll (und viele Erkenntnisse sprechen gegen die weitverbreitete Überzeugung, dies sei bei allen Asylsuchenden grundsätzlich erforderlich), dann müssen den Betroffenen die Risiken erklärt werden. Aber die Untersuchenden müssen auch den kulturell geprägten Einstellungen der Patienten Achtung entgegenbringen: ihrem Verständnis von Körper und Seele, ihren Schamgefühlen, ihrem Zeitbedarf. Sie müssen sich bemühen, die von den eigenen abweichenden gestischen und mimischen Ausdrucksformen, die Körpersprache der Zuwanderer richtig aufzufassen. Neben der Übersetzungskompetenz sollte also in der Erstuntersuchung auch ein gewisses Maû an Sachverstand in bezug auf die kulturellen Voraussetzungen der zu Untersuchenden walten. Wege in diese Richtung sind der Einsatz von qualifizierten Migranten ebenso wie regelmäûige Fortbildungen für das einheimische Personal. Die Erstuntersuchung kann aber auch viel mehr sein als eine reine Maûnahme des Infektionsschutzes, ganz abgesehen davon, dass angesichts der Unterbringungsverhältnisse in manchen Aufnahmezentren und der mangelnden Vorkehrungen des Asylbewerberleistungsgesetzes für Prävention Infektionsschutz eher für die Zuwanderer als für die einheimische Bevölkerung angezeigt scheint. Anders gesagt: die Erstuntersuchungen sollten von den bisher im Vordergrund stehenden seuchenhygienischen Aspekten mehr Distanz gewinnen und sich stattdessen einen vorsorgenden Charakter aneignen. Die Untersuchung sollte ganzheitlich sein, also den Versuch beinhalten, die körperliche und seelische Gesundheit des Flüchtlings zu erfassen. Neben diesem Check-up sollte besonders auf die typischen Gesundheitsprobleme der Flüchtlinge geachtet werden, zum Beispiel auf Traumata, posttraumatische Belastungsstörungen oder psychische Spätfolgen. Ebenso sollten andere Gesundheitsprobleme, die mit Krieg, organisierter Gewalt und Flucht zu tun haben, stärker Beachtung finden. Über solche diagnostischen Bemühungen hinaus kann dieser erste Kontakt zwischen den Zuwanderern und dem Gesundheitssystem genutzt werden, die Migranten mit den Einrichtungen und der Funktionsweise der Gesundheitsversorgung in Deutschland vertraut zu machen. Derartige Informationen können erheblich zur Integration beitragen und sind bei Asylsuchenden und Flüchtlingen ebenso not52


wendig wie bei den Aussiedlern, deren Gesundheitsproblematik ebenfalls immer stärker in den Blickpunkt rückt. Da das Asylverfahren sich in vielen Fällen über Monate hinzieht, bringt es für die Antragsteller in der Regel einen langen Aufenthalt in Massenunterkünften mit sich. Dasselbe gilt für Kriegsflüchtlinge und in bestimmtem Maûe für Aussiedler, die nach kürzeren Aufenthalten in Gemeinschaftsunterkünften häufig in Wohnblocks mit ghettoähnlichem Charakter eingewiesen werden. In solchen Konglomerationen leben dann Migranten aus den verschiedensten Schichten, städtischen oder ländlichen Herkunftszusammenhängen, mit unterschiedlichen Bildungsniveaus, kulturellen Hintergründen und Sprachen auf engstem Raum zusammen. Eûgewohnheiten verändern sich gezwungenermaûen. Die Hygiene- und allgemeinen Unterkunftsstandards sind eher unterdurchschnittlich. Die Erstuntersuchung sollte dieser Entwicklung vorgreifen und damit einer Bagatellisierung der Gesundheitsversorgung der Migranten entgegenwirken, die nicht pauschal, sondern differenziert und bedarfsgerecht gestaltet werden sollte. Für diesen Ansatz hat sich ein ärztliches Sprechstundenangebot an Ort und Stelle, also in der Unterkunft oder in dem Wohnviertel, wo die Menschen leben, besser bewährt als ein Screening. Auûer den im engeren Sinne medizinischen Elementen der Erstuntersuchung sollten gesundheitsfördernde Informationen über Hygiene, Ernährung, Sport, die Notwendigkeit von Impfungen, Prävention und spezifische Aufklärung über bestimmte Krankheitsrisiken wie AIDS und den Schutz davor eine groûe Rolle spielen. Mit Veranstaltungen und gezielten Beratungs- und Betreuungsangeboten kann die Sprechstunde vor Ort zusätzlich unterstützt werden. In Anbetracht der Vielfalt der gesundheitlichen und psychosozialen Probleme der Asylsuchenden und Flüchtlinge und angesichts der Vielzahl der Herkunftsländer wäre es unrealistisch, die interkulturelle Öffnung der Erstuntersuchung im Alleingang erreichen zu wollen, so wichtig und hilfreich auch das persönliche Engagement des ärztlichen, psychosozialen und pflegerischen Personals in den Aufnahme- und Beratungsstellen ist. Die Zwänge des Asylverfahrens, die durch das Asylbewerberleistungsgesetz verursachten Versorgungsdefizite und die allgemeine Ressourcenknappheit der öffentlichen Gesundheitsdienste verlangen den Aufbau von Netzwerken, in denen ± durch landes- oder sogar bundesweite Zusammenarbeit, Erfahrungsaustausch und gegenseitige Unterstützung ± viele der hier aufgezeigten Probleme einer Lösung näher gebracht werden können. Im dezentralen Bereich aber, also in der einzelnen Kommune, ist die Koordination der Aktivitäten der verschiedenen Partner unerlässlich. Oftmals mangelt es nicht an gutem Willen bei Versorgern, Behandelnden, Unterkunftsträgern usw., doch wird der positive Effekt durch Reibungsverluste oder Doppelung und Unkoordiniertheit der Maûnahmen eingeschränkt. Interkulturelle Öffnung heiût schlieûlich auch, bestimmten Teilgruppen der Migrantenbevölkerung besondere Beachtung zu schenken, die einer spezifischen Problematik unterworfen sind. Hierzu gehören zum Beispiel die Frauen, die beispielsweise in vielen Kulturen nicht gewöhnt sind, ihre Gesundheitsprobleme mit einem fremden Arzt zu besprechen. Gerade unter den Flüchtlingen sind viele Frauen, die durch die Bedingungen im Aufnahmeland besonders isoliert und noch stärkeren Kommunikationsbarrieren ausgesetzt sind als die Männer. Hierzu gehören auch die unbegleiteten Jugendlichen, die in der Flüchtlingsbevölkerung eine Randgruppe darstellen. Die älteren Patientinnen und Patienten spielen bei den Asylsuchenden eine geringere Rolle, sind aber unter den Kriegsflüchtlingen und Aussiedlern stark vertreten. Auch Folteropfer, Opfer organisierter Gewalt oder durch Kriegserlebnisse Traumatisierte bilden eine Gruppe mit spezifischer Problematik, deren Behandlung 53


Qualifikationen voraussetzt, die bei dem untersuchenden Personal meist nicht erwartet werden können. In vielen Fluchtländern bedeutet für Frauen eine Festnahme oder selbst kurzfristige Haft so gut wie zwangsläufig, dass sie vergewaltigt werden. Und schlieûlich muss auf eine Gruppe hingewiesen werden, die in einer Zeit schärfer werdender Asylpolitik und damit zurückgehender Asylantragszahlen unweigerlich wächst: die der undokumentierten Zuwanderer, der sogenannten ¹Illegalenª, für die es bisher aufgrund der Rechtslage überhaupt keine Versorgung gibt. Werden die hier in Knappheit dargestellten Faktoren berücksichtigt und eine interkulturelle Öffnung angestrebt, dann besteht eine gute Chance, dass aus der Erstuntersuchung nach § 62 Asylverfahrensgesetz ein regelrechtes Gesundheitsprogramm für Zuwanderer wird. Ein Beispiel ist das Bremer Gesundheitsprogramm für Asylsuchende und Kriegsflüchtlinge, das seit Juni 1993 vom öffentlichen Gesundheitsdienst der Hansestadt betrieben wird. Das Bremer Modell Während in den meisten Bundesländern seit Erlass des Asylverfahrensgesetzes Screening-Untersuchungen nach einem festen Schema stattfinden, zeichnet sich das Bremer Modell durch die Freiwilligkeit der ärztlichen Untersuchung aus. Gleichwohl konnten durch planvolle Information und Präsenz der im Programm eingesetzten ¾rzte Akzeptanzraten bis zu 80 Prozent erzielt werden. Dabei wird sowohl eine Erst- und Sofortbehandlung als auch möglichst die Weiterbetreuung in Sprechstunden in den Unterkünften umgesetzt. Wo dies nicht möglich ist, werden die Patienten zu weiteren diagnostischen bzw. erforderlichen therapeutischen Maûnahmen gezielt an niedergelassene ¾rzte überwiesen. Rückmeldungen stellen sicher, dass der Verlauf der Krankheit verfolgt und auf notwendige Nachsorge geachtet werden kann. Sowohl in Erst-, als auch in Folgeunterkünften hat die regelmäûige Anwesenheit der ¾rzte dafür gesorgt, dass sich in der Regel ein hausarztähnliches Vertrauensverhältnis entwickeln konnte. Da der ärztliche Einsatz im Rahmen eines eigenen Sachgebietes des Gesundheitsamtes koordiniert wird, konnte sich auch mit der Auûenstelle des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge, mit den Sozialbehörden, den Unterkunftsträgern und dem Heimpersonal sowie mit anderen beteiligten Dienststellen eine kontinuierliche und verlässliche Zusammenarbeit herausbilden. Dadurch konnte auf den Umgang mit gesundheitlich relevanten Problemen der Unterkünfte, der Ernährung, des Klimas in den Heimen usw. Einfluss genommen werden. Das Gesundheitsprogramm ergriff damit die Möglichkeit, aus der Sprechstunde in den Unterkünften heraus zur Abdeckung weiterer gesundheitsrelevanter Versorgungsprobleme und aktueller Bedarfe beizutragen, z. B. in den Bereichen Hygiene der Personen und des Umfeldes, Information zur Gesundheitsförderung durch Bewegung, Sport, Schwangerschaftsgymnastik etc., bei Ernährungsfragen Beratung bis Anleitung insbesondere für alleinstehende Männer bzw. bei Müttern im Hinblick auf die Ernährung der Kinder, sowie individuelle Beratung in Familienfragen. Den Unterkunftsträgern kommt diese beratende Funktion entgegen, weil sie zur Verringerung gesundheitlicher und (psycho-)sozialer Problemquellen beisteuert. Die mit dem Untersuchungsprogramm gemachten Erfahrungen erwiesen sich zudem als nützlich für zahlreiche andere Fragen, die hinsichtlich der Gesundheitsversorgung von Zuwanderern immer wieder auftreten. So arbeitet das Sachgebiet heute intensiv mit anderen Einrichtungen des öGD in Bremen zusammen, nimmt an gemeinsamen Projekten der Gesundheitsinformation und ± förderung teil und fungiert als Beratungsstelle zu Fragen von Migration und Gesundheit sowohl gegenüber den verschiedenen Ebenen der Gesundheitsversorgung als auch gegenüber Zuwanderern, die nicht mehr in Gemeinschaftsunterkünften leben. Der Bedarf dazu hatte sich im Hinblick auf die ausländischen Zuwande54


rer innerhalb des Klientels der verschiedenen Einrichtungen und Abteilungen des öffentlichen Gesundheitsdienstes der Hansestadt sowie insbesondere im Bereich der Aussiedler seit einiger Zeit geltend gemacht. Es wird im Zusammenhang mit der Rolle des öffentlichen Gesundheitsdienstes manchmal eingewandt, durch die Übernahme von Versorgungsmaûnahmen zu Herausbildung einer ¹Zweiklassenmedizinª beizutragen. Allerdings kann dem entgegengehalten werden, dass eine Art von Zweiklassenmedizin bereits mit der Festschreibung eines gegenüber der Regelversorgung stark abfallenden Leistungsniveaus durch die einschlägigen Gesetzesvorschriften geschaffen wird. So verstanden, wirkt der Einsatz des öGD dem befürchteten Effekt ja gerade entgegen. Inzwischen ist das Sachgebiet Medizinische Untersuchung und Betreuung von Zuwanderern in der Lage, flexibel je nach Bedarf und in Abstimmung und Zusammenarbeit mit den einzelnen Abteilungen des Gesundheitsamtes gezielt auf bestimmte gesundheitliche Versorgungsbedürfnisse des Personenkreises der Zuwanderer auch innerhalb anderer Problemgruppen einzugehen. Solche Maûnahmen wurden projekthaft beispielsweise in den Bereichen HIV/AIDS, STD und TBC durchgeführt. Das Untersuchungsprogramm, in dem bisher sowohl deutsche als auch ausländische ¾rzte eingesetzt wurden, wird kontinuierlich ausgewertet und ist Bestandteil der Landesgesundheitsberichterstattung. Für den Zeitraum 1996 und 1997 beispielsweise wurden 3051 durchgeführte Untersuchungen registriert. In 2368 der Untersuchungen (77,6%) wurde abschlieûend diagnostiziert und behandelt. Nur in 794 Untersuchungen (26,0%) kam es zur Überweisung, davon in lediglich 526 Untersuchungen (17,2 %) Überweisungen an niedergelassene (Fach-)¾rzte. Mit solchen Zahlen stellt das Programm unter Beweis, dass über den Aspekt der Erkennung und Eingrenzung von Infektionskrankheiten hinausgehend durch interkulturelle Öffnung und eine ganzheitlich orientierte Basisversorgung nicht nur die Bedürfnisse der Asylsuchenden und Kriegsflüchtlinge stärker berücksichtigt, sondern auch unnötige Behandlungskosten bei niedergelassenen ¾rzten vermieden werden können ± ein angesichts der knappen Ressourcen im Sozial- und Gesundheitsbereich wichtiges Argument zur Absicherung dieses Modells.

Literatur: Mohammadzadeh, Zahra (1993): Die gesundheitliche Lage und Versorgung der Flüchtlinge in Bremen, Verlag für Interkulturelle Kommunikation Gesundheitsamt Bremen (Hg.) (1997): Asylum Seekers/ Refugees and Health in the Nineties. Bremen (Eigendruck)

Dr. Zahra Mohammadzadeh Sachgebiet Medizinische Untersuchung und Betreuung von Zuwanderern Gesundheitsamt Bremen Horner Straûe 60/70 28203 Bremen Telefon: 04 21/3 611 59 28 Telefax: 04 21/3 611 55 54

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Infektionsschutz DR. MED. MARGARETHE PETERS Zielgruppen des Infektionsschutzes Zielgruppe des Infektionsschutzes ist die Allgemeinbevölkerung. Im Rahmen dieser Aufgabe, die dem Gesundheitsamt zufällt, werden z. B. Beschäftigte in Gemeinschaftseinrichtungen wie z. B. in Altenpflegeheimen und Krankenhäusern und im Lebensmittelbereich entsprechenden Untersuchungen unterzogen. Es werden aber auch ± als Beispiel für primäre Prävention ± Impfkampagnen durchgeführt. Eine groûe Bedeutung hat der Infektionsschutz in Bezug auf HIV/AIDS und STD (sexual transmitted diseases), wobei insbesondere Gruppen mit Risikoverhalten angesprochen werden sollen. Hierunter fallen Drogenabhängige und drogengebrauchende Beschaffungsprostituierte, Prostituierte mit entsprechendem Risikoverhalten (Kondombenutzung!), Stricher, obdachlose Jugendliche und Kunden von Prostituierten beiderlei Geschlechts. Unter diesen Gruppen gibt es auch einen bestimmten Anteil von Migrantinnen und Migranten, der von Stadt zu Stadt und zwischen Ballungsräumen und ländlichen Gebieten erheblich variieren dürfte. Ziele des Infektionsschutzes Ziel der Untersuchungs- und Beratungsstellen ist die Senkung der Erkrankungsund Infektionsraten. Neben der Aufklärung aller Bürgerinnen und Bürger zur Verhütung von Infektionskrankheiten muss den oben genannten Gruppen mit Risikoverhalten besondere Aufmerksamkeit zuteil werden. Hierzu werden insbesondere in den Bereichen HIV/ AIDS und STD, Impfschutz und Tuberkulose Beratungs- und Untersuchungsangebote gemacht. Gefährdung von Migrantinnen und Migranten bei STD Für Gesundheitsämter wichtige Bereiche des Infektionsschutzes stellen STD dar. Je nach Bundesland ± und je nach Interpretation des immer noch gültigen Geschlechtskrankheitengesetzes aus dem Jahre 1953 ± werden in Gesundheitsämtern freiwillige oder zwangsweise angeordnete Untersuchungen bei Prostituierten durchgeführt. Die entsprechenden Vorschriften gelten auch für Migrantinnen und Migranten. Es wurde lange Zeit angenommen, dass Migranten in erheblichem Maûe Infektionen übertrügen. Dementsprechend stand die Kontrollfunktion der Untersuchungen bei diesen Gruppen im Vordergrund. Diese Sichtweise hat sich gerade bei STDSprechstunden stark gewandelt. Prostituierten, ob deutscher oder ausländischer Herkunft, werden heute Untersuchungen angeboten, bei denen ihre Gesunderhaltung ein wichtiges Motiv ist. Die oft schwierige Lebenssituation mit eingeschränkter sozialer Sicherheit von Prostituierten wird gesehen und die Untersuchungsangebote ihren Bedürfnissen entsprechend organisiert. Dem kann in vielerlei Weise Rechnung getragen werden, so z. B. bei den Öffnungszeiten der Sprechstunden am Nachmittag bis in den Abend (z. B in der Beratungsstelle für STD im Gesundheitsamt Berlin Schöneberg), hinsichtlich migrationssensibler Angebote mit Einsatz von Sprach- und Kulturmittlern (z. B. bei der Zentralen Beratungsstelle für sexuell übertragbare Erkrankungen in Hamburg) oder bei Angeboten, die mit Hilfe von peer-educatorn ihren Bekanntheitsgrad steigern (Gesundheitsamt Köln). Diese Maûnahmen führen i. d. R. zu einer verstärkten Inanspruchnahme der Unter57


suchungen durch Migrantinnen und Migranten mit unterschiedlichstem Aufenthaltsstatus. Neben den Migrantinnen, die diese Untersuchungen aufsuchen, dürfte es Gruppen geben, die von diesen Angeboten keinen Gebrauch machen und einige, die über die Angebote nicht informiert sind. Dies dürfte in besonderem Maûe für Frauen und Männer gelten, die sich illegal aufhalten, z. T. durch Menschenhandel nach Deutschland gebracht worden sind, um hier der Prostitution nachzugehen; es dürfte auch für Gruppen gelten, die aufgrund hoher Mobilität nicht nur innerhalb Deutschlands, sondern auch grenzüberschreitend ihren Aufenthaltsort wechseln. Frankfurt am Main weist als Messestadt und Finanzmetropole mit einem internationalen Flughafen einen überproportionalen Anteil hochmobiler Bevölkerungsgruppen auf. Diese hohe Mobilität einerseits, sprachliche und kulturelle Unterschiede andererseits erschweren es erheblich, effektive Präventionsstrategien zu entwickeln und durchzusetzen. Unter den in Frankfurt am Main tätigen weiblichen Prostituierten liegt der Anteil an Migrantinnen schätzungsweise bei über 70 %. Juristische, z. B. ungeklärter Aufenthaltsstatus, und ökonomische Bedingungen, z. B. hohe Verschuldung und hohe Zimmermieten, wirken sich für Sexarbeiterinnen erschwerend auf die Möglichkeiten aus, die Beziehungen zu den Kunden selbstbestimmend ± unter Beachtung der eigenen Gesundheit ± zu gestalten. Teilweise kommen mangelndes Wissen über Übertragungswege von und Schutzmaûnahmen zu sexuell übertragbaren Infektionen hinzu. Präventionsstrategien für Freier fehlen i. d. R. weitgehend. Sie sind eine nicht zu unterschätzende Ursache für die Verbreitung sexuell übertragbarer Krankheiten, wenn sie innerhalb Deutschlands oder im grenzüberschreitenden Raum ± gerade zu den osteuropäischen Ländern hin -, oft wenig professionell arbeitende Prostituierte aufsuchen und sexuelle Praktiken fordern, die ein hohes Infektionsrisiko bergen. Gesetzliche Rahmenbedingungen Gesetzliche Grundlage für die Aufgabe des Gesundheitsamts ist neben dem o. g. Gesetz zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten vom 23. Juli 1953, das Bundes-Seuchengesetz aus dem Jahre 1961 mit zahlreichen ¾nderungsgesetzen. Neben der Erfassung der Infektionskrankheiten besteht der gesetzliche Auftrag in der Ermittlung von Art, Ursache, Ansteckungsquelle und Ausbreitung der Krankheit. In der Tuberkulosefürsorgestelle des Gesundheitsamtes werden Tuberkulosekranke und Kontaktpersonen überwacht, aber auch informiert, beraten und betreut. So sind es nicht nur röntgenologische, serologische oder bakteriologische Untersuchungen, die hier anfallen. In Einzelfällen ist es erforderlich, auch eine Heilbehandlung von Tuberkulosekranken über das Gesundheitsamt anzubieten: So z. B. bei Menschen mit ungeklärtem Aufenthaltsstatus (und damit ungeklärter Kostenübernahme). Auf diese Weise konnten in Frankfurt am Main durch pragmatische Vorgehen (Behandlung durch einen Arzt des Gesundheitsamtes und damit lediglich Kostenübernahme der Medikamente) in den letzten Jahren mehrere Personen erfolgreich behandelt werden, bis z. B. eine anderweitige Kostenübernahme (Sozialamt nach Asylbewerberleistungsgesetz) erfolgen konnte. Die Übernahme dieser neuen Aufgabe ist zugleich als ein Vorgriff auf das Geplante Infektionsschutzgesetz zu sehen, das als Folgegesetz das Bundes-Seuchengesetz und auch das Geschlechtskrankengesetz ablösen wird. Im Entwurf des Infektions58


schutzgesetzes sind besondere Aufgaben für das Gesundheitsamt vorgesehen, die eine Behandlung sowohl für Tuberkulose als auch bei STDs im Gesetz festschreiben. Die Meldepflicht der vier Geschlechtskrankheiten Syphilis, Gonorrhoe, weicher Schanker und der venerischen Lymphknotenentzündung ist in dem Gesetz zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten vom 23. Juli 1953 festgelegt, wobei eine epidemiologische Bedeutung nur noch Syphilis und Gonorrhoe haben. Im Rahmen der Bekämpfung und Verhütung von sexuell übertragbaren Krankheiten verfügen die Gesundheitsämter in der Regel über eine Untersuchungs- und Beratungsstelle für sexuell übertragbare Erkrankungen sowie über eine AIDS-Beratungsstelle. Schlüsselfragen für die Angebotsgestaltung im Gesundheitsamt Im Bereich des Infektionsschutzes stellen sich bei der Planung, Durchführung und Weiterentwicklung von Angeboten für Migrantinnen und Migranten neben spezifischen auch Schlüsselfragen, die sich auch in anderen Leistungsbereichen des Gesundheitsamt ergeben. Welchen politischen, wirtschaftlichen und rechtlichen Veränderungen ist die Lage der migrierten Prostituierten je nach Herkunftsland unterworfen? Wie werden kulturspezifische Angebote in der STD- und AIDS-Prävention konzipiert und umgesetzt? Welche bereits existierenden Angebote können als Vorbild dienen? Auf welche Ressourcen kann dazu im Gesundheitsamt zurückgegriffen werden? Wie können niedrigschwellige Angebote gerade für die Schwächeren am Sexmarkt geschaffen werden? Wie kann die Erreichbarkeit der Klientel des Zuständigkeitsbereiches unter Berücksichtigung der ethnischen Zugehörigkeit, des Geschlechts, des legalen oder illegalen Status sichergestellt werden? Besteht die Möglichkeit, bei der Untersuchung Dolmetscher einzusetzen? Was ist bei der Arbeit mit Dolmetschern zu beachten? Können Mediatoren, d. h. Experten und Laien verschiedener kultureller Herkunft oder Medien bei der Konzeption und Durchführung der Arbeit behilflich sein? Mit welchen Institutionen vor Ort kann die Arbeit im Gesundheitsamt vernetzt werden? In Frankfurt am Main haben sich Kontakte zur Selbsthilfe-Kontaktstelle, KISS, zum AK Migration und psychische Gesundheit, zu Selbsthilfegruppen und den psychosozialen Beratungsstellen der freien Träger als sehr förderlich erwiesen. Ausgestaltung der STD-Sprechstunde in Frankfurt am Main als Untersuchungs- und Beratungsstelle des Gesundheitsamtes Als niedrigschwellige Migrantenanlaufstelle arbeitet die Untersuchungs- und Beratungsstelle anonym und kostenlos. Sie steht grundsätzlich allen Bürgerinnen und Bürgern offen, wird jedoch hauptsächlich von Sexarbeiterinnen in Anspruch genommen. Eine wichtige Zielgruppe sind Migranten und Migrantinnen, die keinen Zugang zu kulturell und sprachlich angepasster Information haben. 59


Schwerpunkte der Tätigkeit sind: c Primärprävention i.S. einer gezielten Information durch schriftliche Materialien (mehrsprachig), Multiplikatorenarbeit und insbesondere durch aufsuchende Gesundheits- und Sozialberatung (Streetwork) vor Ort in den Bordellen c Sekundär- und Tertiärprävention durch kostenlose und anonyme Beratung, Untersuchung (medizinische ±Diagnostik) und Teilweise auch Therapie aller wichtigen STDs- nicht nur der klassischen Geschlechtskrankheiten i.S. des Geschlechtskrankheitengesetzes c Krisenintervention in gesundheitlichen oder psychosozialen Notlagen, z. B. Operationsindikation, unerwünschte Schwangerschaften c Gewinnung epidemiologischer Daten c enge Kooperation und Vernetzung mit anderen Institutionen und Selbsthilfegruppen wie agisra, pro familia, frühere HWG oder AIDS-Hilfe. Personell ist die Untersuchungsstelle mit zwei ¾rztinnen, einer Sozialarbeiterin, zwei SMAs sowie Dolmetscherin mit Honorarvertrag besetzt. Neben fremdsprachigem Personal wird besonderer Wert auch auf sprachliche Fortbildung der ¾rztinnen und Sozialarbeiterin gelegt, so dass mittlerweile sowohl ärztlicherseits als auch sozialberaterisch eine Verständigung in spanischer Sprache mit den Patientinnen aus Lateinamerika (gröûter Migrantenanteil) ohne Dolmetscherin möglich ist. Die Notwendigkeit eine solchen Untersuchungs- und Beratungsangebots wird durch die dramatische gesundheitliche Situation der (vorwiegend) Patientinnen belegt: So kann nur in 1/3 aller Untersuchungen ein unauffälliger Befund erhoben werden. In einem weiteren Drittel aller Untersuchungen wird eine sexuell übertragbare Erkrankung festgestellt, wobei der Anteil der heute nach GK-Gesetz meldepflichtigen Erkrankungen sich im Bereich von 1-2 % bewegt, d. h. die nach derzeitigem GKGesetz meldepflichtigen Krankheiten spielen kaum eine Rolle. Häufig sind Mehrfachdiagnosen zu verzeichnen, wobei zunehmend auch psychosoziale Probleme geäuûert werden, wodurch die Notwendigkeit einer psychosozialen Beratung und Betreuung zusätzlich zum medizinischen Angebot belegt wird. Zusammenfassend lassen sich für die STD-Stelle des Gesundheitsamtes folgende Forderungen aufstellen: c Anonymität als einige Möglichkeit für immigrierte Sexarbeiterinnen ohne Pass, ärztlich behandelt zu werden, ohne das Risiko einer Abschiebung einzugehen. Ohne Vertrauen ± ohne Angst vor Polizei- ist ein vernünftiger Arzt/Patient/inKontakt nicht möglich ¾rztliche Schweigepflicht hat Vorrang gegenüber anderen gesetzlichen Bestimmungen (Ausländerrecht) c Kostenfreiheit als wesentliche Motivation zu Untersuchungen zu kommen, auch schon bei geringen Beschwerden und zur eigenen gesundheitlichen Vorsorge 60


c Freiwilligkeit Gegen Routinepflichtuntersuchungen (Zwangsuntersuchungen) spricht: ± Professionelle Sexarbeiter haben nicht zwangsläufig ein höheres Risiko für STD. ± Prostituierte mit ungesichertem Aufenthaltsstatus werden bei Zwangsuntersuchungen und Registrierung nicht erreicht ± falsche Sicherheit für freier (Kondome) ± hohe Akzeptanz freiwilliger, niedrigschwelliger Untersuchungs- und Beratungsangebote c Überwinden von Sprach- und Kulturbarrieren durch Dolmetscher und fremdsprachiges eigenes Personal. Letztlich: Orientierung all unserer Handlungen ausschlieûlich am Wohl, an der Gesundheit unserer Patienten.

Dr. med. Margarethe Peters Leitende Amtsärztin Stadtgesundheitsamt Frankfurt am Main Braubachstraûe 18-22 60311 Frankfurt am Main Telefon: 0 69/2 12-3 36 20 Telefax: 0 69/2 12-3 78 91

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Prävention von sexuell übertragbaren Krankheiten bei thailändischen Prostituierten JOHANNA MARIE KÖRBER Das Landesgesundheitsamt hat in Zusammenarbeit mit dem Landratsamt Esslingen/ Gesundheitsamt ein Projekt zur Prävention von sexuell übertragbaren Krankheiten bei thailändischen Prostituierten durchgeführt. Eine interkulturell kompetente Thailänderin wurde als Mediatorin zwischen den Mitarbeiterinnen des Gesundheitsamtes und den Frauen eingeschaltet. Dadurch war es möglich, die im Kreis Esslingen der Prostitution nachgehenden Thailänderinnen in ihrer Muttersprache über die Gefahren von sexuell übertragbaren Krankheiten und die Möglichkeiten zu deren Verhütung zu informieren und ± wenn auch sehr eingeschränkt ± einen Einblick in die soziale Situation dieser Frauen zu gewinnen. Die STD-Beratungsstelle im Gesundheitsamt des Landkreises Esslingen Das Gesundheitsamt bietet an zwei Vormittagen pro Woche Sprechstunden für Prostituierte an. Monatlich werden ca. 70 Frauen betreut. Ca. 15 Prostituierte wohnen ständig im Landkreis Esslingen. Die anderen sind sogenannte Terminfrauen. Sie gehen nur kurzfristig ± meist eine Woche ± im Landkreis der Prostitution nach. Danach reisen sie in andere Gebiete, kommen jedoch nach drei bis vier Monaten wieder, um ihre Dienste anzubieten. Die Sprechstunde wird von einer ¾rztin und einer Sozialarbeiterin abgehalten. Die Arbeit der STD-Beratungsstelle fuût auf drei Säulen: c Seuchenhygienische Untersuchungen: Gonorrhoe, Lues, Chlamydien, Gardnerella, Hepatitis B und C sowie HIV. c Hygienische Beratung: z. B. Safer Sex, übertragbare Krankheiten, Impfungen, Verhütung c Psychosoziale Beratung: z. B. persönliche Hilfen, wirtschaftliche Hilfen, Hilfen zur Reintegration, Schuldnerberatung, Hilfen zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten 1998 wurden in der STD-Beratungsstelle des Gesundheitsamts Esslingen 1.500 Untersuchungen bei 330 Frauen durchgeführt, wobei 157 Frauen aus Deutschland und 173 aus dem Ausland stammten. Von den Migrantinnen kamen c 51 % aus Thailand c 7 % aus Ghana c 6 % aus Kolumbien c 3 % aus der Dominikanischen Republik c der Rest verteilt sich auf andere Länder. Schwierigkeiten von Prostituierten ausländischer Herkunft Wie alle Migrantinnen haben auch Prostituierte aus dem Ausland mit den sprachlichen, kulturbedingten und rechtlichen Barrieren zu kämpfen. Darüber hinaus leben sie in der Regel in Abhängigkeitsverhältnissen, sind nicht selten Analphabetinnen und meist über sexuell übertragbare Krankheiten und die Möglichkeiten, sich davor zu schützen, überhaupt nicht informiert. 63


Projektbeschreibung Zielgruppe und Ziele Da der überwiegende Teil der Prostituierten im Landkreis Esslingen aus Thailand stammt, wurde für diese Zielgruppe ein Projekt konzipiert, dessen Hauptziel die Prävention von sexuell übertragbaren Krankheiten ist. Einsatz einer in beiden Kulturen bewanderten und sprachversierten Medatorin Die ursprüngliche Idee, eine ¾rztin oder wenigstens eine in einem anderen Gesundheitsfachberuf ausgebildete Frau thailändischer Herkunft für die Aufgabe zu gewinnen, konnte nicht verwirklicht werden. Schlieûlich wurde eine Thailänderin gefunden, die sprachlich hoch qualifiziert ist und sowohl die deutsche als auch die thailändische Kultur gut kennt. Sie erhielt eine ausführliche Einführung über sexuell übertragbare Erkrankungen und deren Verhütung sowie über die sozialen Themen, die im Gesundheitsamt Gegenstand der Beratung von Prostituierten sind. Ausführliche Unterlagen ± teilweise in thailändischer Sprache ± wurden zur Verfügung gestellt. Rahmenbedingungen Die Mediatorin war zehn Wochen lang einmal wöchentlich während der gesamten Sprechstunde für Prostituierte im Gesundheitsamt. Maûnahmen c Vermittlung von Informationen durch persönliche Gespräche einzeln und in Gruppen: Jeder Thailänderin, die in die STD-Beratung kam, wurde die Möglichkeit angeboten, sich mit der muttersprachlichen Mediatorin zu unterhalten. Zunächst wurde ein Gespräch zwischen der Mediatorin und der Prostituierten ohne Mitarbeiterin des Gesundheitsamts ermöglicht, damit eine Vertrauensbasis geschaffen werden konnte. Die Mediatorin hatte jederzeit die Option, eine Mitarbeiterin des Gesundheitsamts zum Gespräch hinzuzuziehen, wenn Fragen auftauchten, die ärztliche oder sozialberaterische Kompetenz erforderten. Nach einigen Sprechstunden wurde darauf hingewirkt, dass sich mehrere Frauen gemeinsam bei der Mediatorin trafen und zusammen mit einer ¾rztin des Gesundheitsamts über Möglichkeiten der Prävention von sexuell übertragbaren Krankheiten sprachen bzw. zusammen mit einer Sozialarbeiterin Fragen aus dem Sozialbereich klärten. Daneben konnte die ¾rztin nach der medizinischen Untersuchung das Ergebnis mit Hilfe der Mediatorin an die Patientin weitergeben, wenn diese das wünschte. Genauso hatte die Sozialarbeiterin die Möglichkeit, einzeln mit einer Thailänderin und der Moderatorin Sachverhalte aus dem Sozialbereich zu klären. c Vermittlung von Informationen über Info-Blätter: Es gibt zwar bereits Broschüren über sexuell übertragbare Krankheiten in thailändischer Sprache. Diese sind jedoch sehr umfangreich und werden erfahrungsgemäû von den Frauen nicht gelesen. Daher wurde ein Info-Blatt entwickelt, das die wichtigsten sexuell übertragbaren Krankheiten in wenigen Sätzen beschreibt und auf Präventionsmöglichkeiten hinweist. Dieses Info-Blatt liegt nun in thailändischer Sprache vor. c Vermittlung von Diagnosen: Die Diagnosen Lues, Gonorrhoe, Hepatitis B und C sowie HIV müssen schriftlich mitgeteilt werden, weil es einige Tage dauert, bis die Ergebnisse aus dem Labor vorliegen. Diese Schreiben enthalten neben der Diagnose u. a. auch Hinweise auf Ansteckungsgefahren und die Aufforderung, sofort mit dem Gesundheitsamt Kontakt aufzunehmen. Alle diese Schreiben wurden übersetzt und damit gewährleistet, dass die Empfängerin die Nachricht verstehen kann. 64


c Durchführung von Impfungen gegen Hepatitis B bzw. gegen Hepatitis A und B. In Baden-Württemberg wird Prostituierten eine Impfung gegen Hepatitis B bzw. gegen Hepatitis A und B gegen Auslagenersatz angeboten. Dies setzt eine umfassende Aufklärung voraus. Diese Aufklärung wurde mündlich und schriftlich in thailändischer Sprache gegeben; die notwendige schriftliche Einverständniserklärung wurde ebenfalls in thailändischer Sprache abgefasst. Ergebnisse Es wurden insgesamt 51 thailändische Prostituierte erreicht. Das Interesse am Thema sexuell übertragbare Krankheiten und deren Verhütung war groû. Die Vermutung, dass darüber kaum Kenntnisse vorhanden sind, hat sich bestätigt. Es ist wichtig, kurze prägnante Erläuterungen zu geben, weil die Frauen sonst sehr schnell abschalten. Positiv war, dass die Frauen auch gegenüber der Mediatorin im Einzelgespräch immer wieder betonten, dass sie Kondome benützen würden. Die Werbung für Kondome durch alle Mitarbeiterinnen der STD-Beratungsstelle scheint demnach trotz mangelhafter Sprachkenntnisse ¹angekommenª zu sein. Darüber hinaus steigt die Arbeitszufriedenheit der Mitarbeiterinnen des Gesundheitsamts, wenn gewährleistet ist, dass ihre Botschaften auch ankommen. Insbesondere bei der infektiösen Hepatitis B und bei HIV-Infektionen ist es eminent wichtig, dass sich die Prostituierte an die Anweisungen des Gesundheitsamtes hält. Über die soziale Situation der Thailänderinnen konnte auch in diesem Projekt nur wenig in Erfahrung gebracht werden. Die meisten Frauen sind mit deutschen Männern verheiratet, leben häufig jedoch mit anderen Männern zusammen, die offensichtlich auch von den Einkünften der Frau leben. Auffällig ist ± vor allem bei Terminfrauen ± dass diese betonen, frei entscheiden zu können, auf der anderen Seite häufig die Städte wechseln ¹müssenª. Insgesamt ist es sehr schwierig, die psychosoziale Situation der Frauen aus Thailand zu beurteilen. Einige Problemlagen wurden jedoch wiederholt festgestellt: Schwierigkeiten wegen Scheidung; ausländerrechtliche Fragen; Doppelleben, d. h. die Familie in Thailand weiû nicht über die tatsächliche Tätigkeit der Frau in Deutschland Bescheid; Spielsucht und dadurch Verschuldung und steigende Abhängigkeiten der Frauen.

Johanna Marie Körber Landesgesundheitsamt Baden-Württemberg Hoppenlaustraûe 7 70174 Stuttgart Telefon: 07 11/18 49-3 18 Telefax: 07 11/18 49-3 25

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Primärprävention von HIV/AIDS für MigrantInnen im Landkreis Hildesheim* BIRGIT KRAUSS & ULRICH WÖHLER 1. Zur Zuordnung der Aufgabe 1991/92 wurde im Gesundheitsamt des Landkreises Hildesheim (heute: Fachbereich Jugend, Gesundheit und Soziales) eine neue Organisationseinheit gebildet: der Fachdienst für Gesundheitsförderung, Beratung & Betreuung. In diesem Fachdienst wurden gesundheitliche Aufgaben mit rein dienstleistendem Charakter zusammengefasst. Für die gesundheitsfördernde Arbeit wurde ein Motto gewählt und ein farbiges Logo entwickelt:

o Miteinander o Lebenswelten o lebenswert gestalten. o Sich wohlfühlen können o heute und morgen.

Hierin sind die Zielsetzungen der eigenen Arbeit ebenso enthalten, wie die fünf Handlungsebenen, die die WHO 1986 in der Ottawa-Charta zur Gesundheitsförderung festgeschriebenen hat. Der Fachdienst bietet den BürgerInnen und Institutionen aus dem Landkreis: Information und Informationsmaterialien, Individualberatung, qualifizierte Vermittlung zu anderen AnbieterInnen, Projekt- und Organisationsberatung, Kooperation, Moderation und übernimmt Koordinierungsaufgaben. Als ¹festeª Angebote werden aktuell die AIDS-Beratung und AIDS-Prävention sowie die Aufgaben nach dem Betreuungsrecht wahrgenommen. Bei der Wahrnehmung aller Aufgaben gelten die in folgender Abbildung aufgeführten Maximen und Leitlinien.

* leicht gekürzter Beitrag aus: Deutsche AIDS-Hilfe (Hg.): Handbuch Migration. Berlin 1998. Weiterverwendung nur unter Beachtung des Copyrights.

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Die 12 ¹goldenenª Prinzipien und Maximen für angemessene, effektive und effiziente Gesundheitsarbeit 1.

Anlässe: Feststellungen von Problemen, Bedarfen, Nachfragen im Zuständigkeitsgebiet; Aufträge

2.

Gesundheitsberichterstattung: Ist-Bestandsaufnahmen, Situationsbeschreibung ¼

3.

Analyse und Bedarfsermittlung: Defizite, Schwachstellen, Bedarfe, Zielsetzungen ¼

4.

Modernes Management: bedarfsorientierte Handlungskonzepte erarbeiten, Planung und Organisation der Umsetzung

5.

Gewährleistung vor Selbstwahrnehmung

6.

Koordinierung, Kooperation, Vernetzung

7.

Teilhabe (Partizipation/Empowerment) statt Fürsorge

8.

Ausrichtung des Denkens und Handelns: ¹Cross-overª statt ¹kategorischª anders ausgedrückt: ¹Intersektoral/multidisziplinärª statt ¹Institutions- und Haushaltsstellenbegrenzungª

9.

¹Killerphrasenª sind verboten ± Freude, Motivation, Kreativität und Phantasie, kurz: Wohlbefinden ist erlaubt und wird gefördert

10.

¹Proª vor ¹Contraª

11.

¹Modelleª statt ¹Ladenhüterª

12.

Evaluation der Arbeit: Angemessenheit, Effektivität, Effizienz

2. AIDS-Beratung & AIDS-Prävention Die Dienstleistungen und Angebote zum Thema ¹AIDSª lauten: c Information (Abgabe von Informationen und Materialien) c Indiviudalberatung einschlieûlich der anonymen HIV-Testung c Angebote für HIV-infizierte und an AIDS erkrankte Menschen sowie ihnen nahestehende Personen: Beratung, Betreuung, Vermittlung c Veranstaltungen (Vorträge, Seminare, Workshops) c MultiplikatorInnenausbildung c Aktionen und Projekte für einzelnen Gruppen, z. B. Jugendliche, DrogengebraucherInnen etc. (zielgruppenspezifische Prävention) 68


Diese Dienstleistungen werden der gesamten Bevölkerung im Landkreis Hildesheim angeboten. Um zu erreichen, dass sie für alle Bevölkerungsgruppen gleichermaûen gut zugänglich sind, wird angestrebt, dass die Angebote auch in einer für MigrantInnen spezifischen Form erbracht werden. Bei der Planung der Angebote wird folgendes berücksichtigt: Bedarf für migrantInnenspezifische AIDS-Angebote In die AIDS-Beratungsstelle kommen seit ihrer Gründung auch MigrantInnen. Menschen aus ganz unterschiedlichen Kultur- und Sprachkreisen möchten informiert, beraten und auch getestet werden. HIV-infizierte MigrantInnen wurden in Hildesheim auûerdem intensiv beraten und betreut beziehungsweise an qualifizierte Einrichtungen weitervermittelt. Die AIDS-Beratungsstelle erhält daneben schon seit einigen Jahren Anfragen, für bestimmte Gruppen von MigrantInnen (z. B. Aus- und Übersiedler, BewohnerInnen von Asylunterkünften, Prostituierte) Informations- und Aufklärungsveranstaltungen durchzuführen. Es ist jedoch zu vermuten, dass der Bedarf nach Information, Aufklärung, Beratung und Betreuung deutlich über die Anzahl der bisher stattgefundenen Kontakte hinausgeht. Die Vorbehalte und Hemmschwellen auf Seiten der MigrantInnen, Kontakt zu AIDSBeratungseinrichtungen aufzunehmen, sind noch höher als bei Deutschen. Aber auch auf Seiten der Anbieter von Dienstleistungen bestehen noch oft Vorbehalte, Hemmschwellen, ¾ngste sowie Kommunikationsbarrieren und unzureichende Kenntnisse des kulturellen Hintergrundes, die zu überwinden und kompensieren sind. Kooperativer Ansatz Als lokale Kooperationspartnerin stand von vornherein die Hildesheimer AIDS-Hilfe e. V. fest, da in Hildesheim alle auf AIDS bezogenen Aufgaben in Absprache und in Kooperation zwischen der AIDS-Hilfe und der AIDS-Beratungsstelle des Landkreises wahrgenommen werden. Als überörtlicher Kooperationspartner hat sich 1992 das Ethno-Medizinische Zentrum e. V. Hannover (EMZ) angeboten. Es wurde ein Kooperationsverbund mit dem Namen MAP gebildet. MAP steht für: Migration und AIDS-Prävention. Gemeinsam wurden folgende Ziele festgelegt: g Information über HIV und AIDS für MigrantInnen g Verbesserung der Versorgungssituation für MigrantInnen im öffentlichen Gesundheitsdienst g Zugängliche AIDS-Beratungsangebote für MigrantInnen g Initiierung zielgruppenspezifischer Prävention 69


In der gemeinsamen Arbeit werden im Landkreis Hildesheim aktuell die folgenden migrantionsspezifischen Dienstleistungen und Angebote erbracht: 2.1 Individualberatung und HIV-Testung Da in Hildesheim die stärkste MigrantInnengruppe türkischer Herkunft ist, wurde zunächst ein AIDS-Telefon in türkischer Sprache eingerichtet. Von einem Band können rund um die Uhr Informationen über HIV/AIDS sowie die Zeiten der persönlichen Beratung abgefragt werden. Dieses türkische AIDS-Telefon, auch TAT genannt, wird durch Broschüren, Plakate, sowie Veranstaltungen beworben. Auûerdem wird phasenweise und bei Bedarf (z. B. nach Plaktierungen) eine persönliche telefonische Beratung angeboten. Ansonsten wird auf die persönlichen Beratungsangebote des EMZ in Hannover hingewiesen. Um die anonyme, freiwillige und kostenlose AIDS-Beratung einschlieûlich der HIVTestung auch in der jeweiligen Landessprache durchführen zu können, werden bei Bedarf von uns oder vom EMZ geschulte DolmetscherInnen eingesetzt. Die Erfahrungen zeigen, dass muttersprachliche Angebote insbesondere für ausländische Prostituierte wichtig sind. Es ist so möglich, sie detailliert und angemessen über HIV/AIDS und anderen Geschlechtskrankheiten sowie über die Präventionsmöglichkeiten zu informieren. 2.2 Veranstaltungen (Vorträge, Seminare, Workshops) und Aktionen Da die Kontaktbarrieren und Hemmschwellen für MigrantInnen, in die AIDS-Beratungsstelle zu kommen, sehr hoch sind, haben wir die Komm- durch eine Geh70


Struktur ergänzt. Wir führen Veranstaltungen in Form von Vorträgen, Seminaren, Workshops und besondere Aktionen (z. B. bei Festen) vor Ort durch. Die türkischen MigrantInnen werden vorwiegend durch geschlechtsspezifische Informationsveranstaltungen in Moscheen, türkischen Vereinen und Verbänden sowie in Begegnungsstätten der Freien Wohlfahrtspflege und den Schulen angesprochen. Diese Veranstaltungen finden ausschlieûlich in der Muttersprache, also in türkischer Sprache statt. Veranstaltungen werden für AsylbewerberInnen wie auch für Aus- und ÜbersiedlerInnen in der jeweiligen Landessprache durchgeführt. Hierbei sind die kulturellen Gebräuche der jeweiligen Nationalitäten berücksichtigt und die Veranstaltung dementsprechend vorbereitet und durchgeführt werden. Hierzu einige Beispiele: Aus- und ÜbersiedlerInnen werden im Rahmen der DAF (Deutsch als Fremdsprache)-Kurse, die von Bildungseinrichtungen durchgeführt werden (Vhs usw.), erreicht. Während bei den Erwachsenen die Wissensvermittlung anhand von Vorträgen, Videos und Diskussion im Vordergrund steht, werden für die Jugendlichen vermehrt sexualpädagogische Methoden eingesetzt. Hierbei wird das Thema HIV/AIDS nicht explizit genannt, sondern in den Kontext von Liebe, Freundschaft, Sexualität eingefügt. Den Bedürfnissen und Nachfragen der Jugendlichen wird entsprochen. Konkret heiût das, dass z. B. Themen wie Verhütungsmittel, Jungfräulichkeit, Frauen- und Männerrolle aufgegriffen und gemeinsam bearbeitet werden. In diesem Zusammenhang werden immer wieder Fragen zu HIV/AIDS gestellt und dialogorientiert bearbeitet. Da es sich bei den türkischen Jugendlichen meist um MigrantInnen zweiter oder dritter Generation handelt, erfolgen diese personalkommunikativen Maûnahmen meist in deutscher Sprache und bei Bedarf nach geschlechtsspezifischen Gesichtspunkten. Eine weitere Möglichkeit, MigrantInnen zu erreichen, bietet ein alljährlich stattfindendes Fuûballturnier, das vom örtlichen Flüchtlingsverein ¹Asyl e. V.ª organisiert wird. In Kooperation mit dem EMZ werden an einem Aktionsstand personalkommunikative Maûnahmen, wie z. B. ein Fragespiel, in dem give-aways und Getränke als Preise für beantwortete Fragen zur HIV-AIDS-Prävention eingesetzt werden, durchgeführt. 2.3 MultiplikatorInnenausbildung Für die AIDS-Prävention mit MigrantInnen werden vom EMZ mit Unterstützung der AIDS-Beratungsstelle des Landkreises Hildesheim MuttersprachlerInnen bzw. DolmetscherInnen aus- und fortgebildet. Diese geschulten Präventionskräfte, die zum MAP-Team gehören, werden als Honorarkräfte je nach Bedarf (Sprache, männlich/weiblich) eingesetzt. Zudem werden auch die PädagogInnen und SozialpädagogInnen, die mit MigrantInnen arbeiten ( z. B. in Schulen, Jugend- und Freizeiteinrichtungen sowie Flüchtlingswohnheimen) fort- und weitergebildet. 2.4 Prävention in der Gesamtbevölkerung: Broschüren, Pressearbeit, Infound Aktionsstände Zu Beginn unserer Arbeit mit MigrantInnen stellten wir fest, dass es an entsprechendem Aufklärungsmaterial für die jeweiligen Zielgruppen bzw. Kulturkreise mangelte. Noch bevor die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung auf diesen Bedarf reagierte, wurden in Zusammenarbeit mit dem EMZ türkische Aufklä71


rungsbroschüren entwickelt. Die Broschüren ¹Kondom Nasil Kullanilirª (Wie verwendet man ein Kondom?) und ¹Kadinlar ve AIDSª (Frauen und AIDS) werden auch heute noch weit über Hildesheim hinaus nachgefragt. Über alle Veranstaltungen und Aktionen wird in deutschen wie auch ausländischen Medien berichtet. Die regelmäûig stattfindenden Plakataktionen, die auf die Dienstleistungen der AIDS-Beratungsstelle und des EMZ hinweisen, werden ebenfalls durch eine intensive Pressearbeit begleitet. Fazit Seit nunmehr sieben Jahren wird in Hildesheim zu dem Thema Migration und AIDS gearbeitet. In diesem Zeitraum haben die MitarbeiterInnen der AIDS-Beratungsstelle des Landkreises Hildesheim viele Erfahrungen und Überraschungen auf unterschiedlichen Ebenen erlebt. Kulturspezifische Arbeit heiût nicht nur sich u. a. mit anderen Kulturen (Sitten, Gebräuchen) auseinander zusetzen, sondern auch die eigene Kultur, die eigenen Werte und Normen zu reflektieren.

Birgit Krauû, Ulrich Wöhler Landkreis Hildesheim Der Oberkreisdirektor Fachdienst Gesundheitsförderung 31132 Hildesheim Telefon: 0 51 21/3 09-7 14 Fax: 0 51 21/30 97 98 E-mail: Ulrich.Woehler@Landkreishildesheim.de

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Migrationsspezifische Ansätze in der Schulgesundheitspflege: Schulsprechstunde als niederschwelliges Angebot, insbesondere für Kinder aus Migrantenfamilien JOHANNA MARIE KÖRBER Gesundheitliche Situation von Kindern und Jugendlichen Das Krankheitsspektrum von Kindern und Jugendlichen hat sich in den letzten Jahrzehnten deutlich verschoben. Akute Infektionskrankheiten sind in den Hintergrund getreten, während chronische Krankheiten und Gesundheitsbeeinträchtigungen mit starken Verhaltensauffälligkeiten in den Vordergrund gerückt sind. Gesundheitliche Situation von Kindern aus Migrantenfamilien Die internationale Literatur belegt, dass Migranten höheren gesundheitlichen Risiken ausgesetzt sind und Krankheitshäufigkeit und Sterblichkeit bei ihnen höher sind als bei der einheimischen Bevölkerung. Aufgrund der Studien, die in Deutschland durchgeführt wurden, lässt sich die Aussage machen, dass Kinder von Migranten im Vergleich zu denen der deutschen Bevölkerung eine erhöhte Rate an psychosomatischen Befindlichkeitsstörungen, Infektionskrankheiten, Unfällen und Behinderungen aufweisen. Die Feststellung der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung nach der sich im Zusammenhang mit sozialer Benachteiligung und Migration sowohl eine Kumulation von Entwicklungsbelastungen und -problemen bei Kindern und Jugendlichen als auch ausgeprägte Defizite im Gesundheits- und Versorgungsverhalten und eine groûe Distanz zu präventiven und kurativen Versorgungsangeboten zeigen, kann nur unterstrichen werden. Konsequenz für den öffentlichen Gesundheitsdienst in Baden-Württemberg Sowohl für deutsche Schüler/innen, als auch ganz besonders für Kinder aus Migrantenfamilien ist es von groûer Bedeutung, ein niederschwelliges Angebot im gesundheitlichen Bereich zu schaffen. Dazu ist eine interdisziplinäre Zusammenarbeit von Fachleuten verschiedenster Institutionen erforderlich. Der öffentliche Gesundheitsdienst als neutrale Koordinierungsstelle ist für diese Aufgabe besonders geeignet. In Ergänzung zu den standardisierten Schuluntersuchungen wurde daher in BadenWürttemberg die Schulsprechstunde als niederschwelliges Beratungs- und Unterstützungsangebot der Gesundheitsämter in Schulen eingerichtet. Gestaltung des Angebots Schulsprechstunde Die 38 Gesundheitsämter Baden-Württembergs unterscheiden sich enorm; das Spektrum reicht von relativ groûen Gesundheitsämtern in Ballungsräumen bis zu kleineren Gesundheitsämtern, die für groûflächige, verhältnismäûig dünn besiedelte Gebiete zuständig sind. 35 ¾mter sind den Landratsämtern eingegliedert, drei sind städtisch. Aus diesen Gründen haben die Gesundheitsämter bei der Umsetzung der Schulsprechstunde groûe Gestaltungsspielräume. Allgemein lässt sich jedoch feststellen: Grundsätzlich findet Schulsprechstunde immer in der Schule statt und wird in einem bestimmten Rhythmus angeboten. Sie ist für die Ratsuchenden immer freiwillig und diese bestimmen auch, was im einzelnen während der Sprechstunde besprochen wird. 73


Beispiel: Schulsprechstunde des Gesundheitsamtes Karlsruhe Die konkrete Organisation einer Schulsprechstunde wird exemplarisch am Beispiel des Gesundheitsamtes Karlsruhe dargestellt. Das Angebot kann aufgrund der personellen Kapazität im Gesundheitsamt Karlsruhe nicht flächendeckend sein. Daher muss eine Auswahl getroffen werden. Im Landkreis Karlsruhe wurden zwei Schulen ausgewählt, und zwar eine Grund- und Hauptschule im Stadtgebiet, bei der der Migrantenanteil über 50 % liegt und eine Grund-, Haupt- und Werkrealschule, deren Schüler zu einem Drittel Spätaussiedler sind und die sich auf dem Land befindet. Die Schulleitungen dieser beiden Schulen wurden von den für die Schulsprechstunde verantwortlichen Fachkräften (eine ¾rztin und eine Sozialarbeiterin) besucht. Folgendes Angebot wurde unterbreitet: Alle 14 Tage halten ¾rztin und Sozialarbeiterin getrennt während zweier Schulstunden plus groûer Pause Schulsprechstunde ab. Die Sprechstunde kann von Schülern, Eltern und Lehrern besucht werden. Zusätzlich werden in den Klassen Unterrichtseinheiten über gesundheitliche Themen angeboten mit dem Ziel, die Schüler zu informieren und sich gleichzeitig bei den Schülern vorzustellen. Nachdem beide Schulleitungen zugestimmt hatten, wurde das Angebot bekanntgemacht. Die zwei Fachkräfte verschickten Elternbriefe, verteilten Faltblätter an die Schüler, hängten Plakate mit Terminen aus und stellten das Projekt bei Elternabenden vor. Der Besuch der Schulsprechstunde durch Schüler, Eltern und Lehrer ist selbstverständlich freiwillig. Die Themen, die dort zur Sprache kommen, werden von den Ratsuchenden vorgegeben. Die Unterrichtseinheiten werden mit dem jeweils verantwortlichen Lehrer abgesprochen; die Themen schlägt das Gesundheitsamt vor. Je nach Klassenstufe geht es beispielsweise um das Gewicht von Schulranzen, um Impfberatung oder um Sexualpädagogik. Ziele der Schulsprechstunde Ziele der Schulsprechstunde sind u. a.: ± Information und Beratung im gesamten Umfeld Schule, insbesondere aber für Schüler, Lehrer und Eltern. ± Initiierung von Veranstaltungen im Rahmen der Prävention und Gesundheitsförderung im schulischen Bereich. ± Entwicklung einer Kooperation zwischen ÖGD und Schule sowie anderen Institutionen. Aufbau von regionalen interdisziplinären Gremien mit fall- und situationsbezogenen Arbeitsbesprechungen. Zielgruppen Zielgruppen sind Schüler/innen aller Schularten, insbesondere solche, die Fördersowie Grund- und Hauptschulen in sozialen Brennpunkten besuchen. Gerade dort ist der Migrantenanteil in der Regel überproportional hoch. Die Daten des Statistischen Landesamtes Baden-Württemberg zeigen, dass sich ausländische Schüler überproportional häufig in Haupt- und Sonderschulen befinden. 74


Anteil ausländischer Schüler an öffentlichen und privaten allgemeinbildenden Schulen in Baden-Württemberg nach Schularten

100 90 80 70

%

60

deutsche Kinder ausländ. Kinder

50 40 30 20 10

Schulen

insgesamt

allg.-bildende

Schulen bes. Art

Gymnasien

Realschulen

Sonderschulen

Grund- u.

Hauptschulen

0

Stand: 9. Oktober 1996 Datenquelle: Statistisches Landesamt Baden-Württemberg

Die Mitarbeiter/innen des kinder- und jugendärztlichen Dienstes sind für die Durchführung der Schulsprechstunde zuständig. Dazu gehören ¾rzte und ¾rztinnen, Sozialmedizinische Assistentinnen, Assistentinnen des Gesundheitsdienstes, Sozialarbeiter/innen, Sozialpädagog/innen, Pädagog/innen und Psycholog/innen. Alle diese Mitarbeiter/innen sollten daher Fortbildungsangebote erhalten, die sie auf den Umgang mit Migrantenkindern und deren Eltern vorbereiten. Angebot des Landesgesundheitsamtes für den kinder- und jugendärztlichen Dienst zum Thema ¹Migrantenspezifische Probleme in der Schulsprechstundeª Als Auftaktveranstaltung führte das Landesgesundheitsamt ein Seminar zum Thema ¹Migration und Gesundheit unter dem speziellen Blickwinkel der Schulgesundheitspflegeª durch. Eingeladen waren die Mitarbeiter/innen des jugendärztlichen Dienstes aller Gesundheitsämter des Landes Baden-Württemberg. Als Dozent konnte Prof. Dr. Emil Zimmermann von der Universitätskinderklinik Freiburg gewonnen werden. Ziel war, grundlegende Informationen über Migration und Migrationsgeschichte zu vermitteln, ohne die die Situation der Kinder von Ausländern nicht ausreichend eingeschätzt werden kann. In einem zweiten Teil wurde die gesundheitliche Lage ausländischer Kinder beleuchtet, wobei neben körperlichen Erkrankungen auch die psychischen Störungen diskutiert wurden. Nicht zuletzt wurde auch auf den Stellenwert von Krankheiten und auf Erklärungsmuster von Erkrankungen eingegangen, da sich die Vorstellungen der Ausländer in diesem Bereich von denen der deutschen Bevölkerung erheblich unterscheiden. Diese Veranstaltung musste wegen der groûen Zahl an Anmeldungen wiederholt werden. Insgesamt haben 70 Mitarbeiter des kinder- und jugendärztlichen Dienstes 75


teilgenommen. Die Evaluation der Veranstaltung ergab, dass ethnomedizinische Aspekte bei den Teilnehmer/innen nahezu unbekannt waren und dass die Fortbildung neue Kenntnisse auf diesem Gebiet vermittelt hat. Es stellte sich ein groûer Bedarf an weiteren Seminaren heraus, insbesondere zur Situation von türkischen Kindern und Kindern ruûland-deutscher Spätaussiedler. Letztere haben zwar den rechtlichen Status von Deutschen, zählen aber zu den Migranten, da sie aus einem Land mit völlig anderem politischem und kulturellem Hintergrund kommen. Auch verfügen die meisten von ihnen über schlechte deutsche Sprachkenntnisse. Projektgruppe Um die Gestaltung des weiteren Programmangebots optimal an die Erfordernisse des kinder- und jugendärztlichen Dienstes anzupassen, wurde eine multidisziplinär zusammengesetzte Projektgruppe gebildet. Als Moderatorin konnte Ingrid Geiger vom Landratsamt Rhein-Neckar-Kreis/Gesundheitsamt gewonnen werden. Drei Schulärztinnen, eine Sozialarbeiterin, eine Erziehungswissenschaftlerin und eine Psychologin arbeiteten in der Projektgruppe mit. Die meisten Mitglieder der Projektgruppe hatten bereits praktische Erfahrungen mit der ¹Schulsprechstundeª gemacht und konnten daher gezielt migrantenspezifische Probleme einbringen. Zunächst wurde der Schwerpunkt auf die Probleme der Kinder von Ausländern aus den ehemaligen Anwerbeländern und auf die Schwierigkeiten von Kindern aus Spätaussiedlerfamilien gelegt. Dazu wurden Experten in die Projektgruppe eingeladen, die jahrelange Erfahrungen in der Arbeit mit diesen Gruppen haben. In der Regel gehörten die Experten selbst der entsprechenden Migrantengruppe an. Folgende Themen wurden erarbeitet: ± Migrationsgeschichte ± Kulturelle und religiöse Hintergründe ± Schulsystem im Herkunftsland ± Bedeutung von Bildung als allgemeinem Wert bei den verschiedenen Migrantengruppen ± Gesundheitssystem, insbesondere Schulgesundheitspflege in den Herkunftsländern ± Situation der Kinder der zweiten und dritten Generation, insbesondere Identitätsprobleme und geschlechtsspezifisches Rollenverständnis ± Umgang mit den Eltern ± Spezielle Probleme, z. B. Bedeutung von Verhaltensauffälligkeiten, Diagnose von Lernbehinderungen Kooperation mit externen Partnern Zur Förderung der Vernetzung des Gesundheitsamtes, der Schulen und der Migrantendienste wurde eine Broschüre ¹Migration und Gesundheit in Baden-Württembergª ± Beratungsstellen mit interkultureller Kompetenz ± erarbeitet. Dadurch wird u. a. auch der Aufbau von regionalen interdisziplinären Gremien erleichtert. Hauptziel der Fortbildungen für den kinder- und jugendärztlichen Dienst Das Landesgesundheitsamt strebt an, im Rahmen der gegebenen Möglichkeiten den Mitarbeiter/innen des kinder- und jugendärztlichen Dienstes ein Stück interkulturelle Kompetenz zu vermitteln. Dies ist keine einfache Aufgabe, ein langfristiges 76


Programm für die Mitarbeiter/innen des kinder- und jugendärztlichen Dienstes ist erforderlich. Praxisbeispiele Wie bereits beschrieben, sind die Gesundheitsämter in der Gestaltung der Schulsprechstunde sehr frei. Die Palette möglicher Angebote in der Schulsprechstunde ist daher äuûerst vielfältig. Einige Beispiele in bezug auf Migrantenkinder sollen die Arbeit verdeutlichen. Beispiel: Förderschule Zunächst wurden Seh- und Hörtests angeboten, um die Schüler/innen kennenzulernen und Vertrauen zu schaffen. Bereits hier zeigte sich, dass besonders ausländische Kinder von diesen Tests profitierten. Sie litten häufiger an Seh- und Hörfehlern, die bisher nicht diagnostiziert waren. Wenn man bedenkt, wie wichtig gerade diese Sinnesleistungen für den Schulerfolg sind, ist schon allein dieses Angebot für Migrantenkinder von groûer Bedeutung. Die im Anschluss daran angebotene individuelle Beratung der Kinder durch eine ¾rztin des kinder- und jugendärztlichen Dienstes in der Schule hatte zunächst keinen besonderen Erfolg. Der Grund: Die Kinder ± und zwar nicht nur die von Migranten ± haben groûe Schwierigkeiten, ihre Probleme zu artikulieren. Um mit den Kindern im Gespräch zu bleiben, werden nun in den oberen Klassen Unterrichtseinheiten zum Thema ¹Liebe ± Freundschaft ± Sexualitätª angeboten. Diese Unterrichtseinheit stöût bei allen Kindern, insbesondere aber bei ausländischen Mädchen auf groûes Interesse. Dabei kommen auch kulturell bedingte Einstellungen zur Sprache; die Kinder lernen, unterschiedliche Kulturen zu akzeptieren. Eine individuelle Beratung durch die ¾rztin des Gesundheitsamtes wird zusätzlich angeboten. Beispiel: Grund- und Hauptschule In einer Grund- und Hauptschule mit einem Ausländeranteil von ca. 80 % wird die Schulsprechstunde als individuelle Einzelberatung angeboten. Trotzdem kommen Mädchen mit den unterschiedlichsten Nationalitäten als Gruppe in die Sprechstunde. Bei Kindern der dritten Generation unterscheiden sich die Probleme von denen ihrer wenigen deutschen Klassenkameraden kaum. Liebe ± Freundschaft ± Sexualität sind auch in der Hauptschule bevorzugte Themen. Trotzdem soll das Beispiel eines Asylbewerberkindes angeführt werden, dass gerne Volleyball spielen möchte. Dieser Wunsch führte das Kind in die Schulsprechstunde, weil er aus finanziellen Gründen nicht zu verwirklichen war. Der Beitrag in Höhe von DM 40,±, den der Sportverein erhebt, konnte von der Familie nicht aufgebracht werden. Die Mitarbeiterin des Gesundheitsamts vermittelte. Für einen deutlich reduzierten Obolus darf das Kind nun mitspielen, nicht zuletzt auch ein Beitrag zur Integration des Kindes. Beispiel: Berufsschule In einer Berufsschule wird lediglich individuelle Einzelberatung angeboten. Die Schüler/innen sind zwischen 16 und 20 Jahre alt. Hier kommen auch die klassischen Probleme von Mädchen aus dem islamischen Kulturkreis zur Sprache, wie beispielsweise Partnerschaft vor der Ehe, Freundschaft mit deutschen Jugendlichen, Ausgehverbot am Wochenende für Mädchen und ähnliches. 77


Anforderungen an die Mitarbeiter/innen des Gesundheitsamtes Für den Aufbau eines Vertrauensverhältnisses zu den Schüler/innen ist ein hohes Maû an Empathie notwendig, auûerdem ist die Wertschätzung und Akzeptanz der Kinder durch die Mitarbeiter/innen des Gesundheitsamtes von groûer Bedeutung. Bei Kindern aus Migrantenfamilien ist darüber hinaus ein gewisses Maû an interkultureller Kompetenz erforderlich. Bei den Problemen, die in der Schulsprechstunde thematisiert werden, handelt es sich häufig um Situationen, in denen die Mitarbeiter/innen des Gesundheitsamts keine konkrete Hilfe leisten können. Da sie jedoch als Vertrauensperson zur Verfügung stehen, geben sie den Schülern die Möglichkeit, ihre Erfahrungen mit einem anderen Menschen zu teilen. Sie können den Schüler/innen helfen, ihre Gefühle zu klären und für sich selbst Lösungsmöglichkeiten zu finden, die ihren sozialen und kulturellen Hintergrund berücksichtigen und zu denen sie auch selbst stehen können. Dabei ist eine neutrale Person, die Sicherheit ausstrahlt und Verständnis für die spezifischen Problematik zeigt, eine groûe Hilfe. Gesetzliche Grundlage Grundlage ist der § 8 des Gesetzes über den öffentlichen Gesundheitsdienst Baden-Württemberg (Gesundheitsdienstgesetz ± ÖGDG). Auûerdem liegen zur Schulsprechstunde zwei Beschlüsse der Amtsärztetagung vor, die hier zitiert werden sollen: Beschluss der Amtsärztetagung von 1996: ¹Schulsprechstunde als Teil der Schulgesundheitspflegeª ¹Die Schulsprechstunde, die im Rahmen des § 8 ÖGDG gesetzlich verankert ist, spielt eine zunehmend wichtige Rolle in der Schulgesundheitspflege und soll deshalb mit Unterstützung der Amtsleitungen in allen ¾mtern als vorrangige Aufgabe umgesetzt werden. Sie baut dabei auf die Vertrauensbasis, die durch die Einschulungsuntersuchung geschaffen wurde. Durch die vielfältigen Gestaltungsmöglichkeiten und den niederschwellig anzusetzenden Zugang kann eine verstärkte interdisziplinäre Zusammenarbeit von ÖGD, Schule sowie weiteren beteiligten Institutionen erreicht und das gesamte schulische Umfeld im Rahmen des sozialmedizinischen Spielraums gesundheitsfödernd beeinflusst werden. Beschluss der Amtsärztetagung von 1997: ¹Durchführung der Schulsprechstundeª ¹Die Schulsprechstunde ermöglicht es den Gesundheitsämtern, sich als kompetente Ratgeber und Institutionen darzustellen, die für die Gesunderhaltung der Bevölkerung wichtig sind. Sie benötigt weiterhin die Unterstützung aller Amtsleitungen und sollte insbesondere dann mit einer Priorität versehen werden, wenn eine Umverteilung der Aufgaben zu bestimmten Zeiten im Jahr möglich ist. Dies setzt eine flexible Handhabung voraus und erlaubt den Gesundheitsämtern, eigene Schwerpunkte zu setzen. Alle vor Ort Handelnden sollen dabei kooperativ und unter Berücksichtigung ihrer Bedürfnisse eingebunden werden. Informationsveranstaltungen sollen die breite Palette von nachgefragten Themen abdecken. Der Themenschwerpunkt ¹Migrationsspezifische Probleme in der Schulsprechstundeª und die Betreuung von Förderschulen sollen 1998 fortgesetzt werden.ª 78


Literatur: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (Hg.) (1998): Gesundheit von Kindern ± Epidemiologische Grundlagen ± Forschung und Praxis der Gesundheitsförderung, Band 3, Köln: 87 Collatz, Jürgen (1997): Multikulturalität und Gesundheit. in: Homfeldt, H. G./Hünersdorf, B. (Hg.): Soziale Arbeit und Gesundheit, Luchterhand. Hurrelmann; Klaus (1995): Die gesundheitliche Situation von Kindern und Jugendlichen. Plädoyer für eine Kooperation von Lehrern und ¾rzten. in: Prävention 4: 99 - 102

Johanna Marie Körber Landesgesundheitsamt Baden-Württemberg Hoppenlaustraûe 7 70174 Stuttgart Telefon: 07 11/18 49-3 18 Telefax: 07 11/18 49-3 25

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Gruppenprophylaxe bei türkischen Migranten im Rems-Murr-Kreis ± Erfahrungsbericht. MARC VAN STEENKISTE JUTTA BRESTEL-VON HAUSSEN MERYEM TUKA Einführung Zahlreiche Studien belegen, dass Migranten in den Industriestaaten einen höheren Kariesbefall haben, weniger häufig zum Zahnarzt gehen und einen niedrigeren Sanierungsgrad als die einheimische Bevölkerung aufweisen. Für diese Unterschiede im Zahngesundheitszustand und Verhalten zwischen Migranten und Einheimischen sind zwei Erklärungen möglich: c Verhältnismäûig viele Migranten in den Industriestaaten gehören den sozialwirtschaftlich unterprivilegierten Schichten der Bevölkerung an, was sich in einem geringeren Einkommen und einem niedrigeren Bildungsniveau niederschlägt; c Sprache und Kultur können zur sozialen Isolation führen, wodurch der Zugang zu wichtigen gesundheitlichen Informationen und zum eigentlichen Gesundheitssystem erschwert wird. Die Perzeption einer Krankheit, die Interpretation ihrer Ursache und der Glaube, dass etwas gegen die Krankheit unternommen werden kann, sind von kulturellen Faktoren abhängig. Prophylaktisches Verhalten wird somit von kulturellen Hintergründen der Migranten geprägt. Die groûen Unterschiede im Zahngesundheitszustand und in der Inanspruchnahme des Gesundheitssystems zwischen Einheimischen und Migranten können durch aufsuchende Betreuungsformen ausgeglichen werden. Wichtig dabei ist, dass das Gesundheitssystem besser auf die Bedürfnisse der Migranten abgestimmt wird. Weitere Möglichkeiten zur Verbesserung des Zahngesundheitszustandes bei Migranten bestehen darin, dass die Zahngesundheitserziehung für diese Bevölkerungsgruppe intensiviert wird, Vorsorgeuntersuchungen eingeführt und Fürsprecher eingesetzt werden. Bei den ethnischen Minderheiten liegt das Problem der Betreuung nicht so sehr in der Erkennung des Kariesrisikos, sondern in der Entwicklung eines adäquaten Prophylaxeprogramms. Migranten sind eine potentielle Kariesrisikogruppe, für die spezifische Prophylaxeprogramme entwickelt werden sollten. Weil die sozialen und kulturellen Hintergründe der einzelnen Migrantengruppen sehr unterschiedlich sind, sollten bei der Planung eines Prophylaxeprogramms nicht nur die notwendigen gesundheitlichen Daten sondern auch Kenntnisse über Verhalten und Kultur berücksichtigt werden. Epidemiologische Untersuchungen im Rems-Murr-Kreis Im Rems-Murr-Kreis werden seit 1988 regelmäûig epidemiologische Untersuchungen durchgeführt. Bei den Untersuchungen in den Jahren 1993 und 1997 wurden zusätzlich zum Zahnbefund auch Daten zur Nationalität der Schüler erfasst. Eine 1993 durchgeführte Untersuchung zeigt, dass Migranten der zweiten Generation (die bereits in Deutschland geboren sind) eine bessere Zahngesundheit auf81


weisen als Migranten der ersten Generation, die selbst noch nach Deutschland immigriert sind. Die durchschnittliche Zahl der kariösen, fehlenden und gefüllten Zähne (DMF-T Mittelwert) der 6- und 7jährigen betrug zum Beispiel 0,13 bei den deutschen Kindern, 0,46 bei den Migranten der zweiten Generation und 0,63 bei den Migranten der ersten Generation. Im Milchgebiss war die Situation ähnlich: deutsche Kinder hatten deutlich weniger Karies als die Migranten, die in Deutschland geboren sind und diejenigen, die selbst noch mit ihren Eltern immigriert sind. Weiterhin fällt auf, dass deutlich weniger Migranten ein primär gesundes Gebiss hatten und deutlich mehr von ihnen behandlungsbedürftig waren. Der Sanierungsgrad der Milchzähne war am besten bei den Deutschen und am niedrigsten bei den Migranten der 1. Generation. Diese Ergebnisse können so interpretiert werden, dass Migranten einen Entwicklungsprozess durchmachen und sich auf Dauer dem Verhalten der einheimischen Bevölkerung anpassen. Um die zahngesundheitliche Situation von Migranten zu verbessern, sollten deshalb Programme entwickelt werden, die darauf ausgerichtet sind, die Integration von Migrantengruppen in das deutsche Gesundheitssystem zu ermöglichen bzw. zu beschleunigen. Bei der 1997 durchgeführten Untersuchung wurde nach der Nationalität der Kinder gefragt. Bei den 11-, 12- und 13-jährigen Schülern der 6. Klassenstufe hatten die deutschen Schüler im Schnitt 1,1, die deutschen Spätaussiedler 3,5, die türkischen Schüler 3,1 und die Kinder aus dem früheren Jugoslawien 3,6 kariöse, fehlende oder gefüllte bleibende Zähne. Der Sanierungsgrad der bleibenden Zähne war bei den Deutschen mit 81 % am höchsten und bei den Türken mit nur 60 % am niedrigsten. Fast 60 % der deutschen Kinder hatten ein naturgesundes Gebiss, während dies bei nur 20 % der türkischen und ex-jugoslawischen Kinder und sogar nur bei 10 % der Kinder von Spätaussiedlern der Fall war. Der Prozentsatz der Kinder mit behandlungsbedürftigen Zähnen betrug bei den Deutschen 14 % und lag bei den meisten Migrantengruppen über 40 %. Auffällig ist auch, dass deutlich mehr deutsche Kinder versiegelte Zähne hatten als Kinder von Migranten. Dies deutet darauf hin, dass Migranten deutlich weniger prophylaktische Leistungen in der Zahnarztpraxis in Anspruch nehmen. Auch wiesen in dieser Untersuchung Haupt- und Förderschüler im Schnitt deutlich höhere DMF-T Werte als Gymnasiasten und Realschüler auf. Dabei fällt auf, dass 80 % der Migranten einer Altersstufe die Haupt- oder Förderschule besuchen. Hiermit wird nochmals dokumentiert, wie drastisch die soziale Trennung der Kinder in den weiterführenden Schulen des deutschen Schulsystems vollzogen wird. Auch im Milchgebiss konnten ähnlich groûe Unterschiede in der Kariesprävalenz zwischen Deutschen und Migranten festgestellt werden. So hatten 1997 die deutschen Erstklässler 1,6 kariöse, fehlende oder gefüllte Milchzähne, ihre türkischen Altersgenossen 5,6. 57 % der deutschen Kinder hatten ein naturgesundes Gebiss, dagegen nur 7 % der türkischen Kinder. Von den deutschen Kindern waren nur 34 % behandlungsbedürftig, während dies bei über 80 % der türkischen Kinder der Fall war. Der Sanierungsgrad der Milchzähne war bei den deutschen doppelt so hoch wie bei den türkischen Schülern. Für die Planung von Prophylaxeprogrammen ist nicht nur der Zahngesundheitszustand der verschiedenen Bevölkerungsgruppen von Bedeutung, ebenfalls zu berücksichtigen ist, wie groû die jeweiligen Bevölkerungsgruppen sind. Wenn Minderheiten nämlich eine zu kleine Gruppe bilden, ist eine effiziente Gruppenprophylaxe nicht immer möglich. Die Italiener bilden die gröûte Migrantengruppe 82


im Rems-Murr-Kreis, gefolgt von den Türken und deutschen Spätaussiedlern aus Osteuropa. Die übrigen Gruppen sind wesentlich kleiner. Die Zahngesundheit der italienischen und griechischen Kinder unterscheidet sich kaum noch von der der deutschen. Sie kommen deshalb für eine intensivere Betreuung nicht unmittelbar in Frage. Kinder von deutschen Spätaussiedlern und türkischen Migranten dagegen haben im Schnitt dreimal so viel Karies wie die Deutschen. Sie bilden auch nach den Italienern die beiden gröûten Migrantengruppen. Voraussetzungen Für ein Prophylaxeprogramm mit Migranten ist zu beachten, dass die Migranten als Gruppe erreichbar sind; anerkannte Ansprechpartner und Mediatoren gefunden werden; eine gute Kommunikation gewährleistet ist; die Teammitglieder sich in die Welt der Migranten einfühlen können; die Teammitglieder mit den kulturellen Eigenheiten der Zielgruppe vertraut sind; die Maûnahmen von der Zielgruppe akzeptiert werden und die Migranten bei der Planung und Durchführung des Programms beteiligt werden. Türkisches Projekt Obwohl mehrere Migrantengruppen für eine intensivere Betreuung in Frage kommen, wurde zunächst ein Projekt in der türkischen Gemeinschaft in Angriff genommen, weil c sich dort die besten Chancen für ein gruppenbezogenes Prophylaxeprogramm bieten; c die türkischen Kinder im Schnitt einen sehr hohen Kariesbefall haben; c die türkische Gemeinschaft eine groûe Bevölkerungsgruppe ist; c die türkische Gemeinschaft gut strukturiert ist und durch zahlreiche Vereine, Organisationen, Geschäfte und Zeitungen vertreten ist, die als Kooperationspartner oder zur Weitergabe von Informationen genutzt werden können; c türkische Familien eine geringe Mobilität aufweisen und eine langfristige und kontinuierliche Arbeit mit ihnen möglich ist. Das türkische Projekt umfasst drei Komponenten: c Eine Informations- und Planungsphase c Die Durchführung von Fluoridlackapplikationen im Rahmen des türkischen Unterrichts c Die Zahngesundheitserziehung für türkische Mütter und Eltern Planungsphase Die Informationsphase ist recht mühsam verlaufen und hat sich über mehrere Jahre erstreckt. Das gröûte Problem zeigte sich bei der Suche nach einer geeigneten Ansprechpartnerin oder Mediatorin. Ursprünglich wurde eine Person gesucht, die aus der türkischen Gemeinschaft stammt, gut deutsch spricht, sich in der Zahnmedizin etwas auskennt (zum Beispiel eine Helferin) und Zeit und die Persönlichkeit hat, um ein Projekt zur Zahngesundheitsförderung auszubauen. Diese Mediatorin sollte ein Netzwerk unter den türkischen Vereinen aufbauen, um türkische Eltern mit den entsprechenden Informationen zu versorgen. Ein häufiges Problem bei der Ermittlung einer Mediatorin war die Tatsache, dass türkische Frauen von ihren Männern aus nicht selbständig auûer Haus arbeiten dürfen. Vor allem aber an der Forderung 83


nach zahnmedizinischen Vorkenntnissen scheiterten die meisten Kandidatinnen. Letztendlich wurde über die Kontakte mit türkischen Lehrern/innen eine Person vermittelt, die zwar nicht zahnmedizinisch geschult war, doch für die Aufgabe sehr gut geeignet erschien. Sie ist Gründungsmitglied des Kreiselternbeirates der türkischen Klassen, leitet eine Frauengruppe im türkischen Arbeiterverein, hat gute Kontakte zu den türkischen Lehrern/innen und hat einige Zeit lang Deutschkurse für türkische Hausfrauen gegeben. Weil die türkische Mitarbeiterin nicht über die notwendigen zahnmedizinischen Fachkenntnisse verfügte und daher eine längere Einarbeitung erforderlich war, waren die Möglichkeiten des Projektes vorerst eingeschränkt. Aus diesem Grund wurde erst das Programm für die Kinder und Jugendlichen in Angriff genommen. Es wurde eine Besprechung mit den türkischen Lehrern/innen geplant, um über die verschiedenen Möglichkeiten der Kariesprophylaxe in den türkischen Schulen zu beraten. Vorgeschlagen wurden klassische Prophylaxemaûnahmen wie regelmäûige Zahnputzübungen in der Klasse, Einbürsten mit Elmex-Gelee sowie Lackapplikationen mit Duraphat. Die türkischen Lehrer/innen haben sich eindeutig für die Lackapplikation entschieden, die unter den gegebenen Umständen am praktikabelsten erschien. Damit stand das Projekt vorerst auf einem eng zahnmedizinischen Standbein. Die Tatsache, dass Fluoridierung eine sehr effiziente Methode zur Kariesprophylaxe ist, spricht jedoch für diese Entscheidung. Die konkrete Umsetzung und Organisation des Projektes wurde anschlieûend in enger Absprache mit den türkischen Lehrern/innen und der türkischen Mitarbeiterin geplant. Fluoridierungsprogramm Das Fluoridierungsprogramm für türkische Grund- und Hauptschüler richtet sich ausschlieûlich an Kinder, welche den türkischen Unterricht besuchen. Der türkische Unterricht ist in den deutschen Grund- und Hauptschulen integriert. Der Träger ist jedoch der türkische Staat. Die türkischen Kinder können zum Beispiel während des Religionsunterrichts am türkischen Unterricht teilnehmen. Sie werden dort in Heimatkunde und Religion unterrichtet. Die Lehrer kommen teilweise nur für wenige Jahre nach Deutschland und sprechen meistens kaum Deutsch. Im Schuljahr 1997/98 wurden 80 türkische Kinder in 5 Schulen des Kreises zweimal im Jahr mit Duraphatlack behandelt. Die individuelle Beteiligung der Schüler betrug nahezu 100 %. Für die allgemeine Organisation, Koordination und Planung des Projektes ist eine Fachkraft für Zahngesundheit der Arbeitsgemeinschaft Jugendzahnpflege zuständig. Die türkische Mediatorin pflegt die Kontakte zu den türkischen Lehrern, übernimmt die Terminplanung mit ihnen und übersetzt die zahlreichen Schreiben, Merkblätter und Formulare. Die Termine für die Fluoridierung orientieren sich am Stundenplan des jeweiligen türkischen Lehrers. Die türkische Mediatorin ist meistens bei den Terminen in den Schulen anwesend. Sie sorgt für eine gute Kommunikation zwischen dem zahnärztlichen Team, den türkischen Lehrern und den Schülern. Durch einfühlsames Auftreten versucht sie auch jene Kinder für das Projekt zu gewinnen, von denen die Einverständniserklärung noch nicht vorliegt. Der Fluoridlack wird von Zahnärzten/innen und Zahnarzthelferinnen der AG-Jugendzahnpflege und des Gesundheitsamtes appliziert. 84


In den Grund- und Hauptschulen, die bereits durch eine überdurchschnittlich gute Zahngesundheit auffallen, werden im Rahmen des Basisprophylaxeprogramms keine Fluoridierungsmaûnahmen angeboten. Dort erhalten die deutschen Kinder deshalb nur einen, die türkischen Kinder drei Prophylaxeimpulse: c einmal Zahngesundheitserziehung und zahnärztliche Untersuchung für die gesamte Klasse; c zweimal die Fluoridlackapplikation im Rahmen des türkischen Unterrichtes. In Grund- und Hauptschulen, in denen die Kariesprävalenz überdurchschnittlich hoch ist, werden den türkischen Kindern ± zusätzlich zu dem bereits laufenden Basisprophylaxeprogramm ± zwei weitere Fluoridtouchierungen angeboten. Somit erhalten die deutschen Kinder zwei und die türkischen Kinder vier Prophylaxeimpulse: c zweimal eine Fluoridierung, eine Untersuchung und Gesundheitserziehung zusammen mit den deutschen Kindern; c und zweimal eine zusätzliche Fluoridierung im Rahmen des türkischen Unterrichts. Aufgrund der positiven Erfahrungen im letzten Schuljahr 1997/98 wurde das Projekt weiter ausgebaut und im Rahmen des türkischen Unterrichts in insgesamt 12 Grund- und Hauptschulen angeboten. Gesundheitserziehung Im Schuljahr 1998/99 wurde die zweite Phase des Projektes gestartet. Die türkische Mediatorin sucht gezielt türkische Mütter und Eltern von Klein- und Schulkindern auf, um diese über die Zahnpflege zu informieren. Sie wird bei diesen Veranstaltungen von einer Fachfrau für Zahngesundheit begleitet. Diese doppelte Vertretung, wobei die Fach- und Sprachkompetenz kombiniert wird, hat sich sehr bewährt. Diese Gesundheitserziehung wird über Sprachkurse für türkische Frauen, Elternbeiratssitzungen und Elternabenden in den türkischen Schulen organisiert. Andere Möglichkeiten, um türkische Mütter zu erreichen, wurden vorerst noch nicht ausprobiert. Gedacht wird zum Beispiel an Veranstaltungen der türkischen Arbeitervereine, diverse Aktivitäten in der türkischen Gemeinschaft sowie Frauentreffen in Moscheen, Vereinen und zu Hause. Befragung Je besser die Auffassungen und Wertvorstellungen einer ethnischen Gruppe mit denen der professionellen Leistungserbringer harmonieren, desto besser können sich die Menschen dem Gesundheitssystem anpassen. Ein Projekt mit Migranten kann deshalb nur Erfolg haben, wenn genügend Informationen über kulturelle Hintergründe und zahngesundheitliches Verhalten der Zielgruppe vorliegen. Weil kulturelle Faktoren die Inanspruchnahme zahnärztlicher Leistungen und das zahngesundheitliche Verhalten im Allgemeinen sehr beeinflussen, wird im Schuljahr 1998/99 eine Befragung unter türkischen Eltern durchgeführt. Die Fragen beziehen sich auf die Zahnpflegegewohnheiten, häusliche Prophylaxe mit Fluoriden, die Inanspruchnahme zahnärztlicher Leistungen, die Kenntnisse des Gesundheitssystems und die Einstellung zur Zahngesundheit, zur Prophylaxe und zum Zahnarzt. Die daraus gewonnenen Informationen können dazu beitragen, dass die Arbeit mit den türkischen Mitbürgern besser auf deren Bedürfnisse abgestimmt werden kann. 85


Marc Van Steenkiste, MSc DPH / Univ. of London Jutta Brestel-von Haussen Meryem Tuka Gesundheitsamt des Landratsamts Rems-Murr-Kreis und Arbeitsgemeinschaft Jugendzahnpflege im Rems-Murr-Kreis Postfach 1413 71328 Waiblingen Telefon: 0 71 51/5 01-0 und Âą6 31 Telefax: 0 71 51/5 01-6 34

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Bikulturelle und multiprofessionelle Arbeit des Kinder- und Jugendpsychiatrischen Dienstes Berlin in Kreuzberg1 FATIH GÜÞ (Vortrag gehalten an dem 47. Wissenschaftlichen Kongress des Bundesverbandes der ¾rzte des Öffentlichen Gesundheitsdienstes e. V. und Bundesverbandes der Zahnärzte des Öffentlichen Gesundheitsdienstes e. V. in Trier vom 3. bis 5. Juni 1997 mit dem Thema Gesundheitsschutz in Europaª, ¹Europa ± Infektionen ohne Grenzen?ª) Zu unserer Geschichte In Berlin gibt es in jedem Bezirk eine Kinder- und Jugenpsychiatrische Beratungsstelle. Im Bezirk Kreuzberg wurde in diesem Dienst im Rahmen der Psychiatrieenqu te zur Reform der Psychiatrie in Deutschland zusätzlich ein Modellprojekt ¹zur psychosozialen Versorgung ausländischer (insbesondere türkischer) Kinder, Jugendliche und deren Familienª unter der Gesamtleitung der leitenden ¾rztin als Bundesmodell installiert. Das aus deutschen und türkischen Fachkräften bestehende Team mit bis zu 5 1/2 Stellen hatte die Aufgabe, ¹der ausländischen Bevölkerung adäquate diagnostische, beraterische und therapeutische Ansätze zu entwickelnª, bzw. vorhandene Methoden auf deren Anwendbarkeit für diese Bevölkerungsgruppe hin zu untersuchen, gegebenenfalls sie zu modifizieren¹. Anfang 1983 konnten wir als vollständiges Team mit der Arbeit anfangen (ein deutscher Arzt, ein türkischer, ein deutscher Psychologe sowie ein türkischer Sozialarbeiter mit jeweils einer ganzen Stelle, eine türkische Psychologin mit einer halben Stelle und eine ganze Stelle, besetzt durch eine deutsche und eine türkische Verwaltungsangestellte). Ich möchte im folgenden von meinen Erfahrungen der letzten 16 Jahre berichten. Klientel Unser Klientel muss oft eine besonders hohe Hemmschwelle überwinden, um Beratungsangebote wahrzunehmen. Dies ist u. a. auf das fehlende Vertrauen gegenüber den öffentlichen Einrichtungen generell und auch aufgrund z. T. negativer Erfahrungen in Deutschland zurückzuführen. Es fehlen aber auch kulturelle Erfahrung, ja Unkenntnis über psychologische, psychotherapeutische Beratungsangebote (die Aufgaben der psychosozialen Dienste wurden früher im Heimatland von der Gemeinde übernommen, ob z. B. ein psychisch erkranktes Mitglied der Familie in ein psychiatrisches Krankenhaus eingewiesen oder von der Familie bzw. Gemeinde weiter getragen werden soll, entscheiden die älteren Gemeindemitglieder mit dem Dorfvorsteher zusammen). Dagegen wird den ausländischen Fachkräften i. d. R. ein groûer Vertrauensvorschuss entgegengebracht (dies auch von anderen Ausländern). Dabei spielt sicherlich die Möglichkeit einer muttersprachlichen Kommunikation eine groûe Rolle. Dies ermöglicht uns Fachkräften die kulturellen Signale zu empfangen und zu senden, Beziehungswörter (kulturelle Ansprache) zu benutzen, bildhafte Sprache zu nutzen und für bestimmte Konfliktsituationen Sprichwörter einzusetzen. Daneben gibt es eine ärztlich-medizinische bzw. somatische Orientierung bei den 1

¹Eine unveränderte Fassung des Vortrages gehalten an dem 47. Wissenschaftlichen Kongress des Bundesverbandes der ¾rzte des Öffentlichen Gesundheitsdienstes e. V. und Bundesverbandes der Zahnärzte des Öffentlichen Gesundheitsdienstes e. V. in Trier vom 3. bis 5.Juni 1997 mit dem Thema ¹Gesundheitsschutz in Europaª, ¹Europa ± Infektionen ohne Grenzen?ª.

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Klienten, die dazu führt, dass bei psychischen Problemen oder Symptomen zuerst die Einnahme von Tabletten gewünscht und nach somatischen Ursachen gesucht wird (dies entspricht auch einer Somatisierungstendenz). Während sich die Eltern früher z. B. bei einem einnässenden Kind die Ursachen eher in seiner Isoliertheit sahen und als Hilfe die Vermittlung eines Kindergartenplatzes forderten (vgl.Güç 1980), sehen sie heute den Zusammenhang von Symptomatik und der Schüchternheit und Zurückgezogenheit ihres Kindes und fragen zunehmend mehr nach psychosozialen bzw. psychotherapeutischen Hilfen. Trotz groûer Veränderung treffen diese Tendenzen heute noch zu. Vorgehensweise Um dieser Besonderheit des Klientels adäquat zu begegnen, hatten wir z. B. zu Anfang unserer Projektarbeit eine Sprechstunde in einer Kinderarztpraxis eingerichtet, um so den Familien den Einstieg in eine psychotherapeutische Versorgung zu erleichtern. Wir nahmen Kontakt zu Stadtteilläden und Selbsthilfegruppen auf und machten uns dort bekannt. Um vor Ort besser erreichbar zu sein, hatten wir später eine kleine Auûenstelle in einem anderen Teil von Kreuzberg. Neben unserer regulären Sprechstunde fand bei Bedarf die Kontaktaufnahme zu den Familien in anderen öffentlichen Einrichtungen (Schule, Kita, Jugendamt usw.) statt, wenn sie ,den Weg zu unserer Sprechstunde nicht geschafft` hatten (Beratung vor Ort zur Schwellensenkung). Es war manchmal notwendig, den Erstkontakt zu der Familie im häuslichen Milieu aufzunehmen (im Rahmen der Betreuung waren und sind heute noch Hausbesuche üblich). Hierbei wurden wir durch die vermittelnden Kollegen anderer Institutionen (Lehrer, Erzieher, Sozialarbeiter usw.) bei dem Hausbesuch begleitet. Wegen der fehlenden muttersprachlichen Angebote anderer Fachdienste (wie die Schulpsychologische Beratungsstelle, die Erziehungs- und Familienberatungsstelle, der sozialpsychiatrischer Dienst und das Kita-Berater-Team) arbeiteten wir ressortübergreifend (inzwischen haben Erziehungs- und Familienberatungsstelle und Schulpsychologischer Dienst selbst türkische Fachkräfte). Diese beispielhaften Beschreibungen unseres anderen Umganges macht die sehr zeitaufwendige Dimension unserer Arbeit deutlich. Wir unternahmen 1985 eine 2wöchige Reise in die Türkei und besuchten dort einige psychosoziale und psychiatrische Einrichtungen in Istanbul und Ankara, um an Ort und Stelle zu erfahren, wie die Probleme in der Heimat angegangen bzw. gelöst werden. (Wir wollten die kulturellen volkspsychologischen Heilungsmethoden kennenlernen; wie ist z. B. die helfende Beziehung gestaltet, können wir einige der Elemente in unsere Praxis integrieren und so die ¹westlichenª Threpiemethoden modifizieren). Unsere Angebote Diese Angebote wurden damals modellhaft erprobt, teilweise an andere Einrichtungen empfohlen und abgegeben, teilweise heute noch nach Möglichkeit durchgeführt. Nach einer ausführlichen Diagnostik und Problemklärung, die natürlich auch kulturelle Momente mitberücksichtigt (Güç, 1991), wurden folgende kurz- und langfristige Angebote gemacht, die sich in 2 Hauptgruppen einteilen lassen: 1. die von uns selbst geleisteten kurz- und langfristigen Beratungen und Therapien. Darunter sind Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie und -beratung, Familienberatung, -therapie, (Paarberatung- und therapie). Daneben gab es therapeutische Kindergruppen, Müttergruppen usw. 88


2. die beraterische oder therapeutische Arbeit, die von anderen Helfern nach dem Bundessozialhilfegesetz (BSHG), oder dem Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG) geleistet wurde. Bei der Vermittlung der Helfer, seien es niedergelassene Psychotherapeuten oder sozialpädagogische Einzelfallhelfer war zur Beziehungsanbahnung zwischen der Familie und dem Helfer eine zeitintensive Vorfeldarbeit notwendig (besonders im Falle des deutschen Helfers war eine anfängliche Begleitung als Integrationsleistung unerlässlich). Wenn die Vorfeldarbeit nicht sorgfältig geleistet wird, kann es nämlich zu Abbrüchen kommen. Die Überweisung an die deutschen Kollegen erfordert jedoch, dass diese eine gewisse fachliche Haltung/Einstellung/Bereitschaft gegenüber den ausländischen Familien haben bzw. entwickeln. Um dies zu fördern, wurden z. B. von uns (deutsch-ausländisches Paar, oder einzeln) jahrelang Supervisionsgruppen für die deutschen Therapeuten und auch für Einzelfallhelfer angeboten. Manchmal war es unerlässlich, die Helfer in ihrer Arbeit direkt zu unterstützen, wenn es Probleme oder Stagnationen gab oder eine gezielte Intervention notwendig war, indem wir z. B. an familientherapeutischen Sitzungen als Co-Therapeut oder Co-Berater teilnahmen. Insgesamt konnte in Kreuzberg über die Jahre ein psychosoziales Helfersystem deutscher und ausländischer Herkunft für die ausländische Bevölkerungsgruppe aufgebaut werden. Dieser Aufbau beinhaltete die Schritte von Werbung, Einsatz, Anleitung von Helfern, Mitbetreuung der Familien, Supervision (einzeln und in Gruppe), Fortbildung. Das Einsetzen von Einzelfallhelfern ist heute nicht mehr die Aufgabe des KJPD. Eine besondere Schwierigkeit ist nach wie vor die sehr begrenzte Zahl von ausländischen Therapeuten. Als Multiplikatoren leisten wir in folgenden Bereichen eine integrative Arbeit: die dienststellenübergreifende Vernetzung durch Gremienarbeit in und auûerhalb des Bezirks (z. B. Türkischer Elternverein, Berliner Gesellschaft türkischer Mediziner, Stadtteilläden und Initiativgruppen), konsiliarische Tätigkeit bei anderen öffentlichen Diensten nicht nur in Krankenhäusern (z. B. die Krisenstation des Urban-Krankenhauses und des Krankenhauses Neukölln), sondern auch als Amtshilfe zur Mitarbeit und Institutionsberatung innerhalb und auûerhalb des Bezirks, Öffentlichkeitsarbeit zur Prävention und Aufklärung (z. B. in Form von themenbezogenen Veranstaltungen in den Schulen bei Elternabenden, oder Beteiligung an aufklärerischen Veranstaltungen in den Medien, insbesondere türkisches Fernsehen), Fortbildungen finden bezirklich und überbezirklich statt, Bekanntmachung unserer Erfahrungen und Erkenntnisse für die Fachöffentlichkeit und aktive Verbreitung unseres Modells in anderen Regionen und durch Besucher aus dem gesamten Bundesgebiet, sogar aus dem Ausland.

Die Bedeutung von Bi- bzw. Multikulturalität und interkultureller Kompetenz für das Team Die Bikulturalität bzw. interkulturelle Kooperation findet durch den ständigen Prozess der Auseinandersetzung beider Kulturen im Teamalltag statt. Durch diesen Prozess wird interkulturelle Kompetenz erworben bzw. gefördert. Wichtig dabei ist, dass beide Gruppen gleichberechtigt und gewillt sind, sich offen auseinander zusetzen und die Bereitschaft haben, sich und ihre kulturelle Geprägtheit in Frage zu stellen. Das beinhaltet die Auseinandersetzung mit eigenen, aber auch mit fremden Normen und Werten. Während wir ausländische Fachkräfte uns mit unserer Migrationsgeschichte auseinandersetzen (Güç, 1984), kann eine deutsche Fachkraft die eigene Betroffenheit z. B. von eigener Flüchtlingsthematik entdecken. Mit anderen Worten geht es weniger darum, sich das soziokulturelle Hintergrundwissen kognitiv 89


anzueignen, als vielmehr um das Zulassen einer Auseinandersetzung im Teamalltag auf einer emotionalen Ebene. Diese Prozesse sind sehr kompliziert und haben eigene Gesetzmäûigkeiten: sie bewegen sich z. B. zwischen Progression und Regression, d. h. nach dem Einlassen auf das Fremde kommt vielleicht ein Sich-Zurückbesinnen auf das Vertraute. Diese Prozesse können eine Auûenhilfe in Form von Supervision notwendig machen. Diese bikulturelle Auseinandersetzung ist für beide Seiten unerlässlich und stellt gleichzeitig ein wesentliches Werkzeug dar. Es geht um die eigene Bikulturalität der Berater bzw. deren interkulturelle Kompetenz, die sie in die Lage versetzt, festzustellen, welcher kulturelle und soziale Bezugsrahmen für die Ratsuchenden maûgeblich ist und sich entsprechend auf die ausländischen Kinder, Jugendlichen und deren Eltern einzustellen. Darüber hinaus können sie ihnen aus eigener Erfahrung und Überzeugung die Möglichkeit der bikulturellen Auseinandersetzung anbieten. Denn wenn wir bei der Beratung eines ausländischen Klienten die ¹deutschenª Werte und Normen als Maûstab setzen, würden wir Gefahr laufen, ihn seiner kulturellen Identität zu berauben (Gefahr der Germanisierung). Bei der Überbetonung der Werte seiner Herkunftskultur würden wir zwar seine kulturelle Identität verstärken, ihm jedoch seine Entwicklungsmöglichkeiten in seiner neuen Lebenswelt wegnehmen (Gefahr der ethniespezifischen Festschreibung) (Güç, 1986, 1991). Die bi- bzw. multikulturellen Teams können folgende Stärken entwickeln, wenn sie die oben beschriebenen Prozesse erfolgreich reflektieren (Güç, 1990): ± die kulturelle Subjektivität wird durch die Auseinandersetzung mit anderen Fachkollegen und deren Blickwinkel relativiert. ± Klienten lernen am Modell, d. h. sie sehen in Co-Therapie bzw. Teamarbeit, wie Ausländer und Deutsche miteinander gleichberechtigt umgehen. ± Daraus ergeben sich dann in der praktischen Arbeit neue Erfordernisse struktureller Natur, die als Veränderung in die Praxis umgesetzt werden müssen (z. B. eine türkische Verwaltungsangestellte, die die Familien in der Muttersprache empfangen konnte und damit zum Abbau der Hemmschwelle beitrug und in einem informellen Begrüûungsgespräch die ¾ngste im Vorfeld abgebaut werden konnte. Oder Erkennbarkeit, Attraktivität der Beratungsstelle für die ausländische Bevölkerung durch ein türkisches Namensschild, oder durch muttersprachliches Hilfspersonal zu erhöhen). ± So entsteht eine Verfeinerung eines spezifischen Angebotes für diese Bevölkerungsgruppe, d. h. ein spezifisches therapeutisch-beraterisches Milieu. ± Es besteht die Gefahr, dass, falls dieser Auseinandersetzungsprozess im Team stagniert, es immer wieder Ausgrenzungs- bzw. Eingrenzungsphänomene gibt; entweder unter den Kollegen oder in der therapeutisch-beraterischen Arbeit mit den Klienten. Der Ausgestoûene bzw. Verlassene auf beiden Seiten verbündet sich mit seinem Landsmann und kann die lebensnotwendigen Auseinandersetzungsprozesse nicht fördern, sondern verfällt in eigene Vorurteile. Es entstehen vereinzelte Experten im Team. ± die bikulturelle Zusammensetzung einer öffentlichen Gesundheitseinrichtung hat eine Signalwirkung für die Gesamtbevölkerung sowohl nach innen als auch nach auûen durch Einflussmöglichkeiten sozialpolitischer Art über andere öffentliche Einrichtungen als Vermittler und auch Anwalt der ausländischen Bevölkerung. Die ausländischen Familien sehen ihren Landsmann in einer deutschen Institution als gleichberechtigten Mitarbeiter und das macht ihnen Mut, gibt Perspektive und vermittelt Integrationsmöglichkeit. Die Schilder an der Tür, das gemeinsame Warten in der Sprechstunde mit anderen ausländischen Familien und womöglich die Beratung durch eine ausländische Fachkraft bringen die deutschen Familien 90


dazu, eine andere Erfahrung mit dem Fremden zu machen. Durch die deutschen Kollegen wird ¹das Deutscheª den ausländischen Familien nahegebracht und ¹eine Begegnung in einem therapeutisch geschützten Rahmenª mit Hilfe der bikulturellen Kooperation initiert. Die Zusammenarbeit von deutschen und ausländischen Kollegen wirkt integrativ. Dazu eine Fallvigniette: Bei einer abgekapselten, sehr religiös orientierten türkischen Familie bat ich meinen deutschen ärztlichen Kollegen2 um die Mitarbeit (manchmal setzen wir die ärztliche Autorität gezielt ein. Es kann vorkommen, dass eine Intervention als Verordnung einer ärztlichen Maûnahme gegeben wird). Es ging um den Generationskonflikt mit der 14jährigen Tochter, die sich von den Eltern aber besonders von ihrem Vater nicht verstanden fühlte. Sie hatte deswegen einen Suizidversuch unternommen und Tabletten geschluckt. Zuerst wurde mein Kollege von der Familie nicht ernst genommen, ja fast ignoriert. Nachdem die Beziehung zwischen mir und der Familie einigermaûen tragend war, konfrontierte ich die Familie damit. Es bestanden massive Vorurteile gegenüber ¹dem Deutschenª. Ich ermunterte den Vater meinem Kollegen Fragen zu stellen. Der türkische Vater war völlig überrascht festzustellen, dass ¹ein deutscher Vater sich genauso viele Sorgen um seine Töchter machen kannª, wie ein türkischer Vater. Er machte sich nämlich Sorgen, dass seine Tochter auf die schiefe Bahnen oder mit Drogen in Kontakt geraten könnte, weil sie spät nach Hause kam. Nicht nur der Angstabbau vor dem deutschen Arzt, aber besonders die Feststellung der Übereinstimmung mit dem Fremden, den man wegen der fantasierten Nicht-Übereinstimmung bis jetzt als Gegenüber vermied, war ausschlaggebend für den Wendepunkt in der Beratung mit dieser Familie, der dann eintrat. Eine andere Fallvigniette zeigt die Wichtigkeit muttersprachlicher Fachkompetenz: Die ausländischen Fachkräfte kennen die soziokulturellen, religiösen, sozialpsychologischen und traditionsbezogenen Hintergründe und Kulturtechniken und können sich kulturell einfühlen. Eine alleinerziehende türkische Mutter befand sich in der Beratung eines türkischen Kollegen3 wegen der Probleme ihrer Kinder. Als die Kinder von ihrem alkoholabhängigen und gewalttätigen Mann in die Türkei entführt worden waren, kam mein Kollege auf eine sehr kreative Idee und nahm Kontakt zu dem Dorfvorsteher in der Türkei auf und bat ihn um seine Mithilfe. Der Dorfvorsteher sicherte seine Mithilfe zu, falls ¹die unglückliche Mutterª kommen sollte. Die Mutter fuhr hin und bekam alle ihre Kinder vom Dorfvorsteher zurück, der durch Gespräche alles vorher geregelt hatte. Unsere jetzige Situation und Ausblick Das Projekt wurde zwar wegen seiner erfolgreichen Arbeit auf Empfehlung der Enquettekommission im Jahre 1986 vom Land Berlin zunächst übernommen (Beschäftigungspositionen keine Planstellen). 1994 fielen jedoch 3 1/2 Stellen den Sparmaûnahmen zum Opfer. Übrig blieben eine volle Sozialarbeiterstelle und zwei halbe Psychologenstellen, die alle von türkischen Fachkräften besetzt sind. Die Mitarbeiter überweisen jetzt mehr an die niedergelassenen Praxen, die durch die jahrelange Kooperation mit dem Projekt selbst zu Multiplikatoren geworden sind, und die jetzt selbst z. B. auch bikulturelle therapeutische Kindergruppen durchführen. Auch andere Fachkräfte sind weiterhin im Bezirk aktiv. Es ist tröstlich zu sehen, dass der Projektgeist sich in Kreuzberg behaupten konnte und die Grundüberlegungen und Teile des Konzeptes, von anderen (übrigens auch auûerhalb Berlins) 2

Ich danke meinem Kollegen Herrn Dr. med. Kurt Wienecke für seine Zustimmung zur Veröffentlichung

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Ich danke meinem Kollegen Herrn Kadir Kaynak für seine Zustimmung zur Veröffentlichung

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übernommen und weitergetragen wurden, so dass sich die psychosoziale Versorgung ausländischer Familien ein stückweit verändert hat. Allerdings ist die Zahl der Familien, deren Probleme nur durch eine möglichst weitgehende Einbeziehung nichtdeutscher Fachkräfte aufgefangen und bearbeitet werden können, nach wie vor sehr hoch. So sind weiterhin ± neben den interkulturell konzipierten Angeboten ± in besonders sensiblen Bereichen auch muttersprachliche ausländerspezifische Angebote in den öffentlichen Gesundheitsdiensten notwendig, abgesehen von der Tatsache, dass solche Möglichkeiten für Menschen unterschiedlicher kultureller Herkunft generell zur Verfügung stehen sollten.

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Literatur: Güç, Fatih (1980): Diskriminierung und gestörte Werte-Hierarchie. in: Neuer Rundbrief, Heft 2/3, Senator für Familie, Jugend und Sport, Berlin. Güç, Fatih (1984): Geteilte Familie ± Die Auswirkung des Wanderungsprozesses auf die Familiendynamik. in: Kenntenich u. a. (1984): Zwischen zwei Kulturen, Was macht Ausländer krank?, Verlagsgesellschaft GmbH. Güç, Fatih (1986): Wünschenswerte Voraussetzungen des Therapeuten bzw. des Beraters für die therapeutisch-beraterische Arbeit mit Ausländern. in: Migration u. psychische Gesundheit, Arbeiterwohlfahrt Bundesverband e. V. Güç, Fatih (1990): Multikultureller und bikultureller Alltag in Kindertagesstätten in: Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit, 41. Jahrgang, Nr. 11. Güç, Fatih (1991): Ein familientherapeutisches Konzept in der Arbeit mit Immigrantenfamilien in: Familiendynamik, interdisziplinäre Zeitschrift für systemorientierte Praxis und Forschung, 16. Jahrgang, Heft 1.

Fatih Güç Bülowstraûe 90 10783 Berlin Telefon: 0 30/2 61 58 65

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Das interkulturelle Gesundheitsamt: weitere Arbeitsbereiche



Migrationsbezogene Gesundheitsberichterstattung auf kommunaler Ebene am Beispiel der Stadt Nürnberg CHRISTOPH GÜRTLER 1. Relevanz des Themas Kommunale Gesundheitsberichterstattung lässt sich definieren als ¹Lagebeschreibung und Ermittlung von vordringlichen Handlungsbedarfen im Hinblick auf die gesundheitliche Lage und Versorgung von Bevölkerungsgruppenª (Hamburger Projektgruppe Gesundheitsberichterstattung 1990). Damit ist das Doppelziel Information und entscheidungsfördernde Bewertung als wesentliches Element der Gesundheitsberichterstattung angesprochen. Es gibt eine ganze Reihe von Gründen (vgl. dazu Razum/Zeeb), sich auch und besonders auf kommunaler Ebene mit der Bevölkerungsgruppe der MigrantInnen auseinander zusetzen und sie im Rahmen der Gesundheitsberichterstattung speziell zu berücksichtigen. Die Gründe sind u. a. c der durch eine Vielzahl von Studien belegte Sachverhalt, dass MigrantInnen mit deutlich gröûeren Morbiditäts- und Mortalitäts-Risiken in Abhängigkeit von ihrer sozialen Lage und Biographie behaftet sind als Einheimische (Collatz 1994, S. 112 ff); c die für MigrantInnen immer noch bestehenden Zugangsbarrieren zu den Angeboten des Gesundheitssystems aufgrund von Verständigungsproblemen, kultureller Distanz und mangelnder Kenntnisse über die Angebote und deren Notwendigkeit. Insbesondere Angebote im präventiven Bereich werden von ihnen noch wenig in Anspruch genommen. Eine migrationsbezogene Gesundheitsberichterstattung auf kommunaler Ebene sollte daher, wo dies von der Datensituation her möglich ist oder ermöglicht werden kann, MigrantInnen explizit als besondere Bevölkerungsgruppe in alle Untersuchungen mit einbeziehen. Die Alternative wäre ein eigenständiger Gesundheitsbericht zur Situation von Migrantinnen und Migranten, wie er für andere Bevölkerungsgruppen (z. B. für alte Menschen oder Kinder- und Jugendliche) in einigen Städten bereits vorgelegt wurde. Die im Rahmen der Gesundheitsberichterstattung gewonnenen Erkenntnisse können, im Sinne des oben definierten Doppelziels, dazu beitragen, die Angebotsstruktur besser auf die Belange der MigrantInnen auszurichten, Zugangsbarrieren abzubauen und durch gezielte Kampagnen auf eine bessere Inanspruchnahme der präventiven Angebote hinzuwirken. 2. Gesetzliche Vorgaben Der Gleichheitsgrundsatz des Grundgesetzes in Verbindung mit den im Sozialgesetzbuch aufgeführten Aufgaben des Sozialstaats garantiert jedem Bürger den Zugang zu den durch das System gesundheitlicher Sicherung bereitgestellten Möglichkeiten, gesund zu bleiben oder gesund zu werden, ohne Rücksicht auf seine finanzielle Situation, auf seinen Platz in der Gesellschaft und unabhängig von seinem Wohnort (Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung). Aus dieser Vorgabe leitet sich auch die oben getroffene Begründung einer migrationsspezifischen Gesundheitsberichterstattung ab. 97


Eine gesetzliche Grundlage für eine differenzierte Gesundheitsberichterstattung fehlt weitgehend. Nur in einigen Bundesländern gibt es entsprechende Ansätze. In Bayern heiût es zur Gesundheitsberichterstattung im Gesetz über den öffentlichen Gesundheitsdienst: ¹Der öffentliche Gesundheitsdienst ¼ beobachtet und bewertet die gesundheitlichen Verhältnisse von Menschen und Tieren einschlieûlich der Auswirkungen von Umwelteinflüssen auf die Gesundheitª (Art. 1, Abs. 1,Ziff. 2, Bay GDG). 3. Probleme und Schwierigkeiten der Gesundheitsberichterstattung Ein zentrales Problem der Gesundheitsberichterstattung ± nicht nur, aber besonders auf kommunaler Ebene ± besteht darin, dass im Rahmen der amtlichen Statistik fast keine Daten für den Gesundheitsbereich vorliegen. Aber auch dort, wo Daten vorliegen, sind sie teilweise nicht nach BürgerInnen deutscher und nichtdeutscher Staatsbürgerschaft getrennt. Und liegt doch eine Differenzierung vor, dann meist nicht nach Nationalitätengruppen oder gar aufenthaltsrechtlichem Status. Hinzu kommt, dass es sich bei MigrantInnen um eine sehr heterogene Bevölkerungsgruppe (vgl. z. B. Razum/Zeeb) handelt. Für die Datenerhebung und -analyse erhebt sich dabei das Problem, dass sich die Unterschiede zwischen den einzelnen Teilgruppen zwar auf das Morbiditäts- und Mortalitätsgeschehen auswirken, sie in aller Regel aber bei der Datenerfassung nicht berücksichtigt werden können. Solche Unterschiede ergeben sich aus: c unterschiedlichem aufenthaltsrechtlichen Status, c unterschiedlicher Aufenthaltsdauer in Deutschland, c unterschiedlichem Integrationsgrad in die deutsche Gesellschaft (Sprachkenntnisse, kulturelle Bindungen, Teilhabe am öffentlichen Leben), c Nationalität und Geschlecht als wichtige zusätzliche Determinanten. Aber auch die aktuelle Nationalitätenzugehörigkeit ist streng genommen noch nicht ausreichend aussagekräftig. Eigentlich müssten auch die eingebürgerten MigrantInnen noch erfasst werden. Diese Problematik gilt besonders für SpätaussiedlerInnen, die ebenfalls der Migrationsbevölkerung zuzurechnen sind. Sie lassen sich nur annähernd ermitteln, da die Aussiedlereigenschaft melderechtlich nicht festgehalten wird. Die im Meldewesen eingetragenen Merkmale Geburtsort und -land, Herkunft und Staatsangehörigkeit geben hierzu jedoch die erforderlichen Hinweise (Statistischer Monatsbericht). 4. Datenbasis auf lokaler Ebene Die folgenden Daten sind auf kommunaler Ebene vorhanden (Razum/Zeeb): Demographische Daten über MigrantInnen aus der Einwohnermeldedatei über das Statistische Amt für die Merkmale c Alter c Geschlecht c Bewegungsdaten (Zuzüge, Wegzüge, Geburten und Todesfälle). nach Nationalität. 98


Darüber hinaus liegen, nachdem seit 1987 keine Volkszählungen mehr durchgeführt werden, keine soziostrukturellen Daten zur Bevölkerung wie Einkommen, Schulbildung und Familienstruktur vor. Für die Gesamtstadt Nürnberg gibt es nur Daten zur Arbeitslosigkeit und zum Bezug von Sozialhilfe. Da es sich hierbei um separate Datenquellen handelt (Sozialamt, Arbeitsamt, Einwohnermeldeamt), die aus Gründen des Datenschutzes nicht miteinander verknüpft werden dürfen, lassen sich diese Daten weder mit den demographischen noch mit den Mortalitätsdaten verbinden. Die Daten zur Mortalität entstammen der Sterbefallerhebung der Gesundheitsämter und dem Sterberegister der Standesämter und werden erst in den Statistischen Landesämtern zusammengeführt. Da nur im Sterberegister, nicht aber auf dem Totenschein die Nationalität erfasst wird, liegen nationalitätenbezogene Daten zur Mortalität nur für die Merkmale Geschlecht und Alter vor. Eine nationalitätenbezogene Auswertung der Todesursachen ist dagegen nur über die Statistischen Landesämter möglich. In den laufenden Veröffentlichungen wird jedoch nur nach Alter und Geschlecht differenziert. Für eine Nationalitätendifferenzierung wären Sonderauswertungen erforderlich, gegen die aus Datenschutzgründen Bedenken bestehen (Razum/Zeeb S. 284) Die Säuglingssterblichkeit ist eine Untergruppe der Mortalitätsstatistik mit einer sehr feinen Zeitdifferenzierung für die Zeit direkt nach der Geburt bis zur Vollendung des ersten Lebensjahrs. Hier wird vom Statistischen Landesamt regelmäûig auch eine Differenzierung in deutsch/nichtdeutsch vorgenommen. Bei den Todesursachen besteht ein erhebliches Problem hinsichtlich der Zuverlässigkeit der Daten. So weisen die Selbstmordzahlen mit Sicherheit eine hohe Dunkelziffer auf. Und auch die übrigen Todesursachen sind hinsichtlich ihrer Zuverlässigkeit sehr umstritten (Forschungsgruppe Gesundheitsberichterstattung, S. 429 f). Daten zur Morbidität liefern die Erhebungen nach dem Bundesseuchengesetz und dem Gesetz zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten, die durch das Gesundheitsamt erfolgen. Aber nur in der Tuberkulosestatistik werden auch die Nationalität und der Aufenthaltsstatus erfasst. Eine sehr wertvolle Datenbasis sind die Einschulungsuntersuchungen, da sie einen ganzen Jahrgang vollständig erfassen. Allerdings liegen hier über die statistischen Landesämter nur gesamtstädtische Daten vor. Eine differenzierte Analyse muss von der Stadt selbst durchgeführt werden, wozu nur wenige Kommunen in der Lage sind. Mit wenigen Ausnahmen werden dabei nur die einzuschulenden Kinder insgesamt betrachtet. Die Auswertung der Schuleingangsuntersuchungen 1989-91 in Essen (Stadt Essen 1993) differenziert alle Ergebnisse durchgehend nach deutsch, darunter ein nichtdeutscher Elternteil/nichtdeutsch, darunter türkisch. Eine solche Differenzierung stellt aber leider die groûe Ausnahme dar. Eine weitere Datenquelle sind die Aufzeichnungen aus der laufenden Arbeit, wie z. B. aus dem Bereich der Kinder- und Jugendärzte oder der Jugendzahnärzte. Hier hängt es stark von der Motivation und Belastbarkeit der MitarbeiterInnen ab, ob die Daten auch systematisch zugänglich gemacht und evt. auch ausgewertet werden. Hierzu gehören auch qualitative Daten und Befunde aus der täglichen Arbeit von Beratungsstellen und den Untersuchungen der Kinderärzte in Kindergärten und Schulen. So wurden in Nürnberg beispielsweise die Protokolle der Schwangerschaftskonfliktberatung speziell auch unter dem Gesichtspunkt Nationalitätenzugehörigkeit ausgewertet (Bauernschmitt 1997). 99


Aus dieser Mangelsituation heraus führen einzelne Städte immer wieder eigene Befragungen zur gesundheitlichen Situation und zu einzelnen Einzelthemen durch. In aller Regel handelt es sich dabei jedoch bisher nicht um migrationsspezifische Fragestellungen. Eine Möglichkeit besteht darin, dass in die inzwischen von vielen Städten durchgeführten regelmäûigen Wohnungs- und Haushaltserhebungen gesundheitliche Fragestellungen mit aufgenommen werden (Stadt Nürnberg, Amt für Stadtforschung und Statistik 1998). Eine andere Möglichkeit ist die Kooperation mit örtlichen Hochschulen oder Forschungseinrichtungen (Gürtler/Meusel 1998). Eigene Erhebungen durch das Gesundheitsamt sind dagegen kaum finanzierbar. Allerdings werden inzwischen bereits weniger aufwendige und daher wesentlich preisgünstigere Erhebungsformen praktiziert (Telefoninterviews, qualitative Interviews). Schriftliche Befragungen sind wesentlich preisgünstiger als mündliche, haben dafür aber einen geringen Rücklauf. Auûerdem besteht weiterhin das Problem der Auswertung. Für die Befragung von MigrantInnen sollten die Fragebögen möglichst in der Sprache der Befragten abgefasst sein bzw. die Befragung in der jeweiligen Muttersprache erfolgen, da selbst MigrantInnen der zweiten Generation vielfach nicht über genügend differenzierte Deutschkenntnisse verfügen, um die Fragen zweifelsfrei zu verstehen und beantworten zu können. Ein anderer Weg ist die Erhebung von Daten aus den Praxen niedergelassener ¾rzte. Nürnberg (Günther-Binnberg/Rothe 1997) hat hierzu in Anlehnung an ein Projekt der Freien Hansestadt Hamburg (Berufsverband der ¾rzte für Kinderheilkunde und Jugendmedizin 1995) vorübergehend kinderärztliche Beobachtungspraxen eingerichtet, die ausgewählte Daten zu Atemwegs- und Hautbeschwerden über zwei Jahre an das Gesundheitsamt zurückmeldeten. In den beiden Studien ist allerdings die Nationalität nicht mit erhoben worden; eine solche Differenzierung ist jedoch nicht ausgeschlossen. Migrationsspezifische Versorgungsdaten sind vor allem unter dem Aspekt der Angebotsverbesserung interessant. So wurde in Köln (Projektgruppe 1995) eine Adressenlisten mit fremdsprachlichen Angeboten (¾rztinnen und ¾rzte und andere Heilberufe, Beratungsstellen) herausgegeben. Dabei ist es wichtig, dass für ein erfolgreiches Beratungsgespräch bzw. eine Anamnese mehr als nur Grundkenntnisse in einer Sprache erforderlich sind. In Nürnberg wurde dieses Problem, auûer bei den niedergelassenen ¾rztinnen und ¾rzten (bei ihnen werden Sprachkenntnisse über den ¾rztlichen Kreisverband erfasst), durch schriftliche Abfrage bei allen in das Verzeichnis aufzunehmenden Angeboten gelöst. Ebenfalls als ein Beitrag zur Verbesserung der Versorgung können KundInnenbefragungen dienen, wie sie im Rahmen der Verwaltungsreform zunehmend auch im öffentlichen Dienst durchgeführt werden. Voraussetzung hierfür ist eine migrationsspezifische Auswertung der Ergebnisse. 5. Analyseebene Zumindest in Groûstädten sollte die Datenanalyse möglichst dezentral, auf der Ebene kleiner Gebietseinheiten (Stadtteile, Bezirke o. ä. ) stattfinden, da: c MigrantInnen ungleichmäûig über das Stadtgebiet verteilt wohnen und c die Inanspruchnahme zentraler Einrichtungen durch MigrantInnen aufgrund eingeschränkter Mobilität nur bedingt gegeben ist. 100


Aber die wenigsten der gesamtstädtisch verfügbaren Daten lassen sich auch auf kleinere Gebietseinheiten herunterberechnen. Ohne zusätzliche eigene Erhebungen ist eine solche Analyse kaum möglich. In Nürnberg wurde für den Stadtteil mit dem höchsten Ausländeranteil (in einzelnen Altersgruppen über 50 %) auf der Basis einer Befragung in Kindergärten und Schulen (Wittenberg et al. 1997) ein Stadtteilgesundheitsbericht zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen erstellt (Stadt Nürnberg 1997). Für verschiedene Altersgruppen wurden dabei untersucht: Entwicklungsbedingungen und -hemmnisse, Infrastruktur, Belastungen durch den Straûenverkehr, Wohnung und Wohnumfeld, gesundheitliche Situation (jugendärztliche und jugendzahnärztliche Befunde, subjektive Einschätzung) sowie bei den älteren Schülern Tagesablauf und Freizeitverhalten. Allerdings wurde nur bei besonderen Auffälligkeiten zwischen deutschen und nichtdeutschen Kindern und Jugendlichen unterschieden. 6. Kooperationspartner Als Kooperationspartner bieten sich natürlich zunächst die kommunalen Dienststellen, wie Statistisches Amt, Jugendamt und Allgemeiner Sozialdienst an. Ein fast noch wichtigerer Datenlieferant ist das Statistische Landesamt, wo die Mehrzahl der auf kommunaler Ebene erzeugten Daten gesammelt und aufbereitet werden. Die örtlichen Hochschulen könnten über Praktika, Diplom- und Magisterarbeiten, Dissertationen sowie praxisorientierte Lehrveranstaltungen und Forschungen in die Gesundheitsberichterstattung eingebunden werden (Stadt Nürnberg 1998). Die Kooperation mit den Krankenkassen ist in aller Regel schwierig. Spätestens seit zwischen den Kassen durch die freie Kassenwahl ein starkes Konkurrenzverhältnis besteht, sind sie kaum bereit, Daten über ihre Patienten zur Verfügung zu stellen (Razum/Zeeb, S. 285), zumal die Mitglieder der einzelnen Kasse immer nur einen mehr oder minder groûen Anteil an der Gesamtbevölkerung ausmachen.

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Zitierte Literatur: Bauernschmitt, Vera (1998): Schwangerschaftskonfliktberatung. Eine Inhaltsanalyse der Beratungsprotokolle des Gesundheitsamtes Nürnberg von 1993 bis 1995. in: Stadt Nürnberg 1998. Günther-Binnberg, Katja, Rothe, Thomas (1997): Kinderärztliche Beobachtungspraxen in Nürnberg 1995/96. Stadt Nürnberg, Gesundheitsamt, Schriftenreihe zur Gesundheitsförderung, Nürnberg. Collatz, Jürgen (1994): Zur Realität von Krankheit und Krankheitsversorgung von Migranten in Deutschland. in: Kritische Medizin im Argument, Jahrbuch für kritische Medizin Band 23: 101 ± 132. Forschungsgruppe Gesundheitsberichterstattung: Aufbau einer Gesundheitsberichterstattung ± Bestandsaufnahme und Konzeptvorschlag. Band II, St. Augustin 1990. Berufsverband der ¾rzte für Kinderheilkunde und Jugendmedizin, Landesverband Hamburg und Behörde für Arbeit, Gesundheit und Soziales, Amt für Gesundheit: Beobachtungspraxen in Hamburgs Kinderarztpraxen. Atemwegs- und Hautbeschwerden, Gewalt gegen Kinder. Hamburg 1995 Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung (Hrsg.): Übersicht über das Sozialrecht. Bonn o. J. Gürtler, Christoph, Meusel, Monika (1998): Kommunale Gesundheitsberichterstattung am Beispiel der Stadt Nürnberg. in: Gesundheitswesen, 60: 431 - 438. Hamburger Projektgruppe Gesundheitsberichterstattung: Praxishandbuch Gesundheitsberichterstattung. Akademie für das Öffentliche Gesundheitswesen in Düsseldorf, Schriftenreihe Band 18, Düsseldorf 1996. Projektgruppe ¹Gesundheitsprobleme ausländischer Bürgerinnen und Bürgerª des Gesundheitsforums der Stadt Köln (Hrsg.): Kölner Gesundheitswegweiser für Migrantinnen und Migranten. Köln 1995. Razum, Oliver, H. Zeeb (1998): Epidemiologische Studien unter ausländischen Staatsbürgern in Deutschland ± Notwendigkeit und Beschränkung, in: Gesundheitswesen 60: 283 - 286. Stadt Essen, Amt für Entwicklungsplanung, Statistik, Stadtforschung und Wahlen, Gesundheitsamt (1993): Soziale Einflüsse auf die Gesundheitsvorsorge ± Eine Analyse der Schuleingangsuntersuchungen 1989, 1990 und 1991. Beiträge zur Stadtforschung 10, Essen. Stadt Nürnberg, Gesundheitsamt (1997): Kinder und Jugendliche in Gostenhof. Ausgewählte Aspekte ihres gesundheitlichen und sozialen Wohlbefindens. Schriftenreihe zur Gesundheitsförderung, Nürnberg. Stadt Nürnberg, Gesundheitsamt (1998): Beiträge zur Gesundheitsförderung. Schriftenreihe zur Gesundheitsförderung, Nürnberg. Stadt Nürnberg, Amt für Stadtforschung und Statistik (1998): Leben in Nürnberg. Ergebnisse der Wohnungs- und Haushaltserhebung 1995. Nürnberg. 102


Statistischer Monatsbericht für November 1998 (1998): Aussiedler in Nürnberg. Nürnberger Statistik aktuell, Amt für Stadtforschung und Statistik, Nürnberg. Wittenberg, Reinhard et al. (1997): Stadtteilgesundheitsbericht Gostenhof. Zur Gesundheit von Kinder und Jugendlichen. Stadt Nürnberg, Gesundheitsamt, Schriftenreihe zur Gesundheitsförderung, Nürnberg. Christoph Gürtler Stadt Nürnberg Gesundheitsamt Gesundheitsförderung Burgstr. 4 90317 Nürnberg Telefon: 09 11/2 31-33 82 Telefax: 09 11/2 31-38 47

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Migration und Auswirkungen auf die Ernährung BRIGITTE SCHMID Die Ernährung beeinflusst entscheidend unsere Gesundheit, Leistungsfähigkeit und unser Wohlbefinden. Darüber hinaus ist die Ernährungsweise mit allen Lebensbereichen verwoben und wird maûgeblich von der jeweiligen Lebenssituation beeinflusst. Essen und Trinken gehören zu unseren (all-)täglichen Handlungen, die wir zu allen Zeiten und an allen Orten unseres Daseins ± ob im Kindes- oder Erwachsenenalter, ob zu Hause oder auf Reisen ± ausführen. Veränderungen der Lebenssituation wirken sich direkt auf das Ernährungsverhalten aus. Besondere Bedeutung hat dies beispielsweise für Migranten und ihre Nachkommen. Durch den Ortswechsel werden sie mit ökonomischen, technischen und sozial-kulturellen Veränderungen konfrontiert. Übertragen auf den Ernährungsbereich sind dies beispielsweise ein verändertes Verhältnis von Nahrungsmittelpreisen zum Einkommen, eine neue Einkaufssituation mit andersartigem Warenangebot und ein veränderter Lebensrhythmus. Die Art der Veränderungen in der traditionellen Ernährungsweise, in welchem Ausmaû und mit welchen Konsequenzen für die Gesundheit diese stattfinden, hängt von den jeweiligen kulturellen, ökonomischen und gesellschaftlichen Gegebenheiten im Ursprungs- und Einwanderungsland und von der subjektiven Lebenslage des einzelnen ab, z. B. in welchem Alter und ob die Migration als Einzelperson oder im Familienverband stattfindet. Dennoch lassen sich einige Veränderungen in der Ernährungsweise verallgemeinern, die hauptsächlich bei Migranten auftreten, deren Migration bereits längere Zeit zurückliegt. Im Zuge der Aneignung von Verhaltensmustern der Einwanderungsgesellschaft übernehmen die Migranten auch Eûgewohnheiten der einheimischen Bevölkerung. Dieser Austausch von Verhaltensweisen ist wechselseitig zu verstehen: auch die einheimische Bevölkerung übernimmt Ernährungsweisen der Migranten, wie z. B. die Beliebtheit von Pizza bei den Deutschen zeigt. Folgendes Schema beschreibt die Geschwindigkeit und Struktur der Ernährungsveränderungen bei Migranten:

Abb. 1

Abb. 2

Veränderung

Grund-

Grund-

nahrungsmittel

nahrungsmittel

Ergänzende

Ergänzende

Lebensmittel Zusatzlebensmittel

Lebensmittel

Zusatzlebensmittel

Quelle: Koctürk, T.: Structure and change in food habits. In: Scandinavian Journal of Nutrition. Vol.40, S. 108-110, 1996 (verändert)

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Zuerst werden die Lebensmittel nach ihrer kulturellen Bedeutung in drei Gruppen eingeteilt (Abb.1). Den Mittelpunkt bilden die kohlenhydratreichen Grundnahrungsmittel und deren Produkte, wie z. B. Weizen, Reis, Kartoffeln, Brot und Nudeln. Kennzeichnend für diese Lebensmittel ist, dass sie grundlegender Bestandteil fast jeder Mahlzeit sind. In einer vollständigen Mahlzeit begleiten die ergänzenden Lebensmitteln die Grundnahrungsmittel. Dazu gehören die Gruppen Fleisch/ Fisch/Eier, Milch/Käse, Gemüse und Hülsenfrüchte. Zusatzlebensmittel haben in erster Linie geschmackliche und dekorative Funktionen. So tragen Fette, Öle und Gewürze hauptsächlich zur geschmacklichen Verfeinerung der Mahlzeiten bei, während Süûigkeiten, Getränke, Nüsse und Früchte eher schmückendes Beiwerk darstellen. Abhängig von der Zugehörigkeit zum Kulturkreis spielen verschiedene Lebensmittel eine Hauptrolle in der Ernährung der Menschen: Beispielsweise ist für Asiaten der Reis ein wichtiges Grundnahrungsmittel, Nordeuropäer essen dagegen mehr Kartoffeln. Am schnellsten ersetzen Migranten die gewohnten Zusatzlebensmittel durch diejenigen des Einwanderungslandes (Abb.2). In geringerem Maûe und zeitlich erst viel später treten Veränderungen in der Gruppe der ergänzenden Lebensmittel auf. Am längsten halten die Migranten an den gewohnten Grundnahrungsmitteln fest. Der Grund dafür liegt in der unterschiedlichen kulturellen Bedeutung der Lebensmittel. Die Migranten behalten am längsten ihre gewohnten Grundnahrungsmittel bei, da diese die kulturelle Basis ihrer Küche darstellen und somit eine Möglichkeit der Identitätsstiftung bieten. Aus Sicht der Mahlzeitenordnung treten zuerst Veränderungen zwischen den gewohnten Mahlzeiten auf: Sogenanntes ¹Snackingª, also das Essen von Kleinigkeiten zwischendurch, nimmt zu. Als nächstes halten die genannten Veränderungen Einzug in die traditionellen Mahlzeiten: Hier gilt wiederum, je gröûer die kulturelle Bedeutung einer Mahlzeit ist, um so mehr wird an den traditionellen Lebensmitteln und Gerichten festgehalten. So kommt beispielsweise an Festtagen oder im Urlaub bevorzugt traditionelle Kost auf den Tisch. Die Veränderung des Ernährungsverhaltens verläuft nicht einfach als geradliniger Angleichungsprozess an die Gewohnheiten im Einwanderungsland. Bemerkenswert ist, dass es in den wenigsten Fällen zu einer vollständigen Übernahme der deutschen Ernährungsweisen kommt. Sowohl die Angehörigen der zweiten und dritten Generation als auch Senioren, deren Migration bereits viele Jahre zurückliegt, ernähren sich noch anders als ihre eingesessenen Nachbarn. Oft zeigen die Migranten Verhaltensweisen, die weder denen des Ursprungs- noch denen des Einwanderungslandes ähnlich sind. Es scheint so, als würden die Migranten ein eigenständiges Ernährungsverhalten entwickeln, das sich sowohl von dem des Ursprungs- als auch von dem des Einwanderungslandes unterscheidet. Die angesprochenen Ernährungsveränderungen rufen Diskussionen über deren gesundheitliche Auswirkungen hervor. In manchen Nährstoffgruppen erfüllt die Ernährung der Migranten die Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Ernährung e. V. besser als die Kost der eingesessenen Bevölkerung (z. B. verwenden manche Migrantengruppen häufiger das ernährungsphysiologisch günstige Olivenöl). Andererseits wird beispielsweise von einer sogenannten ¹Verwestlichungª des Ernährungsverhaltens gesprochen. Damit ist insbesondere der Übergang von einer hauptsächlich auf Getreide basierender Kost zu einer Nahrung mit einem hohen Anteil tierischer Eiweiûe, wie sie in den Industriegesellschaften üblich ist, gemeint. Damit steigt jedoch das Risiko für die Migranten, an den in den Industrieländern weit verbreiteten ernährungsabhängigen Krankheiten wie Übergewicht, Herz-Kreislauferkrankungen, Bluthochdruck und Diabetes zu erkranken. Dabei ist 106


nicht jede Migrantengruppe in gleicher Weise von der Ernährungsveränderung und deren ernährungsphysiologischen und gesundheitlichen Auswirkungen betroffen. Ausschlaggebend ist dabei, in welchem Ausmaû die traditionelle Ernährungsweise aufgegeben und durch welche neuen Elemente diese ersetzt wird. Wegen des Beitrags, den die Ernährung zum psychischen und physischen Wohlbefinden leistet, müssen Aufklärungs- und Beratungskonzepte im Ernährungsbereich auf die jeweilige Bevölkerungsgruppe ausgerichtet sein. Die Maûnahmen sollten die kulturspezifischen Ernährungsgewohnheiten der Migranten miteinbeziehen und die Wechselwirkungen zwischen traditioneller und deutscher Ernährungsweise sowie die Lebenssituation in Deutschland berücksichtigen.

Literatur: Feichtinger, E. (1996): Armut und Ernährung, Berlin Hartog, A. den (1994): Ernährung und Migration, ¹Ernährungsumschau 41ª Heft 6: 216 ± 221

Brigitte Schmid Technische Universität München Professur für Marktlehre und Ernährungswissenschaft Alte Akademie 14 85350 Freising-Weihenstephan Telefon: 0 81 61/71-43 83 Telefax: 0 81 61/71-45 36

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Flüchtlinge und Ernährung KARIM MASHKOORI An Personen, die als Asylsuchende nach Münster kommen, wendet sich das folgende Projekt. In Münster (Westfalen) leben zur Zeit ca. 1 000 (Stand Anfang 1999) Asylbewerber und Kriegsflüchtlinge in zehn städtischen Übergangsheimen. Sie kommen aus über 40 Nationen.

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Durch Elend und Flucht haben diese Menschen in den meisten Fällen auch unter gesundheitlichen Defiziten zu leiden. Das Lebensumfeld der Flüchtlinge hier hat oft wenig mit dem Kulturkreis, der Sprache, der Erziehung sowie der sozialen und gesundheitlichen Infrastruktur ihrer Heimat gemein. Die Flüchtlinge, vor allem die Kinder brauchen daher auch lebenspraktische Hilfestellungen. Da sie aber in den meisten Fällen nicht über ausreichende Kenntnisse verfügen, entsprechende Angebote der Gesundheitsversorgung, der Prävention 110


und Gesundheitshilfe aktiv nachzufragen und zu nutzen, leistet die Stadt Münster verstärkt aufsuchende Gesundheitshilfen. Unter dem Stichwort ¹Hilfe zur Selbsthilfeª hat das städtische Gesundheitsamt rein Paket aus sozialmedizinischen, sozialpädiatrischen, vorbeugenden und lebenspraktischen Hilfestellungen entwickelt. Ziel ist die Verbesserung der gesundheitlichen Situation der betroffenen und eine stärkere Vernetzung dieser Aktivitäten zu den etablierten -angeboten im kommunalen Versorgungssystem insbesondere in bezug auf eine engere Kooperation mit den niedergelassenen ¾rzten und den Krankenhäusern vor Ort. Ein besonderes Augenmerk bei diesen Hilfen gilt der richtigen Ernährung. Eine gesunde Ernährung fällt schon schwer, z. B. wenn man auf Lebensmitteln Angaben zu Nährstoffgehalt, Aufbewahrung, Haltbarkeit und Dosierung nicht lesen kann, die Unterschiede zwischen H-Milch und Vollmilch unbekannt sind, manche Lebensmittel gar nicht kennt, mit gefriergekühlten Lebensmitteln nicht viel anfangen kann, weil es sie in der Heimat nicht gibt, dann ist es oft nur unter erschwerten Bedingungen möglich, sich gesund zu ernähren. Unter dem Titel ¹Gesund lebenª wurde daher ein alltagsbezogenes Informationspaket entwickelt ± von der gesunden Ernährung in jedem Alter über die richtige Lagerung von Lebensmitteln bis hin zur Zahnpflege und Wohnraumhygiene. Die Informationen sind so aufgearbeitet, dass sie die besonderen Bedürfnisse, Gewohnheiten und Umsetzungsmöglichkeiten berücksichtigen. Wegen der unterschiedlichen Nationalitäten der Flüchtlinge sind die Infoblätter so angelegt, dass neben die deutsche Fassung die fremdsprachige gesetzt werden kann. Die Zweisprachigkeit erleichtert die Anwendung der Ratschläge zum Beispiel beim Einkauf oder beim Arztbesuch. Anschauliche Grafiken ergänzen die Tipps. Die Mappe ¹Gesund lebenª liegt in den sechs gängigsten Sprachen Arabisch, Türkisch, Serbokroatisch, Englisch, Russisch und Persisch vor. Sie wird auf Wunsch Einrichtungen zur Verfügung gestellt, die mit benachteiligten Personen arbeiten.

Karim Mashkoori Gesundheitsamt Münster Stühmerweg 8 48147 Münster Telefon: 02 51/4 92 53 04

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Praktische Ernährungsberatung bei Migranten CHRISTINA PITTELKOW-ABELE Zur Ernährungssituation von Migranten in Deutschland Bedarfsgerechte Ernährung ist ein Begriff, der sehr unterschiedlich ausgelegt werden kann. Er beinhaltet auûer den ernährungsphysiologischen Grundlagen auch immer sozio-kulturelle und psychologische Komponenten. So bestehen deutliche Unterschiede z. B. hinsichtlich der Beachtung religiös geprägter Ernährungsgebote und -verbote, der finanziellen Situation und dem Grad der Verfügbarkeit bestimmter Lebensmittel. Ein ganz wichtiger Aspekt ist auch die gemeinsame Identifikation über die Esskultur. Vor diesem Hintergrund wurde innerhalb von 10 Jahren die Ernährungs-Beratung im Gesundheitsamt Stuttgart regelmäûig von verschiedenen Gruppierungen zu einer Ernährungsberatung angefragt. Im Zeitraum von 1989 ± 1999 wurde der Kontakt meistens über die jeweiligen Gruppenbetreuer, in der Regel Sozialarbeiter, Sozialpädagogen oder Erzieher, hergestellt. Die Institutionen waren teilweise der Stadt oder dem Land zugeordnet, aber auch aus dem Bereich der freien Wohlfahrtspflege. So bestanden Kontakte z. B. ± zu Asylbewerberheimen, ± zu dem Arbeitskreis Dritte Welt ± zur Arbeiterwohlfahrt ± zur Gesellschaft für soziale Jugendarbeit ± zum Elternseminar des Jugendamtes ± Abteilung Offene Hilfen ± Freundeskreis Asyl Entsprechend wurden auch ganz unterschiedliche Gruppen betreut: Asylbewerber oder Aussiedler, Frauengruppe, Schul- oder Kindergartenkinder unterschiedlichster Herkunft. So wurde mit Türken, Kurden, Polen, Griechen, Jugoslawen, Bosniern, Russen, Rumänen, Irakern, Portugiesen, Libanesen und Vietnamesen Beratungen durchgeführt. Projektarbeit 1. Vorgespräch Das angebotene Programm wurde inhaltlich jeweils auf die verschiedenen Gruppen abgestimmt werden. Wichtig ist in diesem Zusammenhang ein ausführliches Vorgespräch mit dem zuständigen Betreuer der Gruppen, bei dem Informationen über die Essgewohnheiten der ausländischen Familien, die unter den unterschiedlichsten Bedingungen in der Bundesrepublik Deutschland leben, gesammelt werden. (Erstaunlicherweise ist teilweise sehr wenig darüber bekannt.) So kann z. B. in Erfahrung gebracht werden, welche traditionellen Ernährungsgewohnheiten die Gruppen beibehalten? Welche verändern sie? Welche geben sie ganz auf? Wo kaufen sie ein? Wer aus der Familie kauft ein? Wer kocht? 113


Auûerdem muss unbedingt geklärt werden, wie die Verständigung gewährleistet werden kann: Wie gut oder wie schlecht sprechen die Teilnehmerinnen/Teilnehmer deutsch? ± Können die Teilnehmerinnen/Teilnehmer deutsch schreiben und lesen? ± Wird ein Dolmetscher benötigt oder übersetzen die Teilnehmerinnen/Teilnehmer selber? Bei einem solchen Vorgespräch sollten unbedingt inhaltliche Grundfragen abgeklärt werden, damit man nicht. am Bedarf vorbei arbeitet. ± Welche Informationen werden gewünscht? ± Gibt es spezielle Probleme, auf die gesondert eingegangen werden muss? 2. Durchführung Die Aktionen mit den Migrantengruppen wurden je nach Bedarf methodisch sehr unterschiedlich gestaltet. So wurden Vorträge gehalten, Stuhlkreise oder praktische Tätigkeiten durchgeführt. 2.1 Kindergruppen Bevor mit den Kindern bestimmte Nahrungsmittel selbst zu bereitet wurden, wurde immer eine kurze Gesprächsrunde im Stuhlkreis mit Zuckerwürfel-Demo und Zuordnung von Lebensmitteln durchgeführt. -Der Stuhlkreis kann folgendermaûen gestaltet werden: Auf einer Moltonwand werden Lebensmittelgruppen zugeordnet, die später im Ernährungskreis wieder auftauchen. Die Kinder, die in der Regel Deutsch recht gut verstehen, werden gefragt: Was muss man essen, damit man groû und stark und nicht schnell müde wird? Aus der Sammlung der Antworten entsteht der Ernährungskreis. Fast food, Süûigkeiten und Limonaden werden in einem Extrasegment eingeordnet und besprochen. Das ist eine gute Überleitung zur Zuckerdemo, bei der beliebte Kinderprodukte mit ihrem Zuckergehalt in Würfelzuckerbeuteln gezeigt werden. Zum Abschluss werden die Kinder nach dem heute verzehrten Frühstück gefragt und evtl. Verbesserungsvorschlägen gemacht ± ohne die Kinder zu demotivieren. - Zubereitung Danach bietet sich eine praktische Speise-Zubereitung an. Gemüsespieûchen aus kleingeschnittenem Kohlrabi, Paprika, Karotten, Gurken, Cocktailtomaten konnten die Kinder nach ihrem Geschmack zusammenstellen. Müsli: Fertigmüsli wurde mit Buttermilch oder Naturjoghurt oder Vollmilch angeboten. Nach anfänglicher Skepsis wurde alles ¹verputztª. Pausenbrote mit Käse (auf Wurst wurde aus religiösen Gründen verzichtet) oder Kräuterquark wurden als Vollkornbrotscheiben mit einem selbstzubereiteten Kräuterquark (Frischkäse und magerer Quark mit kleingehackten Kräutern) und Gurkenhäppchen wurden ebenfalls mit dieser Mischung garniert und evtl. noch mit Gemüsestückchen verziert. Aus einer Basis-Früchtemischung (Banane, Orange, Birne, Apfel , evtl. Kiwi) wurde ein Obstsalat, ein Früchtequark und ein Früchtemüsli abgeleitet. Es wurde ein Fertigmüsli verwendet. 114


Wenn Mütter und Kinder in einer Einrichtung gemeinsam leben, wurde zunächst mit den Kindern zubereitet, und die Mütter dann eingeladen, die von den Kindern gestalteten Häppchen mit diesen gemeinsam zu verzehren. 2.2 Erwachsenengruppen Bei den Veranstaltungen für Erwachsene wurde zwischen reinen Frauengruppen und gemischten Erwachsenengruppen unterschieden. Als Medien bieten sich Flipchart, Overheadprojektor, Tafel oder auch nur alte Plakate, deren Rückseite man beschreiben kann, an. Der Vortrag oder die Gesprächsrunde wurde in der Regel simultan übersetzt und betont einfach gehalten. Auf Anregung einer Sozialarbeiterin eines Asylbewerberheimes wurde eine Liste und eine Demokiste mit empfehlenswerten Produkten und Preisauszeichnung von häufig besuchten Lebensmitteldiscountern zusammengestellt und aufgebaut. In dieser Kiste waren folgende Grundnahrungsmittel enthalten: ± H-Milch

± Jodsalz

± Vollmilch

± Früchtetee

± Buttermilch

± Haferflocken

± Apfelsaft

± Knäckebrot

± Multivitaminsaft

± Vollkornbrot

± Orangensaft

± Parboiled Reis

± Müsli Inhalte des Gesprächs waren der Ernährungskreis, Mahlzeitenverteilung, Pausenvesper, Getränke, Umgang mit Süûigkeiten, Zubereitung und Einkauf. In der Diskussion wurde u. a. gefragt: ± Welche Fette sind empfehlenswert und für welche Zubereitung sollten sie verwendet werden? ± Wie viel Süûigkeiten darf mein Kind essen? ± Ist Gelatine aus Schweineschwarten enthalten und wie kann man sie ersetzen? ± Können Gummibärchen an Kinder gegeben werden? ± Wo ist Schweinefleisch und Schweineschmalz versteckt enthalten? In Brötchen? In Hühnerfutter und damit im Ei? ± Kann für Kinder auch H-Milch verwendet werden? Die in der Diskussion zum Vorschein gekommenen Probleme waren: ± schlechte Zähne und unzureichende Ernährung durch schlechte Eûgewohnheiten; ± Eltern sind teilweise hilflos den Forderungen der Kinder gegenüber. So beklagte sich ein Vater, sein Geld würde knapp, weil täglich der Eismann käme und sein Kind täglich ein Eis von ihm fordere. ± der tägliche Einkauf beim mobilen Gemüsehändler beschränkte sich auf Melonen, Paprika und Tomaten; ± die Kinder wurden schwerpunktmäûig mit Weiûbrötchen, Nutella und Eis, die Säuglinge mit Grieûbrei, Keksen und Bananen ernährt; ± Fertignahrung aus Gläschen ist kaum üblich; 115


± beinahe täglich wird Fleisch verzehrt; ± manche Kinder essen groûe Mengen an Süûigkeiten. Bei der Besichtigung der Räume zusammen mit dem Kinderarzt fällt auf, dass oft wenig gelüftet wird und die Zimmer dadurch überhitzt werden. Die Kinder kamen wenig an die frische Luft und waren oft krank. Die Kochsituation in den Gemeinschaftsküchen und die Lebensmittel-Lagerung in den Zimmern waren oft ungünstig und hygienisch nicht einwandfrei. Die Themen der Gespräche in den Frauengruppen reichten über gesunde Ernährung bis zur Verhütung. Schwerpunktmäûig wurden aber folgende Themen nachgefragt: ± ± ± ± ± ± ± ±

Kinderernährung, Säuglingspflege und Säuglingsernährung Einkauf Gesund und preiswert einkaufen gesunde Kinder Krankheitsvorbeugung Übergewicht Verhütung

Kooperation innerhalb des Gesundheitsamtes Die Nachfrage ging teilweise über das reine Ernährungsangebot hinaus. Bei verschiedenen Themen bot sich die Hinzuziehung von weiteren Experten aus dem Gesundheitsamt an. Eine Kindergartengruppe aus einem Asylbewerberheim besuchte zusätzlich zur Ernährungsaktion die Jugendzahnklinik des Gesundheitsamtes und wurde von einen Zahnarzt und einer Prophylaxehelferin betreut. Bei den Müttergruppen hat sich die Kooperation mit einer Kinderärztin/einem Kinderarzt sehr bewährt, da sich Krankheitsprävention und vernünftige Ernährung gut ergänzen. Zusammenfassung Die Teilnehmer und Betreuer äuûerten sich am Ende der Veranstaltungen zufrieden und dankbar. Es bleibt abzuwarten, wie viel sie von dem Angesprochenen umsetzen wollen und auch können. Die Arbeit mit Migranten stellt ein vielseitiges neues Betätigungsfeld für die klassische Ernährungsberatung dar. Man muss allerdings die Empfehlungen auf das Teilnehmerniveau abstimmen und modifizieren und mit kleinen Schritten auf Ziele z. B. die Verwendung von Vollkornbrot hinwirken. Erfolgreich scheint uns die Verkostung der Kinder und Eltern mit neuen, ihnen unbekannten Produkten. Es wäre vorstellbar, dass die Kinder diese dann von den Eltern fordern. Dankbar wurden die praktischen Demonstrationen aufgenommen. Werden die Erwartungshaltung nicht zu hoch angesetzt bestehen durchaus gute Chancen für eine erfolgreiche Kommunikation bezüglich der Ernährungssituation mit entsprechend positiven Konsequenzen .

Christina Pittelkow-Abele Gesundheitamt der Landeshauptstadt Stuttgart Bismarckstraûe 3 70176 Stuttgart Telefon: 07 11/2 16-44 74 Telefax:07 11/2 16-77 01 116


Migrantenversorgung im Stadtgesundheitsamt Frankfurt am Main am Beispiel der ¹Roma- und Sinti-Sprechstundeª DR. HANS WOLTER Fragestellung 1. Wie kann ein neues kulturspezifisches Angebot in den Alltagsbetrieb eines groûstädtischen Gesundheitsamtes für eine Gruppe von Menschen, die bisher in kein Versorgungsraster passen, bzw. sich diesem immer wieder entzogen haben, integriert werden? 2. Wie kann ein solches Angebot trotz der schon seit Jahren bestehenden Notwendigkeit und verbesserten Fähigkeit, Menschen aus einer immer gröûeren Zahl ethnischer und kultureller Gruppen auch im Regeldienst zu versorgen und unter Berücksichtigung einer zumindest im Ansatz bestehenden interkulturellen Orientierung der MitarbeiterInnen in die Praxis umgesetzt werden? Nach Öffnung der osteuropäischen Grenzen wurde die gesundheitliche Situation vieler Roma und Sinti zunächst von niedergelassenen ausländischen ¾rzten, z. B. aus Rumänien, problematisiert. Es handelte (und handelt) sich um Menschen mit geringen deutschen Sprachkenntnissen, ohne Krankenversicherung und in vielen Fällen ohne Aufenthaltsgenehmigung. In dieser Situation wandte sich die Roma-Union mit der Bitte um Unterstützung an die kommunalen Stellen. Nach Schätzungen der Roma-Union leben ca. 4.500 Roma und Sinti im Rhein-Main-Gebiet. In Frankfurt am Main konnte folgendes erreicht werden: Durch ein Vernetzungsprojekt von Sozialamt, Amt für Multikulturelle Angelegenheiten, Stadtgesundheitsamt und niedergelassene ¾rzten wird dauerhaft und regelmäûig ein medizinisches Beratungs- und Behandlungsangebot für die betroffenen Roma und Sinti im Stadtgesundheitsamt ermöglicht. Die im Jahre 1997 eingeführte ¹Roma- und Sinti-Sprechstundeª wird von einem rumänisch-sprachigen Arzt, dessen Honorar einschlieûlich eines Medikamentenkontingentes vom Sozialamt getragen wird, und einer Arzthelferin des Stadtgesundheitsamtes kostenlos durchgeführt. Zudem wird seitens des Stadtgesundheitsamtes notwendiges Personal für pädiatrische und gynäkologische Beratung und Behandlung, sowie die Einrichtungen des Labors und der Röntgenstelle unentgeltlich zur Verfügung gestellt. Erfahrungen der ¹Roma- und Sinti-Sprechstundeª Nachfrage und Bedarf Dass das muttersprachliche Angebot angenommen wird, ergibt sich aus der regen Nachfrage. In die einmal wöchentlich für vier Stunden im Stadtgesundheitsamt stattfindende Sprechstunde kommen regelmäûig 30 ± 50 Patienten, woraus sich zwischenzeitlich ein fester Patientenstamm von ca. 400 Personen gebildet hat. Offenkundig erfüllt die Sprechstunde für die um Hilfe suchende Zielgruppe die Rolle einer muttersprachlichen Hausarztpraxis. 117


Verteilung nach Alter und Geschlecht In der Sprechstunde sind alle Altersgruppen vertreten. Der Kinderanteil (bis 16 Jahre) ist mit fast 37% relativ hoch. Bei den Erwachsenen, d. h. ab 16 Jahren, sind die Frauen mit 46% und die Männer mit 17% vertreten. Krankheitsbilder Das medizinische Spektrum der Erkrankungen ist breit. Zahlenmäûig dominieren Infekte und Infektionen der Atemwege, Probleme des Magen-Darmtraktes, rheumatische Erkrankungen und Rückenbeschwerden, Hautekzeme und -infektionen (z. B. Scabies). Ein detailliertes statistisches Abbild ist wegen der Komplexität schwierig aufzuzeigen, da die Patienten in der Regel multimorbide sind und häufig mit chronifizierten Erkrankungsverläufen auftreten. In den meisten Fällen wurde auch ein stark kariöses und destruiertes Gebiss festgestellt. In den Erkrankungsbildern werden vielfach die Folgen eines für Mittel-europa extrem niedrigen Lebens- und Bildungsstandards sichtbar, die im Zusammenhang mit Wohnhygiene, Körperpflege und Ernährung stehen. Problemstellung Da das Klientel aus einem völlig anderen Kulturkreis stammt, ergaben sich an den Sprechtagen Probleme, die von beträchtlicher Unruhe bis hin zur Belästigung von anderen Besuchern und MitarbeiterInnen führten. Erst durch die zusätzliche Einstellung eines (männlichen!) Arzthelfers, der u. a. auch im Wartebereich präsent ist, hat sich die Situation deutlich entspannt. Die Lernbereitschaft beider Seiten, der Patienten sowie der Mitarbeiter des Amtes, führte so nach den anfänglichen Schwierigkeiten zu einem harmonischem Arbeitsablauf. Schlussfolgerung Da die ¹Roma- und Sinti-Sprechstundeª eine optimale Gelegenheit bietet, dieser zumeist benachteiligten Gruppe eine gesundheitsrelevante Versorgung anzubieten, wird die Wichtigkeit dieses Projekts im Zusammenhang mit einer interkulturellen Öffnung gesundheitlicher Dienste bestätigt.

Dr. Hans Wolter Stadtgesundheitsamt Frankfurt am Main Braubachstraûe 18-22 60311 Frankfurt am Main

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Anhang Definitionen1 - ZUSAMMENGESTELLT VON GABRIELE WESSEL-NEB KULTUR Die Definition von Kultur orientiert sich an einem erweiterten Kulturbegriff, wie er in der modernen Kulturanthropologie verwendet wird, da es keine einheitliche wissenschaftliche Begriffsdefinition gibt. Kultur ist ein System von Konzepten, Überzeugungen, Einstellungen und Werteorientierungen, mit dem gesellschaftliche Gruppen auf strukturell bedingte Anforderungen reagieren. Dieses gemeinsame Repertoire an Symbolbedeutungen, Kommunikations- und Repräsentationsmitteln ist dynamisch in seiner Anpassung an gesellschaftliche Veränderungsprozesse. Es ist damit ein dem Wandel unterliegendes Orientierungssystem, das die Wahrnehmung, die Werte, das Denken und Handeln von Menschen in sozialen, politischen und ökonomischen Kontexten definiert. In Anlehnung an Auernheimer, Staub-Bernasconi, Hinz-Rommel, Thomas, Maletzke KULTURELLE KOMPETENZ Vester beschreibt kulturelle Kompetenz als die Kenntnis eines gemeinsamen Systems von Symbolen, Bedeutungen, Normen und Regeln, die das Verhalten bestimmen. Dieses Wissen muss nicht reflektiert vorhanden sein, sondern gibt sich durch Verhalten und Interpretation zu erkennen. Man weiû sozusagen, wie man sich in verschiedenen Situationen ¹angemessenª verhält und bewertet gröûtenteils unbewusst auch das Verhalten von anderen. Kulturelle Kompetenz ist nicht ein für allemal gegeben sondern ein bewegliches System. Kulturelle Identitäten, sowohl personale wie kollektive, haben einen relativ stabilen Kern, variieren aber in Abhängigkeit von Kontexten. Was für übereinstimmend gehalten wird, muss in den Kontexten erst ¹ausgehandeltª werden. Vgl. Vester, Heinz-Günter, Kollektive Identitäten und Mentalitäten, Frankfurt 1996 INTERKULTURALIT¾T Der Begriff Interkulturalität beschreibt den interaktiven Prozess kultureller Überschneidungssituationen. Ein Individuum oder eine Gruppe stöût auf eine Gegenüber mit einem Orientierungssystem, das sich vom eigenen unterscheidet. Bewältigungsstrategien müssen entwickelt werden. Interkulturelle Begegnungssituationen sind in multikulturellen Gesellschaften Alltagsnormalität. Sie finden in Kindergärten, Schulen, am Arbeitsplatz, im Behördenverkehr, im Wohnumfeld statt. Kulturelle Überschneidungssituationen können zu Problemen im interkulturellen Verstehen führen, die Kommunikation und Aushandlungsprozesse erschweren. Interkulturalität bedingt interkulturelles Lernen. 1

Zitiert aus: S. Handschuck, Sozialreferat/Stadtjugendamt der Landeshauptstadt München, Anhang zum Leitlinienentwurf für eine interkulturell orientiert arbeitende Kinder- und Jugendhilfe, 1999

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INTERKULTURELLE KOMPETENZ Interkulturelle Kompetenz beinhaltet die Fähigkeit zur Reflexion der eigenen wie kollektiven kulturellen Kompetenz. Das vorhandene System von Regeln und Normen, die Fähigkeit, Symbole zu entschlüsseln wird bewusst und damit analysierbar. Die eigene Sichtweise, das eigene Regelsystem kann so als eine Perspektive unter anderen möglichen angesehen werden. Damit werden Unterschiede in verschiedenen Orientierungssystemen wahrnehmbar und die eigenen Deutungsmuster des Fremden können erweitert werden. Durch die Reflexion der eigenen kulturellen Identität kann diese gefestigt werden. Identitätsbewusstsein und Selbstwertgefühl ermöglichen, ohne ¹Ich-Verlustängsteª Unterschiede wahrzunehmen und auszuhalten, ohne diese zunächst zu verringern. Das Fremde bleibt als solches erfahrbar, ohne es vereinnahmen zu müssen oder ihm die Anerkennung vorzuenthalten. Auf der Basis der Anerkennung können Unterschiede benannt werden, interkulturelle Übersetzungsarbeit findet statt. So werden interkulturelle Missverständnisse verringert, Interessensgegensätze können als solche erkannt und formuliert und damit bearbeitbar werden. Konfliktbewältigungsstrategien können entwickelt werden. Durch die Analyse von Stärken und Schwächen, Vor- und Nachteilen kulturbedingter Verhaltensstrategien werden nicht nur Unterschiede erkannt, durch das Respektieren dieser Unterschiede ist der Weg zu synergetischen Lösungen geöffnet. Interkulturelle Kompetenz beschreibt damit Handlungskompetenz in kulturellen Überschneidungssituationen auf der Basis der Anerkennung von Vielfalt als Normalität. Vgl. Jakubeit/Schattenhofer, Fremdheitskompetenz ± Ein Weg zum aktiven Nebenund Miteinander von Deutschen und Fremden, in: neue praxis, 5/1996

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Informationen zum Bundesweiten Arbeitskreis Migration und öffentliche Gesundheit Gesundheit für alle Zentrales Anliegen der Weltgesundheitsorganisation (WHO), ihrer Dokumente und Programme, ist Chancengleichheit im Gesundheitswesen. Für die zugewanderte Bevölkerung (Zuwanderer, Aussiedler, Flüchtlinge, zum Beispiel Asylsuchende und andere) ist dieses Ziel noch nicht erreicht. Immer noch gibt es viele Beispiele, die Defizite deutlich machen: c Informationen über Dienste und Angebote sind ungenügend auf diese Bevölkerungsgruppe abgestimmt; sprach-, kulturbedingte und rechtliche Barrieren behindern den Weg zur Regelversorgung (wie zum Beispiel Schwangerenvorsorge und Drogenberatung). c Ebensolche Barrieren erschweren die gesundheitliche Versorgung. Sie können z. B. zu verlängerter Aufenthaltsdauer in Kliniken, zu Fehlversorgungen und damit nicht zuletzt zu erhöhten Kosten führen. c Die multikulturelle und soziodemographische Entwicklung der Bevölkerung Deutschlands wird noch zu wenig bei der Planung im Sozial- und Gesundheitswesen berücksichtigt; neue Versorgungsdefizite, etwa bei der Altenhilfe, sind im Entstehen. Die chancengerechte gesundheitliche und psychosoziale Versorgung der zugewanderten Bevölkerung in der Bundesrepublik Deutschland, deren Anteil an der Gesamtbevölkerung ohne Ansehen der verschiedenen Status` über zehn Prozent beträgt, kann von den in Nachbarländern (zum Beispiel Frankreich, Niederlande und Schweiz) erprobten Maûnahmen profitieren.

Der bundesweite Arbeitskreis Migration und öffentliche Gesundheit ist ein Gremium von Fachleuten aus Institutionen der Kommunen, der Länder und des Bundes. Wir wollen ¼ c für migrationsbedingte Aspekte von Gesundheit sensibilisieren, c die soziale Kompetenz der Amtsleitungen und Mitarbeiterschaft im öffentlichen Gesundheitsdienst wie bei kooperierenden Einrichtungen hinsichtlich des Umgangs mit der zugewanderten Bevölkerung fördern, c an der Konzeption eines Leitbildes des öffentlichen Gesundheitsdienstes mitwirken, in das die Anforderungen, die sich aus der multinationalen Zusammensetzung der Bevölkerung Deutschlands ergeben, in angemessener Weise Eingang finden, 121


c dazu beitragen, dass die zugewanderte Bevölkerung als Zielgruppe wahrgenommen und ihre Bedürfnisse in der Angebotsstruktur der Regel- und Spezialdienste angemessen berücksichtigt werden, c auch im Gesundheitswesen zur Integration beitragen und Zeichen gegen Diskriminierung und Rassismus setzen. Um diese Ziele zu verwirklichen, wollen wir ¼ c den Informations- und Erfahrungsaustausch zwischen Institutionen und Fachleuten verstärken, zum Beispiel durch Publikationen, Arbeitstreffen, Tagungen, Öffentlichkeitsarbeit, c das Interesse von Fachleuten und Institutionen des öffentlichen Gesundheitsdienstes für die Relevanz der gesundheitlichen Belange von Migrantinnen und Migranten wecken und unterstützen, zum Beispiel durch Kompetenz-Trainings zu kulturellen und sozialen Themen, c die Einstellung und Weiterqualifizierung von Fachkräften mit Migrationshintergrund sowie die Etablierung/Entwicklung interkulturell arbeitender Teams fordern und fördern, c die Kooperation und Vernetzung zwischen den Institutionen der Kommunen, der Länder und des Bundes unter besonderer Berücksichtigung von Migrantenorganisationen verbessern, zum Beispiel durch Erstellung gemeinsamer Bedarfsanalysen, c Qualitätsstandards für die gesundheitliche und psychosoziale Versorgung der zugewanderten Bevölkerung entwickeln, zum Beispiel Kriterien für kultursensible Informationsmaterialien, c Handlungskonzepte zur schrittweisen interkulturellen Öffnung und Vernetzung der Regeldienste mit migrationsspezifischen Angeboten, insbesondere denjenigen der Migrantenorganisationen selbst, erstellen, c die Berücksichtigungsfähigkeit der zugewanderten Bevölkerung in der Gesundheitsberichterstattung fördern. c Der Arbeitskreis konzentriert sich auf den öffentlichen Gesundheitsdienst, wohl wissend, dass die genannten Ziele auch in anderen Bereichen des Gesundheits- und Sozialwesens verfolgt werden müssen. Der Arbeitskreis ist interessiert an der Kooperation mit Fachleuten und Einrichtungen aus gesundheitsrelevanten und psychosozial orientierten Einrichtungen des Sozial- und Bildungswesens.

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Der öffentliche Gesundheitsdienst - kompetenter Vermittler und Anwalt für Gesundheit Die Institutionen des öffentlichen Gesundheitsdienstes tragen besondere Verantwortung bei der gesundheitlichen und psychosozialen Versorgung aller Gruppen von Migrantinnen und Migranten. Der öffentliche Gesundheitsdienst als Institution mit öffentlichem Auftrag und Kooperationspartner von ebenfalls mit psychosozialen und migrationsspezifischen Themen befassten Einrichtungen verfügt über wichtige Voraussetzungen für das anwaltschaftliche Eintreten für die Belange der zugewanderten Bevölkerung: c bevölkerungsmedizinischer und sozialökologischer Auftrag, c multidisziplinäre Arbeitsstruktur und interdisziplinäre Arbeitsformen, c Erfahrung im Umgang mit den gesundheitlichen Belangen sozial Benachteiligter, c Zugang zu gesundheitsbezogenen Planungen von ¾mtern auûerhalb der Gesundheitsverwaltung, Arbeitskontakte und Vernetzungen mit Einrichtungen des Sozial- und Bildungswesens, c Erfahrungen in Kooperation, Koordination und Moderation, c Fachwissen und Praxiserfahrung besonders bei Prävention und Gesundheitsförderung.

Der bundesweite Arbeitskreis Migration und öffentliche Gesundheit c veröffentlicht seit 1997 einen Informationsdienst ¹Migration und öffentliche Gesundheitª mit Daten, Fakten, Projektberichten, Literaturhinweisen, Veranstaltungskalender, Kontaktadressen, c steht im Kontakt mit Institutionen, Netzwerken und Modellprojekten im In- und Ausland, c trifft sich regelmäûig zum Informations- und Erfahrungsaustausch und zur Weiterentwicklung der konzeptionellen Arbeit.

Koordination Die Beauftragte der Bundesregierung für Ausländerfragen 11017 Berlin

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Beteiligte Institutionen Akademie für öffentliches Gesundheitswesen in Düsseldorf Beauftragte der Bundesregierung für Ausländerfragen Deutsche Koordinierungsstelle für Gesundheitswissenschaften an der Abteilung für Medizinische Soziologie der Universität Freiburg Ethno-Medizinisches Zentrum e. V. Hannover Freie und Hansestadt Hamburg, Behörde für Arbeit, Gesundheit und Soziales - Amt für Gesundheit Gesunde Städte-Büro Essen Gesundheitsamt Bremen Gesundheits- und Hygieneamt Gera, Gesundheitsförderung und Kontaktstelle für Selbsthilfegruppen Gesundheitsamt Rhein-Neckar-Kreis (Heidelberg), Referat Gesundheitsförderung Gesundheitszentrum für Migrantlnnen Köln Hessisches Ministerium für Umwelt, Energie, Jugend, Familie und Gesundheit; Büro für Einwanderer, Flüchtlinge und ausländische Arbeitnehmer Interkulturelles Referat der Stadt Köln Institut für praxisbezogene Forschung (IpF) der Ev. Fachhochschule Hannover. Forschungsprojekt ¹Interkulturelle Verständigungshilfen im Gesundheits- und Sozialwesenª Jugendpsychiatrisches Institut, Erziehungsberatungsstelle der Stadt Essen Landesgesundheitsamt Baden-Württemberg Landeshauptstadt München, Referat für Gesundheit und Umwelt, Stabsstelle Koordinierung, Fachstelle Migration und Gesundheit Ministerium für Frauen, Jugend, Familie und Gesundheit des Landes NordrheinWestfalen Rheinische Kliniken Köln Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales, Berlin Stadt Dortmund ± Jugendamt, Psychologischer Beratungsdienst Stadt Frankfurt am Main, Der Magistrat, Amt für multikulturelle Angelegenheiten Stadtgesundheitsamt Fankfurt am Main Türkisch-Deutsche Gesundheitsstiftung Verband der Initiativgruppen in der Ausländerarbeit (VIA) e. V. Wissenschaftliches Institut der ¾rzte Deutschlands (WIAD) e. V. Eine Adressenliste der beteiligten Institutionen kann beim koordinierenden Büro angefordert werden. 125


Notizen

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Notizen

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