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FAMILIENPORTRÄT EINES JAHRHUNDERTS

Schwerelos die Schrecken bannen

Sigrid Nunez: „Was fehlt dir“ aufbau, 20,– € 200 Lesepunkte sammeln Auch als eBook auf Hugendubel.de erhältlich

AUF TROST VER-

STEHT sich Sigrid Nunez wie kaum jemand sonst – mit literarischen Meisterstücken, in denen sie es mit dem Thema Tod aufnimmt und zugleich Hoffnungsfunken zum Leuchten bringt. 2018 wurde die New Yorker Schriftstellerin „über Nacht berühmt als Titanin der amerikanischen Gegenwartsliteratur“ (New York Times) und mit dem „National Book Award“ ausgezeichnet für „Der Freund“. Jetzt knüpft die 70-Jährige an diesen Sensationserfolg mit ihrem aktuellen Roman auf konsequente und höchst kreative Art an. Während „Der Freund“ durch seinen Freitod die Hinterbliebene vor vollendete Tatsachen stellt und die Trauernde ins Leben zurückfinden muss, nähert sich Sigrid Nunez nun in „Was fehlt dir“ dem Ende aller Dinge, indem sie Perspektiven eröffnet, wo die Situation aussichtslos erscheint: Ihre Ich-Erzählerin – eine Schriftstellerin im Alter von Sigrid Nunez – wird von einer an Krebs erkrankten Freundin um Beistand im Endstadium gebeten. Die Sterbenskranke ist hin- und hergerissen zwischen Euphorie und Depression. Und sie will die Kontrolle über ihr Leben bis zum letzten Atemzug behalten: „Der Krebs kann mir nichts antun, wenn ich mir etwas antue.“ Obwohl der Ernstfall beide Frauen an ihre Grenzen bringt, gewinnen sie dem Dilemma eine große Chance ab – indem sie gemeinsam entdecken, wie das Unausweichliche sich durch Zusammenhalt und Zuwendung verändern lässt. Eine tief berührende Geschichte, die mit erstaunlicher Leichtigkeit, Herzenswärme und Humor die Kunst zu leben und zu sterben und die rettende Kraft der Freundschaft nahebringt!

Zweite Chance für drei Brüder?

LÄNGST EIN STAR in Schweden und bei uns nun eine große Entdeckung: Alex Schulman, Jahrgang 1976, Blogger, Podcaster, Radio- und Fernsehmoderator, Journalist und vor allem Bestsellerautor. Zum Kultstatus brachte er es mit seinen autobiografischen Werken über eigenwillige Persönlichkeiten seiner Familie, z.B. in „Forget me“, 2017 zum Buch des Jahres gekürt. Seine Mutter Lisette wirkte auch posthum als Muse –durch einen Brief, den Alex und seine Brüder Calle und Niklas am Tag vor ihrem Begräbnis fanden: „An meine Söhne, wenn ich nicht mehr da bin.“ Für Alex der erste Ideenfunke zu seinem Romandebüt „Die Überlebenden“, das in seiner Heimat hymnisch gefeiert wird. Es ist die Geschichte dreier Brüder, die an den schicksalhaftesten Ort ihrer Kindheit zurückkehren: In dem einsamen Holzhaus am See verbrachten sie jeden Sommer, bis vor zwei Jahrzehnten ein Riss durch die Familie ging. Jetzt treffen Benjamin, Pierre und Nils hier zusammen, um die Asche ihrer Mutter zu verstreuen. In der Idylle lauern überall Erinnerungen, schöne und schreckliche. Unberechenbarer als das Wetter war die Stimmung der Eltern, erschöpfend das Ringen der Jungen um die unsichere Liebe der Mutter … Einst unzertrennlich, sind die Brüder nun weit voneinander entfernt durch das Drama von einst. Was ist damals wirklich passiert? Sich der Vergangenheit zu stellen, rührt an alte Wunden, aber es ist auch die einzige Hoffnung auf Versöhnung. Kunstvoll in der Komposition, klar in der Sprache und von außergewöhnlicher erzählerischer Intensität. Ein literarisches Ausnahmeereignis!

Alex Schulman: „Die Überlebenden“ dtv, 22,– € 220 Lesepunkte sammeln Auch als eBook | Hörbuch auf Hugendubel.de erhältlich ▶ Wie haben Sie Ihre eigene Familie als literarische Inspirationsquelle entdeckt? ▶ Durch all die Leerstellen, die mir in den Erzählungen meiner Eltern und Großeltern immer deutlicher wurden, und die Fragen, die sich daraus ergaben: Wieso wurde mein Urgroßvater von seiner Familie verstoßen? Was hat ihn so fest an eine Frau gebunden, die seine Mutter nicht akzeptieren wollte? Vor allem aber durch den Bruch, den die Nazizeit für diese Familie wie für alle jüdischen Familien in Deutschland bedeutete. Wieso ist meinem Urgroßvater die Flucht aus Deutschland nicht gelungen – im Gegensatz zu all seinen Geschwistern? ▶ Wie würden Sie die Familien Eisner und Reichenheim historisch einordnen und wie haben Sie Ihren zeitlichen Erzählrahmen gewählt? ▶ Mich interessierte der gesellschaftliche Aufstieg dieser beiden jüdischen Familien in Schlesien und Preußen im 19. Jahrhundert, das jüdische Berlin der Gründerzeit und dann die Zeitenwende des Ersten Weltkrieges, dem die Weltwirtschaftskrise und schließlich die Nationalsozialisten folgen. Das Leben meiner Protagonistinnen Anna und Marie – Schwiegermutter und Schwiegertochter – ist bestimmt vom Lauf der Geschichte. ▶ Welche Bruchstücke der Vergangenheit brachten bei Ihnen am meisten zum Klingen?

Familienporträt eines Jahrhunderts

AUS BESONDEREN GESCHICHTEN lesenswerte Bücher zu ma-

EXKLUSIV INTERVIEW chen, ist die professionelle Leidenschaft von Constanze Neumann, ob als Lektorin, Leiterin eines Berliner Literaturverlags oder Autorin: Für ihren Roman „Wellenflug“ hat sie von Polen über Leipzig und Berlin bis in die USA recherchiert, um aus Bruchstücken der Vergangenheit ein Ganzes zu erschaffen – die mehr als hundert Jahre umspannende Geschichte der deutsch-jüdischen Tuchhändler-Dynastie Reichenheim, ihrer Familie.

▶ Der Schmerz meines Großvaters über die Ermordung seines

Vaters im KZ, der sein Leben wesentlich bestimmt hat und ihn nie verließ. Schlimm war für ihn auch die Anonymität dieses Todes: Kein Grab, kaum etwas erinnert an seinen Vater, den er sehr liebte. Ich wollte gegen dieses Vergessen anschreiben. ▶ Was war Ihr Hauptinteresse, als Sie beim Schreiben die Leerstellen der Familienüberlieferung zu Freiräumen der Imagination machten? ▶ Mich interessieren vor allem die Gefühlswelten meiner Figuren, Dinge, die sich kaum recherchieren lassen. Die Fiktion gab mir die Freiheit, diese Leerstellen zu füllen. ▶ Anders als in der herkömmlichen Geschichtsschreibung stehen bei Ihnen nicht die verdienstvollen Männer im Mittelpunkt, sondern zwei Frauen: Was verkörpern Anna und Marie und was prädestiniert die beiden für ein Doppelporträt? ▶ Anna erlebt die Gründerjahre in Berlin und einen beispiellosen gesellschaftlichen Aufstieg ihrer Familie. Sie konvertiert mit ihrem Mann zum christlichen Glauben und denkt, ihre jüdische Herkunft hinter sich lassen zu können. Jahrzehnte später erlebt Marie, die ungeliebte Schwiegertochter, erst in der Weimarer Republik und dann während der Nazizeit, dass diese Assimilation ein Trugschluss ist und ihrem Mann, Annas Sohn, zum Verhängnis wird. ▶ Bestehen für Sie die Gegensätze zwischen Anna und Marie eher in den

Was prägt Sie und was verbindet Sie mit Judith Kerr, der Autorin des Kinderbuchklassikers „Als Hitler das rosa Kaninchen stahl“? ▶ Es ist die Geschichte einer großen jüdischen Familie in Berlin, die sich während der Nazizeit über die ganze Welt zerstreute. Judith Kerr gehörte auch dazu, ihre Fluchtgeschichte „Als Hitler das rosa Kaninchen stahl“ habe gesellschaftlichen Konventionen oder ich gelesen, bevor ich wusste, dass dies in den Persönlichkeiten? ▶ In beidem – ihr Hintergrund ist Teil meiner Familiengeschichte ist und es in ihr viele weitere solcher Fluchtunterschiedlich, Annas Welt ist eine großbürgerlich-jüdische, Maries geschichten gibt. ▶ „Wellenflug“ ist ein Begriff für prägt die Enge ärmlicher Verhältnisse. kunstvolle Flugmanöver von Vögeln ,,Gegen Anna lässt sich von ihrem Verstand leiten, bei Marie sind es meistens die Gefühle. ▶ Und worin sehen Sie für dieses oder auch Segelfliegern. Was gefällt Ihnen daran als Romantitel? ▶ Ich dachte an das gleichnamige Kettenkarussell mit seiner wellen Vergessen anschreiben.“ Anna und Marie jeweils die Chance ihres Lebens? ▶ Der gesellschaftliche förmigen Drehbewegung – ein Bild für das Auf und Ab im Leben meiner beiden Protagonistinnen. Aufstieg ihres Vaters durch die erfolgreiche Firmengründung gibt Anna alle Möglichkeiten in MEHR? der Berliner Gesellschaft, die Ju- DAS KOMPLETTE den zuvor nicht hatten. Sie weiß diese Chance zu nutzen – für sich und ihre Kinder. Für Marie ist die Liebe zu Heinrich die große Chance, den eigenen Verhältnissen zu entkommen und ein besseres Leben zu führen –wenigstens für einige Zeit. ▶Was waren für Sie die ergiebigsten Zeugnisse und Quellen? ▶ Ich hatte eine 1936 geschriebene Familien- und Firmengeschichte, zudem einige Briefe und bin an fast alle Orte der Handlung gereist. Aber alle Dokumente und Aufzeichnungen konnten doch nur die nackten Fakten liefern. Was sich dahinter verbirgt, Liebe und Glück, Wut, Trauer und Angst, danach habe ich gesucht. ▶ Was hat Sie beim Recherchieren am meisten berührt? ▶ Am meisten bewegt hat mich ein Anna, der Tochter eines Leipziger Tuchhändlers, gelingt ein märchenhafter Aufstieg im Berlin der Gründerzeit. Aber ihr Sohn Heinrich enttäuscht ihre Hoffnungen, denn er schert sich nicht um die Konventionen seiner großbürgerlich-jüdischen Familie. Zum Bruch kommt es, als er Spielschulden anhäuft und die mittellose Marie heiratet – eine für Anna unakzeptable Schwiegertochter, obwohl Marie alles tut, um Heinrich vor dem Untergang zu bewahren, auch als die Weltwirtschaftskrise und der Nationalsozialismus immer bedrohlicher werden. Das faszinierende Doppelporträt zweier außergewöhnlicher Frauen in einer Zeit der Extreme! INTERVIEW AUF BUECHERMENSCHEN.DE Abschiedsbrief meiner Urgroßmutter an meinen Großvater, aus dem ihre Constanze Neumann: Liebe zu ihm spricht. ▶ Schon auf der ersten Seite deutet sich an, dass es sich um die Geschichte einer weitverzweigten Familie handelt. „Wellenflug“ Ullstein, 22,– € 220 Lesepunkte sammeln Auch als eBook auf Hugendubel.de erhältlich

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